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20 | Bauwelt 13 2006 Bauwelt 13 2006 | 21 Max Burchartz und das Wehag-Erscheinungsbild Handform-Programm und Einheitsbeschlag Links: Max Burchartz, Werbegrafik für Wehag: Prospekt „Handform- Standardbeschläge, 1929. Mitte von links nach rechts: Max Burchartz: Prospekt „Einheits- Türbeschlag“, 1930; Katalog Wehag 1936; Metallbuchstaben, 1936. Otl Aicher, Corporate Design für FSB: Bildzeichen und Schriftzeichen; Plakat für Buchwerbung „Übergriff“ Max Burchartz, 1887–1951 Der Werbegrafiker Max Burchartz gestaltete ab 1928 das Erscheinungs- bild der 1790 gegründeten Firma Wehag (Wilhelm Engstfeld) in Heili- genhaus. Prospekte, Kataloge, Ver- packungen und Signet stammen aus seiner Hand. Ein 1931 im Stedelijk- Museum in Amsterdam ausgestellter Katalog wurde kurz darauf in Leip- zig in die Liste der 50 schönsten Industrie-Bücher des Jahres aufge- nommen, weil er „wie ein gutes po- puläres technisches Lehrbuch“ ge- staltet war. 1929 entwarf Burchartz das Handform-Standardprogramm, 1930 einen Einheits-Türbeschlag. Die enge Zusammenarbeit zwischen Burchartz und Wehag nimmt An- fang der dreißiger Jahre als Modell vorweg, was Anfang der achtziger Jahre bei FSB geschah: Jürgen W. Braun, damals Geschäfts- führer von Franz Schneider Brakel, einer 103 Jahre alten, solide agie- renden Firma, trifft auf Otl Aicher. Der habe, so wird berichtet, im Vor- feld ein gewisses Interesse an Tür- klinken gezeigt. Die Begegnung hat unvorhersehbare Konsequenzen: Otl Aicher erwartet, bevor er überhaupt für FSB tätig wird, eine Definition der Firmenphilosophie, die er rück- blickend und vorausschauend defi- zeichen. Von den Geschäftspapieren bis zur Verpackung wurde ein abge- stimmtes System etabliert, in dem dann auch der Katalog einen zentra- len Platz einnimmt. Er wurde prä- miert. Das Erscheinungsbild von FSB war geboren, aber eben nicht als Erscheinungsbild schlechthin, son- dern als Spiegelung dessen, was der Firma an ihren Produkten das Wich- tigste schien: Qualität. Und wenn man es wirklich ernst meint mit dem, was man tut, nun, dann kann man sich selbst in der Werbung mit Un- derstatement und Ironie begegnen. Dieser Rat von Otl Aicher wurde be- folgt (vgl. S. 30/31). niert haben will. Der Rückblick wei- tet sich zu einem umfangreichen Buchprogramm rund um das Thema „Greifen und Griffe“. Gleichzeitig wurden die Bausteine für das neue Erscheinungsbild zu- sammengetragen, mit dem sich FSB 1990 der Öffentlichkeit präsen- tierte. Das Signet: eine Abstraktion von „Wittgensteins Griff“, die Signa- tur: drei Buchstaben, die für Franz Schneider, den Firmengründer, und für Brakel stehen, den Ort, zu dem man sich bis heute bekennt. Dazu eine Unmenge von Otl Aicher ent- wickelten Gebrauchsvorschriften im Umgang mit den Bild- und Schrift- Otl Aicher und das Corporate Design von FSB Die vier Gebote des Greifens Otl Aicher, 1922–1991 Die vier Gebote des Greifens Am 3. Juni 1985 saß Otl Aicher bei FSB in Brakel am ehemaligen Ar- beitsplatz von Johannes Potente. Auf der Werkbank lagen dessen Tür- klinken. Es galt, deren Qualitäten zu beschreiben. Otl Aicher skizzierte die Merkmale der Beschreibung und beendete die Sitzung mit den Wor- ten: „Hiermit schenke ich FSB die vier Gebote des Greifens. So wie für ERCO das Licht die vierte Dimen- sion der Architektur ist, hat FSB nun vier Kriterien, die das Greifen und die Auswahl der Griffe verständlich machen. 1 Daumenbremse Der Daumen sucht stets eine Rich- tung. Bereits auf den ersten Faust- keilen lassen sich Spuren dieser Su- che nachweisen. Viele Gegenstände des Greifens haben eine ausgespro- chene Daumenorientierung. 2 Zeigefingerkuhle Auch der Zeigefinger ist immer auf Richtungssuche. Der Lotse der Hand tastet sich suchend vor, lässt die übrigen Finger nachkommen. Bei ei- nigen Gegenständen entdecken wir „Zeigefingerkuhlen“. 3 Ballenstütze Die Hand als Einheit verlangt „eine Stütze“. Daumen und Zeigefinger sondieren den Raum. Dann fasst die Hand als Ganzes zu. Der Handbal- len will dabei gestützt werden. Nur so kann die Kraft aufgebraucht wer- den. 4 Greifvolumen Den Griff ins Leere schätzt die Hand nicht. Sie will ballig geführt werden. Greifvolumen ist notwendig. Beim sinnfreien Spielen mit Handschmeich- lern, meist bunten Steinen in Ei-Form, verrät der Mensch unbewusst dieses Grundbedürfnis. Weil die hand greifen kann, kann auch das denken begreifen, weil die hand fassen kann, erfassen wir auch etwas in unserem kopf. Weil die hand etwas vor uns hinstellen kann, können wir auch etwas durch denken darstellen, weil die hand legen kann, legen wir auch im denken etwas dar, ... wir stellen nicht nur fest, wir stellen auch auf, eine neue these zum beispiel, wir erfassen nicht nur, wir befassen uns mit etwas, wenden und drehen etwas und gelangen schließlich zu einer auffassung. Otl Aicher, 1983 Die streitbar-nachdenkliche Auseinandersetzung mit unserem Tun in schriftlicher Form ist zu einer FSB- Spezialität geworden. Spötter behaupten sogar, wir seien vermutlich der einzige Buchverlag der Welt, der sich den Luxus leiste, nebenbei auch noch Türklinken zu produzieren. Jürgen W. Braun, 1991 Jürgen W. Braun, Sepp Landsbek, Visuelle Kommunikation, Köln 1995 1 2 3 4

Max Burchartz und das Wehag-Erscheinungsbild Handform ... · Otl Aicher und das Corporate Design von FSB Die vier Gebote des Greifens Otl Aicher, 1922–1991 Die vier Gebote des Greifens

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20 | Bauwelt 13 2006 Bauwelt 13 2006 | 21

Max Burchartz und das Wehag-Erscheinungsbild Handform-Programm und Einheitsbeschlag

Links: Max Burchartz, Werbegrafik

für Wehag: Prospekt „Handform-

Standardbeschläge, 1929.

Mitte von links nach rechts:

Max Burchartz: Prospekt „Einheits-

Türbeschlag“, 1930; Katalog Wehag

1936; Metallbuchstaben, 1936.

Otl Aicher, Corporate Design für FSB:

Bildzeichen und Schriftzeichen;

Plakat für Buchwerbung „Übergriff“

Max Burchartz, 1887–1951

Der Werbegrafiker Max Burchartz

gestaltete ab 1928 das Erscheinungs-

bild der 1790 gegründeten Firma

Wehag (Wilhelm Engstfeld) in Heili-

genhaus. Prospekte, Kataloge, Ver-

packungen und Signet stammen aus

seiner Hand. Ein 1931 im Stedelijk-

Museum in Amsterdam ausgestellter

Katalog wurde kurz darauf in Leip-

zig in die Liste der 50 schönsten

Industrie-Bücher des Jahres aufge-

nommen, weil er „wie ein gutes po-

puläres technisches Lehrbuch“ ge-

staltet war. 1929 entwarf Burchartz

das Handform-Standardprogramm,

1930 einen Einheits-Türbeschlag.

Die enge Zusammenarbeit zwischen

Burchartz und Wehag nimmt An-

fang der dreißiger Jahre als Modell

vorweg, was Anfang der achtziger

Jahre bei FSB geschah:

Jürgen W. Braun, damals Geschäfts-

führer von Franz Schneider Brakel,

einer 103 Jahre alten, solide agie-

renden Firma, trifft auf Otl Aicher.

Der habe, so wird berichtet, im Vor-

feld ein gewisses Interesse an Tür-

klinken gezeigt. Die Begegnung hat

unvor hersehbare Konsequenzen: Otl

Aicher erwartet, bevor er überhaupt

für FSB tätig wird, eine Definition

der Firmenphilosophie, die er rück-

blickend und vorausschauend defi-

zei chen. Von den Geschäftspapieren

bis zur Verpackung wurde ein abge-

stimmtes System etabliert, in dem

dann auch der Katalog einen zentra-

len Platz einnimmt. Er wurde prä-

miert. Das Erscheinungsbild von FSB

war geboren, aber eben nicht als

Erscheinungsbild schlechthin, son-

dern als Spiegelung dessen, was der

Firma an ihren Produkten das Wich-

tigste schien: Qualität. Und wenn

man es wirklich ernst meint mit dem,

was man tut, nun, dann kann man

sich selbst in der Werbung mit Un-

derstatement und Ironie begegnen.

Dieser Rat von Otl Aicher wurde be-

folgt (vgl. S. 30/31).

niert haben will. Der Rückblick wei-

tet sich zu einem umfangreichen

Buchprogramm rund um das Thema

„Greifen und Griffe“.

Gleichzeitig wurden die Bausteine

für das neue Erscheinungsbild zu-

sammengetragen, mit dem sich FSB

1990 der Öffentlichkeit präsen-

tierte. Das Signet: eine Abstraktion

von „Wittgensteins Griff“, die Signa-

tur: drei Buchstaben, die für Franz

Schneider, den Firmengründer, und

für Brakel stehen, den Ort, zu dem

man sich bis heute bekennt. Dazu

eine Unmenge von Otl Aicher ent-

wickel ten Gebrauchsvorschriften im

Umgang mit den Bild- und Schrift-

Otl Aicher und das Corporate Design von FSB Die vier Gebote des Greifens

Otl Aicher, 1922–1991

Die vier Gebote des Greifens

Am 3. Juni 1985 saß Otl Aicher bei

FSB in Brakel am ehemaligen Ar-

beitsplatz von Johannes Potente.

Auf der Werkbank lagen dessen Tür-

klinken. Es galt, deren Qualitäten

zu beschreiben. Otl Aicher skizzierte

die Merkmale der Beschreibung und

beendete die Sitzung mit den Wor-

ten: „Hiermit schenke ich FSB die

vier Gebote des Greifens. So wie für

ERCO das Licht die vierte Dimen-

sion der Architektur ist, hat FSB nun

vier Kriterien, die das Greifen und

die Auswahl der Griffe verständlich

machen.

1 Daumenbremse

Der Daumen sucht stets eine Rich-

tung. Bereits auf den ersten Faust-

keilen lassen sich Spuren dieser Su-

che nachweisen. Viele Gegenstände

des Greifens haben eine ausgespro-

chene Daumenorientierung.

2 Zeigefingerkuhle

Auch der Zeigefinger ist immer auf

Richtungssuche. Der Lotse der Hand

tastet sich suchend vor, lässt die

übrigen Finger nachkommen. Bei ei-

nigen Gegenständen entdecken wir

„Zeigefingerkuhlen“.

3 Ballenstütze

Die Hand als Einheit verlangt „eine

Stütze“. Daumen und Zeigefinger

sondieren den Raum. Dann fasst die

Hand als Ganzes zu. Der Handbal-

len will dabei gestützt werden. Nur

so kann die Kraft aufgebraucht wer-

den.

4 Greifvolumen

Den Griff ins Leere schätzt die Hand

nicht. Sie will ballig geführt werden.

Greifvolumen ist notwendig. Beim

sinnfreien Spielen mit Handschmeich-

lern, meist bunten Steinen in Ei-Form,

verrät der Mensch unbewusst dieses

Grundbedürfnis.

Weil die hand greifen kann, kann auch das denken

begreifen, weil die hand fassen kann, erfassen wir

auch etwas in unserem kopf. Weil die hand etwas vor

uns hinstellen kann, können wir auch etwas durch

denken darstellen, weil die hand legen kann, legen wir

auch im denken etwas dar, . . . wir stellen nicht nur

fest, wir stellen auch auf, eine neue these zum beispiel,

wir erfassen nicht nur, wir befassen uns mit etwas,

wenden und drehen etwas und gelangen schließlich

zu einer auffassung. Otl Aicher, 1983

Die streitbar-nachdenkliche Auseinandersetzung mit

unserem Tun in schriftlicher Form ist zu einer FSB-

Spezialität geworden.

Spötter behaupten sogar, wir seien vermutlich der

einzige Buchverlag der Welt, der sich den Luxus

leiste, nebenbei auch noch Türklinken zu produzieren.

Jürgen W. Braun, 1991

Jürgen W. Braun, Sepp Landsbek,

Visuelle Kommunikation,

Köln 1995

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Humanisierung oder Rationalisierung von Arbeit ? Hand-Griffe Griffhaltungen

Die erste freie Bewegungsmöglichkeit

des Hand-Arm-Systems nach erfolgtem

Zugriff ist im Handgelenk vorhanden.

Bei einer Türblatt öffnung von 15 Grad

ist das Handgelenk bereits gesperrt. Bei

Überschreiten dieser Bewegungsgröße

muss bei der Beugung des Ellenbogens

der Oberarm gehoben werden.

Johannes Solf, Peter Kern, 1986

Manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht velwechsern.

Werch ein Illtum!

Ernst Jandl, 1974

Rechts: die fünf Versuchsanordnungen

für die wissenschaftliche Prüfung von

Türgriffen: Bowling-Griff, Bügel-Griff,

Kugel-Griff, L- Griff, Konventioneller

Griff – und daraus entwickelt FSB den

Ergo-Türdrücker 7655 Fh

HFG Karlsruhe, Übergriff,

Köln 1993

Hand und Griff, Ausstellung Wien

1951, Köln 1995

Hochschule für Grafik und Buchkunst,

Gesten, Köln 1996

Jürgen Braun, Die Sprache der Hände,

Mainz 2005

Friedrich Herig Die denkende Hand Gesellschaft für Manufaktologie 1930 Ergonomie ist:

Friedrich Herig, 1890–1969

Über seiner Lebensarbeit steht das

Motto „Die denkende Hand“. Als

Ingenieur für Materialprüfung und

Handwerkstechnik etablierte sich

Friedrich Herig 1924 als selbständi-

ger Forscher. Im Jahre 1930 grün-

dete er zusammen mit Interessenten

der Handkultur die „Gesellschaft

für Manufaktologie“ und 1932 in

Karls ruhe die weltweit erste Griff-

for schungsstätte. Herig ging von

der Annahme aus, dass jedes Werk-

zeug eine „Handseite“ und eine „Ar-

beits seite“ aufweise. Er ließ sie ge-

trennt untersuchen, die Handseite

etwa durch Vermessung der Hand-

feuch tigkeit mit Hilfe von Rußspu-

ren. Er klassifizierte zunächst vier

Haltungen: Greifen, Halten, Formen,

Prüfen (vgl. Abb. S. 23). Später diffe-

ren zierte er die verschiede nen Griff-

Haltungen mit eigens dafür gebau-

ten Apparaturen. Für die berühmte

Ausstellung „Hand und Griff“, ein -

ge richtet von Walter Zeischegg und

Carl Auböck, die 1951 in Wien statt-

fand, wurden die neun Griffhaltun-

gen von Lucca Chmel fotografiert.

Ergonomie und Praxis

1985 beauftragte FSB eine Studie

mit dem Titel: „Ergonomische Kenn-

größen zur Gestaltung und Anord-

nung von Türgriffen.“ Johann J. Solf,

der Nachfolger von Friedrich Herig

auf dem Gebiet der Manufaktolo-

gie, und Peter Kern vom Fraunhofer-

Institut für Arbeitswissenschaft, ent-

wickel ten (in Zusammenarbeit mit

der Staatlichen Akademie der Bilden-

den Künste in Stuttgart und dem Kli-

nikum Nürnberg) Griffvarianten, die

in einem Türen-Parcours von Män-

nern, Frau en, Kindern und Roll stuhl-

fah rern erprobt wurden. Neben vier

wissenschaftlich erarbeiteten Test-

grif fen wurde ein so genannter kon-

ventioneller Griff mitgetestet. Die

minutiösen Untersuchungen dauer-

ten bis 1989. Der konventionelle

Griff hielt, mit einigen Verbesserun-

gen, den formulierten Anforderun-

gen am besten stand: Eines der Er-

gebnisse der Studie war die „Ergo-

Türdrücker-Garnitur 7655 Fh“, das

andere die FSB-Publikation „Ergono-

mie und Praxis“.

Die Hände wollen einander treffen, denn so

ist ihre Symmetrie. Aber sie können es nicht,

denn auf ihrem Weg gibt es Gegenstände.

Sie sind also durch ihre Gestalt selbst zum

allmählichen Verständnis, zur fortschreiten-

den Eroberung der Welt genötigt. Die Neu-

gier unserer Hände ist eine der Bedingungen,

die uns auferlegt sind. Vilém Flusser, 1991

Aufgabe der Ergonomie ist es,

durch Aufzeigen der Gestaltungs-

dimensionen die Beeinflussung

von Arbeitssystemen an deren Kri-

terien der Belastung und Bean-

spruchung der eingesetzten Men-

schen darzustellen und damit die

Grundlagen für menschengerech-

tere Gestaltungen zu schaffen.

Walter Rohmert, 1973

Oben rechts: Titelblatt „Ergonomie

und Praxis, FSB-Publikation 1990.

Mitte von links nach rechts:

Aus den FSB-Publikationen: „Über-

griffe“, 1993, und „Gesten“, 1996.

Gerät zur Simulation der Hand-

Finger-Bewegungen am Institut für

Griff-Forschung von Friedrich Herig;

Abdrücke der vier Hand-Griffe:

Greifen, Halten, Formen, Prüfen.

Die neun Griffhaltungen nach

Friedrich Herig: Schreibhaltung,

Bohrhaltung, Schneidhaltung,

Klemmhaltung, Schlaghaltung,

Drück- und Drehhaltung, Hebelhal-

tung, Kurbelhaltung, Radhaltung

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Otl Aicher adelt ihn zum anomymen Designer Das Modell 1020

Wenn man plötzlich auf einen designer stößt wie

johannes potente und sich über ihn freut und überall

seine spuren vorfindet, gute und schlechte, und

sieht, wie er vor allem den 50er jahren seinen stempel

aufdrückte, dann nicht, um ihn der anonymität der

geschichte zu entreißen und ihn gar in die geschichte

des designs einzubringen. Er soll bleiben, der er war,

ein anonymer designer . . . ein anonymer designer

pflegt nicht seinen stil. Er hat keinen. Er ist wie ein

handwerker allein in seiner werkstatt, ihn interessiert,

was herauskommt. Auf dieser haltung ruht die

menschliche kultur . . . mag sein, daß er manches nicht

gemacht hätte, wenn er davon ausgegangen wäre:

die menschheit, wenigstens die kulturelle, blickt auf

mich. So bewahrte er eine unkontrollierte lässigkeit.

Aber gerade sie ist bestandteil seines eifers und

dokumentiert den unablässigen umgang mit der sache

selbst, nicht ihre wirkung. Otl Aicher, 1989

gemeißelt. Dabei musste überlegt

werden: Wo trennt man den Drücker,

welche Seite legt man in den obe-

ren, welche in den unteren Teil der

Kokille? Bei einer einfachen Form ist

die Trennebene glatt und auf der

Mitte. Umso komplizierter die Form,

desto komplizierter die Trenn ebene.

Anfangs bestand die Kokille für das

Modell 1020 aus drei Teilen, heute

sind es zwei. Doch wegen der asym-

metrischen Form ist zur Herstellung

dieser Klinke immer noch viel Arbeit

von Hand nötig.

1954 waren die ersten Klinken der

Linie 1020, die damals noch aus

drei verschiedenen Größen bestand,

gegossen und wurden im gleichen

Jahr auf der Eisenwarenmesse in

Köln für 8,50 Mark angeboten. Die

Statistik weist nach, dass FSB das

Modell 1020 bis zum Jahr 1997

etwa drei Millionen Mal verkaufte,

das heißt, im Schnitt weit mehr als

50.000 Türdrücker dieses einen

Modells pro Jahr.

Oben links: die Hände von

Johannes Potente.

Mitte von links nach rechts:

Johannes Potente, Zeichnung zu

Modell 1020, 1958/59; die Griffe

1020 im Eloxierbad; Modell 1020

im Handbuch 2005.

Unten: Glastisch von Isamu

Noguchi, 1945

Johannes Potente, Brakel

Design der fünfziger Jahre,

Köln 1989

Andrea Scholtz, Die Türklinke 1020

von Johannes Potente,

Frankfurt 1998

Johannes Potente Die Werkspur der Hände Sechzig Arbeitsjahre im Weserbergland

Johannes Potente, 1908–1987

Wer, bitte, ist Johannes Potente?

„Er war ein Arbeiter“, sagte Otl

Aicher von ihm, „er machte Modelle

für Türgriffe, weil das gebraucht

wurde und er dazu Anlagen hatte.“

Johan nes Potente war kein ausge-

bildeter Designer, von Beruf war er

Stahlgraveur und als solcher dafür

zuständig, die Werkzeuge und For-

men für die Fertigung der Beschläge

bei FSB herzustellen. Stahlgraveure

mussten gut zeichnen können und

große Handfertigkeiten besitzen.

1922 hatte Potente seine Lehre bei

FSB in Brakel begonnen, wurde ge-

fördert und 1932 auf die Badische

Kunstgewerbeschule in Pforzheim

geschickt. Von 1940 bis 1945 kam

er an die Ostfront, zeichnete Minen-

karten und kehrte danach wie selbst-

verständlich an seinen alten Arbeits-

platz zurück. Er hat später seine ost-

westfälische Heimatstadt Brakel

im Weserbergland nie wieder für län-

gere Zeit verlassen. 1950 wurde Jo-

hannes Potente Leiter der Bereiche

Entwicklung, Entwurf, Werkzeugbau,

Graviererei und gewerbliche Ausbil-

dung und entwarf seinen ersten Tür-

drücker: das Modell 1034 (S. 27).

Es brachte FSB einen immensen Ver-

kaufserfolg und erhielt deshalb den

Beinamen „Millionendrücker“. 1953,

ein weiterer, vielleicht der schönste

Entwurf von Potente: das Modell

1020. Auffällig an diesem Türdrü-

cker ist sein organischer Schwung,

der wie eine weiche, lang gestreckte

Welle das Modell durchzieht. In der

Aufsicht verbreitert sich die Hand-

habe unmerklich, um dann gegen

Griffende stark anzuschwellen. Für

das Modell hatte Potente zunächst

eine Skizze gezeichnet, dann ein

Holzmodell gefertigt und schließlich

die Form in Aluminium vorarbeiten

lassen. Danach habe er, so erzählt

man, die Klinke tagelang in der Ta-

sche seines Arbeitskittels herumge-

tragen, um sie zu betasten und zu

befühlen. Die Klinke 1020 steht in

der Tradition der organisch gestalte-

ten Handformgriffe, deren Form

aus dem Griffvolumen der Hand ent-

wickelt ist. Der Nachteil ist, dass

sie zu sehr auf bestimmte Handgrö-

ßen abgestimmt sind und eine be-

stimmte Greifhaltung vorgeben. Ein

Handformgriff ist nicht doppelseitig

zu verwenden, das Drückerpaar be-

steht immer aus einem rechten und

einem linken Teil. Die Fertigung des

Modells 1020 war nicht einfach: Die

Kokillen aus Grauguss wurden, be-

vor es Kopierfräsen gab und das Mo-

dell maschinell abgetastet werden

konnte, in mehreren Teilen von Hand

Um zu verstehen, wie wir denken, muss man

unsere Hände anschauen: Wie der Daumen

sich den anderen Fingern entgegensetzt; wie

die Fingerspitzen sich berühren; wie die Hand

sich als Handteller öffnet und als Faust

schließt; wie eine Hand sich der anderen ent-

gegensetzt. Vilém Flusser, 1991

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Die Sammlung des Museum of Modern Art in New York bewahrt vier seiner Modelle

Mehr denn je verlangt heute der Käufer, und dazu

wird er erzogen, selbst von den alltäglichsten

Gebrauchsgegenständen neben einer guten Funktion

und funktionellen Ausführung auch ein angenehmes

Äußeres, eine gute Formgestaltung. Ja, oftmals ist

diese sogar das Primäre . . . Man will keine überlieferte,

dem vergangenen Stilempfinden entsprungene

Form oder Linie, sondern eine zeitgemäße, sachliche,

zweckmäßige . . . Johannes Potente, 1957

Johannes Potente, Brakel

Design der fünfziger Jahre,

Köln 1989

1981–1991, Die ersten zehn Jahre

des zweiten Jahrhunderts von FSB,

Brakel 1991

Jürgen Braun, Die Sprache der

Hände, Mainz 2005

FSB Handbuch 2005

Die fünfziger Jahre wurden die Jahre

der großen Erfolge für Johan nes

Potente. Auf den Millionen-Drücker

1034 von 1954 und das Handform-

Modell 1020 von 1958 folgten klare,

nüchterne, beinahe geometrische

Entwürfe. 1958 kam der „Schneider-

Drücker“ als Modell 1051 auf den

Markt, der mit seinem Namen vor-

übergehend zum Synonym für das

ganze Unternehmen wurde. Die Dau-

menbremse hat die Form eines Drei-

ecks, das an einer Seite abgerundet

ist und an der anderen in den schma-

len, gradlinigen und sich verjüngen-

den Handgriff übergeht. Der Griff be-

sitzt eine ausgeprägte Zeigefinger-

kuhle, und auch die anderen beiden

„Gebote des Greifens“ von Otl Aicher,

Ballenstütze und Greifvolumen, sind

berücksichtigt. Etwa zwei Jahre spä-

ter überarbeitete Johannes Potente

den Schneider-Drücker noch einmal,

und das Ergebnis war das verein-

fachte Modell 1058, angeblich Poten-

tes Lieblingsklinke. Weggefallen war

der dreieckige Akzent am Drehpunkt,

übrig blieb eine schmale Form, die

sich sanft nach hinten verjüngt. Zeit-

gleich mit dem Schneiderdrücker war

der so genannte Schnabel-Drücker

entstanden, das Modell 1046, das in

der Ansicht durch ein spitzwinkli ges,

lang gestrecktes Dreieck und in der

Aufsicht durch eine breite Greifflä-

che auffällt, die sich zum Drehpunkt

hin verjüngt.

Johannes Potente starb 1987 in

Brakel. Er durfte nicht mehr erleben,

dass vier seiner Klinken 1998 in die

ständige Sammlung des Museum of

Modern Art in New York aufgenom-

men wurden.

Johannes Potente bei FSB: Ein Werkzeugmacher entwirft Türdrücker, weil sie gebraucht werden

1881 hatte der Gürtlermeister Franz

Schneider in Iserlohn sein Unterneh-

men in den Kellerräumen des eige-

nen Hauses gegründet. Knapp drei-

ßig Jahre später, 1909, zog er mit

seiner Firma ins Weserbergland nach

Brakel. Das Westfälische Metallwerk

Franz Schneider – so hieß die Firma

damals – war mit ihren 100 Beschäf-

tigten zu jener Zeit der größte Ar-

beitgeber am Ort. Das gilt bis heute.

Ende der zwanziger Jahre hatte FSB

damit begonnen, neben Möbelbe-

schlägen auch Baubeschläge, und

Mitte der dreißiger Jahre die ersten

Türbeschläge aus Leichtmetall zu

produzieren. Der Zweite Weltkrieg

unterbrach Aufstieg und Weiterent-

wicklung. Nach der Währungsre-

form 1948, als der Nachholbedarf

der Verbraucher groß war, die Schau-

fens ter sich wieder füllten und der

Nachkriegs-Bauboom seine Wirkung

zeigte, wurde in kürzester Zeit in

den Industriebetrieben der Produk-

tions stand der Vorkriegszeit wieder

erreicht. Zwischen 1949 und 1960

entstanden in der Bundesrepublik

rund fünf Millionen Wohnungen,

das heißt, die Beschläge-Industrie

konnte ohne große Anstrengungen

am Wirtschaftswunder teilhaben.

1956 war die Belegschaft von FSB

auf 400 Per sonen angewachsen.

Johannes potente dachte an türgriffe, nicht an

kulturgeschichte. Er blieb beim thema, bei der sache

und benahm sich so trivial wie der gegenstand

selbst. Nicht als ob ihm tür griffe gleichgültig gewe-

sen wären. Er lebte für sie . . . Otl Aicher, 1989

Erst wenn aus unseren Geräten jede sicht bare Spur

der technischen Bearbeitung geschwunden ist und wir

sie so natürlich und selbstverständlich wie vom Meer

gerundete Kieselsteine ergreifen, wird man langsam

vergessen, daß es sich überhaupt um so et was wie

eine neue Maschine handelt.

Antoine de Saint-Exupéry, 1939

Oben rechts: Johannes Potente am

Reißbrett.

Mitte von links nach rechts: Bleistift-

skizzen von Johannes Potente;

Gießautomat im FSB-Werk in Brakel;

die Türklinken des Johannes Potente:

Modell 1051, „Schneiderdrücker“,

Mitte 50er Jahre; Modell 1058,

um 1960; Modell 1046; „Schnabel-

Drücker“, Mitte 50er Jahre; Modell

1034, „Millionendrücker“, 1953

1951/52 wurde bei FSB eine zeitge-

mäße Leichtmetallgießerei aufge-

baut. Aluminiumgießen war zwar

schon vorher bekannt, aber noch

nicht weit verbreitet. Die neue Tech-

nik eröffnete ungeahnte Gestal-

tungsräume. Formen wurden mög-

lich, die mit herkömmlichen Techni-

ken nie denkbar gewesen wären.

Die Modelle der Vorkriegszeit waren

nicht mehr gefragt, die Nachfrage

nach neuen Formen lag in der Luft,

und der Werkzeugmacher Johannes

Potente machte sich pflichtgemäß

daran, neue Türdrücker zu entwer-

fen, weil sie gebraucht wurden.