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Mit der Nachtpost

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Rudyard Kipling

Mit der Nachtpost

Unheimliche Geschichten

Aus dem Englischen von

Friedrich Polakovics

Insel Verlag

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insel taschenbuch 1368

Erste Auflage 1991

Originalausgabe © Insel Verlag

Frankfurt am Main und Leipzig 1991

Alle Rechte vorbehalten

Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuchverlag

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus

Satz: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Printed in Germany

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Joseph Rudyard Kipling, geboren am 30. Dezember 1865 in Bombay, ist am 18. Januar 1936 in London gestorben. Kaum überschaubar sind die Einzelausgaben und Auflagen der Romane und Erzählungen des Autors, dessen Erfolge sich nicht nur dem »Dschungelbuch«, den »Just-so-stories« oder »Kim« verdanken. Der Nobelpreisträger (1907) für Literatur, der uns in vielen seiner zahlreichen Kurzgeschichten die Unvereinbarkeit östlichen Denkens und westlicher Zivilisation vor Augen führt, hat dabei fast immer Motive aus dem Bereich des Phantastischen verwendet. So durchzieht all seine Geschichten ein Hauch des Übernatürlichen, oft auch kommt es zum Wechselspiel zwischen anschaulich geschildertem Diesseits und einer Ahnung von Jenseitigem. Fast nicht bekannt ist jedoch, daß Kipling auch etliche Erzählungen geschrieben hat, die sich dem Utopischen zuordnen lassen. So schildert »Mit der Nachtpost« (1905 und 1909) als »Geschichte aus dem Jahr 2000« eine Nachtfahrt mit einem transatlantischen Postluftschiff. Zu einer Zeit, da Funkverkehr noch selten war, sah Kipling schon die Notwendigkeit von Luftverkehrskontrollen und Kommunikationssystemen voraus. In der zweiten Erzählung »Mit der Leichtigkeit des A.B.C.« (1912) spielt dieser »Aerial Board of Control« eine düstere Rolle. Die ironisch-utopische Geschichte drückt Kiplings Besorgnis aus, alle Demokratie könnte obsolet werden weil ersetzt durch politisches Desengagement, Bevölkerungsreduktion und private Abkapselung unter der Herrschaft eines erdumfassenden, übermächtigen Konsortiums – eben des Luftüberwachungs-Ausschusses »A.B.C.«.

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In der dritten Erzählung »Drahtlose Botschaft« – einer, wenn man so will, Utopie von vorgestern – unternimmt es der Autor anhand eines Experiments mit drahtloser Nachrichtenübermittlung, uns in meisterlicher Parallele gänzlich anders geartete, seelisch bedingte Vorgänge nahezubringen.

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Mit der Nachtpost

An einem böigen Winterabend stand ich um neun Uhr auf den

unteren Stufen eines der äußeren G.P.O.-Türme∗ für den

Postversand. Zweck meines Hierseins war ein Abstecher nach

Quebec hinüber, mit dem »Postfrachter 162 oder sonst einem

dorthin bestimmten«: und der Generalpostmeister hatte den

Antrag persönlich gegengezeichnet. Dieser Talisman öffnete

sämtliche Türen, sogar jene zum Abfertigungs-Caisson ganz

unten im Tower, wo die sortierte Kontinentalpost versandbereit

lag. Wie Heringe stapelten sich die Postsäcke auf den langen

und grauen Untersätzen, die unsere G.P.O. noch immer als

»Kutschen« bezeichnet. Gleich fünf solcher Kutschen wurden

in meinem Beisein beladen und auf Leitschienen nach oben

geschossen, zum Eindocken in die wartenden Frachter, den

Sternen um einhundert Meter näher.

Vom Abfertigungs-Caisson geleitete mich ein

zuvorkommender, aufs beste geschulter Beamter – ein Mr. L.

∗ General Post Office

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L. Geary, Zweiter Abfertiger für die Weststrecke – zum

Kapitänszimmer (eine Bezeichnung, welche romantische

Reminiszenzen in uns heraufruft), wo die Postkapitäne

eingeteilt werden. Dort stellte er mich den Kapitänen der

»162« vor – einem Kapitän Purnall sowie seinem Zweiten,

dem Kapitän Hodgson. Der eine ist klein und dunkelhaarig, der

andere hochgewachsen und rot, doch haben sie beide den

brütend verschleierten, für Adler wie Aeronauten

charakteristischen Blick. Man kann das auf Bildern unserer

Rennprofis sehen, von L. V. Rautsch angefangen bis zu der

kleinen Ada Warrleigh – jenes unergründbar Abstrakte in

Augen, welche gewohnt sind, nur die Leere des Raumes vor

sich zu haben.

An der Übersichtstafel des Kapitänszimmers registrieren

vibrierende Zeiger von etwa zwanzig Indikatoren nach

Breiten- und Längengraden die jeweilige Position von ebenso

vielen Frachtern auf deren Heimflug. Das Wort »Kap«

erscheint auf dem Skalenblatt einer Meßuhr; ein Gong schlägt

an; die südafrikanische Post von Mitte der Woche ist an den

Einlauftowers von Highgate, nichts weiter. Das Ganze erinnert

auf komische Weise an die kleine Signalglocke, welche an

Brieftaubenkästen das Eintreffen einer Botschaft anzeigt.

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»Zeit, sich zum Abflug fertigzumachen«, sagt Kapitän

Purnall, und der Passagierlift schießt mit uns hinauf zur

obersten Plattform des Towers. »Unsere Kutsche wird erst

eingedockt, wenn sie voll ist und wenn auch die Postbegleiter

an Bord sind.«…

»Nr. 162« wartet ganz oben auf uns, am Einstieg E. Das

riesige Rund ihrer Rückseite schimmert eisig im

Lampenschein, und eine winzige Positionskorrektur bewirkt

einen leichten Ruck an den Halteklampen.

Kapitän Purnall zieht eine finstere Miene und verschwindet

im Innern. Unter leisem Zischen pendelt die »162« sich in die

vorgeschriebene, waagrechte Lage. »Nr. 162« mißt von der

Bugkappe (die vom Durchpfeilen unzähliger Meilen aus

Hagel, aus Eis und aus Schnee diamantgleich geschliffen ist)

bis zu den Führungsringen ihrer drei achternen Luftschrauben

wohl an die achtzig Meter, bei einem über beträchtliche Länge

gleichbleibenden Durchmesser von mehr als zehn Metern. Erst

der Vergleich mit den dreihundert zu zweiunddreißig Metern

jedes beliebigen Luftkreuzers führt uns richtig vor Augen,

welche Kraft diesen Schiffsrumpf durch alle Unbill des

Wetters vorantreibt mit einer Geschwindigkeit, welche das

Spitzentempo der großen »Zyklon« noch weit übertrifft!

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Das Auge entdeckt an der Außenhaut keinerlei Fuge, bis auf

den haarfeinen Einschnitt der Bugsteuerung – Magniacs Ruder,

das uns die Beherrschung des unsichern Luftraums erst richtig

erlaubt hat, doch dem Erfinder nur Armut und halbe

Erblindung eintrug. Es ist nach Castellis »Möwenschwingen«-

Kurve berechnet. Hebt man nur wenige Fuß dieser fast nicht

sichtbaren Platte um neun Millimeter an, so bricht der Frachter

fünf Meilen nach Back- oder Steuerbord aus, noch bevor man

ihn wieder unter Kontrolle gebracht hat. Fährt man jedoch das

Ruder voll aus, so ist er gleich wieder auf kerzengeradem

Kurs. Neigt man das Ganze nach vorn – eine winzige

Raddrehung reicht dafür aus –, so saust der Frachter auf- oder

abwärts, ganz je nachdem. Und bei kompletter Drehung des

Rades gibt’s in der Luft einen Rauchpilz, der das Schiff

vertikal eine halbe Meile nach oben katapultiert.

»Ja«, sagt Kapitän Hodgson, als hätte er meine Gedanken

erraten. »Castelli glaubte, die Aeroplanlenkung erfunden zu

haben, und hatte doch nur die Steuerung lenkbarer Ballone

entdeckt. Magniac hat dann ein Ruder erfunden, um

Kriegsluftkreuzer leichter rammen zu können. Als der Krieg

aber abgeschafft wurde, kam Magniac um den Verstand und

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sagte, er könne dem Vaterland nun nicht mehr nützen. Ich

frage mich, wer von uns wirklich weiß, was wir tun.«

»Wenn Sie das Kutschen-Eindocken mitkriegen wollen, dann

sollten Sie jetzt an Bord kommen. Es ist gleich soweit«, sagt

Mr. Geary. Ich benutze den mittschiffs gelegenen Einstieg.

Das Innere des Frachters ist ohne Aufwand gestaltet. Die

Hüllen der Gasbehälter befinden sich nur einen halben Meter

über dem Kopf und berühren mit ihrer oberen Krümmung fast

schon die Außenwand. Passagierkreuzer und Privatjachten

verbergen die Tanks hinter Dekorationen, die G.P.O. jedoch

begnügt sich mit dem offiziell-grauen Anstrich. Die

Innenverschalung trennt etwa fünfzehn Meter des Bugraums

und ebensoviel am Heck vom Mittelteil ab, doch enthält der

abgeschottete Bugraum den Schacht für die Höhensteuerung,

das Heck hingegen die Bohrungen für den Schiffsantrieb. Der

Maschinenraum liegt etwa mittschiffs. Ihm schließt sich nach

vorne, fast bis an die Krümmung der Bugtanks, ein jetzt noch

geöffneter Einlaß an, durch den unsre »Kutsche« eingedockt

werden soll. Über die Lukenumrandung hinweg sieht man

hundert Meter nach unten, bis auf den Grund des Caissons, von

wo der Stimmenlärm zu uns heraufdringt. Unten das Licht

verdüstert sich jetzt und wird zum Donnergetöse, mit dem

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unsre »Kutsche« längs ihrer Leitschienen zu uns emporschießt.

Sehr rasch kommt sie näher, war eben noch briefmarkenklein,

ist jetzt schon spielkartengroß, gewinnt die Ausmaße eines

Kahns und schließlich eines Pontons. Die beiden Beamten

darauf heben während des Eindockens nicht einmal ihre

Köpfe. Die Quebec-Poststücke fliegen unter den Fingern der

Männer hervor und landen in den beschrifteten Fächern,

während die zwei Kapitäne und Mr. Geary sich überzeugen,

daß die Kutsche sicher eingedockt ist. Einer der beiden

Beamten reicht jetzt den Postbegleitzettel über den Lukenrand.

Kapitän Purnall drückt seinen Daumen darauf und reicht das

Papier zurück: der Empfang ist bestätigt. »Guten Flug«,

wünscht Mr. Geary und verschwindet danach durch den

Ausstieg, worauf der fußhohe Kompressor die Tür

pneumatisch verschließt.

»A-ah« seufzt der Kompressor, während die Druckluft

entweicht. Unsre Festhalteklampen lösen sich klickend. Wir

sind klar zum Abflug.

Kapitän Hodgson öffnet die große Kolloid-Bodensichtklappe,

durch die ich das von Millionen Lichtern erhellte London unter

uns ostwärts weggleiten sehe, sobald der Sturm uns erfaßt hat.

Die erste, tiefhängende Winterwolke verdeckt den vertrauten

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Anblick und verfinstert ganz Middlesex. An ihrem südlichen

Rand ist das Licht eines Postfrachters sichtbar, wie es die

weißliche Wolle durchpflügt. Sekundenlang leuchtet es auf wie

ein Stern, ehe der Frachter nach unten verschwindet, in

Richtung der Anlegetowers von Highgate. »Die Bombay-

Post«, sagt Kapitän Hodgson nach einem Blick auf seine Uhr.

»Mit vierzig Minuten Verspätung.«

»Wie hoch sind wir jetzt?« frage ich.

»Zwölfhundert Meter. Wollen Sie nicht auf die Brücke

mitkommen?«

Die »Brücke« (gesegnet sei die G.P.O. als Refugium ältester

Traditionen!) besteht aus dem Anblick von Kapitän Hodgsons

Beinen auf der Kontrollplattform, die quer zum Schiff steht,

knapp über Kopfhöhe. Die Blenden am Bugkolloid öffnen

sich, und Kapitän Purnall, die eine Hand an der Steuerung,

geht auf leichten Steigflug. Der Höhenanzeiger klettert auf

1300.

»Recht steil heute nacht«, murrt er vor sich hin, während

draußen die Wolken Schicht um Schicht abwärts vorbeiziehen.

»Im allgemeinen haben wir um diese Jahreszeit schon unter

eintausend Meter den Ostwind im Rücken. Dieser Blindflug

durch nichts als Wolken ist mir gründlich zuwider!«

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»Ganz wie Van Cutsem auch. Schau mal hinüber, wie schräg

er hinaufjagt!« sagt Kapitän Hodgson. Ein Nebelscheinwerfer

glimmt durch die Wolken herauf, fast zweihundert Meter

tiefer. Der Antwerpener Postfrachter signalisiert und

verschwindet im Steigflug zwischen zwei fernen, backbords

vorüberjagenden Wolken, wobei seine Längsseite blutrot

aufleuchtet im doppelten Lichtstrahl von Sheerness. In einer

halben Stunde werden wir bei diesem Sturm schon über dem

Nordmeer sein, aber Kapitän Purnall bleibt gelassen auf

Steigflug – nach welcher Richtung auch immer.

»Fünfzehnhundert – zweitausend – zweitausendeinhundert« –

der Neigungsmesser zeigt es uns an, noch ehe wir in der

Ostströmung sind, die sich bei etwa 1800 durch einen

Schneeschauer ankündigt. Kapitän Purnall ruft den

Maschinenraum an und schaltet den Drehzahlregler herunter.

Es hat keinen Sinn, die Maschinen über Gebühr zu belasten,

wenn Aeolus persönlich – und noch dazu gratis – für gutes

Vorankommen sorgt. Erst jetzt sind wir wirklich auf Kurs – die

Bugkappe weist ganz genau auf unseren Peilungsstern. In

dieser Höhe breiten die tieferen Wolken sich unter uns, von

den trockenen Fingern des Ostwinds strähnig und sauber

durchkämmt. Und noch weiter unten sieht man die starke

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westliche Strömung, durch die wir gestiegen sind. Über uns

zieht der südwärts treibende Dunst seinen Schleier gleich

einem Bühnenvorhang vors Firmament. Das Mondlicht

wandelt die Wolkenschicht unter uns zur makellos-silbernen

Fläche, die nur unser Schatten durchläuft. Das Doppelfeuer

von Bristol und Cardiff (jene prächtigen, schrägen Strahlen

über der Severnmündung) taucht direkt vor uns auf – wir

benutzen die südliche Winterstrecke. Coventry-Mitte, die

Drehscheibe unseres englischen Netzes, schickt alle zehn

Sekunden seinen blitzenden Lichtstrahl in nördlicher Richtung

herauf, und ein, zwei Strich steuerbords beschreibt The Leek,

der große Wolkenbrecher von Saint David’s Head, mit seinem

unverwechselbar grünen Strahl einen Lichtkegel von

fünfundzwanzig Grad. Bei der herrschenden Wetterlage muß

die Wolkenschicht über ihm wohl eine halbe Meile dick sein,

aber das hat für The Leek nichts zu bedeuten.

»Unser Planet ist recht gut beleuchtet, das steht außer Frage«,

meint Kapitän Purnall am Steuer, während Cardiff-Bristol

unter uns weggleitet. »Ich entsinne mich noch der alten Zeiten

mit ihren gewöhnlichen weißen Vertikalstrahlern, die

höchstens eintausend Meter in den Dunst hinaufgereicht haben

– und auch da mußte man wissen, wo sie zu suchen waren.

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Und bei wirklich verhangenem Himmel hätte man ebensogut

den Hut draufhauen können. Mitunter hat man sich damals

ganz schön verfranzt auf dem Heimflug. Heute dagegen ist es,

als führe man Piccadilly entlang.«

Er deutet in Richtung der Lichtsäulen, welche die

Wolkendecke durchstoßen. Von Englands Umrissen sehen wir

nichts – nur eine weißliche Bodenschicht, die allerorten

durchsetzt ist mit Schächten verschiedenfarbenen Lichts, von

Holy Island herauf weiß und rot, von St. Bee als weißes

Blinkfeuer, und so geht es weiter bis an den Rand unsres

Blickfelds. Gesegnet seien Sargent, Ahrens und die Gebrüder

Dubois für die Erfindung dieser Wolkenbrecher, welche das

Reisen so sicher gemacht haben!

»Gehen Sie höher beim Anflug auf The Shamrock?« fragt

Kapitän Hodgson. Cork Light (grün und unbeweglich) wird

nun immer größer. Kapitän Purnall nickt. Dichtester

Flugbetrieb herrscht hier herum – die Wolkenbank unter uns

ist streifig erhellt von den laufenden Flammenspuren der

Atlantikschiffe, welche knapp über der Dunstschicht Eilkurs

auf London nehmen. Durch Konferenzbeschluß sind den

Postfrachtern die Flugstraßen auf 1700 vorbehalten – doch

wenn es ein Ausländer eilig hat, nimmt er’s im englischen

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Luftraum nicht so genau. Unter langgezogenem Heulen des

Fahrtwinds an der vorderen Ruderklappe gewinnt »162« an

Höhe, wir überfliegen Valencia (weiß-grünweiß) in sicheren

2100 Metern und dippen unseren Scheinwerferstrahl zur

Begrüßung eines hereinkommenden Washington-Postfrachters.

Keine Wolke steht überm Atlantik, und die schwachen

Schaumstreifen an den Ufern der Dingle Bay zeigen an, wo die

windgepeitschte See gegen die Küste anbrandet. Ein großer

S.A.T.A.-Liner (Societe Anonyme des Transports Aeriens,

Lufttransport-A.G.) geht 800 m unter uns abwechselnd höher

und tiefer, auf der Suche nach einem Durchschlupf inmitten

des steifen West. Noch weiter unten liegt ein flugunfähig

gewordener Däne: er ist dabei, seine Daten nach

internationalem Code an den Liner weiterzugeben. Unser

Hauptkommunikator fängt den Funkverkehr auf und hört mit.

Schon will Kapitän Hodgson ihn abschalten, besinnt sich aber

im letzten Moment: »Vielleicht möchten Sie mithören«, sagt

er.

»›Argol‹ von St. Thomas«, wimmert es im Empfänger.

»Informieren Sie Eigner, Lager von drei

Steuerbordantriebswellen durchgeschmort. Können noch

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Flores erreichen, Weiterflug nicht mehr möglich. Sollen wir in

Fayal Ersatzlager kaufen?«

Der Liner bestätigt den Funkspruch und rät, die Lager

verkehrtherum einzubauen. ›Argol‹ funkt zurück, dies sei

schon geschehen, doch ohne Erfolg, und läßt danach ihrem

Unmut über das deutsche Billig-Email für Antriebslager freien

Lauf. Der Franzose stimmt dem von Herzen bei, ruft noch

»Courage, mon ami« und schaltet ab.

Dann verschwinden die Lichter der beiden unter der Kimm.

»Das ist einer der Lundt & Bleamer-Transporter«, sagt

Kapitän Hodgson. »Geschieht ihnen recht – warum verwenden

sie deutsche Legierungen in ihren Antriebsblocks! Der kommt

heut abend nicht mehr bis Fayal. Übrigens, möchten Sie jetzt

einen Blick in den Maschinenraum tun?«

Da ich schon gespannt auf diesen Vorschlag gewartet habe,

folge ich Kapitän Hodgson auf seinem Weg von der Plattform,

sehr tief gebückt, um mit dem Kopf nicht gegen die

Treibstoffbehälter zu rennen. Wir wissen, daß Fleury’s Gas

alles heben kann, wie die weltberühmten Versuche von 89

gezeigt haben, doch erfordern seine nahezu unbegrenzten

Expansionskräfte einen sehr großen Tankraum. Sogar in dieser

dünnen Luft reduzieren die Höhenruder den normalen Auftrieb

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beständig um ein Drittel, und trotzdem muß die »162«

gelegentlich mit dem Ruder nach unten gedrückt werden, sonst

würden wir bis an die Sterne steigen. Kapitän Purnall zieht es

vor, in den höheren Schichten zu fliegen, doch sind bezüglich

der Schiffssteuerung keine zwei Kapitäne der gleichen

Meinung. »Bin ich auf der Brücke«, sagt Kapitän Hodgson, »

so nehme ich vierzig Prozent des Gasauftriebs weg und steuere

nur mit dem oberen Ruder – also mit Aufwärts- und nicht mit

Abwärtstendenz, könnte man sagen. Jede Art hat was für sich,

es ist bloß Gewohnheitssache. Sehen Sie mal auf die

Neigungsanzeige! Immer nach dreißig Knoten drückt Tim uns

nach unten, das geht so gleichmäßig wie unser Atem.«

Man sieht es am Neigungsmesser. Fünf, sechs Minuten lang

klettert der Anzeigepfeil von 2000 auf 2200. Dann kommt das

leise Zischen des Ruders, und schon sinkt der Pfeil bis unter

2000, während wir zehn oder fünfzehn Knoten im Abwärtsflug

zurückgelegt haben.

»Bei schwerem Wetter läßt sie sich ebensogut mit den

Luftschrauben dirigieren«, sagt Kapitän Hodgson, löst dabei

die Barriere, welche den Maschinenraum vom leeren Deck

abteilt, und führt mich nach unten.

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Hier sehen wir Fleurys Vakuumkammer-Paradoxon – das wir

heutzutag als gegeben hinnehmen, ohne erst viel drüber

nachzudenken – buchstäblich in voller Aktion. Die drei

Antriebsaggregate sind verstärkte Fleury-Hochdruckturbinen

mit einem Limit von 3000 Touren, also bis zu dem Punkt, wo

die Schaufeln zu »schrillen« anfangen – d. h. von sich aus ein

Vakuum erzeugen, ganz wie früher die Schiffsschrauben bei zu

hoher Drehzahl. Das Limit von »162« liegt vergleichsweise

tief, bedingt durch geringere Größe ihrer neun Luftschrauben,

die, obschon leichter bedienbar als die alten Kolloid-

Thelussons, früher zu »schrillen« beginnen. Die

Mittschiffturbine, die für gewöhnlich nur zur Verstärkung

gebraucht wird, ist abgeschaltet. Also sind die

Vakuumkammern von Back- und Steuerbordturbine direkt mit

den Rückstoß-Hauptrohren gekoppelt. Von den tiefgewölbten

Expansionstanks führen Ventilröhren säulengleich zu den

Turbinenkästen, und von dort treibt das Gas in sausendem

Wirbel die spiraligen Schaufeln mit einer Wucht, die jeder

Motorsäge die Zähne wegblasen würde. Dahinter wird dann

der Gasdruck mithilfe der Auftriebsregelungsklappen gehemmt

oder beschleunigt, je nach Bedarf. Davor ist die

Vakuumkammer, wo der Fleurystrahl als violettgrünes

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Flammenband wirbelt. Die gekoppelten U-Röhren der

Vakuumkammer sind aus drucksicherem Kolloid (weil kein

Glas der Beanspruchung standhalten könnte), und ein

Hilfsmaschinist mit getönten Schutzbrillen läßt den Gasstrahl –

das Herzstück des Ganzen – nicht aus den Augen. Der

Vorgang ist ja noch immer kein restlos gelöstes Rätsel. Sogar

Fleury, der ihn erfand und, anders als Magniac, als

Multimillionär starb, konnte nicht erklären, wie und warum der

rastlose kleine Impuls in den U-Röhren im Bruchteil eines

Sekundenbruchteils jene furiose Gasdruckwelle durch die

graugrüne Kühlflüssigkeit treibt, die tropfenweise (man kann

es hören) vom hinteren Ende des Vakuums durch die

Zuleitungsrohre herein- und durchs Hauptrohr in die Bilgen

zurückkommt. Dort nimmt sie ihren gasförmigen, man möchte

fast sagen ›denkenden‹ Zustand wieder an und steigt auf zu

neuerlicher Aktion. Bilgentank, oberer Tank, Seitentank,

Expansionskammer, Vakuum, Hauptrückstrahlrohr (für den

flüssigen Zustand) und wiederum Bilgentank bilden so den

beständigen Kreislauf. Fleury’s Strahl achtet darauf, und der

Maschinist mit den Schutzbrillen achtet auf Fleury’s Strahl.

Ein winziger Ölfleck, ja sogar das natürliche Fett eines

Fingerabdrucks an den Schutzkappen der Verbindungsventile

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genügt, um den Strahl sofort zum Erlöschen zu bringen, und es

bedarf großer Mühe, ihn neuerlich aufzubauen. Das

beansprucht dann einen halben Tag Arbeit für die gesamte

Besatzung und kostet die G.P.O. einhundertsiebzig Pfund an

hinausgeworfenem Geld für Radiumsalze und ähnliches Zeug.

»Sehen Sie sich mal unsre Schubverstärkerringe an. Sie

werden daran kaum eine Legierung aus Deutschland vorfinden.

Läuft alles auf echten Steinen, nicht wahr«, sagt Kapitän

Hodgson, während der Maschinist eine der Schutzkappen

aufklappt. »Unsere Antriebswellen laufen in Lagern der I.D.C.

(Industriediamanten-Compagnie), die Steine sind so sorgfältig

geschliffen wie Teleskoplinsen. Sie kommen per Stück auf 37

Pfund. Ihre Lebensdauer ist noch lange nicht abgelaufen. Diese

Lager zum Beispiel stammen von »Nr. 97«, und die wiederum

hat sie von der alten ›Dominion of Light‹ übernommen, für die

sie aus dem Wrack von einem der ›Perseus‹-Aeroplane

ausgebaut worden sind, in den Jahren, als man noch

stoffbespannte Kisten mit Thorium-Motoren verwendet hat!

Eigentlich sind sie ein schimmernder Vorwurf für all diese

billige deutsche ›Rubin‹-Emaillierung der sogenannten

›Diamantstaub‹-Beläge und unverläßlichen

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Aluminiumlegierungen, die nur unsern dividendenhungrigen

Eignern behagen, aber uns Skipper wahnsinnig machen.«

Rudermaschine und Gasauftriebsregler, beide unterhalb der

Kontrolltafel des Maschinenraums, sind die einzigen, deren

Funktion sichtbar ist. Das von Zeit zu Zeit hörbare leise

Zischen rührt vom Ölkolben der Rudermechanik her, wogegen

der Auftriebsregler, nicht minder geschützt als die U-Röhren

dahinter, einen zweiten Fleurystrahl zeigt, nur in verkehrter

Richtung und von grünlicherem Violett. Seine Aufgabe ist es,

den Gasauftrieb zu reduzieren, wobei er jedoch nicht

überwacht werden muß. Und damit hat sich’s auch schon: ein

winziges Pumpengestänge, das neben einem grünflimmernden

Lämpchen gedämpfte Quietschlaute von sich gibt; dahinter, am

Ende des fünfzig Meter langen, flachen Tunnels mit den

Tanks, ein schwächlich flackernder, violetter Schein; zwischen

den beiden Lichtern drei weißlackierte Turbinenschutzgitter,

die an gekippte Aalkörbe gemahnen und den leeren Durchblick

akzentuieren. Man hört es rieseln, wenn das verflüssigte Gas

aus dem Vakuum in die Bilgentanks fließt, und man vernimmt

das leise Klicken beim Schließen der Durchlaßklappen, sobald

Kapitän Purnall die »162« bugabwärts steuert. Das Gesumm

der Turbinen und das Rauschen der Luft an der Schiffshaut

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wirkt in der universellen Stille nicht anders, als legte ein

wollener Lappen sich um das Fahrzeug. Und dabei machen wir

die Meile in achtzehn Sekunden!

Ich spähe vom vordern Maschinenraum-Ende über die

Lukenumrahmung in die »Kutsche« hinunter. Dort sind die

Postangestellten dabei, die Poststücke zu sortieren – nach

Winnipeg, Calgary, Medicine Hat – und in den betreffenden

Postbeuteln zu verstauen. Ein Pakken Postkarten liegt aber

noch auf dem Tisch.

Plötzlich schrillt eine Klingel: Alarm! Die Maschinisten eilen

an die Turbinenventile. Doch der Strahlsklave mit seinen

Schutzbrillen hebt nicht einmal den Kopf. Er darf seinen

Posten niemals verlassen. Wir werden sehr hart gebremst und

gehen dann rückwärts. Von der Kontrollplattform tönen

Wortfetzen herein.

»Tim ist über irgendwas fuchsteufelswild«, meint Kapitän

Hodgson gelassen. »Wollen mal nachsehn!«

Tatsächlich hat Kapitän Purnall nichts mehr von jenem

verbindlichen Menschen an sich, der er noch vor einer halben

Stunde gewesen ist: er verkörpert nunmehr die gesamte

Autorität der G.P.O. Vor uns schwebt ein alter, überaus

schäbiger, aluminiumgeflickter Tramper mit

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Zwillingsschraubenantrieb, so wenig berechtigt, sich auf

unserm Kurs in 1500 m Höhe herumzutreiben, wie ein

Pferdekarren im modernen Großstadtverkehr. Er ist mit einem

uralten »Barbette«-Kommandoturm ausgestattet – einem Ding

von 1,80 Höhe, vorn mit Geländerplattform –, und unser

Signalscheinwerfer strahlt dessen Oberteil an wie die Lampe

des Polizisten einen Verkehrssünder. Und wie ein

Gesetzesübertreter kommt jetzt aus dem Turm ein verstörter

Pilot in Hemdsärmeln zum Vorschein. Kapitän Purnall kurbelt

das Kolloidfenster auf, will reden von Mann zu Mann: es gibt

ja Momente, in denen die bloße Technik nicht ausreicht.

»Was hast du hier unter den Sternen zu suchen, du

wolkenkratzender Schornsteinfeger?« brüllt er hinüber,

während wir Bord an Bord treiben. »Weißt du nicht, daß hier

die Poststrecke ist? Und du willst ein Navigator sein, Bursche?

Bist ja nicht mal imstande, bei den Eskimos Luftballons zu

verkaufen! Deinen Namen und deine Nummer, so mach schon

– und dann hinunter mit dir, und sei dreimal – !«

»Ich bin auf einmal hier oben gewesen«, schreit heiser der

völlig entgeisterte Mann – es klingt fast wie Hundegebell.

»Und was Sie machen, das kümmert mich einen Dreck, Sie

trauriger Posthengst!«

Page 25: Mit der Nachtpost

»Finden Sie, Sir? Na, dann sorg’ ich dafür, daß es Sie

kümmert! Ich mache Sie fest, mit dem Heck Richtung Disko∗,

und lege Sie still. Und von der Versicherung kriegen Sie

keinen Groschen, sobald man Sie wegen Behinderung sperrt!

Verstehn Sie mich jetzt?«

Darauf brüllt der Fremde: »Sehn Sie sich lieber meine

Propeller an! Dort unten hat’s einen Wirbel gegeben, der hat

das reine Schirmgestell aus uns gemacht! Seit zwölf

Kilometern treibt es uns hoch, und innen sehen wir aus wie ein

kaputtes Uhrwerk! Mein Maat hat einen gebrochenen Arm,

mein Maschinist einen zerschlagenen Schädel. Der Gasstrahl

ist abgerissen, als die Maschine zu Bruch ging, und… und…

um Gotteswillen, sagen Sie mir, wie hoch wir sind, Kapitän!

Ich hab’ das Gefühl, wir sacken jetzt ab!«

»Zweitausendeinhundert. Können Sie das halten?« Kapitän

Purnall, alle Insulte bewußt übergehend, beugt sich aus dem

Kolloidluk, überzeugt sich vom Zustand des fremden

Fahrzeugs und zieht prüfend die Luft ein. Das leckgewordene

Schiff stinkt infernalisch.

∗ Insel vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.

Page 26: Mit der Nachtpost

»Wenn wir Glück haben, machen wir’s noch bis St. John’s.

Wir sind gerade dabei, den Vordertank abzudichten, aber das

Gas pfeift ganz einfach davon!« jammert der fremde Pilot.

»Der sackt ab wie ein Stein«, meint leise Kapitän Purnall.

»Ruf mal das Wachschiff an, George!« Unsre Kontrolluhr

zeigt an, daß wir, Bord an Bord mit dem Luftvagabunden,

innerhalb weniger Minuten einhundertfünfzig Meter an Höhe

verloren haben.

Kapitän Purnall drückt einen Schalter, und der Strahl des

Signalscheinwerfers durchbricht die Nacht mit rotierenden

Speichen aus Licht.

»Das wird schon jemanden herbeirufen«, sagt er, während

Kapitän Hodgson den Hauptkommunikator betätigt. Er hat das

Wachboot der Nordküste angerufen, ein paar hundert Meilen

westlich, und gibt jetzt den Sachverhalt durch.

»Ich werd’ Ihnen Beistand leisten!« brüllt Kapitän Purnall zu

der einsamen Gestalt in ihrem Leitturm hinüber.

»Steht es so schlimm?« kommt’s zurück. »Es ist mein

eigenes Schiff – und nicht versichert!«

»Das hätt’ ich mir denken können«, murrt Hodgson.

»Besitzerrisiko ist das schlimmste von allen!«

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»Komm’ ich nicht mehr bis St. John’s – auch nicht mit

diesem Wind?« tönt es klagend herüber.

»Machen Sie alles bereit zum Verlassen des Schiffs! Haben

Sie gar keinen Auftrieb mehr – weder vorne noch achtern?«

»Nichts – nur die Mittschifftanks, und die sind nicht dicht!

Ich sagte ja schon, mein Gasstrahl ist weg, und – « Ein

Hustenkrampf im Gestank des entweichenden Gases macht

den Worten ein Ende.

»Armer Teufel!« Doch das erreicht unsern Freund nicht.

»Und was sagt das Wachboot, George?«

»Will wissen, ob Gefahr für den Luftverkehr ist. Sagt, es sei

selber in Sturmnot und kann seine Position nicht verlassen. Ich

hab’ einen allgemeinen Notruf hinausgeschickt, damit uns

auch ohne den Lichtstrahl jemand zu Hilfe kommt – sonst

müssen wir selber es tun. Soll ich unsre Fangtaue klarmachen?

Moment – da ist ja schon einer! Noch dazu ein Planet-

Passagierschiff! Gleich wird es da sein!«

»Gib ihm durch, es soll seinen Rettungskorb ausfahren«, ruft

der Kollege. »Es ist nicht viel Zeit zu verlieren… Verbinden

Sie Ihren Maat!« brüllt er zum Tramper hinüber.

»Mein Maat ist versorgt. Aber der Maschinist! Er dreht

durch!«

Page 28: Mit der Nachtpost

»So beruhigen Sie ihn – mit dem Schraubenschlüssel – nur

rasch!«

»Aber ich halte durch bis St. John’s, wenn Sie mir helfen!«

»Sie halten nicht durch, sondern zu, und zwar auf den Grund

des Atlantik – in zwanzig Minuten sind Sie soweit! Sie sind

jetzt schon unter zweitausend! Los – und vergessen Sie nicht

die Papiere!«

Ein Planet-Passagierschiff auf Ostkurs beschreibt eine

saubere Schleife und hängt sich danach über uns. Das

Bodenkolloidluk ist offen, und die Transportschlingen hängen

heraus wie Fangarme. Wir schalten den Scheinwerfer ab,

während der Liner – haargenau kommt er herein – über dem

Leitturm des Trampers in Position geht. Jetzt taucht der Maat

auf, den Arm an den Leib gebunden, und taumelt zum

Rettungskorb. Ihm folgt ein Mann mit gräßlich durchblutetem

Kopfverband, fortwährend schreiend, er müsse zurück, den

Gasstrahl aufbauen! Der Maat beruhigt ihn, indem er sagt, im

Maschinenraum des Passagierschiffs erwarte ihn ein noch viel

schönerer Strahl. Der Kopfbandagierte nickt aufgeregt und

wird gleichfalls nach oben gehievt. Ein Junge und eine Frau

folgen. Vom Liner kommen aufmunternde Rufe, und wir

können die Passagiergesichter am Salonkolloid erkennen.

Page 29: Mit der Nachtpost

»Sie ist ein gutes Mädchen. Worauf wartet der Hohlkopf

noch?« sagt Kapitän Purnall.

Jetzt taucht der Skipper zum andernmal auf, appelliert

nochmals an uns, bei ihm zu bleiben und ihn bis St. John’s zu

begleiten. Danach taucht er unter und kommt – was wir

kleinen Menschen in der Leere des Raums ganz besonders

bejubeln – mit dem Schiffskätzchen zum Vorschein. Die

Fangtaue des Liners gehen zischend nach oben, rasselnd

schließt sich sein Bodenluk, und gleich darauf saust er davon.

Der Höhenmesser zeigt nur mehr 900 Meter an.

Vom Wachboot ergeht der Befehl, wir hätten beim Wrack zu

bleiben, das nunmehr langsam, in pfeifendem Zickzackkurs, in

seinen Tod sinkt.

»Halten Sie’s weiter im Suchscheinwerfer und geben Sie eine

generelle Warnung hinaus«, sagt Kapitän Purnall und geht

gleichfalls tiefer.

Aber das wäre nicht nötig. Es gibt keinen Liner, der die

Bedeutung unseres Vertikalstrahls nicht kennte und uns nicht

in weitem Bogen auswiche.

»Sie wird doch vollaufen und absaufen?« frage ich.

»Nicht unbedingt«, sagt der Kapitän. »Ich weiß da von einem

Wrack, das sich kopfüber und mit herausgekippten

Page 30: Mit der Nachtpost

Antriebsmaschinen noch drei Wochen auf den tieferen

Strecken herumtrieb, bloß von den vorderen Tanks in Schwebe

gehalten. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Gib ihr den Rest,

George, aber gib Obacht dabei! Dort vorn zieht ein böses

Wetter herauf!«

Kapitän Hodgson öffnet das Bodenluk, fährt das gewichtige

Fangeisen aus seiner Halterung, die in den Linern zumeist mit

einer Sitzbank verschalt ist. Wir hören das schwirrende Öffnen

der sichelförmigen Arme. Der Bug des Wracks wird

durchbohrt, herumgedreht und diagonal durchgerissen. Danach

saust das Schiff, noch immer in unserem Scheinwerferstrahl,

mit dem Heck voran in die Tiefe, gleitet wie eine verlorene

Seele längs unerbittlicher Lichtbahn hinab – und wird vom

Atlantik verschlungen.

»Ein dreckiger Job«, sagt Hodgson. »Wie das wohl früher

gewesen sein mag, in alten Zeiten?«

Die nämliche Frage war auch mir durch den Kopf gegangen.

Wie, wenn jener taumelnde Rumpf voll mit internationalen

Fahrgästen gewesen wäre, deren jeden man gelehrt hatte (und

das ist der Horror daran!), ihm sei nach dem Tode die Ewige

Höllenqual so gut wie gewiß?

Page 31: Mit der Nachtpost

Und kaum fünfzig Jahre danach verstehen wir uns (die wir,

wie jedermann weiß, nur der verlängerte Arm unsrer Väter

sind) so wunderbar auf das Rammen und Reißen und In-den-

Grund-Bohren!

Doch in diesem Moment befiehlt uns Tim vom Kontrollstand

herab, sofort unsre aufblasbaren Schutzanzüge anzulegen und

auch ihm den seinen hinaufzureichen!

Eilig zwängen wir uns in die schweren Gummianzüge – die

Maschinisten sind schon soweit – und pumpen sie an den

Anschlüssen auf. Die G.P.O.-Inflatoren sind dreimal so dick

wie die »Flitzer« der Rennpiloten und reiben abscheulich unter

den Achseln. George übernimmt die Steuerung, während Tim

sich nahezu kugelrund aufblasen läßt. Stieße man ihn vom

Kommandostand an die Decke, er würde zurückprallen wie ein

Fußball. Indes, solches Ballspiel besorgt unsre »162« von sich

aus.

»Im Wachboot drehen sie durch – total übergeschnappt«,

schnauft der zurückkehrende Tim. »Sie warnen uns vor argen

Luftlöchern auf unsrem Kurs und wollen, daß wir über

Grönland ausweichen. Aber da will ich erst noch sie absaufen

sehen! Eineinviertel Stunden verschwenden wir da an die

lahme Ente dort unten, und jetzt will man von mir, daß ich mir

Page 32: Mit der Nachtpost

den Hintern am Nordpol erfriere! Was glauben denn die,

woraus ein Postfrachter gemacht ist? Aus Seidengummi

vielleicht? Gib ihnen durch, George, wir bleiben auf direktem

Kurs!«

George schnallt ihn auf dem Pilotensitz fest und schaltet

danach die Kontrolle ein. Tims linke Fußspitze ist überm

Gaspedal der Backbordmaschine, die linke Ferse über dem

Rückwärtsgang, und dementsprechend ist’s auch mit dem

anderen Fuß. Die Auftriebs-Stopper am Steuerrad sind mit den

Fingern der linken Hand zu bedienen. Rechts ist der

Schalthebel für die stillgelegte, aber betriebsbereite

Mittschiffsmaschine. Jetzt beugt sich der Kapitän in seinem

Gurt ganz nah an die Kolloidscheibe und hält Ausschau nach

vorn, das eine Ohr zum Hauptkommunikator geneigt.

Dergestalt ist er die personifizierte Kraft und auch Richtung

der »162«, auf jedes Ereignis gefaßt.

Das Küstenwachboot funkt seitenlang A.B.C.-Direktiven zur

Luftverkehrslage: Wir sollen sämtliche »losen Objekte«

festmachen, unsern Fleury-Strahl mit der Schutzklappe sichern

und »unter keinen Umständen versuchen, den Schnee von den

Leittürmen zu entfernen, ehe das Unwetter abflaut.« Auch

schwächere Fahrzeuge, teilt man uns mit, könnten bis an die

Page 33: Mit der Nachtpost

Grenze des Auftriebs hochkommen, so daß die Postfrachter

auch auf sie achten müssen. Die tieferen Strecken nach Westen

seien höchst unsicher »wegen häufiger Luftlöcher, Wirbel,

seitlicher Böen etc.«

Draußen im Dunkel macht sich noch keine Störung

bemerkbar. Einzige Vorwarnung ist ein elektrisches

Hautprickeln (ich komme mir vor, als klöppelte jemand

Spitzen auf mir) sowie eine nervliche Irritation, die der

schnatternde Hauptkommunikator beinah bis zur Hysterie

steigert.

Seit der Versenkung des Luftvagabunden sind wir auf 2500

m gestiegen, und unsre Turbinen verleihen uns eine

Geschwindigkeit von mehr als 210 Knoten, das sind an die 400

km/h.

Sehr fern nach Westen hinaus kündigt tief unten ein

länglicher Rotschimmer die Position des

Nordküstenwachbootes an.

Rund um sein Steigen und Fallen sind feurige Pünktchen zu

sehen – sie gleichen verirrten Planeten um eine unruhige

Sonne und sind hilflose Fahrzeuge, die sich an die Lichter des

Wachbootes halten. Kein Wunder, daß es seinen Platz nicht

verlassen konnte!

Page 34: Mit der Nachtpost

Jetzt warnt es uns, auf der Hut zu sein vor der Bugwelle eines

argen Luftwirbels, in den es (sein Leuchtfeuer zeigt es uns an)

soeben geraten ist.

Draußen die finstere Abgründigkeit füllt sich nach und nach

mit schwachleuchtenden Schwaden – mit bedrohlich sich

windenden Formen. Eine davon ballt sich zu einer

fahlflammenden Kugel, die, vor Begier zitternd, unsern

Vorbeiflug erwartet. Das monströse Gebilde hüpft durch die

Schwärze heran, setzt sich genau an unsrer Bugspitze fest,

rotiert dort ein paar Sekunden – und flitzt davon. Unser

sausender Bug geht nach unten, als wär’ dieser Ball aus Blei

statt aus Licht, sinkt weiter und fängt sich zu unruhig

stoßendem Flug durch das folgende Luftloch. Tims Finger am

Auftriebsregler spielen wahre Zahlenakkorde, denn er steuert

das Schiff nur mithilfe der Tanks abwechselnd nach oben und

abwärts in dieser unruhigen Luft. Alle drei Antriebsmaschinen

sind jetzt in Aktion, denn je rascher wir über so dünnes Eis

weg sind, desto besser für uns. Höher zu gehen, wagen wir

nicht. Der gesamte obere Hohlraum im Schiff ist geschwängert

mit graubleichen Kryptonschwaden, die durch die

Reibungshitze unserer Schiffshaut zu böser Entladung gebracht

werden könnten. Zwischen der Ober- und Untergrenze unserer

Page 35: Mit der Nachtpost

Flughöhe – also von 1500 bis 2000 m, wie uns das Wachboot

signalisiert – wäre ein Durchschlüpfen möglich, wenn… Unser

Bug ist in bläuliche Flammen gehüllt und senkt sich jetzt

gleich einem Schwert! Nicht einmal größte Erfahrung könnte

Schritt halten mit all den verschiedenen Luftströmungen. Jetzt

springt uns von vorn ein Luftwirbel an, und wir sausen 500

Meter nach unten, in einer Schräge (der Neigungsmesser und

mein gerüttelter Körper zeigen es an) von fünfunddreißig

Grad! Unsre Turbinen beginnen zu schrillen, die Propeller

können die dünne Luft nicht mehr fassen! Tim nimmt den

Auftrieb aus fünf Tanks gleichzeitig und jagt so das Schiff nur

mithilfe des Eigengewichts wie ein Geschoß durch den Wirbel

dahin, bis es, nach einem Sturzflug von 900 Metern, sich mit

einem Ruck an einer Aufwärtsbö fängt.

»Jetzt sind wir durch«, sagt George mir ins Ohr. »Unsre

Reibung bei solcher Schräge hat den Teufel aus dieser

höllischen Luft ausgetrieben! Gib auf den Seitenwind acht,

Tim, und halt uns auf Kurs!«

»Ich hab’ sie im Griff«, ist die Antwort. »Na, komm schon,

komm hoch, altes Mädchen!«

Und sie kommt – elegant kommt sie hoch, aber die seitlichen

Böen rütteln uns stoßweise nach rechts und nach links – wie

Page 36: Mit der Nachtpost

Flügelschläge von zornigen Engeln ist das! Wir werden aus

unsrer Flugrichtung gedrängt auf viererlei Weise gleichzeitig –

dann wieder auf Kurs gestoßen, doch nur, um uns gleich darauf

abgetrieben und in neue Wirbel gestürzt zu sehen! Und allzeit

das höhnische Licht des St. Elmsfeuers an unserm Bug, und

dazu dieses Schlingern, kopfüber von Spitze bis mittschiffs,

und das Knattern elektrisch geladener Luft von außen wie

innen, worein sich ein- oder zweimal das Prasseln von

Hagelschlag mischt – eines Hagels, der unten nie ankommen

wird. Wir müssen langsamer werden, sonst brechen wir noch

auseinander in diesem andauernden Auf und Ab!

»Luft, das ist pure Elastizität!« brüllt George jetzt durch das

Getöse. »Etwa so wie die Gegensee vor Fastnet Rock an der

Südspitze Irlands, nicht wahr?«

Damit wird er aber dem Element nicht ganz gerecht: sobald

man nämlich die Lüfte durchfährt, wenn sie dabei sind, ihre

elektrischen Ladungen auszutarieren; sobald man die

Rechnung der Götter zerstört, indem man stählerne Rümpfe

mit 200 Kilometern pro Stunde durchs bebend justierte,

elektrische Spannungsfeld jagt, darf man sich nicht beklagen,

wenn man eine grobe Abfuhr erleidet. Tim jedoch nimmt sie

hin mit steinerner Miene, beißt sich auf die Unterlippe, späht

Page 37: Mit der Nachtpost

hinaus in die zwanzig Meilen Schwärze vor uns und beachtet

kaum die knisternden Funken, die ihm bei jeder Drehung des

Steuers um die Handknöchel stieben. Hin und wieder schüttelt

er sich den Schweiß aus den Brauen, worauf George jedesmal

das Sicherheitsgitter zurückklappt und dem Kollegen mit

einem roten Taschentuch übers Gesicht wischt. Ich habe bisher

nicht geglaubt, daß ein Mensch so ausdauernd und gesammelt

eine halbstündige Hölle des ärgsten Sturms durchhalten könne.

Hin und her werden wir geworfen von den erwärmten oder

eiskalten Saugströmungen, hinaufgeschleudert bis an den

Kulminationspunkt des Aufruhrs, wieder hinuntergewirbelt

und von seitlichen Böen aus unserer Bahn gestoßen unterm

schwindelerregenden Taumel der Sterne und des betrunkenen

Monds! Ich höre das Rasseln und Klicken des

Mittschiffsmaschinengestänges, das dumpfe Rumoren der

Auftriebsmechanik und, lauter noch als das Sturmgeheul

draußen, das Kreischen des Bugruders, das sich an jede

Luftwelle preßt, die nur irgendwie Halt und Stütze verspricht.

Zuletzt unternehmen wir den Versuch, mit dem Bugruder und

dem Backbordpropeller im Schrägflug nach oben zu scheren,

und nur die genaueste Tankbalancierung bewahrt uns vor

Page 38: Mit der Nachtpost

einem Drall, wie ihn früher einmal die Gewehrprojektile

hatten.

»Wir müssen irgendwie trachten, uns luvwärts vom

Wachboot zu halten!« schreit George.

»Da gibt es kein Luv und kein Lee«, widerspreche ich, ganz

außer Atem an eine der Streben geklammert.

Und während wir dreihundert Meter absacken in einem

weiteren Luftloch – lacht dieser rothaarige Kerl! – Wirklich, er

lacht über mich in der Aufgeblasenheit seines Schutzoveralls!

»Schau!« sagt er. »Wir müssen ganz hoch hinauf, um

klarzukommen von diesen haltsuchenden Kähnen!«

Das Wachboot befindet sich jetzt unter uns, ein wenig

südwestlich, steigend und fallend inmitten seiner zerblasnen

Trabanten. Die Luft ist erfüllt von tanzenden Lichtern in

jedweder Höhe. Ich nehme an, daß die meisten von ihnen

versuchen, dem Wind mit dem Kopf zu begegnen. Da sie

jedoch keine Hydras sind, bringen sie es nicht fertig. Ein

Moghrabi-Boot mit den Tanks an der Unterseite ist bis an sein

Limit gestiegen, trifft dort keine bessern Bedingungen an,

sackt gleich darauf ab um hunderte Meter, gerät in einen

beträchtlichen Wirbel und wird aufs neue emporgeschleudert

gleich einem verwehten Blatt. Statt Gas wegzunehmen, geht es

Page 39: Mit der Nachtpost

nach achtern, prallt ab wie von einer Wand – und hätte beinahe

das Wachboot gerammt, dessen Sprache (wir hören es durch

den H.K.) von dementsprechender menschlicher Simplizität

ist.

»Wenn sie’s einfach in Ruhe abwarten würden – das wäre

gescheiter«, sagt George in einer Pause des Sturms, während

wir fledermausgleich über den anderen hängen. »Aber manche

Piloten meinen, sie müßten um jeden Preis weitersteuern, auch

wenn sie nicht genug Auftrieb haben. Was macht denn das

T.A.D.-Boot da drüben, Tim?«

»Spielt eine Art Katz-und-Maus-Spiel«, sagt Tim ungerührt.

Ein Trans-Asia-Direktliner ist an einen Durchschlupf geraten

und dreht nun auf volle Kraft. Aber am Ende des Schlupfes

gibt’s einen Luftwirbel, so daß unser T.A.D. weggeschnipst

wird wie eine Erbse vom Fingernagel, worauf er im Sturzflug

so plötzlich Fahrt wegnimmt, daß er sich fast überschlägt.

»Ich hoffe, jetzt hat er genug«, sagt Tim. »Bin nur froh, kein

Wachboot zu sein… Wie – ob ich Hilfe brauche?« Die

Küstenwache hat angefragt. »George, bestell doch dem Herrn

meine herzlichsten Grüße – herzlich, vergiß das nicht, George

– und sag ihm, ich brauch’ keine Hilfe. – Was will denn die

Page 40: Mit der Nachtpost

ekelhafte Sardinenbüchse vor uns? Wer ist denn das

überhaupt?«

»Ein Rimouski-Abschlepper, auf Auslug nach Arbeit.«

»Sehr freundlich von dem Rimouskischlepper. Doch dieser

Postfrachter muß gegenwärtig nicht abgeschleppt werden.«

»Die kommen überallhin, wo sie eine Bergungschance

wittern«, erläutert George. »Wir sagen ›Aasgeier‹ zu ihnen.«

Ein langschnäbeliges, stählern blinkendes Fahrzeug von 30 m

Länge hält sich kurze Zeit in Rufweite, die Taue schleppbereit

ausgerollt und mit einem Mann im offnen Kommandoturm. Er

raucht. Außerhalb dieses Aufruhrs der Lüfte, durch den wir

uns unsern Weg bahnen, schwebt sein Schiff in absoluter

Windstille. Ich sehe den Pfeifenrauch senkrecht aufsteigen, ehe

das Fahrzeug nach unten wegsackt, als fiele ein Stein in den

Schacht eines Brunnens.

Wir sind kaum erst vom Wachboot und seinen verstreuten

Begleitern klargekommen, als der Sturmwind sich so plötzlich

legt, wie er gekommen ist. Eine Sternschnuppe füllt den

nördlichen Himmel mit dem grünlichen Leuchten des

verdampfenden Meteoriten.

Darauf George: »Vielleicht hat das jetzt alle Spannungen

ausgebügelt!« Und noch während er’s sagt, legen sich alle

Page 41: Mit der Nachtpost

widrigen Winde. Ein Luftausgleich findet statt, die seitlichen

Böen ersterben zu langen und leichten Luftwellen, und die

Strecke vor uns glättet sich. Schon nach kaum drei Minuten

haben die um das Wachboot versammelten Schiffe ihre

Warnlichter eingefahren und befinden sich wieder auf Kurs.

»Was war das?« frage ich atemlos. Die Nervenbelastung hier

drinnen ist ebenso weg wie draußen das Knistern elektrischer

Ladung. Der voll aufgepumpte Schutzanzug wird mir zur

bleiernen Last.

»Das mag Gott allein wissen«, sagt trocken Kapitän George.

»Die Reibungshitze des Meteoriten hat alle unterschiedliche

Spannung zur Entladung gebracht. Ich hab’ dergleichen schon

einmal erlebt. – Puh – was bin ich erleichtert!«

Wir gehen von dreitausend Meter auf achtzehnhundert

hinunter und legen die schweißnassen Anzüge ab. Tim nimmt

den Antrieb weg und steigt auf die Plattform. Von hinten

kommt das Wachboot heran. Tim öffnet das Kolloidluk und

fährt sich über die Stirn. Draußen herrscht himmlische Stille.

»Hallo, Williams!« ruft er hinüber. »Einen Grad oder zwei

abgekommen von Ihrem Standort, was?«

»Schon möglich«, kommt es vom Wachboot zurück. »Hab’

ganz schön Gesellschaft gehabt heute abend!«

Page 42: Mit der Nachtpost

»Das hab’ ich bemerkt. Ganz hübsches Lüftchen, nicht

wahr?«

»Ich hab’ Sie gewarnt! Warum sind Sie nicht über Disko

ausgewichen! Die nach Osten gehenden Postfrachter haben’s

getan!«

»Ausweichen? Ich? Nur wenn ich so ein fliegendes

Polarsanatorium für Schwindsüchtige kommandiere! Unsereins

hat schon durchs Kolloidluk geblinzelt, da sind Sie noch in den

Windeln gelegen, mein Junge!«

»Ich wäre der letzte, das abzustreiten«, lenkt der

Wachbootskapitän ein. »Und wie Sie Ihr Schiff vorhin

durchgebracht haben – und ich kenn’ mich aus mit Verkehr bei

elektrischer Störung –, das war um eintausend Touren mehr,

als sogar ich je erlebt hab’!«

Tims Rücken strafft sich. Er ist merklich geschmeichelt ob

solcher Ölung. Kapitän George am Kommandostand zwinkert

mir zu und deutet dann auf das Bild eines sehr hübschen

Mädchens: Tim hat das Foto an die Halterung des Teleskops

überm Steuer geheftet.

Damit weiß ich Bescheid – jetzt ist alles klar!

Oben wird etwas vereinbart, wegen »zum Tee hereinschauen

am Freitag«, dann folgt noch ein kurzer Bericht über das

Page 43: Mit der Nachtpost

Schicksal des Wracks, und danach klettert Tim herunter, wobei

er von sich aus bemerkt: »Für so einen A.B.C.-Mann ist dieser

junge Williams eigentlich recht normal im Vergleich zu

etlichen dieser Hochspannungshengste… Übernimmst jetzt du,

George? Dann könnte ich mir die Backbordmaschine ansehen

– sie scheint mir ein wenig zu warm –, und danach zockeln wir

weiter.«

Das Wachboot brummt sorglos davon und nimmt seine

vorgeschriebene Position wieder ein. Und auf ihr wird es

bleiben – als offenes Observatorium, als Rettungsstation, als

Bergungsschlepper, als letzte Anlaufstelle mit

meteorologischem Dienst auf fünfhundert Kilometer im

Umkreis, bis am folgenden Mittwoch die Ablösung unter den

Sternen hereinschweben und seinen unruhigen Platz

einnehmen wird. Der schwarze Rumpf mit den Zwillings-

Leittürmen und den allzeit bereiten Fangtauen steht für all das,

was unsrem Planeten von jener einstigen kosmischen

Weltbehörde geblieben ist. Verantwortlich ist das Wachboot

einzig dem Aerial Board of Control – dem A.B.C. über den

Tim so wegwerfend redet. Doch kontrolliert jene zur Hälfte

gewählte, zur Hälfte ernannte Körperschaft aus mehreren

Dutzend Personen beider Geschlechter den gesamten Planeten.

Page 44: Mit der Nachtpost

»Transportation ist Zivilisation«, lautet unsre Devise.

Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das

Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt,

nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt der

A.B.C. alle internationalen Abkommen und findet dabei,

zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen

und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die

gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen.

Ich diskutiere darüber mit Tim, der auf dem Kommandostand

Matetee schlürft, während George unsern Frachter über den

weißen Schaumstreifen der Banks in herrlichen

Neunzigkilometerkurven nach oben steuert. Der Schreiber des

Neigungsanzeigers bringt sie in ununterbrochener Linie aufs

Band.

Tim nimmt sich ein Stück davon vor und studiert die letzten

anderthalb Meter, auf welchen der Weg unsrer »162« durch

das Unwetter registriert ist.

»Seit fünf Jahren habe ich eine so wildgewordene

Fieberkurve nicht mehr gesehen«, meint er betreten.

Eines Postfrachters Fahrtschreiberkurven zeigen jeden

Flugmeter an. Die Bänder gehen dann zum A.B.C. werden dort

kollationiert und photographiert für die Ausbildung der

Page 45: Mit der Nachtpost

Kapitäne. Kopfschüttelnd betrachtet Tim die unumstößlichen

Zeichen.

»Hallo! Da gibt’s einen Absturz um vierhundertfünfzig Meter

bei fünfundachtzig Grad Neigung! Wir müssen ja fast einen

Kopfstand gemacht haben!«

»Was du nicht sagst«, versetzt George. »Mir war, als hätte

ich das im Moment mitgekriegt.«

George hat vielleicht nicht Kapitän Purnalls katzengewandte

Raschheit, doch ist er ein Künstler bis in die Spitzen seiner

breiten, kräftigen Finger, welche die Auftriebsmechanik

bedienen. Die herrlichen Flugkurven zeichnen sich fehlerlos

und ohne Schwankung aufs Band. Die vertikale Lichtspindel

des Wachboots liegt jetzt schon ostwärts weit hinter uns und

verschwindet unterm Geflimmer vorüberziehender Sterne.

Nach Westen hinaus, wo jetzt kein Planet mehr heraufsteigen

wird, erzeugt der dreifache Vertikalstrahl von Trinity Bay

einen langsam sich hebenden Leuchtnebel (wir befinden uns

noch auf der südlichen Route). So hat es den Anschein, als

wären wir hier das einzig ruhende Ding unterm

Himmelsgewölbe: in der Schwebe verharrend, bis uns die

Erdrotation unsre Landetürme in Sicht bringt.

Page 46: Mit der Nachtpost

Und alle sechzehn Sekunden dreht sich diese lautlose Uhr

unter uns um eine Meile weiter.

»Herrliche Nacht«, bemerkt Tim. »Bald sind wir auf

gleichem Niveau mit der Gebieterin unserer Uhr.«

»Sie kommt schon herauf hinter uns«, versetzt George über

die Schulter. »Aber noch bin ich westwärts der Nacht auf den

Fersen.«

Vor uns die Sterne verblassen ein wenig, als hätte, von uns

nicht bemerkt, sich unter sie eine zarte Dunstschicht gebreitet.

Aber das dumpfe Dröhnen der Luft an unsrer Rumpfhülle wird

nun zum freudigen Brausen.

»Das ist die Brise vor Aufgang«, sagt Tim. »Sie weht der

Sonne entgegen. So schaut doch – schaut doch einmal! Wie es

das Dunkel zurücktreibt an unserm Bug! Kommt einmal mit

zum Heck-Kolloid, dort gibt’s was zu sehen!«

Der Maschinenraum ist heiß und stickig. Noch schlafen die

Postleute in ihrer Kutsche, und auch der Sklave am Strahl ist

nahe daran, einzunicken. Tim schiebt das achterne Kolloid auf

und zeigt, wie die Krümmung der Erde – überm tiefpurpurnen

Meer – sich rändert mit dunstigem, fast unerträglichem Gold.

Dann steigt die Sonne herauf, und ihr durch das Kolloidluk

Page 47: Mit der Nachtpost

flutendes Licht macht unsre Lampen erblinden. Tim zieht ein

finstres Gesicht.

»Affen im Käfig«, murrt er vor sich hin. »Was sind wir schon

andres – nur Affen im Käfig! Sie ist doppelt so schnell wie

wir. Aber warte du nur ein paar Jahre, du strahlende Freundin,

und du wirst Augen machen! Dann tun wir es Josua gleich und

halten dich an!«

Ja, das ist unser Traum: den gesamten Erdball nach unsrem

Belieben zum biblischen Tal von Ajalon zu verwandeln.

Gegenwärtig vermögen wir nur, den Aufgang der Sonne in

diesen Breiten auf zweifache Dauer hinauszuschieben. Eines

Tages jedoch – und das sogar am Äquator – werden wir mit

der Sonne Schritt halten können!

Jetzt ist der Blick frei aufs Meer unter uns und damit auch auf

den dichten Verkehr, der darauf herrscht. Ein riesiges

Tauchfahrzeug stößt unter uns plötzlich ans Licht. Dann noch

eins – und noch eins, unterm saugenden Wallen des Wassers

hervor und mit wildbrodelnder, blasiger Spur vom

entweichenden Überdruck. Diese Tiefseefrachter kommen

nach langer Nacht zum Luftschöpfen herauf, und die träge

Fläche des Meeres sieht plötzlich aus, als wäre sie über und

über gesprenkelt mit schäumenden Pfauenaugen!

Page 48: Mit der Nachtpost

»Auch wir könnten jetzt etwas Luft schnappen«, läßt Tim

sich vernehmen, und sobald wir zurück am Kommandostand

sind, nimmt George die Fahrt weg, die Kolloidluken werden

geöffnet, und Frischluft streicht durch das Schiff. Es hat keine

Eile mit uns: die alten Verträge (sie sollen erst Ende des Jahres

auf neuesten Stand gebracht werden) geben uns zwölf Stunden

Zeit für einen Flug, den jeder Postfrachter schon in zehn

Stunden bewältigen kann. So frühstücken wir in den Armen

der östlichen Brise, die uns mit lässigen zwanzig Meilen

vorantreibt.

Um das Leben und auch den Tabak recht zu genießen, scheint

so ein sonniger Morgen, eine halbe Meile über der lockeren

Wolkenschicht des Atlantik, eigens geschaffen – besonders,

wenn ein überstandnes Unwetter die Nerven geklärt und

beruhigt hat. Und während wir noch mit der Überlegenheit

derer, denen die oberen Flughöhen eingeräumt sind, die

wachsende Luftverkehrsdichte besprechen, hören wir (und für

mich ist’s das erste Mal) den Morgengesang, der von einem

Spitalsschiff zu uns heraufdringt.

Noch durch die zerfaserten Wolken verdeckt, kommt es unter

uns durch, und wir haben das Singen noch vor dem

Auftauchen der Sänger im Ohr. »Oh, ihr göttlichen Winde«,

Page 49: Mit der Nachtpost

tönt’s mit unsichtbaren Stimmen, »segnet den Herrn! Singet

Ihm Lob und Preis in alle Ewigkeit!«

Wir nehmen die Mützen ab und stimmen mit ein. Und als

unser Schatten über die große, offene Deckplattform gleitet,

blicken die Menschen herauf und strecken im Singen die Arme

nach uns. Wir können die Ärzte und Schwestern ganz deutlich

erkennen, ja selbst die knopfbleichen Gesichter der Kranken in

ihren Betten. Langsam gleitet das Schiff unter uns weg, nach

Norden hinaus, und sein taunasser Rumpf schimmert blitzend

im Morgenlicht. Danach verschwindet es im Wolkenschatten –

aber das Singen geht weiter. Oh, ihr demütig Frommen, segnet

den Herrn! Singet Ihm Lob und Preis in Ewigkeit!

»Ein Spitalsschiff für Lungenkranke – sonst hätten sie nicht

das Benedicite gesungen. Und mit Standort in Grönland, man

sieht’s an den Schneeblenden über den Luken«, bemerkt

George abschließend. »Wahrscheinlich geht sie nach

Frederikshavn oder, für einen Monat, zu einer der

Gletscherheilstätten. Wäre sie nur ein Unfallsspital, so bliebe

sie in Position auf zweitausendfünfhundert Meter. Ja – es sind

Lungenkranke.«

»Eigentlich komisch, wie sehr doch die neuen Dinge den

alten gleichen! Ich habe gelesen«, sagt Tim, »daß die Wilden

Page 50: Mit der Nachtpost

ehedem ihre Kranken oder Verletzten hinauf auf die Höhen

geschafft haben, weil es dort weniger Bazillen gab. Wir

hingegen bringen sie für eine Weile hinauf in sterile

Luftschichten. Das Prinzip ist freilich dasselbe geblieben. Um

wieviel, sagen die Ärzte, ist unsre Lebenserwartung im

Durchschnitt verlängert?«

»Um dreißig Jahre«, sagt George augenzwinkernd. »Und die

verbringen wir jetzt wohl hier oben?«

»Gut, flattern wir weiter – so mach schon! Oder hindert dich

jemand daran?« lacht der Chefkapitän, während wir uns ins

Innre des Schiffes begeben.

Wir gehen ein gutes Stück höher, um uns den Küsten- und

Kontinentalverkehr vom Leib zu halten. Denn obwohl unsre

Route nicht sonderlich belebt ist, gibt’s doch auch auf ihr ein

fortwährendes Her und Hin. Wir begegnen Hudson-Bay-

Pelzhändlern auf ihrem Rückflug vom Großen Wildreservat.

Sie haben es eilig, von Bonavista mit ihren Zobel- und

Schwarzfuchsfellen den unersättlichen Markt zu beliefern. Wir

queren den Kurs von kleinen Keewatin-Linern mit ihrer

beengten Ladekapazität. Doch ihre Schiffskapitäne, die

zwischen Trepassy und Blanco kein Land zu Gesicht

bekommen, wissen genau, welches Gold sie von Westafrika

Page 51: Mit der Nachtpost

zurückbringen werden. Auch Kreuzer der Transasien-

Direktverbindung treffen wir an, welche die Welt längs des

fünfzehnten Längengrads mit gut siebzig Knoten umkreisen,

und weißlackierte Bananenfrachter der Firma Ackroy & Hunt

fliegen von Süden her unter uns durch, wobei die belüfteten

Rümpfe ein Pfeifgeräusch wie chinesische Drachen erzeugen.

Ihr Absatzgebiet liegt im Norden, zwischen den Heilstätten,

wo man inmitten von Kälte und Schnee den Bananen- und

Grapefruitgeruch spüren kann. Argentinische

Rindfleischfrachter kommen in Sicht, von plumper

Erscheinung, aber mit riesigen Laderäumen. Auch sie

versorgen die Gesundheitsstationen im Norden und fliegen die

zugefrorenen Häfen an, wo die Unterseefrachter nicht

auftauchen können.

Gelbbäuchige Erzkähne und Ungava-Öltanker ziehen träge

von Norden heran gleich unbeirrbaren Wildentenscharen. Es

steht nicht dafür, Erze und Öl auch nur um eine Meile weiter

zu »fliegen« als nötig. Doch ist der Seetransport in den

Packeisgebieten vor Nain oder Hebron dermaßen riskant, daß

diese Großfrachter lieber Direktkurs auf Halifax nehmen und

auf ihren Wegen die Lüfte verpesten. Sie sind die mächtigsten

aller Tramp-Fahrer, mit Ausnahme der Athabasca-

Page 52: Mit der Nachtpost

Getreidetransporter, die aber, seit der Weizen verschifft ist, auf

der Kehrseite unserer Erde, in Sibirien, Holz transportieren.

Wir halten uns an den St. Lorenzstrom (es ist erstaunlich, wie

sehr diese uralten Wasserstraßen uns Kinder der Lüfte noch

immer an sich ziehn) und folgen seinem vom Treibeis

durchsetzten, schwärzlichen Band bis hinunter zum »Park«,

den wir der Weisheit unserer Väter verdanken – aber die

Quebecstrecke ist ohnehin jedem bekannt.

Dann gehen wir tiefer, nehmen Kurs auf die Landetowers der

Heights, zwanzig Minuten vor uns, und bleiben dort schweben,

bis der Yokohama-Postfrachter seine Zwischenlandung

beendet und uns den Landeweg freigemacht hat. Merkwürdig

ist es, all die Festhalteklampen längs des eisigen Flußufers

beim An- oder Abflug der Boote in Aktion zu sehen. Soeben

verläßt ein nach Hamburg bestimmter Frachter Pont Levis, und

seine Besatzung, beim Einfahren der Plattformgeländer,

stimmt dazu »Elsinor« an – das älteste unserer Shanties. Ihr

kennt ja den Text:

Mother Rugen’s Teehaus bei den Balten –

Vierzig Paare tanzen dort was vor!

Bleib du an der Turbin’,

Page 53: Mit der Nachtpost

Denn ich muß rasch mal hin

Zum Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!

Und dann, beim beschwerlichen Schließen der Deckplatten:

Nor’-Nor’-Nor’-Nor’–

West von Surabaya zu den Balten –

Neunzig Knoten und nach Norden vor!

Mother Rugen ‘s Teehaus bei den Balten,

Und ein Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!

Die Halteklampen lösen sich – fast könnte man meinen, mit

einer Bewegung des Abscheus, als hätte das

schneeüberglitzerte Quebec so leichte und seiner nicht würdige

Liebhaber von sich gestoßen! Von den Heights erhalten wir

Landeerlaubnis: Tim wendet das Schiff, läßt es steigen – und

dann, wie bei liebevollem Empfang, tun die Arme des Towers

sich auf – oder vielleicht kommt es mir nur so vor, weil auf der

obersten Plattform eine kleine, vermummte Gestalt ihre Arme

gleichfalls gebreitet hält – zur Begrüßung des Vaters!

Page 54: Mit der Nachtpost

Schon zehn Sekunden danach rasselt die Kutsche mit ihren

Postbegleitern hinunter zum Einlaufcaisson. Das

Wartungskommando ersetzt nun die Maschinisten an den

stillgelegten Turbinen, und Tim, stolzgeschwellter denn je,

stellt mich jetzt jenem Mädchen vor, dessen Photographie

überm Pilotensitz hängt. »Übrigens«, sagt er zu ihr, als er

hinaus in das Sonnenlicht tritt, nun schon wieder ganz Zivilist

– »ich habe im Wachboot den jungen Williams gesehen und

ihn für Freitag zum Tee eingeladen.«

Warnlichter

Keine Änderungen der englischen Inlandbefeuerung bis

Wochenende 18. Dez.

PLANETARISCHE KÜSTENLICHTER. Mit Wochenende

18. Dez. Verde Schräglichtstrahl wechselt ab 1. nächsten

Monats zu Dreifachblinklicht – grün/weiß/grün –, statt

früherem Rotblinklicht. Warnlicht für Harmattanstürme

wird zu ständigem Vertikalstrahl (weiß) auf allen Oasen der

Trans-Sahara Ostnordost-Hauptrouten.

Page 55: Mit der Nachtpost

INVERCARGIL (Neuseeland) – Ab 1. nächsten Monats:

südlichstes Feuer (zweifach rot), zeigt weißen Strahl mit 45

Grad Neigung bei Annäherung südlicher Brecher.

Luftverkehr meidet betreffende Küste April bis Oktober.

TAFELBUCHT – Devil’s Peak Warnlicht nach Simonsberg

versetzt. Verkehr Tafelberg-Küste hält Mindesthöhe 150 m

über sämtlichen Lichtern von Three Anchor Bay.

Einschwenken erst hinter Ostschulter Devil’s Peak.

SANDHEADS-FEUER – Dreifach grün vertikal, markiert

neue Privatlandebühne für Bay- und Burmaverkehr

ausschließlich.

SNAEFELL JOKUL – weißes Blinkfeuer wintersüber

eingestellt.

PATAGONIEN – Kein Sommerfeuer südlich Pilar C. Betrifft

auch Staten Island und Port Stanley.

KAP NAVARIN – Vierfaches Nebelblitzlicht (weiß), in

Minutenintervall (neu).

OSTKAP – Nebelblitzlicht – einfach weiß mit Einzelzündung,

Dreißigsekunden-Intervall (neu).

MALAYISCHER ARCHIPEL – Befeuerung unverläßlich

wegen Vulkanausbrüchen. Direktkurs von Somerset nach

Singapore in größter Flughöhe.

Page 56: Mit der Nachtpost

Für den Ausschuß (Abt. Warnfeuer):

CATTERTHUN

ST. JUST

VAN HEDDER

Verluste

Für die Woche bis 18. Dez.

SABLE ISLAND LANDETOWERS – Grüner Frachter,

Nummer nicht erkennbar, heckaufwärts, Bugtank nach

Kollision aufgerissen, in 90 m Höhe am 15. Dez.

vorbeigetrieben. Wasserung abgewartet und versenkt durch

Küstenwachboot.

NEUFUNDLAND-BANKS – Postfrachter 162 meldet Halma-

Frachter (Fowey-St John’s) aufgegeben, weil

leckgeschlagen nach Unwetter 46°15’N. 50°15’W.

Besatzung geborgen von Planetliner Asteroid. Wasserung

abgewartet, versenkt durch Postfrachter am 14. Dez.

KERGUELEN-WACHBOOT meldet letztes Signal von

Cymena-Frachter. (Gayer, Tong-Huk & Co.) Nach

Wassereinbruch in Schneesturm südl. McDonald-Inseln

Page 57: Mit der Nachtpost

gesunken. Keine Wrackteile gesichtet. Adressen etc. der

Besatzung in jeder A.B.C.-Agentur.

FEZZAN – T.A.D.-Frachter Ulema Bodenberührung auf

Akakus-Kette während Harmattansturm. Bodenplatten

weggerissen. Besatzung bei Reparatur in Ghat, 13. Dez.

BISKAYA-WACHBOOT meldet Carduca (Valandingham-

Linie) leicht beschädigt in Westschlucht Point de Benasque.

Passagiere transferiert auf Andorra (selbe Linie).

Barcelona-Küstenwachboot birgt Frachter 12. Dez.

ASCENSION-WACHBOOT – Wrack unbekannten

Eilflugzeugs, Parden-Ruder, drahtverspannte Xylonit-

Tragflächen und Harliss-Antrieb, gesichtet und geborgen

7°20’S. 18°41’W. 15. Dez. Photos bei allen A.B.C.-

Agenturen.

Vermißt

Da auf Rundfragen letzter Woche bisher keine Antwort, gelten

folgende überfällige Fahrzeuge als vermißt:

Atlantis, W. 17630: Kanton – Valparaiso

Audhumla, W. 809: Stockholm-Odessa

Berenice, W. 2206: Riga – Wladiwostock

Draco, E. 446: Coventry – Puntas Arenas

Page 58: Mit der Nachtpost

Tontine, E. 3068: Kap Wrath – Ungava

Wu-Sung, E. 41776 Hankau – Lobitobucht

Neue Rundfrage (an alle Wachboote) wegen:

Jane Eyre,W. 6990: Port Rupert – Mexiko City

Santander,W. 5514: Wüste Gobi – Manila

V. Edmunsun, E. 9690: Kandahar – Fiume

Gesperrt wegen Behinderung und Nichteinhaltens der

Flughöhe

WALKÜRE (Eilflugzeug), Eigner A. J. Hartley, New York

(nach zweimaliger Verwarnung). GEISHA (Eilflugzeug),

Eigner S. van Cott, Philadelphia (nach zweimaliger

Verwarnung).

WUNDER VON PERU (Eilflugzeug), Eigner J. X. Peixoto,

Rio de Janeiro (nach zweimaliger Verwarnung).

Für den Ausschuß (Abt. Verkehr):

LAZAREFF

McKEOUGH

GOLDBLATT

Page 59: Mit der Nachtpost

Mit der Leichtigkeit des A.B.C.

1912

Der A.B.C. jene zur Hälfte gewählte, zur Hälfte ernannte

Körperschaft aus mehreren Dutzend Personen beider

Geschlechter, kontrolliert den gesamten Planeten.

»Transportation ist Zivilisation«, lautet unsre Devise.

Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das

Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt,

nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt

der A. B. C. alle internationalen Abkommen und findet dabei,

zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen

und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die

gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen.

»Mit der Nachtpost«

Page 60: Mit der Nachtpost

Wäre es nicht an der Zeit, daß unser Planet einiges Interesse

aufbrächte für die Aktivitäten und Sitzungsberichte des A. B.

C. – des Aerial Board of Control∗? Zwar ist bekannt, daß die

Leichtigkeit heutiger Kommunikationen sowie das einstige

Fehlen jeder Privatsphäre alle Neugier innerhalb dieser

Menschheit ausgetilgt haben – doch fühle ich mich in meiner

Eigenschaft als offizieller Reporter des A.B.C. zu diesem

Berichte verpflichtet:

Am 26. August des Jahres 2065, vormittags 9 Uhr 30, wurde

der Ausschuß auf seiner Londoner Sitzung durch De Forest

informiert, daß der Distrikt Illinois-Nord sich in

widersetzlicher Absicht aus allen Systemen gelöst habe und bis

zur direkten Verwaltung durch den A. B. C. keine Verbindung

mehr aufnehmen wolle.

Jedweder Tower in Illinois-Nord, ob für Passagier- oder

Güterverkehr, sei außer Betrieb, erklärte De Forest. Im

gesamten Distrikt habe man Haupt- und Nebenbeleuchtung

sowie auch die Richtfeuer abgeschaltet. Das Hauptleitungsnetz

sei tot, der Durchzugsverkehr umgeleitet. All das ermangele

jeder Begründung, doch gebe es inoffizielle Informationen

∗ Luftüberwachungs-Ausschuß

Page 61: Mit der Nachtpost

vom Bürgermeister Chicagos, man beklage sich im Distrikt

über »Zusammenrottung und Einbrüche in die Privatsphäre«.

Nun spielt es hinsichtlich der Praxis ja keine Rolle, ob

Illinois-Nord dem Verkehrsnetz unsres Planeten weiterhin

angehört oder nicht. Geht es jedoch um die Politik, so erfordert

jede Beschwerde über Privatheitsgefährdung eine sofortige

Untersuchung, um Schlimmerem vorzubeugen.

Schon vormittags 9.45 waren De Forest, Dragomiroff

(Rußland), Takahira (Japan) und Pirolo (Italien) ermächtigt, in

Illinois nach dem Rechten zu sehen und alle Maßnahmen zur

Wiederaufnahme des Verkehrs einschließlich alles dessen, was

er umfaßt, einzuleiten. Um 10 Uhr war der Sitzungssaal leer,

und die vier Ausschußmitglieder sowie ich als Fünfter

befanden sich schon an Bord eines Fahrzeugs, das Pirolo

hartnäckig als »mein Patenkindchen« bezeichnet – kürzer

gesagt: an Bord der neuen Victor Pirolo. Unser Planet kennt

Victor Pirolo vor allem als jenen vornehmen Enthusiasten mit

grauem Haar, der in der Umgebung von Foggia damit befaßt

ist, aus spanischen und italienischen Sorten neue

Olivengewächse zu züchten. Doch gehört seine zweite

Vorliebe der Realisierung ausgefallner Ideen, deren durchaus

nicht geringste die Victor Pirolo sein dürfte. Sie und ein paar

Page 62: Mit der Nachtpost

Dutzend Schwesterschiffe der nämlichen Bauart verkörpern

Pirolos letzte Eingebungen. Sehr komfortabel ist sie ja nicht.

Ein A.B.C.-Schiff hebt nicht flachbahnig ab wie ein

Linientransporter, sondern steigt, wie die »Aeroplane« unsrer

Altvordern, raketenhaft auf und gewinnt vom Start weg mit

voller Geschwindigkeit seine Flughöhe. Deshalb saß ich

urplötzlich auf der massigen Leiblichkeit von Eustace Arnott,

des Befehlshabers der A. B. C.-Einsatzflotte. Man weiß nicht

sehr viel vom Bestehen solch einer Flotte auf unsrem Planeten

– auch nicht, daß sie, theoretisch, für Zwecke geschaffen

wurde, die man vordem als »Kriegsfall« bezeichnet hat. Erst

vor einer Woche, gelegentlich des Besuchs einer

Gletscherheilstätte hinter Godhavn∗, war ich Zeuge geworden,

wie ein paar Geschwader auf ihrem Übungsflug um den Pol

falsche Nordlicht-Effekte hervorriefen. Indes hätte ich mir

nicht träumen lassen, daß man dergleichen auch ernsthaft

einsetzen würde.

Während ich taumelnd bemüht war, einen Sitz auf dem Divan

des Kartenraums zu ergattern, wandte Arnott sich an De

Forest: »Wir sollten denen in Illinois eigentlich dankbar sein –

ohne sie wären wir nie dazu gekommen, die Flotte im

∗ Auf Disko, vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.

Page 63: Mit der Nachtpost

Großverband auszuprobieren. Ich habe Generalmobilmachung

befohlen und erwarte bis heute Abend zumindest zweihundert

Schiffe auf Angriffshöhe.«

»So hoch?« fragte De Forest.

»Natürlich, Sir. Außer Sicht – bis auf Abruf.«

Arnott lachte, als er sich über den transparenten Kartentisch

lehnte, über welchen die sommerblaue Atlantikkarte dahinglitt,

von Grad zu Grad in Entsprechung zu unserem Kurs. Unsre

Skala zeigte schon mehr als 500 Kilometer pro Stunde, und wir

befanden uns 700 Meter über den höchsten

Flugverkehrsstraßen.

»Wo liegt denn eigentlich euer Illinois-Distrikt?« wollte

Dragomiroff wissen. »Da kommt man so weit in der Welt

herum, sieht aber so gut wie gar nichts dabei! Ach ja – jetzt

fällt es mir wieder ein: in Nordamerika ist er!«

De Forest, dem es obliegt, sich um die äußeren Gebiete zu

kümmern, unterrichtete uns, es handle sich um die Gegend am

südlichen Michigan-Ufer, an einer Straße ohne spezielle

Bedeutung. Die Ausdehnung des Areals entspreche einer

halben Flugstunde, und es sei, bis auf kleinere Randbereiche,

so flach wie das Meer. Wie heutzutag alle ebenen Gebiete, war

es durch hochgezüchtete Wälder gegen alle

Page 64: Mit der Nachtpost

Privatheitsbedrohung geschützt – durch Anpflanzung

wachstumsbeschleunigter Tannen und Lärchen, die nur fünf

Jahre gebraucht hatten, um auf fünfzehn Meter Höhe zu

kommen. Bei einer Bevölkerung von knapp zwei Millionen,

hauptsächlich aus Florida und Kalifornien zugewandert, stütze

sich alles auf kleinere Farmen (ab 50 Hektar gelten sie in

Illinois schon als Farm), deren Besitzer sich während des

Winters in Chicago aufhielten, um dort Gesellschaft und

Unterhaltung zu finden. Sie seien, ergänzte De Forest, sehr

ruhige und freundliche Leute, wenngleich, wie in allen flachen

Gebieten, ein wenig anspruchsvoll in bezug auf Privatheit. Seit

siebenundzwanzig Jahren existiere zum Beispiel in Illinois

kein gedrucktes Nachrichtenblatt. Chicago argumentiere, daß

Rotationsmaschinen sich irgendeinmal zu Betreibern von

Privatheitsbeeinträchtigung auswachsen könnten, was unserm

Planeten den alten Erpressungs- und Massenterror

zurückbringen würde.

»Das also ist Illinois heute«, sagte De Forest abschließend.

»In früheren Tagen gehörte es zu den Vorkämpfern dessen,

was man einstmals als Fortschritte bezeichnet hat, und

Chicago – «

Page 65: Mit der Nachtpost

»Chicago?« fragte Takahira. »Ist das nicht der kleine Ort, wo

Salati’s Statue des Brennenden Niggers steht? Eine sehr

schöne Arbeit – und alt!«

»Wann haben Sie die gesehen?« fragte De Forest sogleich.

»Sie wird ja nur einmal jährlich enthüllt!«

»Ich weiß – zu den Erntedankfestivitäten. Dabei ist es

gewesen«, sagte Takahira, und es schauderte ihn. »Und

außerdem hat man MacDonoughs Weise dazu gesungen.«

»Phüüh!« De Forest pfiff durch die Zähne. »Das habe ich

nicht gewußt! Hätten Sie mir das nur früher gesagt!

MacDonoughs Weise war ja zur Zeit ihrer Entstehung von

einigem Nutzen – doch für die Nachwelt ist sie eine höllische

Erbschaft!«

»Das ist ja alles nur Schutzinstinkt, liebe Freunde«, sagte

Pirolo und rollte dabei eine Zigarette. »Unser Planet hat seine

Dosis an Volksregierung schon hinter sich. Er leidet an

überkommener Platzangst. Er hat keine – also – er hat nichts

mehr übrig für den Massenauftrieb von Menschen.«

Der weißbärtige Russe beugte sich vor, um Pirolo Feuer zu

geben. »Das stimmt«, sagte er. »Unser Planet hat während des

letzten Jahrhunderts alles getan, um Übervölkerung zu

verhindern. Wie viele Menschen leben jetzt auf dieser Welt?

Page 66: Mit der Nachtpost

Wir hoffen, sechshundert Millionen, oder schätzungsweise

fünfhundert. Und wenn die Zählung im kommenden Jahr mehr

als vierhundertfünfzig ergibt, so freß ich persönlich die

überzähligen Babies. Wir haben ja die Geburtenrate

heruntergedrückt und auf ihren Tiefststand gebracht! Und zum

Allmächtigen sagen wir schon seit langem, ›Wir danken Dir,

Herr, aber Dein Spiel mit dem Leben paßt uns nicht mehr –

also machen wir da nicht mehr mit!‹«

»Jedenfalls«, widersprach Arnott fast ungehalten, »lebt

heutzutage der Mensch, im Durchschnitt gerechnet, ein volles

Jahrhundert!«

»Oh – dagegen ist nichts zu sagen! Ich bin reich – Sie sind

reich – wir alle sind reich und zufrieden, weil wir so wenige

sind und so lange leben. Was ich aber glaube, ist nur, daß der

Allmächtige sich erinnert, wie der Planet zu Zeiten der Massen

und Epidemien ausgesehn hat. Möglicherweise sendet Er uns

eine Prüfung! – Ist was, Pirolo?«

Der Italiener blinzelte in die Leere des Raums. »Kann sein«,

sagte er, »daß Er sie uns schon gesandt hat! Jedenfalls können

Sie diesen Planeten nicht überzeugen. Die alten Zeiten hängen

ihm nach, und – was wollen Sie dagegen tun?«

Page 67: Mit der Nachtpost

»Wir können die Welt nicht nochmals erschaffen, soviel steht

fest.« De Forest sah auf die langsam von West nach Ost über

den Tisch hingleitende Karte. »Um neun Uhr abends müßten

wir überm Zielgebiet sein. Danach ist an Schlaf wohl nicht

mehr zu denken.«

Auf diesen Hinweis trennten wir uns, und ich schlief, bis

mich Takahira zum Essen weckte. Für unsre kurzlebigen

Vorfahren reichten neun Stunden Schlafenszeit vollkommen

aus. Wir jedoch, bei um dreißig Jahre verlängertem Leben,

fühlen uns um unsre Nachtruhe betrogen, wenn wir von den

vierundzwanzig nicht volle elf Stunden zu schlafen vermögen.

Punkt zehn waren wir überm Michigansee. Am Westufer war

alles finster, nur ein schwacher Lichtschimmer markierte

Chicago, und ein einsames Ortungsfeuer – mit Richtstrahl nach

Norden – war steuerbords voraus bei Waukegan zu sehen.

Keine der Städte am See gab irgendein Lebenszeichen, und

landeinwärts, so weit der Blick reichte, lag’s wie eine Decke

aus Schwarz überm Flachland. Wir stießen nach unten und

glitten im Tiefflug durchs Dunkel, wobei wir von Landkreis zu

Landkreis Signale aussandten. Ab und zu sichteten wir den

schwachen Schein eines Hauslichts oder hörten den Lärm eines

ferngesteuerten Kultivators, doch insgesamt war ganz Illinois-

Page 68: Mit der Nachtpost

Nord eine einzige, tintige, scheinbar unbesiedelte Ödnis aus

hochgezüchteten Wäldern. Nur unsre beleuchtete Karte mit

ihrem Richtungsanzeiger, der von Landkreis zu Landkreis

mitwanderte, wies uns die jeweils erreichte Kursposition. Die

über den Hauptkommunikator ausgesandten Signale, so

dringlich und bittend, so überredend oder befehlend sie waren,

lösten keinerlei Antworten aus. Illinois hielt eisern fest an

seiner Abkapselung hinter den Wällen aus Wald, die man zum

Selbstschutz angelegt hatte.

»Das ist doch absurd!« rief schließlich De Forest. »Wie eine

Nachteule kommt man sich vor, die ein Getreidefeld absucht!

Ist das jetzt schon Bureau Creek? Landen Sie, Arnott, und

sehen Sie zu, daß wir uns dann jemand schnappen können!«

Wir strichen sehr tief über eine der hochgeforsteten

Waldbarrieren hinweg – eine fünfzehnjährige

Ahornanpflanzung, fast zwanzig Meter hoch –, setzten auf

einem privaten Wiesendock auf, vertäuten das Schiff mit

bordeigenen Landeklampen und eilten danach durch die

warme Nacht auf eine erhellte Veranda zu. Als wir uns aber

der Gartentür näherten, hätte ich schwören mögen, plötzlich in

knietiefem Schwimmsand zu stecken: es war fast nicht

möglich, in der prickelnden, saugenden, jede Bewegung

Page 69: Mit der Nachtpost

hemmenden Strömung voranzukommen! Schon nach wenigen

Schritten blieben wir stehen, wischten den Schweiß von der

Stirn und sahen uns hoffnungslos festgesetzt auf dem

trockenen, weichen Rasen, als steckten wir wirklich im Sumpf.

»Scheiße!« schrie Pirolo wütend. »Stromfalle – wir haben

Erdschluß! Und noch dazu mein System! Ich kenn’ dieses

Ziehen!«

»Schönen guten Abend, die Herren!« begrüßte uns eine

Mädchenstimme aus der Veranda. »Ach – entschuldigen Sie!

Der Sperrstrom ist eingeschaltet – gedulden Sie sich noch

einen Moment!«

Wir hörten den Schalter klicken – und stürzten beinah

vornüber, als der Strom um die Knie plötzlich weg war.

Das Mädchen lachte und ließ ihre Strickarbeit sinken. Ein

veraltetes Fernbedienungsgerät stand neben ihr, an dem sie von

Zeit zu Zeit drehte, und wir hörten aus einer halben Meile

Entfernung, über den Schutzwald hinweg, den Lärm des

gesteuerten Kultivators.

»Treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Ich

dirigiere hier bloß einen Pflug. Pa ist weg, in Chicago, weil –

Ach so! Dann waren das vorhin Ihre Signale!«

Page 70: Mit der Nachtpost

Sie hatte Arnotts Pilotenkleidung erkannt – und drehte den

Schalter auf volle Stromstärke!

Wir waren sofort festgenagelt und rangen nach Luft, als

steckten wir hüfttief im saugenden Schwimmsand, drei Meter

vor der Veranda!

»Wir wollen nur wissen, was in Illinois los ist«, meinte De

Forest gelassen.

»Wären Sie dann nicht besser gleich nach Chicago gegangen,

um dort nachzufragen?« erwiderte sie. »Hier ist alles in

Ordnung – wir stehen auf eigenen Füßen.«

»Wie sollen wir von hier weg, wenn Sie uns nicht gehen

lassen?« erkundigte sich De Forest, während Arnott schon

finster dreinsah. Luftflottenadmirale werden recht menschlich,

sobald ihre Würde verletzt ist.

»Bleiben Sie noch ein wenig, Sie haben ja keine Ahnung, wie

komisch Sie aussehn!« Sie stemmte die Hände gegen die

Hüften und lachte unbändig.

»Das soll Sie nicht weiter stören«, versetzte Arnott und ließ

die Signalpfeife schrillen. Von der Victor Pirolo kam über die

Wiese her Antwort.

»Nur ein einfach gesicherter Sperrstrom!« rief Arnott.

»Macht ihn aus – aber vorsichtig, bitte!«

Page 71: Mit der Nachtpost

Wir hörten den Knall einer berstenden Röhre – irgendwo im

Gebälk der Veranda sprang eine Sicherung aus ihrer Fassung

und schreckte ein Nest voller Vögel auf. Der Sperrstrom war

weg. Wir bückten uns, um uns die prickelnden Fußgelenke zu

reiben.

»Sowas von Unverschämtheit – wie kann man so grob sein!«

entrüstete sich die junge Dame.

»Für Spaßhaftigkeit bleibt uns leider nicht Zeit«, sagte

Arnott. »Wir müssen sofort nach Chicago. Und an Ihrer Stelle,

mein Fräulein, würde ich während der nächsten zwei Stunden

im Keller Schutz suchen und auch die Mamma mitnehmen!«

Damit schritt er drauflos und wir hinterher. Erbost wie er

war, knurrte er vor sich hin, und erst am Fuße der

Einstiegleiter kam ihm die Komik des Vorfalls so recht zu

Bewußtsein, und er brach in Gelächter aus.

»Der Kontrollausschuß hat sich in diesem Fall nicht

sonderlich ausgezeichnet – keine Rede von Geistesblitz!« sagte

De Forest und fuhr sich über die Augen. »Ich kann nur hoffen,

nicht ebenso blöd ausgesehen zu haben wie Sie, lieber Arnott!

Hallo – was ist denn jetzt wieder los? Kommt Pa von Chicago

nach Hause?«

Page 72: Mit der Nachtpost

Mit knatterndem Krach und Getöse wälzte sich um die

Waldbarriere ein ferngesteuerter Kultivator, alle fünf

Pflugscharen hoch in der Luft wie ein gefletschtes Gebiß, und

rollte funkensprühend direkt auf uns zu!

»Los, los, so macht schon!« schrie Arnott, während wir uns

durch die Einstiegsluke ins Innere zwängten.

»Laßt sie offen – nur ab und hinauf!«

Schon stieg die Victor Pirolo wie eine Luftblase hoch – und

jene lästerliche Maschine schoß mit hochgestellten

Pflugscharen gerade noch unter uns durch!

»Sowas von Fauchkatze – und was für niedliche Krallen sie

hat!« rief Arnott und klopfte den Staub von den Knien. »Wir

stellen ihr eine höfliche Frage – und da setzt sie uns erst unter

Strom und hetzt dann auch noch ihren Kultivator hinter uns

her!«

»Und wir reißen aus wie Schafleder«, ergänzte Dragomiroff.

»Wäre ich jünger um vierzig Jahre, so käm’ ich zurück und

nähme sie um den Hals – hoho!«

»Und ich«, rief Pirolo, »würde sie maulschellieren! Mein

schönes Schiff muß sich jagen lassen von so einem dreckigen

Pflug! Von einer – wie sagt man bei euch – gewöhnlichen

Landmaschine!«

Page 73: Mit der Nachtpost

»Ach – so ist das nun mal hier in Illinois«, versetzte De

Forest. »Man redet nicht nur von Privatheit – man verteidigt

sie auch! Und wo bleibt die versprochene Luftflotte, Arnott?

Wir müßten uns doch zur Wehr setzen können gegen so eine

Bauerndirne!«

Arnott zeigte zum nachtschwarzen Himmel.

»Dort oben – in Abwarteposition«, sagte er. »Soll ich sie

einsetzen, Sir?«

»Ach – die junge Dame ist das Theater nicht wert, glaube

ich«, versetzte De Forest. »Gehen Sie über Chicago –

vielleicht gibt es dort was zu sehen!«

Schon ein paar Minuten danach schwebten wir siebenhundert

Meter über einem langen und finsteren Bauwerk im Zentrum

der Kleinstadt.

»Es könnte das frühere Rathaus sein – natürlich, da steht ja

Salati’s Statue davor!« rief Takahira. »Doch was geht denn

dort unten vor sich – was machen sie denn mit dem Platz? Ich

habe geglaubt, daß er jetzt für Marktzwecke dient! Bitte, gehn

Sie ein wenig tiefer!«

Wir vernahmen den knatternden Lärm von

Straßenbelagsmaschinen des billigen Western-Typs, der Steine

und Bauschutt zu lavageripptem Glasfluß für grobe

Page 74: Mit der Nachtpost

Landstraßendecken verschmilzt. Je drei oder vier dieser

Straßenmaschinen arbeiteten an jeder Seite eines

Abbruchgevierts. Der aufgenommene Bauschutt wurde

zerkleinert, kam als weißglühend-zähflüssige Masse wieder

zum Vorschein und wurde von den Verteilerarmen mehr oder

minder flach aufgetragen. Fast ein Drittel des großen

Komplexes war schon auf diese Weise verarbeitet worden und

erlosch unter rötlichem Glosen vor unserm staunenden Blick.

»Es ist der Altmarkt«, sagte De Forest. »Aber niemand kann

Illinois daran hindern, eine Straße daraus zu machen. Der

Verkehr wird dadurch nicht berührt, wie ich sehe.«

»Pschscht!« machte Arnott und packte mich an der Schulter.

»So horcht doch! Sie singen! Warum singen sie denn?«

Wir gingen noch tiefer, bis wir die düsteren Menschenmassen

am Rande des glosenden Vierecks wahrnehmen konnten.

Zunächst hatte es den Anschein, als wollten sie bloß den

Lärm der Planierraupen übertönen. Dann aber wurden die

Worte verständlich – und waren der Text des verbotenen

Lieds, das jedermann kennt, aber keiner zu singen wagt: Pat

MacDonoughs Gesang aus den übervölkerten Tagen der

Seuche, jedes verrückte Wort bis zum Platzen geladen mit der

ererbten Erinnerung dieses Planeten an Schrecknis und Panik,

Page 75: Mit der Nachtpost

an Grausamkeit und an Angst! Und Chicago – das harmlos-

zufriedene, kleine Chicago – sang diese Worte jetzt lauthals zu

jener höllischen Weise, die wenige Generationen zuvor nichts

als Aufruhr, Wahnwitz und Pestilenz über die Welt gebracht

hatte!

»Es war Das Volk, das einstmals –

den Terror uns gebracht hat;

Es war Das Volk, das einstmals –

zur Höll’ die Welt gemacht hat!«

(Dann, nach einer Pause taktmäßigen Stampfens:)

»Die Welt zertrat den Terror.

Ihr Toten, stimmt mit ein:

Es war Das Volk von einstmals –

und wird nie wieder sein!«

Die Planierraupen stießen erbarmungslos vor gegen die

stürzenden Mauern, während das Lied stets von neuem

erklang, wieder und wieder, und das Krachen des stürzenden

Trümmerwerks übertönte.

Page 76: Mit der Nachtpost

De Forest sah finster drein: »Das paßt mir gar nicht«, sagte

er, »das ist ja ein Rückfall in längst vergangene Tage! Bald

wird es zu Mord und zu Totschlag kommen. Das beste, Arnott,

wird sein, sie auseinanderzujagen!«

»Ay, ay, Sir.« Arnott legte die Hand an die Kappe, und der

Rumpf der Victor Pirolo schwang hörbar mit bei dem

Kommando: »Die Strahler! Beide Wachboote Alarm! Licht!

Licht! Licht!«

»Ruhe bewahren!« flüsterte Takahira mir zu. »Die

Schutzbrillen bitte, Quartiermeister!«

»Schon da – schon zur Stelle!« sagte Pirolo von hinten und

stülpte mir zu meinem Schrecken eine Art Gummihelm über,

der mit schnappendem Laut meinen Kopf umschloß. Vor

meine Augen preßten sich dicke Schutzhüllen, so daß ich

urplötzlich in nachtschwarzer Finsternis stand.

»Zum Schutz vor der Blendung«, erläuterte er und schob

mich zum Kartenraumdivan. »Sie werden’s gleich merken!«

Noch während er sprach, gewahrte ich einen feinen Strahl

von nahezu unerträglicher Blendkraft, herab aus immenser

Höhe – einen vertikalen, gefrorenen Blitz, so dünn wie ein

Haar!

Page 77: Mit der Nachtpost

»Das kommt von unsern Flankensicherungsschiffen«, sagte

Arnott knapp neben mir. »Das eine steht über Galena – und

dort, nach Süden hinaus, ist das zweite, genau über Keithburg.

Hinter uns ist Vincennes, und vor uns im Norden liegt

Winthrop Woods.« Dann, zu De Forest: »Die Flotte ist in

Position, Sir, und wartet auf Ihre Befehle.«

»Nein doch! Nein!« schrie an meiner Seite Dragomiroff auf.

Ich spürte, wie sehr der bejahrte Mann zitterte. »Ich weiß

nicht, was alles Sie tun können – aber seien Sie gnädig! Ich

bitte Sie, haben Sie Mitleid mit dnen dort unten! Das ist ja

schrecklich – entsetzlich!«

»›Sticht die Frau das Hühnchen ab, Sinkt mit ihm die Welt

ins Grab‹«, zitierte Takahira. »Zu spät, jetzt noch Mitleid zu

haben!«

»Dann nehmt mir den Helm ab! Zieht mir den Helm vom

Kopf!« schrie Dragomiroff hysterisch.

Offenbar hatte Pirolo den Arm um ihn gelegt.

»Schscht«, sagte er. »Ich bin ja da, Iwan. Ist ja schon gut,

alter Freund!«

»Ich hätt’ unsrer Kleinen in Bureau City noch gern eine kurze

Vorwarnung gesandt«, sagte Arnott. »Zwar verdient sie es

Page 78: Mit der Nachtpost

nicht, aber wir sollten ihr noch zwei Minuten gönnen, damit sie

mit ihrer Mamma den Keller aufsuchen kann.«

In der äußersten Stille nach dem grollenden Blitz, der nach

Arnotts Signal von der außer Sicht befindlichen Flotte erfolgt

war, tönte MacDonoughs Lied schon schwächer herauf aus der

Stadt, über der wir nun auf Positionshöhe gingen. Dann aber

schlug ich die Hände vor meine Schutzlinsen, denn der

Himmel schien plötzlich zu bersten, und durch die

Einstiegsluken fiel unerträgliche Helle, als entstünden da neue

Sonnen!

»Zählen Sie nicht«, sagte Arnott zu mir, der ich ans Zählen

gar nicht gedacht hatte. »Zweihundertfünfzig Schiffe sind über

uns, in fünf Meilen Abstand. Volle Lichtstärke, bitte, für noch

zwölf Sekunden!«

So weit unsre Blicke reichten, schien das Firmament auf

weißglühenden Pfeilern zu stehen! Einer davon war auf das

glosende Viereck Chicagos gerichtet und wandelte es zu

Schwarz.

» Oh! Oh! Oh! Dürfen Menschen denn so etwas tun?« schrie

Dragomiroff auf und fiel quer über unsere Knie.

Page 79: Mit der Nachtpost

»Ein Glas Wasser, bitte«, befahl Takahira einer behelmten

Gestalt, die herzueilen wollte. »Es ist nur ein kleiner Anfall

von Schwäche.«

Die blendenden Lichter erloschen, und Finsternis stürzte

herein wie eine Lawine. Wir hörten Dragomiroffs Zähne gegen

den Glasrand schlagen.

Beruhigend sprach Pirolo auf ihn ein.

»Ist ja schon gut – alles guut«, wiederholte er. »Kommen Sie,

legen Sie sich erst mal hin – hier unten –, wir nehmen die

Maske herunter. Auf mein Wort, alter Freund, es ist alles in

Ordnung. Es sind nur die Standlichter von unsrer kleinen

Victor Pirolo – winzige Lichter! Sie kennen mich doch! Ich tue

den Leuten nichts Böses!«

»Entschuldigen Sie«, klagte Dragomiroff, »aber ich habe den

Tod – habe den Überwachungs-Ausschuß noch nie in Aktion

gesehen. Gehen wir jetzt hinunter? Verbrennen wir diese

Menschen bei lebendigem Leib – oder haben wir das schon

getan?«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Pirolo, und mir war’s, als wiegte

er ihn auf den Armen.

»Das ganze nochmal, Sir?« fragte Arnott, an De Forest

gewandt.

Page 80: Mit der Nachtpost

»Gönnen wir ihnen noch eine Minute«, versetzte De Forest.

»Ich glaube, sie haben es nötig.«

Wir warteten eine Minute, und MacDonoughs Kampflied,

zwar schwächer, aber noch immer voll Trotz, scholl aus dem

ungebrochnen Chicago herauf.

»Die sind ganz vernarrt in das Lied«, sagte De Forest. »Ich

glaube, jetzt ist’s an der Zeit, Arnott.«

»Jawohl, Sir«, bestätigte Arnott und tastete sich zum

Schaltbrett des Kommunikators.

Keine Lichthölle brach diesmal los, doch aus der sich

höhlenden Finsternis uns zu Häupten erscholl ein dermaßen

hirnzermürbender Laut, wie man ihn allenfalls im Delirium

hört: gezeitenhaft schwoll er heran, wie von jenseits aller

Gemarkung des Raumes!

»Das ist unser stärkster Sirenenton«, sagte Arnott. »Wir

werden jetzt ein wenig durchgerüttelt. Habe bisher noch nie

zweihundertfünfzig Sirenen gleichzeitig betätigt.« Er zog die

Schaltknöpfe und drehte den Kommunikator auf volle Stärke.

Zum andernmal zuckten die blendenden Strahlen hernieder,

vollführten gemessen und schreckenerregend ihren gestelzten

Tanz, schwangen mit jedem steifbeinigen Schritt an die vierzig

Meilen nach rechts und nach links, während sich aus der

Page 81: Mit der Nachtpost

Finsternis Laute gebaren – unmeßbar nach menschlichem Maß

–, die den Tanz dirigierten. Einzelne Töne – man wartete voller

Entsetzen auf sie – schnitten durch Mark und Bein, bis nach

weiteren drei Minuten alles Denken und Fühlen erloschen war,

und nur mehr unsägliche Schmerzempfindung zurückblieb.

Wir konnten noch hören und sehen, doch drohten uns fast

schon die Sinne zu schwinden. Jene zweihundertfünfzig Säulen

aus Licht waren in ständigem Wandel begriffen, formierten

sich neu, fächerten und vervielfachten, schmälerten und

verbreiterten sich, bänderten sich wellenhaft auf, zerstoben zu

tausend parallel verlaufenden Streifen, die gleich danach

ineinander verschmolzen zu wirbelnden, kreisenden

Lichträdern, eins in das andre verzahnt wie die alten

Maschinengetriebe vergangener Zeiten. Sie schossen hinauf

zum Zenit, um mit verdoppelter Wucht von dort

herniederzustürzen und die Qual zu erneuern, hielten inne im

letzten Moment, umzuckten wie irregeworden den Horizont –

und warfen mit ihrem Erlöschen zum hundertsten Mal eine

Finsternis über ganz Illinois, die noch erschreckender war als

das gleich hinterher wieder aufzuckende Licht! Doch

urplötzlich hatte der Horror aus Getöse und Licht sein Ende

gefunden, und wir vernahmen nur mehr ein ohrenzerreißendes

Page 82: Mit der Nachtpost

Klagegeheul, als striche ein feuchter Finger über den Rand

einer ungeheuren gläsernen Schüssel.

»Aha – meine neue Sirene«, sagte Pirolo. »Damit zersägen

Sie einen Eisberg, wenn Sie die richtige Tonhöhe finden! Und

das pfeift jetzt in ganzen Geschwadern! Wir jagen den Wind

durch verschließbare Bohrungen vorne im Bug.«

Ich war neben Dragomiroff zusammengebrochen, kaum

fähig, auch nur zu stöhnen, weil bei lebendigem Leibe den

Schrecken des Jüngsten Gerichts unterworfen! Und alle Engel

der Auferstehung riefen mich durchs Universum zurück, nackt,

unter Klängen der Sphärenmusik!

Dann sah ich De Forest mit der flachen Hand auf Arnotts

Helm einschlagen. Das Heulen erstarb zu einem

langgezogenen, kreischenden Ton, der gleich einem

tiefschwarzen Schatten an uns vorbeistrich und zu seinem

Ursprung über den Wolken entschwebte.

»Ich unterbrech’ einen Spezialisten höchst ungern, sobald er

aufgeht in seinem Geschäft«, sagte De Forest. »Aber seit

fünfzehn Sekunden bittet uns ganz Illinois, ein Ende zu

machen.«

Page 83: Mit der Nachtpost

»Wie jammerschade!« Arnott zog sich die Maske vom Kopf.

»Ich wollte uns einmal ordentlich dröhnen hören. Unser tiefes

C wirft sogar die Straßenpflasterung auf!«

»Das ist ja höllisch – infernalisch ist das!« schrie

Dragomiroff und begann laut zu schluchzen.

Ohne ihn anzusehen, versetzte Arnott:

»Es sind etliche tausend Volt mehr als beim alten

›Abschießen‹, aber ›höllisch‹ möchte ich nicht dazu sagen.

Was soll ich der Flotte durchgeben, Sir?«

»Geben Sie durch, wir sind sehr zufrieden und tief

beeindruckt. Ich glaube, man braucht dort oben nicht länger zu

warten. Unten ist jetzt alles finster, kein Funke zu sehen.« De

Forest zeigte hinunter. »Dort muß alles taub sein und blind!«

»Oh – das glaube ich nicht, Sir. Unsere Vorführung hat keine

zehn Minuten gedauert.«

»Unglaublich!« stieß Takahira hervor. »Mir kam es vor wie

die halbe Nacht! Was machen wir jetzt – gehn wir hinunter, die

Trümmer einsammeln?«

»Erst wollen wir eins darauf trinken«, versetzte Pirolo. »Der

Kontrollausschuß darf bei seinem Erscheinen nicht weinen

über sein eigenes Tun!«

Page 84: Mit der Nachtpost

»Ich bin wirklich ein Narr – ein alter Narr!« sagte

Dragomiroff kläglich. »Hab’ überhaupt nicht gewußt, was da

gespielt wird. Für mich ist das neu. In Kleinrußland verhandeln

wir erst noch mit solchen Leuten.«

Der Kontrollturm Chicago-Nord war unbeleuchtet, und so

sah sich Arnott gezwungen, das Schiff mit Hilfe der eigenen

Lichter in die Landeklampen zu steuern. Kaum waren die

Scheinwerfer an, da hörten wir auch schon vielstimmiges

Schreckensgejammer und flehentliches Bitten von unten.

»Beruhigt euch doch!« brüllte Arnott ins Dunkel. »Es kommt

nichts mehr nach, wir fangen nicht wieder an!« Wir fuhren die

Landetreppe aus, stiegen hinunter – und fanden uns knietief in

einer Vielzahl zu Boden gestreckter Menschen. Die einen

schrieen, sie seien blind, andre flehten uns an, nicht wieder mit

dem Gedröhn zu beginnen, die meisten jedoch verharrten flach

auf dem Boden, die Gesichter nach unten und die Hände oder

die Kappen gegen die Augen gepreßt.

Es war Pirolo, der schließlich die Initiative ergriff und uns

andern zu Hilfe kam. Er kletterte auf eine Planierungsmaschine

und richtete gestikulierend, als könnten die Menschen ihn

sehen, das Wort an dieses geschlagene Illinoisvolk.

Page 85: Mit der Nachtpost

»Ihr Schschwachköpfe!« hub er an. »Vor was habt ihr solche

Aangst? Ja, schon – morgen früh habt ihr rote und

schmerzende Augen. Ihr werdet aussehn, als hättet ihr zuviel

gesoffen, Männer wie Weiber – aber nicht lange, und ihr könnt

wieder sehen, so gut wie zuvor! Das sage euch ich – und ich

bin Pirolo! Victor Pirolo!«

Ein Beben durchlief die Menge, denn um Victor Pirolo aus

Foggia und sein Wissen um die Geheimnisse Gottes ranken

sich viele Legenden.

»Pirolo?« kam es mit schwankender Stimme zurück.

»Dann sagen Sie uns – war da noch was andres als Licht in

Ihren Kaskaden von vorhin?«

Von überallher aus dem Dunkel wiederholte sich jetzt diese

Frage.

Pirolo lachte.

»Nein!« rief er mit donnernder Stimme (warum haben

eigentlich so kleine Leute dermaßen gewaltige Stimmen?).

»Auf mein Wort, und auch auf das vom Kontrollausschuß, es

ist Licht gewesen – nur Licht und sonst nichts, ihr

Schschwachköpfe! Ist eure Geburtenrate nicht jetzt schon zu

klein? Ich muß irgendwann was erfinden, um sie zu steigern –

von Verminderung kann keine Rede mehr sein, nimmermehr!«

Page 86: Mit der Nachtpost

»Ist das wahr? – Und wir haben geglaubt – jemand hat uns

gesagt – «

Man konnte spüren, wie sich ringsum die Anspannung löste.

»Wie kann man denn nur so vernagelt sein!« schrie Pirolo.

»Ihr hättet ja bei uns rückfragen können – dann hätten wir’s

euch gesagt!«

»›Rückfragen können!‹« kam’s mit grollender Stimme

zurück. »Ihr hättet erst mal an unserem Ende des Drahtes sein

müssen!«

»Gottlob war ich das nicht«, sagte De Forest. »Es war schon

scheußlich genug hinter den Strahlern. Aber lassen wir das –

es ist ja vorbei! Gibt es hier jemand, mit dem ich verhandeln

kann? Ich bin De Forest – für den Kontrollausschuß!«

»Dann reden Sie erst mal mit mir – ich bin hier der

Bürgermeister«, versetzte der Mann mit der Baßstimme.

Eine große Gestalt erhob sich taumelnd vom Boden und

näherte sich unsicheren Schrittes dem breiten Rasenstreifen an

der Gartenumzäunung, wo wir uns hingesetzt hatten.

»Sieht aus, als wär’ ich der erste, der wieder auf seinen Füßen

steht – oder nicht?«

»Stimmt«, sagte De Forest und half ihm beim Niedersetzen.

»Hallo – Andy! Bist du es?« rief’s aus dem Dunkel.

Page 87: Mit der Nachtpost

»Entschuldigung«, sagte der Bürgermeister. »Das klingt ja

wie Bluthner, mein Polizeichef!«

»Ja, hier ist Bluthner – auch Mulligan und Keefe sind bei mir

– schon auf den Beinen!«

»Bring sie herauf zu uns, Bluth! Wir vier sind verantwortlich

für dieses Kuhdorf – was wir sagen, das gilt. Und was haben

Sie uns zu sagen, De Forest?«

»Noch nichts – im Moment«, versetzte De Forest, während

wir den schweratmenden, wankenden Männern Platz machten.

»Sie haben sich aus dem System gelöst. Also, was ist?«

»Der Steward soll uns was zu trinken herunterschicken«,

raunte Arnott der neben ihm stehenden Ordonnanz zu.

»Gut!« sagte der Bürgermeister und befeuchtete seine

trockenen Lippen. »Ich glaube, De Forest, wir können nun

damit rechnen, daß wir ab jetzt dem Kontrollausschuß

unmittelbar unterstehen?«

»Nicht, wenn es vermeidbar ist«, sagte De Forest und lachte.

»Der A.B.C. kümmert sich nur um den Verkehr auf diesem

Planeten.«

»Einschließlich alles dessen, was er umfaßt!« Die Großen

Vier, welche Chicago regierten, zitierten die Magna Charta im

Chor – wie in der Schule.

Page 88: Mit der Nachtpost

»Na gut – aber weiter«, winkte De Forest ab. »Worin besteht

überhaupt euer verrücktes Problem?«

»Zuviel an verdammter Demokratie«, sagte der

Bürgermeister und legte die Hand auf De Forests Knie.

»So? Ich habe geglaubt, Illinois hat seine Dosis bereits

abgekriegt!«

»Hat es ja auch. Eben deshalb geht’s hier so zu. Bluth, was

hast du getan mit unsern Häftlingen letzte Nacht?«

»Hinter Schloß und Riegel gesetzt, im Wasserturm, damit die

Weiber sie nicht massakrieren können«, versetzte der

Polizeichef. »Ich bin im Moment noch zu sehr geblendet,

aber – «

»Arnott, schicken Sie bitte ein paar Ihrer Männer los, und

lassen Sie die Arrestanten herschaffen«, befahl De Forest.

»Aber der Sperrstrom ist dreifach gesichert«, warnte der

Bürgermeister. »Sie müssen drei Sicherungen ausmachen!« Er

wandte sich wieder De Forest zu. Seine breite Figur war nur

ein Schatten im schwindenden Dunkel. »Ich möchte dem

Ausschuß bestimmt nicht noch mehr Arbeit machen. Bin

selber Verwaltungsbeamter, nur sind wir mit unseren Hörigen

nicht mehr zurechtgekommen. – Was das ist? – Nun, in jeder

größeren Stadt gibt es auch ein paar Männer und Frauen, die

Page 89: Mit der Nachtpost

glauben, ohne Gemeinschaft nicht leben zu können und

deshalb am liebsten aus Röhren trinken, von denen ihnen kein

Ende gehört. Sie verbringen das Jahr in Hotels oder

Mietwohnungen, weil ihnen das, wie sie sagen, allen Wirbel

erspart. Auf jeden Fall haben sie dadurch mehr Zeit, ihren

Nachbarn auf die Nerven zu fallen. Wir nennen sie hier nur

›die Hörigen‹. Außerdem sind sie anfällig für Tuberkulose.«

»So ist es«, sagte der Mann, den sie Mulligan nannten.

»Transportation ist Zivilisation. Demokratie bedeutet nur

Krankheit. Das hab’ ich durch Blutproben jederzeit

nachgewiesen.«

»Mulligan, unser Gesundheitsbevollmächtigter, ist nur von

einer Idee besessen«, erklärte der Bürgermeister und lachte.

»Aber es stimmt schon – die meisten dieser

Gemeinschaftshörigen haben sich nicht in der Hand. Sie

wollen einfach reden. Und fassen die Leute das Reden erst als

Beruf auf, so kann es zu allem möglichen kommen – so ist’s

doch, De Forest?«

»Zu allem – nur nicht zu den Fakten unseres Falles«,

versetzte De Forest, ebenfalls lachend.

»Zu denen komm’ ich sofort«, sagte der Bürgermeister.

Page 90: Mit der Nachtpost

»Unsere Hörigen sind, wie gesagt, ins Reden gekommen –

erst mal in ihren Häusern, später auf offener Straße – und

haben den Leuten erzählt, wie sie es anfangen sollten, ihre

eignen Affären zu regeln. (Sie können es so einem Hörigen

einfach nicht beibringen, die Finger von seines Nachbarn Seele

zu lassen!) Natürlich ist das schon eine Art Eingriff in die

Privatsphäre, aber hier in Chicago dulden wir alles noch eher,

als daß es zu Aufläufen kommt. Und weil solches Treiben

nicht sehr viel Beachtung fand, ließ ich es dabei bewenden.

Mein Fehler! Man hatte mich ja gewarnt, es werde zu Unruhen

kommen, aber in Illinois war es seit neunzehn Jahren weder zu

Kundgebungen noch zu Mord oder Totschlag gekommen.«

»Seit zweiundzwanzig, nicht neunzehn«, verbesserte der

Polizeichef.

»Kann sein. Jedenfalls haben wir nicht mehr an sowas

gedacht. Na, und vom Reden in ihren Häusern und dann schon

auf offener Straße gehn unsre Hörigen weiter und rufen zu

einer Massenkundgebung auf – dort drüben am Altmarkt.« Er

wies mit dem Kinn auf das Geviert, wo sich die verhüllte

Statue des »Brennen den Negers« am Abbruchgebäude gegen

den Schimmer des grauenden Morgens abhob. »Es gibt keinen

Grund, Kundgebungen zu verhindern, bis auf den Umstand,

Page 91: Mit der Nachtpost

daß es der Menschennatur widerspricht, sich

zusammenzurotten, und außerdem schadet es der Gesundheit.

Ich hätte ja an der Art und Weise, wie unsre Männer und

Weiber sich zu jener Kundgebung drängten, auf Anhieb

erkennen müssen, daß sich etwas zusammenbraute! Ein ganzes

Tausend war schon auf dem Marktplatz versammelt, und sie

berührten einander! In Tuchfühlung sind sie gestanden! Und

die Hörigen haben sich angestrengt und auf sie eingeredet,

während wir – «

»Worüber haben sie denn geredet?« erkundigte sich

Takahira.

»In erster Linie, wie miserabel die Stadt von uns verwaltet

werde. Aber das konnte uns Vieren nur angenehm sein – wir

standen ja auf der Tribüne –, weil wir uns ein paar gute

Mitarbeiter für die Stadtverwaltung erhofften. Sie wissen ja,

wie schwer es oft ist, effiziente Vollzugsbeamte zu finden!

Und selbst, wenn wir keine fänden, so ist es – so war es

erfreulich genug, überhaupt jemanden anzutreffen, der genug

Interesse bekundet, Ihre Arbeit herunterzumachen! Haben Sie

denn eine Ahnung, was es bedeutet, jahrein und jahraus nur

weiterzumachen, ohne auf andere Meinung zu stoßen?«

Page 92: Mit der Nachtpost

»Na – und ob!« sagte De Forest. »Mitunter würden wir bei

uns im Ausschuß liebend gern alles hinschmeißen, wenn uns

nur jemand hinauswerfen und unser Amt übernehmen wollte!«

»Aber es ist niemand da«, versetzte der Bürgermeister

bekümmert. »Glauben Sie mir, Sir, wir Vier haben uns in

Chicago Dinge geleistet – nur in der Hoffnung, die Leute zum

Widerspruch zu ermuntern –, Dinge, die sich kein Nero erlaubt

haben würde! Und was hören wir dann? ›Schon recht, Andy,

macht nur so weiter! Ist alles noch besser als Massenaufläufe!

Ich geh’ jetzt wieder auf meine Länder.‹ Sie können mit

Leuten nichts anfangen, denen es freisteht, ihre eigenen Wege

zu gehen, und die sich darüber hinaus nichts anderes wünschen

auf Gottes Erdboden! Es ist auf diesem Planeten niemand mehr

da, der etwas riskieren würde – und wär’ es auch nur ein

Fußtritt.«

»Dann ist vermutlich der Schuppen da drüben von selbst

eingestürzt?« fragte De Forest. Vor uns lag die nackte, noch

rauchende Brandruine, und wir hörten das Knacken und

Knistern der in sich zusammensackenden Schlackenberge.

»Ach – das ist nur zum Spaß! Doch davon später. Nun, wie

schon gesagt, unsere Hörigen haben die Kundgebung

abgehalten. Wir mußten den Platz recht bald unter Sperrstrom

Page 93: Mit der Nachtpost

setzen, um zu verhindern, daß sie erschlagen würden. Doch hat

das nicht dazu beigetragen, die Bevölkerung zu beruhigen.«

»Wie meinen Sie das?« warf ich ein.

»Wären Sie jemals im Sperrstrom gestanden, durch

Elektrizität an den Boden geklebt«, versetzte der

Bürgermeister, »so würden Sie wissen, wie ekelhaft das Gefühl

ist, festgehalten zu sein von einem Nichts, gegen das man nicht

ankämpfen kann. Nein, Sir: es ist ja ganz lustig, acht- oder

neunhundert Leute wie die Fliegen im Sirup strampeln und

lärmen zu sehen, während ein Rudel von Hörigen sicher und

außer Reichweite drauf und dran ist, sich mental und spirituell

in die Privatsphäre zu drängen. Und hinterher sind solche

Leute nicht mehr so leicht unter Kontrolle zu bringen!«

Pirolo lachte in sich hinein.

»Unsre Leute bekennen sich nur zu sich selbst – und sie

waren der Meinung, die Dinge gingen zu weit, ja unter die

Haut. Ich hab’ diese Hörigen gewarnt, aber die sind ja

geborene Stubenhocker: was ihnen nicht auf den Kopf fällt,

das sehen sie nicht. Sir, Sie werden es nicht für möglich halten,

aber die haben sich dazu verstiegen, von der ›Herrschaft des

Volkes‹ zu reden! Buchstäblich! Und sie haben uns

aufgefordert, zurückzukehren zu jener alten Wudu-Zauberei,

Page 94: Mit der Nachtpost

zu Wahlen mit papierenen Zetteln und hölzernen Kästen und

wortbesoffenen Wählern, Vordrucken und

Nachrichtenblättern! Und sie haben gesagt, sie selber

praktizierten das unter sich, in ihren Häusern, wenn’s um die

Wahl ihrer Mahlzeiten gehe, daheim wie in ihren Hotels!

Jawohl, Sir! Da standen sie aufrecht hinter Bluthners doppelter

Bodenstromsperre und haben in diesem herrlichen Jahr und an

dieser Stelle solche Sachen zu eigenverantwortlichen Männern

und Frauen gesagt! Und zum Schluß haben sie« – er dämpfte

nahezu ängstlich die Stimme – »auch noch von der Gesamtheit

des Volkes gesprochen. Bluthner mußte danach die ganze

Nacht wach bleiben und die Stromsperre kontrollieren, weil er

sich auf die eigenen Männer nicht mehr verlassen konnte.«

»Die Leute sind zu sehr aufgereizt worden«, sagte der

Polizeichef. »Aber wir konnten sie doch nicht auf Dauer unter

der Stromsperre halten! Also habe ich diese

Gemeinschaftskrakeeler wegen öffentlicher Unruhestiftung

samt und sonders verhaften und im Wasserturm festsetzen

lassen. Erst hinterher ließ ich den Dingen ihren Lauf. Ich

konnte nicht anders! Der ganze Distrikt glich einem

gezündeten Gasbehälter!«

Page 95: Mit der Nachtpost

»Die Nachricht war schon über sieben Landgrade verbreitet«,

ergänzte der Bürgermeister. »Und wenn erst einmal die

Privatsphäre auf dem Spiel steht, dann Gute Nacht für

Ordnung und Recht in ganz Illinois! Schon Donnerstag abends

hat man begonnen, alle Verkehrslichter zu löschen und die

Landetürme zu sperren. Und am Freitag haben sie den Verkehr

stillgelegt und verlangt, der Überwachungsausschuß solle den

Fall übernehmen. Danach wollten sie auch noch Chicago vom

Seeufer anderswohin verlegen – nur in Ansehung des ›Volks‹,

von dem die Hörigen gefaselt haben. Ich schlug ihnen vor, den

Altmarkt, auf dem die Massenkundgebung stattfand,

einschlacken zu lassen, und habe dann einen Hilferuf an euren

gesamten Ausschuß abgesandt. Das hat sie bis zu eurer

Ankunft zurückgehalten. Na und jetzt – könnt ihr zusehn, wie

ihr zurechtkommt mit dem Schlamassel.«

»Besteht irgendwelche Aussicht auf Beschwichtigung dieser

Leute?« fragte De Forest.

»Probieren Sie’s doch!« versetzte der Bürgermeister.

De Forest erhob seine Stimme vor der sich erholenden und

herzudrängenden Menge. Es war inzwischen taghell geworden.

»Glaubt ihr nicht, daß wir uns einigen könnten?« begann er.

Doch nur ein wütender Aufschrei antwortete ihm:

Page 96: Mit der Nachtpost

»Wir haben Schluß gemacht mit allen Versammlungen!

Schluß mit der Vergangenheit! Übernehmt uns in eure

Verwaltung! Fort mit den Gemeinschafts-Sklaven – befreit uns

von ihnen! Regiert uns direkt, oder wir bringen sie um! Nieder

mit allem, was ›Volk‹ heißt!«

Irgendwer stimmte MacDonoughs Gesang an. Doch schon

nach der ersten Zeile sandte die Victor Pirolo einen

gedämpften Warnton hernieder, und eine schon brüchige

Mauer am Rande des Altmarkts geriet ins Wanken und stürzte

über den Bergen aus Schlacke in sich zusammen. Regungslos,

ohne ein Wort, warteten alle, bis auch der letzte Staub sich

gesetzt und das Stahlgehäuse der Statue zu aschenem Grau

verfärbt hatte.

»Da sehen Sie es: Sie müssen uns übernehmen«, raunte der

Bürgermeister.

De Forest hob nur die Schultern.

»Sie reden daher, als ließe die Exekutivgewalt sich wie

Pferdestärken rein aus der Luft herab schalten! Könnt ihr denn

nicht mehr von euch aus zurechtkommen?« erwiderte er.

»Zurechtkommen, wie Sie es nennen, könnten wir schon. Nur

würde das gleich zu Beginn das Leben dieser paar Leute da

kosten.«

Page 97: Mit der Nachtpost

Der Bürgermeister wies über den Platz, wo Arnotts

Mannschaft soeben zehn oder zwölf stolpernde Männer und

Frauen an das Seeufer brachte und sie vor der Statue anhielt.

»Ich glaube«, sprach Takahira gedämpft, »jetzt wird es gleich

Ärger geben!«

Vor uns, aus der Menschenmenge, erhob sich ein Murren, als

wären da wilde Bestien versammelt.

Und in dem Moment, als die Sonne heraufstieg, und die

Menschen gewahrten, daß sie ja selber die Massenkundgebung

formierten, sahen wir, daß ein Schauder aus Schreck und aus

Widerwillen die Menge durchlief, ganz wie die Böen über die

stahlgraue Wasserfläche draußen am See. Wortlos und noch

halb geblendet, gerieten die Leute nur nach und nach in

Bewegung. Trotzdem, nach kaum einer Viertelstunde waren

die Massen – sie zählten zumindest dreitausend –

dahingeschmolzen wie Eis an sonnseitigen Traufen, und der

verbliebene Rest legt sich flach auf den Rasen, wodurch jede

Massenansammlung aufhört, eine solche zu sein.

»Die jetzt noch da sind, bedeuten Arbeit für uns«, sagte der

Bürgermeister zu Takahira. »Es sind gar nicht so wenige

Frauen darunter, die schon geboren haben. Ich habe kein gutes

Gefühl!«

Page 98: Mit der Nachtpost

Der Frühwind vom See her fuhr in die Wipfel der Bäume

ringsum und verhieß einen sehr warmen Tag. Die Sonne

spiegelte sich in der kanisterförmigen Hülle von Salad’s

Statue. In den Gärten begannen die Hähne zu krähen, und von

fern ertönte das Schließen der Türen, als die Menschen in ihre

Häuser heimkehrten.

»Ich fürchte, heut gibt’s keine Morgenzustellung«, sagte De

Forest. »Wir haben vergangene Nacht hierzulande die Dinge

ganz schön durcheinandergebracht!«

»Das spielt keine Rolle«, versetzte der Bürgermeister. »Wir

sind allesamt bevorratet auf sechs Monate. Bei uns setzt man

sich keinen Zufällen aus.«

Das tut heute niemand mehr, wenn man es recht überlegt.

Schon seit fast einem Menschenalter hat es in keinem Haus,

keiner Stadt eine Lebensmittelverknappung gegeben. Welches

Haus, welche Stadt auf unsrem Planeten hätte nicht auf ein

halbes Jahr vorgesorgt heutzutage? Wir gleichen den

Schiffbrüchigen aus alten Büchern, die, einmal dem Hungertod

preisgegeben, hinterher allzeit auf einen Vorrat an Zwieback

bedacht sind. Und, vor allem, wir trauen der

Massenversorgung nicht mehr – und auch keinem System, das

auf der Masse beruht!

Page 99: Mit der Nachtpost

De Forest wartete ab, bis die letzten Schritte verhallten.

Mittlerweile benahmen die Häftlinge unter der Statue sich

unruhig wie kleine Kinder: sie scharrten und stießen einander

herum und posierten recht unverschämt. Sie waren sämtlich

nur mittelgroß, keiner erreichte einsneunzig, und viele von

ihnen hatten schon graue Haare und die verhärmten,

verwüsteten Züge alter Porträts. Alle hielten sich eng

aneinandergedrängt, wogegen die übrige Menge auf

gebührenden Abstand bedacht war und aus blutunterlaufenen

Augen auf die Gefangenen starrte.

Und dann begann einer der Häftlinge plötzlich zu reden –

hielt eine Ansprache! Der Bürgermeister hatte nicht

übertrieben: unser Planet, so schien es, lag versklavt unterm

Stiefel des Luftüberwachungs-Ausschusses! Der Redner

beschwor uns, daß wir uns erheben, daß wir unsre Fesseln

zerbrechen sollten (die Metaphorik entstammte zur Gänze dem

Mittelalter). Jedes Ding des täglichen Lebens, einschließlich

der meisten Körperfunktionen, solle allwöchentlich, jeden

Monat und jedes Jahr den Beschlüssen all derer unterliegen,

die innerhalb eines gewissen Bereichs zeitweilig oder auf

Dauer ansässig wären, und zur Entscheidungsfindung müsse

hinkünftig jedermann seine eigenen Interessen hintanstellen:

Page 100: Mit der Nachtpost

denn erst einmal wären da Massenversammlungen

einzuberufen, zweitens Reden zu halten, und letztlich wäre

durch Ankreuzen papierener Zettel, die hinterher unter allerlei

mystischem Zeremoniell und eidlichem Ritual ausgezählt

werden sollten, das Resultat zu ermitteln! Aus solchen

Sonderbarkeiten, so versicherte uns der Redner, werde ganz

automatisch eine höhere, edlere und auch hellere Welt

hervorgehen, auf der Grundlage – er demonstrierte uns das mit

aller düsteren Luzidität des Verrückten – sakrosankter

Mehrheitsbeschlüsse gegen die Schurkerei einzelner.

Abschließend rief er noch Gott an, zum Zeugen seiner

persönlichen Integrität und Verdienstlichkeit. Als der

Wortschwall versiegt war, sah ich verwirrt auf Takahira, der

bedeutsam und feierlich nickte.

»Vollkommen korrekt«, sagte er. »Wie in den alten

Scharteken. Nichts hat er weggelassen – nicht einmal das

Gefasel vom Krieg.«

»Aber wie kann man mit solchem Gewäsch auch nur ein

Kind aus der Ruhe bringen? Und gar einen ganzen Distrikt?«

fragte ich.

Page 101: Mit der Nachtpost

»Oh – Sie sind noch zu jung«, sagte Dragomiroff. »Und

außerdem – Sie sind keine Mamma. Na bitte, sehn Sie doch

hin – auf die Mammas!«

Mehr als ein Dutzend Frauen, die noch geblieben waren,

hatten sich aus der Schar der schweigenden Männer gelöst und

bewegten sich langsam auf die Gefangenen zu. Es sah aus, als

umkreiste ein Wolfsrudel eine Herde von Moschusochsen,

hoch oben im Norden, heimlich, bevor es sich auf seine Beute

stürzt. Das blieb auch den Häftlingen nicht verborgen, und so

schlossen sie sich noch enger zusammen. Der Bürgermeister

bedeckte sekundenlang das Gesicht mit den Händen, und De

Forest, barhaupt wie er war, trat zwischen die Gruppe der

Häftlinge und die langsam und steif sich nähernden Frauen.

»Das alles ist ja recht interessant«, wandte er sich an den

Redner. »Aber der springende Punkt scheint zu sein, daß ihr

Kundgebungen macht und damit die Privatsphäre gefährdet.«

Jetzt trat eine Frau vor, um etwas zu sagen, doch das

beifällige Gemurmel der Männer, welche erkannten, daß De

Forest der Situation auf den Grund ging, hinderte sie daran.

»Jawohl, so ist es!« ertönte es von allen Seiten. »Wir haben

alle Verbindungen unterbrochen, weil die da

Massenkundgebungen machen und unsre Privatsphäre stören!

Page 102: Mit der Nachtpost

Das ist es – hier müssen Sie ansetzen! Fort mit den Leuten!

Jetzt ist der Kontrollausschuß dran!«

»Oh ja, jetzt ist der Kontrollausschuß dran«, sagte De Forest.

»Ich nehme, wenn ihres wollt, diese Massenaktivitäten formell

zur Kenntnis, doch die Beweisführung liegt bei den

Ausschußmitgliedern. Würde euch das genügen?«

Die näherkommenden Frauen hatten ihr Tempo verlangsamt

und ballten die unruhigen Hände immer wieder zu Fäusten.

»Gut – sehr gut sogar!« riefen die Männer. »Dann sind wir

zufrieden! Nur fort mit den Leuten – so rasch wie möglich!«

»Kommt jetzt zu uns herauf«, sagte De Forest zu den

Gefangenen. »Das Frühstück ist schon bereit!«

Aber die Häftlinge rührten sich nicht von der Stelle – waren

offenbar fest entschlossen, in Chicago zu bleiben und ihre

Kundgebungen fortzusetzen. Auch machten sie geltend, der

Vorschlag De Forests sei ein gröblicher Eingriff in die

Privatsphäre!

»Mein lieber Freund«, sagte Pirolo zum beredtesten ihrer

Anführer. »Jetzt aber rasch, wenn eure Massen, die ja immer

im Recht sind, euch nicht umbringen sollen!«

Page 103: Mit der Nachtpost

»Aber das wäre ja Mord«, versetzte der Mehrheitsverfechter.

Die allgemeinen Lachstürme, die sich daraufhin erhoben,

schienen der Krise ein Ende zu setzen.

Aus der Reihe der Frauen trat jetzt eine vor, herzlich lachend

wie alle andern, das kann ich bezeugen! Mit der einen Hand

schützte sie noch ihre Augen, die andere hatte sie an ihrer

Kehle.

»Ach – hier braucht niemand zu fürchten, daß man ihn

umbringen könnte!« rief sie.

»Nicht im geringsten«, sagte De Forest. »Aber glauben Sie

nicht, daß es jetzt, wo der Ausschuß den Fall übernimmt, für

Sie besser wäre, nach Hause zu gehen, während wir diese

Leute wegbringen?«

»Da werd’ ich schon lange daheim sein. Es war ja – es ist ein

recht mühsamer Tag.«

Hochaufgerichtet stand sie vor De Forest und überragte den

zwei Meter großen Mann ganz beträchtlich. Noch immer

lächelte sie, hielt aber wegen der blendenden Helle die Augen

geschlossen.

»Da haben Sie recht«, stimmte De Forest ihr bei. »Doch ich

fürchte, das Sonnenlicht ist noch zu stark für Ihre Augen. Wir

lassen das Schiff tiefergehen.«

Page 104: Mit der Nachtpost

Er winkte der Victor Pirolo, sich zwischen uns und die Sonne

zu schieben – und dabei die unruhig gewordnen Gefangenen

mit einer Stromschlinge zu sichern. Die unter Strom Gesetzten

erstarrten sofort, aber die Frau sprach weiter, mit sanfter und

leiser Stimme:

»Ich glaube nicht, daß ihr Männer es wahrhabt, wie

bedeutungsvoll diese – nun, diese Art Vorgänge für eine Frau

sind. Ich habe drei Kindern das Leben geschenkt, und wir

Frauen werden nicht zulassen, daß unsre Kinder der Masse

überantwortet werden! Das mag ein ererbter Instinkt sein.

Menschenansammlungen führen zu Unruhen. Sie bringen die

alten Zeiten zurück: Haß, Angst, Erpressung, Nötigung,

Öffentlichkeit, kurz ›Das Volk‹ – eben das, das und nur das!«

Sie zeigte dabei auf die Statue, und wieder begann die Menge

zu murren.

»Ja – wenn man die Leute gewähren ließe«, sagte De Forest.

»Indes, diese kleine Affäre – «

»Für uns Frauen ist es von großer Bedeutung, daß diese –

diese kleine Affäre nie wieder vorkommen kann. Natürlich,

›nie wieder‹, das sagt sich so leicht, doch rein gefühlsmäßig

wissen wir alle, wie wichtig es ist, jede Zusammenrottung

schon in ihrem Keim zu ersticken! Jene sklavischen

Page 105: Mit der Nachtpost

Kreaturen« – sie wies mit der Linken auf die Gruppe der

unterm Sperrstrom wie Seetang gezeitenhaft wankenden

Arrestanten –, »jene paar Leute haben ja Freunde und Frauen

und Kinder hier in der Stadt oder irgendwo draußen! Ihnen will

man ja gar nichts antun, nicht wahr! Schrecklich, nicht

auszudenken, einen Menschen nach fünf oder sechs

Jahrzehnten anständigen Lebens daraus zu vertreiben! Ich

selber bin vierzig, ich weiß Bescheid! Und doch hat man das

Bedürfnis, ein Exempel zu statuieren, denn kein Preis ist zu

hoch, wenn damit diese – wenn damit diesen Leuten und

allem, was zu ihnen gehört, ein Ende gemacht werden kann! –

Ist Ihnen überhaupt klar, wovon ich rede, und hätten Sie auch

noch die Güte, diese Statue da von Ihren Männern enthüllen zu

lassen? Der Anblick ist sehenswert!«

»Ich verstehe Sie wirklich vollkommen – doch glaube ich

nicht, daß irgendeiner der Anwesenden, noch ohne etwas im

Bauch zu haben, die Statue ansehen möchte – entschuldigen

Sie mich für einen Moment!« De Forest wandte sich ab und

rief das Schiff an: »Fangschlinge bereithalten, an Backbord,

bitte!« Und dann, mit einiger Schärfe, wieder zu seiner

Gesprächspartnerin: »Ein wenig Handlungsfreiheit könnten Sie

uns in dieser Sache schon lassen!«

Page 106: Mit der Nachtpost

»Aber natürlich! Ich danke Ihnen für Ihre Geduld – ich weiß,

meine Argumente sind töricht, aber ich – « Sie wandte sich

halb zur Seite und sprach mit veränderter Stimme: »Vielleicht

hilft das Ihnen bei der Entscheidung.«

Sie streckte den rechten Arm aus, ein Messer war in ihrer

Hand – doch bevor sie es an ihre Kehle oder auch Brust führen

konnte, wurde die Waffe den Fingern entwunden, flog aus dem

Schattenbereich des darüberschwebenden Schiffs und landete

fünfzig Meter entfernt zu Füßen der Statue, wo sie im

Sonnenlicht blitzte. Der gestreckte Arm blieb stocksteif in der

Luft, bis der nachlassende Sperrstrom eine langsame

Rückführung zum Körper erlaubte. Die übrigen Frauen wichen

zurück und verdrückten sich zwischen die Männer.

Pirolo rieb sich die Hände, und Takahira nickte beifällig.

»Das war sehr klug von Ihnen, De Forest«, sagte er

anerkennend.

»Welch herrliche Pose!« sprach Dragomiroff vor sich hin,

denn die erschrockene Frau war am Rande der Tränen.

»Warum haben Sie mich dran gehindert? Ich hätt’ es getan!«

schrie sie auf.

»Daran zweifle ich nicht«, versetzte De Forest. »Aber wir

können nicht zulassen, daß Sie Ihr Leben hingeben für diese

Page 107: Mit der Nachtpost

Leute. Ich hoffe, der Stromstoß hat Ihr Gelenk nicht verletzt –

es ist schwierig, solch eine Fangschlinge zu dirigieren. Im

übrigen glaube ich, daß Sie in bezug auf die Frauen und Kinder

dieser Personen rechthaben. Wir nehmen sie alle mit uns, wenn

Sie mir versprechen, keine Dummheiten mehr zu machen!«

»Ich versprech’s – ich verspreche es Ihnen.« Sie riß sich

gewaltsam zusammen. »Es ist für uns Frauen so wichtig! Wir

wissen, was es bedeutet – ich hab’ nur gedacht, wenn Sie noch

gesehen hätten, wie ernst es mir war – «

»Ich hab’ es gesehen – der Punkt geht an Sie. Vom Fleck weg

nehme ich jetzt all eure ›Hörigen‹ mit mir. Der Bürgermeister

stellt eine Liste von sämtlichen Freunden und

Familienmitgliedern hier in der Stadt und auch im Umland

zusammen und sendet mir dann die Betreffenden auf dem

Luftwege nach – noch vor heute abend!«

»Gewiß«, versetzte der Bürgermeister und stand auf. »Keefe,

könnten Sie nicht, wenn es geht, den Altmarkt vollständig

einebnen? Der jetzige Anblick ist nicht sehr schön, und für

Kundgebungen wird der Platz nicht mehr benötigt.«

»Wär’ es nicht besser, auch gleich die Statue verschwinden

zu lassen, Herr Bürgermeister?« fragte De Forest. »Ich stelle

Page 108: Mit der Nachtpost

den Kunstwert ja nicht in Frage – aber ich glaube, sie ist eine

Spur zu morbid!«

»Wird gemacht, Sir – hallo, Keefe! Machen Sie erst noch

Schluß mit dem Nigger, bevor Sie den Marktplatz verheizen!

Ich geh’ an den Kommunikator und verlautbare für den

Distrikt, daß der Ausschuß jetzt die Vollzugsgewalt hat.

Wollen Sie etwas Spezielles durchgeben, Sir?«

»Nichts. Wir können unsere Mannschaften nicht für

Hinterwäldler verzetteln. Machen Sie weiter wie bisher, doch

ab jetzt unter unserer Aufsicht. Arnott, nehmen Sie bitte Ihre

Gefangenen an Bord! Landen Sie unser Schiff bei offenen

Abflußluken. Wir warten inzwischen die Zerstörung des

Kunstwerkes ab.«

Die Häftlinge trotteten hinter Arnott einher, ununterbrochen

redend, doch ohne zu gestikulieren – der Sperrstrom hinderte

sie ja daran. Dann fuhren die Glattmacher an – je zwei zu

Seiten der Statue –, wie auf Befehl sahen die Zuschauer weg,

aber das wäre nicht nötig gewesen: Keefe drehte auf volle

Stärke, und das Ding schmolz samt seiner Hülle dahin! Ich sah

nur eine weißglühende Welle über den Sockel branden und

konnte vor dessen Zerstieben gerade noch seine Aufschrift

Page 109: Mit der Nachtpost

entziffern: »Zum Ewigen Gedenken der Rechtsprechung durch

Das Volk«. Die Menge sah es jubelnd mit an.

»Herzlichen Dank«, sagte De Forest. »Doch jetzt wird es Zeit

zum Frühstück, auch für Sie, nehm’ ich an. Leben Sie wohl,

Herr Bürgermeister! Würde mich freuen, Sie wiederzusehen,

doch hoffentlich nicht von Amts wegen in den kommenden

dreißig Jahren! Empfehle mich, Madam! Ach ja – man fällt

heutzutage gelegentlich seinen Nerven zum Opfer – ich spür’s

an mir selber. Leben Sie wohl, Herrschaften! Ab jetzt

unterstehen Sie dem tyrannischen Ausschuß, doch sollten Sie

je das Bedürfnis empfinden, Ihre Fesseln zu sprengen, so

geben Sie uns Bescheid! Das ganze freut uns nicht sehr. Alles

Gute!«

Inmitten des Abschiedsgeschreis begaben wir uns an Bord

und hörten zu steigen erst auf, als der Stimmenlärm nur mehr

ein Flüstern war. De Forest ließ sich auf das Sofa des

Kartenraums fallen und wischte den Schweiß von der Stirn.

»Nichts gegen Männer«, stieß er hervor und atmete auf.

»Doch diese Weiber sind teuflisch!«

»Und trotzdem«, erwiderte Pirolo munter, »hat sich die eine

umbringen wollen!«

Page 110: Mit der Nachtpost

»Ich weiß. Deshalb hab’ ich ja signalisiert, eine Fangschlinge

für sie bereitzuhalten. Ich muß mich dafür noch bei Ihnen

entschuldigen, Arnott! Es war keine Zeit, Sie zu warnen, und

Sie waren ja auch mit diesem Gesindel beschäftigt. Wer war’s

übrigens, der reagiert hat auf mein Signal? Wirklich, ein feines

Stück Arbeit!«

»Das ist Ilroy gewesen«, versetzte Arnott. »Nur war der

Stromimpuls etwas zu stark. Zwar ist es ein Kabinettstück,

einer Dame das Messer glatt aus den Fingern zu funken – aber

haben Sie nicht bemerkt, wie sie sich die Hand rieb? Ilroy hat

ihr die Finger verbrannt. Pfuscharbeit nenne ich sowas!«

»Es liegt mir fern, mich in Sachen der Borddisziplin zu

mischen – aber seien Sie nicht zu hart zu dem Burschen! Wenn

jene Frau sich umgebracht hätte, so wär’ es zu Mord und

Totschlag gekommen – kein Gemeinschaftshöriger im Bezirk

hätte es überlebt, einschließlich der gesamten Verwandtschaft,

und das noch vor Abend!«

»Genau darauf hatte sie’s angelegt«, bestätigte Takahira.

»Und weil unsre Flotte schon weg ist, hätten wir es nicht

verhindern können.«

»Ich mag ja blöd genug sein, in einen Sperrkreis zu laufen«,

widersprach Arnott. »Aber ich schicke die Flotte nicht weg,

Page 111: Mit der Nachtpost

bevor ich nicht sicher sein kann, daß der Wirbel vorbei ist. Die

Flotte steht noch immer bereit, und ich lasse sie in Position, bis

diese Hörigen abtransportiert sind aus dem Distrikt. Der letzte

kleine Zusammenrottungsversuch hatte Mord und Totschlag in

sich, liebe Freunde!«

»Das alles sind nur die Nerven – sonst nichts!« sagte Pirolo.

»Gegen Platzangst kann man nicht argumentieren.«

»Man hat nicht den Eindruck, als hätten die Leute bisher

schon viele Tote gesehn – oder doch?« frug Takahira.

»In meinem neunzigjährigen Leben habe ich keinen einzigen

Toten gesehn«, versetzte Dragomiroff, und es klang fast wie

eine Entschuldigung. »Das ist vielleicht auch der Grund,

weshalb ich – vergangene Nacht – «

Dergestalt stellte sich noch beim Frühstück heraus, daß

keiner von uns – mit Ausnahme von Pirolo und Arnott –

jemals eine Leiche gesehen oder dem Hinscheiden eines

Menschen beigewohnt hatte.

»Wir sind schon ein ulkiger Haufen – flattern da in der Luft

herum, um die Geschicke dieses Planeten zu leiten«, lachte De

Forest. »Jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich’s ja sagen: meine

größte Befürchtung war, die Sache nicht ohne

Menschenverluste durchziehn zu können!«

Page 112: Mit der Nachtpost

»Bei mir war’s nicht anders«, bestätigte Arnott. »Aber es ist

kein Toter gemeldet, und ich habe überall nachgefragt. Was

wird jetzt aus den Passagieren? Ich habe sie mittlerweile

verpflegen lassen.«

»Wir sind da in einer Zwickmühle«, sagte De Forest gedehnt.

»Setzen wir sie an einem Ort ab, der uns nicht untersteht, so

werden seine Bewohner das zum Anlaß nehmen, alle

Verbindungen zu unterbrechen, ganz wie es in Illinois war,

und wir müssen den Fall übernehmen. Und setzen wir sie in

unserm Kontrollbereich ab, so bringt man sie um, kaum daß

wir fort sind.«

»Finden Sie?« sagte Pirolo nachdenklich. »Ich aber kann

garantieren, daß diese Leute nach einer gewissen Zeit ganz

friedlich aussterben werden. Wie steht’s denn mit ihrer

Geburtenrate?«

»Gehn Sie hinunter zu ihnen und fragen Sie sie!« sagte De

Forest.

»Wenn denen die Nerven durchgehn, so reißen sie mich in

Stücke«, versetzte der Denker aus Foggia.

»Glauben Sie wirklich? Also, was tun?«

»Öffnen wir doch die Bodenluken!« Takahira ballte die

Faust, den Daumen nach unten gestreckt.

Page 113: Mit der Nachtpost

»Doch wohl kaum – nach all der Mühe, die wir uns gemacht

haben, um sie zu retten«, sagte De Forest.

»Probieren Sie’s lieber mit London«, schlug Arnott vor.

»Dort könnten Sie sogar den Teufel loslassen – und man würde

ihn höchstens zum Essen einladen!«

»Mann! Sie bringen mich da auf eine Idee! Vincent –

natürlich, Vincent!« De Forest stellte den Hauptkommunikator

so ein, daß wir mithören konnten, und schon nach wenigen

Minuten füllte die mächtige, klangvolle Stimme von Leopold

Vincent den Raum – die Stimme des Mannes, der schon seit

dreißig Jahren ganz London mit ausgesuchtesten

Unterhaltungsprogrammen versorgt. Wir grinsten

erwartungsvoll, als säßen wir in einer Loge der »Vereinigten

Bühnen«, um einer Premiere beizuwohnen.

»Wir haben da was für Sie aufgelesen«, begann De Forest die

Unterredung.

»Das hört man gern, alter Freund. Wenn es nur alt genug ist!

Nichts geht über die alten Klamotten, wenn’s ums Geschäft

geht! Haben Sie London, Chatham und Dover gesehn, in Earls

Court? Nein? Mir war aber so, als hätte ich Sie dort bemerkt.

Immense Sache! Ich habe dafür alte Dampfloks originalgetreu

nachbauen lassen, auch die Schienen dazu – und alles von

Page 114: Mit der Nachtpost

Hand! Sogar stofftapezierte Sitze in den Waggons! Immense

Sache! Noch die Fahrkarten waren aus echtem Papier – und

dazu Polly Milton.«

»Wie – Polly Milton tritt wieder auf?« rief Arnott begeistert.

»Reservieren Sie mir zwei Logen für die morgige

Abendvorstellung! Was singt sie denn jetzt, die Gute?«

»Die alten Nummern, wie bisher. Nichts läßt sich damit

vergleichen. Hört euch das einmal an, liebe Freunde!« Und

Vincent hub an, mit aller Verschnörkelung zu intonieren:

»›O grausame Lichter von London,

Wär’ unseren Thränen zu traun,

Wir würden euch all’ drin ertränken,

Ihr Lichter von London Town!‹

– Und hinterher flennen sie alle!«

»Seht ihr?« sagte Pirolo mit entsprechender Handbewegung.

»Die Leute von damals wurden beim Anblick der Massen zu

Tränen gerührt! Sie wußten zwar nicht, warum – aber sie

haben geweint. Wir Heutigen wissen es, aber weinen nicht

mehr, außer, der alte und fette, geriebene Vincent zieht uns

dafür das Geld aus der Tasche!«

Page 115: Mit der Nachtpost

»Sie haben’s nötig, mich alt zu nennen!« rief Vincent

erheitert. »Ich bin ein Wohltäter der Öffentlichkeit – ich sorge

dafür, daß die Leute schön brav sind und einig.«

»Und ich bin De Forest, vom Ausschuß«, sagte De Forest

beißend, »und will einen Handel abschließen mit Ihnen. Wie

schon gesagt, ich habe da ein paar Leute kassiert, in Chicago.«

»Nichts zu machen! Chicago, das ist ja – «

»So hören Sie doch! Die sind einmalig – finden nicht

ihresgleichen!«

»Bauen die etwa Häuser aus Ziegeln in Ihrem Beisein – na?

Das wär’ ein Bezugspunkt zu früher!«

»Es ist eine unberührte, primitive Gemeinschaft mit

sämtlichen alten Ideen.«

»Mit Nähmaschinen und Tanz unterm Maibaum, mit Kochen

auf Leuchtgasrechauds, mit Streichhölzern zum

Pfeifenanzünden und mit Pferdegespannen? Das hat Gerolstein

schon letztes Jahr ausprobiert. Es war ein kompletter

Versager!«

De Forest blendete ihn wütend aus und beschrieb ihm dann in

den höchsten Tönen unsere Tätigkeit während der letzten

vierundzwanzig Stunden.

Page 116: Mit der Nachtpost

»Und sie machen’s in aller Öffentlichkeit«, sagte er

abschließend. »Nichts kann sie abhalten davon. Je öffentlicher,

desto besser. Stundenlang können sie reden – genauso wie Sie!

So, jetzt sind wieder Sie dran!«

»Sie wollen mir wirklich erzählen, die wissen noch, wie man

wählt?« fragte Vincent erstaunt. »Die können das spielen?«

»Was heißt da ›spielen‹? Sie leben es auch! Und erst ihre

Gesichter! Sowas hat man noch nicht gesehen! Jedes Gesicht

ein zerfurchter Vulkan! Neid, Haß und Bosheit, ganz offen zur

Schau getragen. Und herrlich flexible Stimmen. Und außerdem

können sie weinen!«

»Laut? Und vor Publikum?«

»Das garantiere ich Ihnen! Kein Funke Schamgefühl, nichts

von Zurückhaltung in dem gesamten Verein! Es ist die Chance

Ihres Lebens!«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, die hätten auch ihre

Wahlrequisiten dabei – den gesamten Stimmzettelzirkus, samt

Wahlurnen und dergleichen?«

»Verdammt noch mal, nein! Ich bin doch kein

Lastentransporter. Wenden Sie sich doch direkt an Chicago, an

dessen Bürgermeister – der läßt Ihnen alles zugehen, was Sie

verlangen. Also, wie ist es?«

Page 117: Mit der Nachtpost

»Einen Moment noch: hat man in Chicago die Leute

umbringen wollen? Das würde sich großartig machen auf

unsern Kommunikatoren!«

»Ja. Wir haben sie mit genauer Not vor dem heulenden Mob

gerettet – wenn Sie wissen, was Mob bedeutet.«

»Keine Ahnung«, bekannte der Große Vincent.

»Na gut, die Leute werden es Ihnen persönlich erklären. Die

können ja stundenlang Reden halten.«

»Wieviele sind’s denn im ganzen?«

»Wenn wir erst alle herübergeflogen haben – so um die

hundert, einschließlich der Kinder. Die Alte Welt en miniature.

Können Sie sich jetzt ein Bild machen?«

»Hmm – ja. Aber wenn es ein Durchfaller wird, geht er auf

meine Spesen, bedenken Sie das, alter Freund!«

»Die können auf offener Straße die alten Kriegslieder singen,

sich an Worten besaufen und sich zusammenrotten. Sie

brechen auf echte, altmodische Weise in die Privatsphäre ein –

und den Wahlschwindel machen sie jedesmal neu, bei jeder

Frage, die man ihnen stellt.«

»Was nicht noch alles!« spottete Vincent.

Page 118: Mit der Nachtpost

»Sie ungläubiger Thomas! Ich habe ein Dutzend von ihnen an

Bord! Ich verbinde Sie jetzt direkt – probieren Sie es doch

selber!«

Er dreht den Schalter, und wir hörten zu. Sofort begannen

zumindest fünf unsrer Passagiere im untern Verdeck, sich bei

Vincent zu beschweren: man habe sie aus dem Schoß der

Familie gerissen, allen Besitzes beraubt, ihnen beim Essen

nicht einmal Fingerschalen gegeben, und sie in diesen

stinkenden Kerker geworfen!

»Aber das ist doch – « rief Arnott entgeistert. »Die lügen

euch ja das Blaue vom Himmel! Es stinkt nicht in meinem

unteren Deck, und die Fingerschalen hab’ ich mit eigenen

Augen gesehen!«

»In Kleinrußland redet mein Volk mitunter auch solches

Zeug«, sagte Dragomiroff. »Aber wir unterhandeln mit ihnen –

wir bringen niemanden um. Nein, sowas tun wir nicht – nie

und nimmer!«

»Aber es ist nicht wahr, was die sagen«, beharrte Arnott.

»Was soll man mit Leuten anfangen, die sich nicht an die

Tatsachen halten? Die sind ja nicht ganz bei Trost!«

Page 119: Mit der Nachtpost

»Schscht!« machte Pirolo, die Hand ans Ohr haltend. »Es ist

gar nicht so lange her, da hat man noch überall auf diesem

Planeten gelogen.«

Dann hörten wir Vincents einschmeichelnde Worte.

Ob die Herrschaften, fragte er, ihre Anschuldigungen auch

öffentlich vorbringen würden – vor ganz großem Publikum?

Wenn er, Vincent, ihnen Gelegenheit böte, gelobten sie hoch

und heilig, so würde dieser Planet widerhallen von all dem

Unrecht, das man ihnen angetan habe. Ihr Lebensziel sei es –

ein Mann und zwei Frauen fielen einander ins Wort –, die Welt

neu zu ordnen. Und, so komisch es klingt, es war das auch

Vincents Idealvorstellung gewesen. Er bot ihnen eine Arena

an, worin sie alles darlegen und am Beispiel des eigenen

Lebens diesen Planeten auf ein gehobnes Niveau bringen

könnten. Und er fand viele Worte zum Thema eines

moralischen Aufschwungs unsrer sinnlosen Zivilisation durch

die Vorführung einer intakten, der alten Lebensweise

verpflichteten Gruppe von Menschen!

Ob sie sich wohl, fragte er, dazu verstehen könnten,

zumindest drei Monate lang unter seinen Auspizien und an

einem Ort namens Earls Court, den er nicht ganz zu Unrecht

als eines der geistigen Zentren dieses Planeten bezeichnete –

Page 120: Mit der Nachtpost

ob sie sich wohl zur Veredelung dieser Menschheit als

Missionare betätigen wollten? Darauf bedankten sie sich und

ersuchten (wir vernahmen ganz deutlich sein hochzufriedenes,

heimliches Lachen) um etwas Bedenkzeit, um den Vorschlag

erwägen und darüber abstimmen zu können. Die Wahl erfolgte

sehr feierlich durch Abzählen der Köpfe – jeder Kopf eine

Stimme – und fiel zu Vincents Zufriedenheit aus. Sein

Angebot war akzeptiert, und man wählte danach zwei

Dankesredner – den einen nannten sie »Antragsteller«, den

andern »Antragsbefürworter«.

Danach schaltete Vincent herüber zu uns, mit vor

Dankbarkeit bebender Stimme:

»Ich hab’ sie herumgekriegt. Habt ihr diese Reden gehört?

Das ist echt, ist Natur, liebe Freunde! Sowas läßt sich nicht

künstlich erzwingen! Und das Wählen ging ihnen so leicht von

der Hand wie das Lügen! Ich habe bisher noch nie eine Truppe

geborener Lügner gehabt! Gott segne euch, Freunde! Und

vergeßt nicht: ab heute steht ihr auf der Liste für

Dauerfreikarten, wann und wo immer, ein jeder von euch! Ah

– Gerolstein wird zerplatzen vor Neid!«

»So glauben Sie, daß diese Leute mitmachen werden?« fragte

De Forest.

Page 121: Mit der Nachtpost

»Mitmachen? Unsre gesamte Kleinstadt wird den Verstand

verlieren! Ich arrangiere eine Reihe von Stücken aus den

vergangenen Zeiten, und diese Leute werden euch mit ihren

Stimmen zum Lachen und Weinen bringen! Bei Gott, liebe

Freunde, ich frag’ euch, wo sie nur all ihr Elend herhaben

mögen auf dieser besten aller Welten? Ich mach’ ein

historisches Schaustück über den Anfang der Welt, und

Mosenthal soll die Musik dazu schreiben! Ich werde – «

»Sehen Sie zu, ein Dorf aufzutreiben, noch vor heute abend!

Wir treffen einander am Westlandeturm Nr. 15«, sagte De

Forest. »Und vergessen Sie nicht, der Rest trifft schon morgen

hier ein!«

»Nur her damit«, sagte Vincent begeistert. »Sie machen sich

keinen Begriff, wie schwierig es heutzutag auch für mich ist,

etwas zu finden, das dem Publikum unter seine verwünschte,

iridiumharte Haut geht! Aber jetzt hab’ ich es doch noch

geschafft! Leben Sie wohl!«

»Na gut«, meinte De Forest, als wir genug gelacht hatten.

»Würde in London irgendein Mensch sich auf Korruptheit

verstehen, so hätte ich Vincent und Gerolstein ausgespielt

gegeneinander und meine Gefangenen zum Höchstpreis

verschachert! Wie aber die Dinge nun einmal liegen, werd’ ich

Page 122: Mit der Nachtpost

heute abend bloß als ihr Rechtsberater fungieren, beim

Abschluß ihrer Verträge. Sie werden mir ohnehin keine Ämter

aufdrängen.«

»Ab jetzt«, sagte Takahira, »ist es natürlich ein Unding,

Mitglieder von Leopold Vincents neuer Theatergesellschaft

hinter Gittern zu halten! Also Stühle her für die Damen, wenn

ich bitten darf, Arnott!«

»Da leg’ ich mich lieber schlafen«, sagte De Forest. »Ich

kann heute keine Weiber mehr sehen!« Damit verschwand er.

Sobald unsre Passagiere befreit und nochmals verköstigt

waren (die Fingerschalen kamen diesmal als erstes), bekannten

sie frei, was sie von uns und dem Kontrollausschuß hielten.

Und wir wunderten uns nicht weniger als Vincent, wie sie es

fertigbrachten, soviel Gift und Galle zu speien, soviel Unruhe

aus diesem gottgewollt guten und friedlichen Leben zu ziehen!

Sie tobten und zürnten, schlugen zornrot um sich, bis ihnen die

Nerven versagten, sie brüllten sich heiser bis zur

Stimmlosigkeit – und erneuerten dann ihre sinnlosen,

unverschämten Attacken.

»Aber begreift ihr denn nicht«, sagte Pirolo nachdrücklich zu

einer der kreischenden Frauen, »ihr wäret umgebracht worden,

wenn wir euch in Chicago gelassen hätten!«

Page 123: Mit der Nachtpost

»Nein, wären wir nicht! Es war eure Pflicht, unser Leben zu

schützen!«

»Dann hätten wir eine Unmenge anderer Leute umbringen

müssen!«

»Das spielt keine Rolle. Wir haben die Wahrheit verkündet.

Ihr könnt uns nicht aufhalten. Und in London verhalten wir uns

nicht anders – dann werdet ihr Augen machen!«

»Das könnt ihr schon jetzt – schaut mal da hinunter!« sagte

Pirolo und öffnete eine der unteren Lukenklappen.

Soeben senkten wir uns auf unsere kleine Stadt London mit

ihren drei Millionen Einwohnern, locker verteilt innerhalb

ihres Außenrings von Hauptverkehrsfeuern – jenen acht

unbeweglichen Strahlkegeln bei Chatham, Tonbridge, Redhill,

Dorking, Woking, St. Albans, Chipping Ongar und Southend.

Leopold Vincents neuengagierte Truppe spähte aus schmalen

und bleichen Gesichtern hinab in die Stille und auf die riesige

Fläche mit den vereinzelten Häusern.

Und dann fingen etliche an, laut zu weinen, unverschämt laut

– doch ohne die mindeste Scheu: ungeniert, schamlos wie

immer!

Page 124: Mit der Nachtpost

Drahtlose Botschaft

»Komische Sache, dieses Marconigeschäft, nicht?« frug Mr.

Shaynor und hustete heftig. »Angeblich macht’s keinen

Unterschied, wie es hereinkommt – ob durch Gewitter, ob über

Berge hinweg oder sonst irgendwie. Wenn das stimmt, so

werden wir’s wissen, bevor’s wieder Tag ist!«

»Natürlich stimmt es«, erwiderte ich und trat hinter das Pult.

»Wo ist denn der alte Mr. Cashell?«

»Er hat sich niedergelegt mit seiner Grippe. Hat gesagt, Sie

würden wahrscheinlich hereinschaun.«

»Und sein Neffe?«

»Ist drinnen, gleich nebenan. Hat mir erzählt, bei den letzten

Versuchen, als sie die Antenne auf dem Dach eines hiesigen

großen Hotels installiert haben, sei durch die Batterien die

gesamte Wasserversorgung unter Spannung geraten, und die

Damen hätten beim Baden Elektroschocks abgekriegt in ihren

Wannen.«

»Davon hab’ ich überhaupt nichts gehört.«

Page 125: Mit der Nachtpost

»Hätte vielleicht das Hotel es bekanntmachen sollen? Eben

jetzt sind sie dabei – soviel Mr. Cashell mir mitgeteilt hat –,

von hier aus mit Poole in Verbindung zu treten, mit noch viel

stärkeren Batterien als damals auf dem Hoteldach. Aber er ist

ja der Neffe des Hausherrn (und auch die Presse berichtet

darüber) – da spielt’s keine Rolle, wenn hier im Haus etwas

elektrisiert wird. Möchten Sie zusehn?«

»Aber gern! Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Gehen Sie

denn nicht schlafen?«

»An Samstagen schließen wir erst um zehn Uhr. Überdies

geht auch die Grippe um in der Stadt, da kommen bis morgen

noch ein Dutzend Rezepte herein. Normalerweise schlaf ich

gleich hier im Fauteuil – es ist wärmer, als jedesmal aus den

Federn zu müssen. Ganz schön kalt heute, nicht?«

»Draußen ist Frost. Tut mir leid, daß sich Ihr Husten

verschlimmert hat!«

»Vielen Dank, ‘ne Erkältung macht mir nicht allzuviel aus.

Nur dieser Wind – er geht mir durch Mark und Bein.« Ein

weiterer Hustenkrampf schüttelte ihn – und eine alte Dame trat

ein und wollte Chininlösung haben. »Chinin in Flaschen ist

ausverkauft«, sprach geschäftsmäßig Mr. Shaynor. »Aber

Page 126: Mit der Nachtpost

wenn Sie sich zwei Minuten gedulden, so mach’ ich es für Sie

fertig, gnädige Frau!«

Seit einiger Zeit war ich Stammkunde hier, und aus der

Bekanntschaft mit dem Geschäftsführer war mittlerweile etwas

wie Freundschaft geworden. Aber es war Mr. Cashell gewesen,

der mir Zweck und Einfluß der Apothekerkammer dargelegt

hatte, seinerzeit, als einem Fachkollegen bei einem meiner

Rezepte ein Fehler passiert war, den er durch faule Ausreden

kaschieren gewollt. Und als dann solches Vertuschen offenbar

wurde, hatte er allerlei Briefe geschrieben.

»Ein Schandfleck für unsern Beruf!« hatte der dürre,

sanftblickende Mann erbittert gerufen, als ich ihm den Fall

erzählte. »Sie könnten unserem Stand keinen besseren Dienst

erweisen, als sich an die Kammer zu wenden!«

Nun, das tat ich denn auch, freilich ohne zu wissen, welche

Geister ich damit wachrufen würde. Die zogen ein

Einbekenntnis nach sich, das wie durch nachtlange Folter

erzwungen wirkte und meinen Respekt vor der Kammer nicht

minder vertiefte wie meine Hochachtung vor Mr. Cashell,

diesem tüchtigen Fachmann, der seinem Beruf alle Ehre

machte. Bevor Mr. Shaynor aus dem Norden

hierhergekommen, waren die Angestellten durchaus nicht einer

Page 127: Mit der Nachtpost

Meinung mit Mr. Cashell gewesen. »Die Leute begreifen es

nicht«, so behauptete er, »daß der Arzneihersteller zu allererst

Medizinmann ist. Von ihm hängt der Ruf des behandelnden

Arztes ab. Der ist ihm buchstäblich in die Hände gegeben,

mein Lieber!«

Mr. Shaynors Art war vielleicht nicht so höflich und glatt wie

nebenan im italienischen Kaufhaus, aber er kannte und liebte

sein Apothekergeschäft bis ins kleinste Detail. Zu seiner

Entspannung schien ihm die Geschichte des Drogen- oder

Arzneiwesens voll zu genügen – dazu bedurfte es keiner

Reisen. Indes, die Entdeckung und Zubereitung der Drogen,

ihre Verpackung und ihr Export führten ihn bis ans Ende der

Welt, und in diesem Punkte, zusammen mit der

Pharmazeutischen Formelsammlung und dem verläßlichen

Buch von Nicholas Culpepper, waren wir einer Meinung. Auch

wurde mir nach und nach etliches von Mr. Shaynors Anfängen

und Aspirationen klar – seine Mutter war Lehrerin gewesen in

einer nördlichen Grafschaft, sein rothaariger Vater, ein kleiner

Fuhrwerksund Pferdeverleiher in Kirby Moors, war früh

verstorben, noch in Mr. Shaynors Kindertagen. Auch hörte ich

von seinen Prüfungen und wie sie von Mal zu Mal schwieriger

wurden, von seinem Traum, einen Laden in London zu haben,

Page 128: Mit der Nachtpost

von seinem Haß auf die Genossenschaftsläden, welche die

Preise verdarben, und schließlich – als Interessantestes – vom

Verhältnis zu seinen Kunden.

»Man kommt schon mit ihnen zurecht«, erklärte er mir, »und

zwar durch peinlich genaue Bedienung und durch

Zuvorkommenheit, ohne das eigene Denken dabei

abzuschalten. Ich habe im ganzen heurigen Herbst Christies

Neue Heilpflanzenkunde von A bis Z durchgeackert, und da

muß man sich schon gehörig hineinknien, glauben Sie mir!

Und solange es nicht um Rezepte geht, behalte ich gut und

gern eine halbe Seite im Kopf und verkaufe dabei noch

zweimal den Schaufensterinhalt – und die Rechnung stimmt

auf den Groschen genau! Und was die Verschreibungen angeht

– das klappt, im großen und ganzen, fast schon im Schlaf!«

Ich war damals aus privaten Gründen äußerst interessiert an

den in England noch neuen Marconi-Experimenten, und Mr.

Cashell, in seiner sprichwörtlichen Rücksicht, hatte mich, wie

schon erwähnt, zu sich ins Haus geladen, als dort sein Neffe,

welcher Elektriker war, eine Funkstation für den Fernempfang

installierte.

Die alte Dame mit ihrer Arznei war gegangen, und Mr.

Shaynor und ich stampften auf dem gekachelten Boden herum

Page 129: Mit der Nachtpost

im Bestreben, uns warmzuhalten. Der Laden im Licht seiner

vielen Lampen ähnelte einem Pariser Juwelengeschäft, denn

Mr. Cashell glaubte fest an das komplette Ritual seiner

Profession: drei prächtige Glaskrüge, rot, grün und blau – von

der Art, für die Rosamund sich von ihren Schuhen getrennt hat

–, funkelten in dem breiten, spiegelverglasten Schaufenster,

und die Luft im Lokal roch nach Dürrkräutern, Kodakfilmen,

Hartgummi, Zahnpulver, Mandelcreme und Parfümbeutelchen.

Mr. Shaynor schürte das Feuer im Ofen der Apotheke, und wir

lutschten Cayennepastillen und Mentholhustenbonbons.

Draußen, im beißenden Ostwind, lag die Straße wie

ausgestorben, und die wenigen Passanten waren vermummt bis

an die zusammengekniffenen Augen. Vor dem benachbarten

italienischen Laden hing an Haken buntfarbenes Federvieh und

etliches Wildbret und schlug im Winde beständig gegen den

linken Rand unseres Schaufensterrahmens.

»Die sollten das Viehzeug lieber hineinbringen bei diesem

Sturm, statt es da draußen zerbeuteln zu lassen«, meinte Mr.

Shaynor. »Das ist ja, um aus der Haut zu fahren! Sehen Sie nur

dieses Hasenvieh! Der Wind bläst ihm ja noch das Fell vom

Kadaver!«

Page 130: Mit der Nachtpost

Ich sah, wie die Bauchbehaarung des totgeschossenen Tiers

sich im Wind streifig teilte und die bläuliche Haut offenlegte.

»So eine Kälte!« rief Mr. Shaynor, und es schüttelte ihn.

»Unvorstellbar, jetzt noch ins Freie zu müssen! Oh – da

kommt ja der junge Mr. Cashell!«

Die Tür zum Nebenraum der Apotheke ging auf, und ein

energisch aussehender, spitzbärtiger Mann trat heraus, rieb

sich die Hände und sagte:

»Shaynor, ich brauche ein Stück Stanniol. – Guten Abend,

die Herren! Mein Onkel hat mir schon gesagt, daß Sie

möglicherweise hereinschauen würden.« Damit meinte er

mich, der ich schon ansetzte zu meiner ersten der hundert

Fragen, die mir auf den Lippen brannten.

»Ich habe jetzt alles beisammen und fertig«, versetzte er nur.

»Wir müssen noch warten, bis Poole sich meldet.

Entschuldigen Sie, ich muß wieder weg. Sie können ja

jederzeit zu mir hinein – aber ich darf meine Apparatur jetzt

nicht sich selbst überlassen. Das Stanniol, bitte – und vielen

Dank!«

Während unseres Gesprächs war ein Mädchen – offenbar

keine Kundin – hereingekommen, und Mr. Shaynors Miene

Page 131: Mit der Nachtpost

und Haltung änderten sich sogleich. Vertraulich beugte die

Eingetretene sich über den Ladentisch.

»Aber ich kann doch jetzt nicht«, flüsterte Mr. Shaynor

betreten. Seine Wangen liefen rot an, er zitterte wie ein

betäubter Nachtfalter. »Ich kann jetzt unmöglich weg! Bin ja

ganz allein hier.«

»Woher denn! Und wer ist das} Er soll dich auf eine halbe

Stunde vertreten! Ein erfrischender Rundgang tut dir ganz gut!

Also, John – komm schon!«

»Aber er ist ja nicht – «

»Mir doch egal! Ich will, daß du mitkommst. Nur einmal

rund um St. Agnes. Und wenn du jetzt nicht auf der Stelle – «

Er trat zu mir in das Halbdunkel hinterm Verkaufspult und

fing an, umständlich herumzureden, eine befreundete Dame…

»Aber gewiß doch«, fiel sie ihm ins Wort. Und dann, zu mir

gewendet, »Sie passen jetzt eine halbe Stunde hier auf – mir

zuliebe, das werden Sie doch?« Ihre Stimme war äußerst

sympathisch und klangvoll.

»In Ordnung, mach’ ich«, versicherte ich. »Sie aber, Mr.

Shaynor, sollten sich erst noch warm anziehn!«

»Oh, die frische Luft wird mir guttun. Wir gehn ja nur um die

Kirche herum.« Als die beiden ins Freie traten, hustete er ganz

Page 132: Mit der Nachtpost

erbärmlich. Ich kümmerte mich um das Feuer und machte

ausgiebig Gebrauch von Mr. Cashells Kohlenvorrat.

Allmählich wurde es wärmer im Laden. Sodann hielt ich

Nachschau in den zahllosen Schubladen, die mit gläsernen

Griffen die Wände säumten, kostete etliche nicht ganz geheure

Arzneien und mischte mithilfe von Cardamonkörnern,

pulverisiertem Ingwer und Chloroform, mit Alkohol verdünnt,

ein neues, verrücktes Getränk zusammen, von dem ich ein

Glasvoll dem jungen, im Hinterzimmer beschäftigten Cashell

hinüberbrachte. Er lachte hellauf, als ich ihm sagte, Mr.

Shaynor sei ausgegangen – ließ aber dabei eine dünne

Drahtspule nicht aus den Augen und hatte kein weiteres Wort

für meine Verwirrtheit inmitten all der Batterien und Drähte.

Nach und nach verstummte der Straßenverkehr, das Rauschen

der See wurde vom Strand her vernehmbar – und dann erst

erklärte er mir kurz und bündig das Funktionieren der ringsum

auf Tischen und auf dem Fußboden verteilten Apparatur.

»Für wann erwarten Sie, daß Poole sich meldet?« fragte ich,

während ich meinen Likör aus einem Meßglase nippte.

»Um Mitternacht, wenn alles klappt. Wir haben unsre

Empfangsantenne draußen am Hausdach fixiert. Ich würde

Ihnen nicht raten, heut nacht einen Wasserhahn anzufassen

Page 133: Mit der Nachtpost

oder dergleichen. Wir haben das Ganze an der Steigleitung

geerdet, und so ist alles Wasser elektrisiert.« Und dann

wiederholte er die Geschichte von der Aufregung unter den

Damen im Hotel seiner ersten Installation.

»Aber was hat es in Wahrheit damit auf sich?« fragte ich.

»Wissen Sie, Elektrizität – das ist wirklich nicht mein Gebiet!«

»Ach – wenn Sie das wüßten, wären Sie um ein gutes Stück

klüger als alle andern. Es ist, was es ist – wir sagen dazu

Elektrizität, aber der Zauber, die Manifestierung, die

Hertzschen Wellen – werden erst dadurch aktiv: wir nennen es

den Kohärer.« Er hob ein Glasröhrchen an, nicht viel dicker als

ein Thermometer, worin sich in ganz engem Abstand zwei

winzige Silberkontakte befanden und zwischen ihnen ein

Hauch metallischen Staubes. »Das ist es«, sprach er so stolz,

als hätte er dieses Wunder erfunden. »An diesem Ding wird

die Kraft offenbar, welcher Art immer sie sein mag – und wird

aktiv, über den Raum und weite Distanzen.«

In diesem Moment kam Mr. Shaynor zurück. Er war allein,

stand auf dem Fußabstreifer und hustete sich schier das Herz

aus dem Leib.

»Geschieht Ihnen ganz recht für Ihre Blödheit!« rief der

junge Cashell. Ihn ärgerte ja diese Störung genauso wie mich.

Page 134: Mit der Nachtpost

»Egal – wir haben die ganze Nacht noch vor uns, um das

Wunder zu sehen.«

Shaynor klammerte sich ans Verkaufspult und hielt das

Taschentuch gegen die Lippen gepreßt. Als er es vom Mund

nahm, sah ich zwei hellrote Flecken darauf.

»Ich – ich hab’ nur ‘nen rauhen Hals – kommt von den

Zigaretten«, erklärte er krächzend. »Vielleicht hilft mir eine

Kubebe.«

»Nehmen Sie lieber das. Ich hab’ es zusammengebraut,

während Sie weg waren.« Damit reichte ich ihm die Mixtur.

»Es macht mich doch nicht betrunken? Ich nehme sonst

nichts, außer Tee. – Bei Gott! Das tut gut und beruhigt!«

Er stellte das leere Glas ab und begann wieder zu husten.

»Brr! So eine Kälte da draußen. Nicht mal im Grab liegen

möcht’ man in so einer Nacht! Haben Sie schon einmal einen

Raucherhusten gehabt?« Verstohlen sah er sein Taschentuch

an – und steckte es weg.

»Oh ja, mitunter«, antwortete ich und überlegte im stillen,

welchen Schreck ich empfinden würde, sollte ich jemals so

rote Alarmzeichen vor meiner Nase haben. Der junge Cashell

bei seinen Batterien deutete mit einem Räuspern an, daß er

seine wissenschaftlichen Darlegungen fortsetzen wolle, doch

Page 135: Mit der Nachtpost

ich gedachte noch immer des Mädchens mit der volltönenden

Stimme und dem schöngeschnittenen Mund, auf deren Befehl

ich mich um den Laden gekümmert hatte. Und mir fiel

plötzlich auf, daß da eine Ähnlichkeit war zwischen ihr und

dem suggestiven Mundwasserplakat im Schaufenster, dessen

Lockung im roten Reflexlicht des Glaskrugs nahezu unsittlich

wirkte. Und als ich mich wandte, gewahrte ich, daß Mr.

Shaynor gleichfalls das goldgerahmte Plakat anstarrte, und

erkannte rein instinktiv, daß er in dem flammenden Ding eine

Art Heiligtum sah. »Was nehmen Sie denn gegen Ihre – gegen

den Husten?« fragte ich ihn.

»Nun – auf meiner Seite des Ladentischs hält man nicht viel

von Patentmedizinen. Wir haben da Asthmazigaretten und

Hustenpastillen. Doch wenn ich aufrichtig sein soll und Ihnen

der Weihrauchgeruch nichts ausmacht, so sind mir Blaudett’s

Kathedralpastillen am liebsten, obwohl ich nicht römisch-

katholisch bin.«

»Na, dann probieren wir sie!« Ich hatte bisher noch niemals

in einer Apotheke gekramt und machte es deshalb sehr

gründlich. Schließlich förderten wir die Pastillen ans Licht –

braune Zäpfchen aus Benzoegummi – und entzündeten sie

Page 136: Mit der Nachtpost

unter Shaynors Mundwasserplakat. Der bläuliche Rauch stieg

in dünnen Spiralen empor.

»Aller Eigenbedarf aus dem Laden«, erläuterte Mr. Shaynor

auf meine Frage, »geht natürlich auf eigene Rechnung. Na ja –

die Lagerhaltung in unserm Geschäft ist nicht viel anders als

beim Juwelier, mehr kann ich dazu nicht sagen. Immerhin hat

man das Zeug« – und er wies auf die Zäpfchenschachtel – »ja

zum Großhandelspreis.« Offenbar war die Beweihräucherung

jenes so fröhlich die Zähne bleckenden, siebenfarbigen

Mundwassermädchens ein ständiges Ritual, das er sich was

kosten ließ.

»Wann sperren wir eigentlich zu?«

»Wir lassen die ganze Nacht offen. Der Alte – Mr. Cashell –

verläßt sich lieber aufs Licht als auf Läden und

Vorlegeschlösser. Außerdem ist’s ein Geschäft. Wenn es Ihnen

nichts ausmacht, bleib’ ich ganz einfach hier sitzen, neben dem

Ofen, und schreib’ einen Brief. Ihre drahtlose Elektrizität ist

nicht mein Fall.«

Drinnen der junge Cashell machte sich räuspernd bemerkbar,

und Shaynor ließ sich in seinen Lehnsessel fallen, über den er,

gleich einer Tischdecke, einen schwarzrotgelben Überwurf

gebreitet hatte. Ich suchte zwischen all den

Page 137: Mit der Nachtpost

Patentmedizinbroschüren nach etwas zum Lesen, fand aber

nichts, und machte mich deshalb nochmals an die Zubereitung

meines Gesöffs. Vorm italienischen Laden nahm man das

Wildbret vom Haken und sperrte zu. Von der anderen

Straßenseite reflektierten die blanken Rolläden das Gaslicht in

kalten, verschwommenen Flecken, das aufgetrocknete

Straßenpflaster schien unter den Stößen des grimmigen Winds

sich mit einer Gänsehaut zu überziehen, und lange bevor er

vorbeikam, vernahmen wir schon den sich nähernden

Polizisten, der sich durch Armschlagen warmhalten wollte.

Hier drinnen lagen der Kardamon- und Chloroformgeruch im

Widerstreit mit den Düften von Seife, Parfüm und allerlei

Drogen. Die Beleuchtung am unteren Schaufensterrahmen vor

den bauchigen Rosamundkrügen warf drei monströse Streifen

aus Rot, Blau und Grün zu uns herein, deren Farben sich

kaleidoskopartig brachen an den facettierten

Schubladengriffen, den geschliffnen Parfümflacons und den

blanken Siphonflaschenverschlüssen. Das gab auf dem

weißgekachelten Boden ein prachtvolles Farbengemisch,

welches sich in den silbrigen Nickelbeschlägen des

Verkaufspultes spiegelte und die hochglanzpolierten

Mahagonipaneele marmorierte mit zahllos-porphyrnen und

Page 138: Mit der Nachtpost

malachitenen Flecken. Mr. Shaynor zog eine Lade heraus und

entnahm ihr, bevor er zu schreiben begann, einen dünnen Pack

Briefe. Von meinem Ofenplatz aus sah ich den welligen Rand

des Papiers und auch dessen protziges Monogramm an den

Ecken – ja, sogar noch den leichten Chypreduft nahm ich

wahr. Nach jeder weiteren Seite sah er verklärt auf die

Mundwasserdame im Fenster. Den Überwurf hatte er um die

Schultern gelegt und glich nun im Wechselspiele des Lichts

mehr denn je einem betäubten Nachtfalter – einem

Bärenspinner vielleicht, wie mir einfiel.

Er kuvertierte sein Schreiben, frankierte den Umschlag

mechanisch und steif – und legte ihn in die Lade zurück. Erst

jetzt wurde mir die Stille der schlafenden Großstadt bewußt –

eine Stille, die noch das gleichmäßig schwebende Brausen der

Brecher am Strand untermalte –, eine dichte, summende Stille

aus bettwarmem Leben, das nur auf Abruf zur Ruhe gelegt ist

– und unwillkürlich bewegte ich mich in dem glitzernden

Laden so lautlos, als befände ich mich in einem

Krankenzimmer. Der junge Cashell nebenan war mit seinen

Drähten beschäftigt, die elektrischen Funken knackten und

knisterten wie überdehnte Gelenke. Von oben vernahm ich ein

Page 139: Mit der Nachtpost

eiliges Öffnen und Schließen der Tür und das Husten seines zu

Bett gegangenen Onkels.

»Da«, sagte ich, als das Getränk warm genug war, »probieren

Sie’s, Mr. Shaynor!«

Er drehte sich mit einem Ruck im Sessel herum und streckte

die Hand nach dem Glas. Die Mixtur war sattrot wie Portwein,

und sie moussierte.

»Das sieht aus«, sprach er plötzlich, »wie – ich meine die

Bläschen – als würde da eine Perlenschnur glänzen – oder

vielmehr, wie die Perlenkette am Hals der jungen Dame da

drüben.« Abermals wandte er sich dem Plakat zu, auf dem

jenes Weib im taubengrauen Korsett sich vorm Zähneputzen

all ihre Perlen umgehängt hatte.

»Gar nicht so schlecht, was?« fragte ich.

»Wie sagten Sie?«

Er starrte mich an, und während ich hinsah, erstarb das

Verstehen in den weitoffnen Augen. Der Körper verlor seine

Steifheit, sackte im Lehnstuhl zusammen, das Kinn sank ihm

auf die Brust, die Hände erschlafften und hingen herab, und so

verblieb er: offenen Blicks und vollkommen reglos.

Page 140: Mit der Nachtpost

»Ich fürchte, ich hab’ Mr. Shaynor die Suppe versalzen!«

Damit reichte ich dem jungen Cashell das frischgebraute

Getränk. »Vielleicht war’s das Chloroform!«

»Ach – der ist schon in Ordnung.« Der spitzbärtige Mann sah

mitfühlend nach nebenan. »Schwindsüchtige sind rasch

hinüber, oft bei nur ganz schwacher Dosierung. Es ist die

körperliche Erschöpfung… Es wundert mich nicht, ja ich

möchte sagen, das Zeug tut ihm sogar gut – eine vortreffliche

Mischung!« Damit trank er das Glas genießerisch leer. »Ja –

wir waren gerade – bevor er hereingeschneit kam – bei diesem

kleinen Röhrchen, dem sogenannten Kohärer. Das bißchen

Staub darin, das sind Nickelfeilspäne. Und die Hertzschen

Wellen, die der Sender ausstrahlt, durch queren die Leere und

kommen herein – verstehn Sie –, und diese kleinen Partikel

verbinden sich untereinander – wir sagen, sie kohärieren –,

solange der Strom sie durchläuft. Dabei muß man wissen, es ist

Induktionsstrom. Es gibt vielerlei Induktion – «

»Ja – aber was ist Induktion?«

»Das ist laienhaft schwer auszudrücken. Aber der langen

Rede kurzer Sinn ist, daß der elektrische Strom, durch einen

Draht geleitet, einen starken Magnetismus hervorruft, so daß

bei Parallelführung eines zweiten Drahtes innerhalb solchen

Page 141: Mit der Nachtpost

Magnetfelds, wie wir es nennen – also, mit einem Wort, auch

dieser zweite Draht wird elektrisch geladen.«

»Nur so, von sich aus?«

»Von sich aus.«

»Also, wenn ich es richtig verstehe: Meilen entfernt, in

Poole, oder wo immer – «

»Noch zehn Jahre, und an jedem beliebigen Ort.«

»… haben Sie einen elektrisch geladenen Draht – «

»Geladen mit Hertzschen Wellen, welche vibrieren – sagen

wir, zweihundertdreißigmillionenmal pro Sekunde.« Mr.

Cashell beschrieb mit dem Finger eine rasche

Wellenbewegung.

»Nun gut – ein elektrisch geladener Draht strahlt also in

Poole diese Schwingungen aus. Und Ihr in die Luft

ausgefahrener Draht – auf diesem Haus da – wird auf

mysteriöse Weise gleichfalls mit diesen von Poole

ausgestrahlten Wellen geladen – «

»Sie könnten ebensowohl von anderswo kommen – zufällig

diesmal aus Poole.«

»Und diese Wellen betätigen dann den Kohärer? Wie einen

gewöhnlichen Morse-Empfänger im Telegraphenbureau?«

Page 142: Mit der Nachtpost

»Aber nein! Eben dies ist der Punkt, wo so viele sich irren!

Die Hertzschen Wellen sind viel zu schwach. Sie können einen

so großen und schweren Morse-Empfänger gar nicht in

Tätigkeit setzen, sondern bloß diesen Staub kohärieren – und

während er kohäriert (für einen Punkt nur ganz kurz, für einen

Strich etwas länger), kann der Strom aus dieser Batterie, der

Empfängerbatterie« – er legte die Hand auf das Ding – »den

Morseschreiber durchlaufen und die Punkte und Striche

ausdrucken. Ich will es noch deutlicher sagen: kennen Sie sich

mit dem Dampfbetrieb aus?«

»Nur wenig – aber fahren Sie fort!«

»Sehen Sie, der Kohärer, das ist wie ein Dampfventil. Jedes

Kind ist imstande, solch ein Ventil aufzudrehn und die

Maschinerie in Betrieb zu setzen – eine Drehung der Hand läßt

den Betriebsdampf einströmen, nicht? Nun ist aber diese

Empfängerbatterie, welche die Morsezeichen ermöglicht, so

etwas wie der Betriebsdampf. Der Kohärer fungiert als Ventil,

das man nur aufzudrehn braucht. Und somit ist die Hertzsche

Welle die Kinderhand, die es betätigt.«

»Jetzt hab ich’s begriffen – aber das grenzt ja an Wunder!«

»Ganz recht – es ist wunderbar! Und bedenken Sie noch, wir

stehen damit erst am Anfang! Zehn Jahre später, und es wird

Page 143: Mit der Nachtpost

nichts mehr geben, das wir nicht verwirklichen könnten! So

lange möcht’ ich noch leben – du lieber Gott, wie gern ich das

noch erleben möchte, auch die ganze Entwicklungsarbeit!« Er

warf einen Blick durch die Tür nach nebenan, auf den leise

atmenden Shaynor im Lehnstuhl. »Armer Kerl! Und wünscht

sich so sehr, mit Fanny Brand beisammen zu sein.«

»Fanny – wer?« fragte ich. Irgendwie kam mir der Name

bekannt vor – hatte zu tun mit einem blutfleckigen

Taschentuch und dem Begriff »arteriell«.

»Fanny Brand – das Mädchen, für die Sie auf den Laden

aufgepaßt haben!« Er lachte. »Mehr weiß ich nicht über ihre

Person und kann auch ums Leben nicht das in ihr sehen, was

Shaynor in ihr zu sehen vermeint – oder auch sie in ihm.«

»Wirklich? Sie können nicht sehen, was er an ihr findet?«

»Ach – das, was Sie meinen, schon! Ein großes und festes

Stück Weib ist sie, alles in allem! Das wird auch der Grund

sein, daß er so verrückt nach ihr ist. Aber sie paßt nicht zu ihm.

Na – das spielt sowieso keine Rolle. Mein Onkel sagt immer,

daß Shaynor das neue Jahr nicht mehr erlebt. Jedenfalls hat Ihr

Gesöff ihm zum Schlafen verholfen.« Der junge Cashell

konnte Shaynors Gesicht nicht erkennen, weil es abgewandt

war, in Richtung auf das Plakat.

Page 144: Mit der Nachtpost

Ich schürte das Feuer im Ofen, denn im Zimmer wurde es

kälter, und brannte ein weiteres Zäpfchen an. Mr. Shaynor in

seinem Lehnstuhl verharrte noch immer bewegungslos und

starrte mit weitoffnen, glanzlosen Augen durch mich hindurch

oder über mich weg wie ein totgeschossener Hase.

»In Poole haben sie Verspätung«, sagte der junge Cashell, als

ich zurückkam. »Ich werd’ sie jetzt rufen.«

Er drückte im Halbdunkel auf eine Taste, und unter

prasselndem Knistern entstand eine Funkenbrücke zwischen

zwei Draht-Enden – wahre Garben von Funken!

»Großartig, nicht? Das ist die Kraft – unsre nicht näher

bekannte Kraft, die nur darauf aus ist, losgelassen zu werden«,

sagte der junge Cashell. »Da geht sie hin – zack-zack-zack –,

hinaus in den Raum! Ich komm’ über diese Unbegreiflichkeit

nie hinweg, so oft ich auf Senden schalte – daß da Wellen

hinausstrahlen in die Leere! ›T. R.‹ – das ist unser Rufzeichen.

Die Antwort von Poole müßte ›L. L. L.‹ sein.«

Wir warteten ab – zwei, drei, fünf Minuten. In der Stille, zu

der auch das ferne Brausen der See gehörte, vernahm ich vom

Dach her das Scharren der Antennenverspannung im Wind.

»Poole ist noch nicht auf Empfang. Ich bleib’ dran und rufe

Sie, wenn es soweit ist.«

Page 145: Mit der Nachtpost

Ich begab mich wieder in den Laden hinüber und stellte mein

Glas unbedacht laut auf eine der Marmorplatten. Das Geräusch

riß Shaynor aus seinem Schlummer – er sprang auf und starrte

von neuem auf das Plakat, wo die junge Dame im Rotlicht des

Glaskrugs ihre Perlen so einfältig grinsend zur Schau trug.

Unaufhörlich bewegten sich seine Lippen. Ich trat näher, um

besser zu hören:∗ »And threw – and threw – and threw«,

wiederholte er, und sein Gesicht war gespannt wie in

unaussprechlicher Pein.

Erstaunt trat ich noch etwas näher hinzu – und erst jetzt fand

er Worte und äußerte sie klar und deutlich:

And threw warm gules on Madeleine’s young breast

(Und warf ein warmes Rot auf Madeleines junge Brüste.)

Die Verstörtheit wich von seiner Miene, er trat leise an seinen

vorigen Platz und rieb sich die Hände.

Mir war noch nie aufgefallen, obwohl wir schon öfter zum

Zeitvertreib über Lektüre und literarische Vergleiche diskutiert

hatten, daß Mr. Shaynor jemals Keats gelesen haben oder gar

∗ Die von Keats inspirierten oder auch originalen Zitate sind auf deutsch nicht immer nachvollziehbar und im folgenden nur interlinear übersetzt. Anm. d. Ü.

Page 146: Mit der Nachtpost

imstande sein könnte, ihn so präzis zu zitieren. Nun war da

freilich jener Kirchenfenster-Effekt auf dem üppigen Busen

des Hochglanzplakats, der bei einiger Phantasie jene

Gedichtzeile in Mr. Shaynor ausgelöst haben mochte – wie

etwa ein schäbiger Farbdruck sein unvergleichbares Vorbild in

uns heraufrufen kann. Die Nacht, mein Gebräu und die

Verlassenheit hier im Laden bewirkten jetzt ganz offenbar, daß

Mr. Shaynor zum Dichter wurde! Er setzte sich wieder hin und

begann eilig zu schreiben auf seinem verschmierten Notizblatt.

Die Lippen zitterten ihm noch immer. Leise schloß ich die Tür

nach nebenan und trat knapp hinter ihn. Er schien das gar nicht

zu merken – nahm seine Umgebung nicht wahr. Ich blickte

ihm über die Schulter und entzifferte zwischen halb

hingeworfenen Wörtern, zwischen Satzanfängen und

unleserlichem Gekritzel: –

– Very cold it was. Very cold

The bare – the hare – the hare –

The birds –

(Es war sehr kalt. Sehr kalt / Dem Hasen – Hasen – Hasen –

/ Den Vögeln – )

Page 147: Mit der Nachtpost

Dann hob er plötzlich den Kopf, sah stirnrunzelnd auf die

leeren Läden der Geflügelhandlung, dort, wo sie den Rand

unsres Schaufensters überragten. Und dann folgte die deutlich

lesbare Zeile: –

The hare, in spite of fur, was very cold.

(Dem Hasen war, trotz seinem Fell, sehr kalt.)

Jetzt wandte der Kopf sich mechanisch wieder nach rechts, zu

dem Plakat, vor welchem Blaudetts Kathedralpastillen noch

immer zum Himmel stanken. Irgendwas vor sich

hinbrummend, schrieb er weiter: –

Incense in a censer –

Before her darling picture framed in gold –

Maiden’s picture – angel’s portrait –

(Weihrauch aus einem Faß – / vor ihrem süßen Bildnis,

goldgerahmt – / Jungfräulich – engelhaft – )

»Schscht!« ließ sich Cashell behutsam von drüben vernehmen,

als wären dort Geister zugegen. »Da kommt etwas durch, von

irgendwoher – aber Poole ist es nicht!« Ich hörte das

Page 148: Mit der Nachtpost

Funkengeknister, als er auf Senden umschaltete. Auch im Kopf

begann’s mir zu knistern – doch waren es wohl nur die Haare

darauf. Und gleich danach hörte ich mich heiser flüstern: »Mr.

Cashell – auch hier herüben kommt etwas durch – bleiben Sie

drüben, bis ich Sie rufe!«

»Aber ich habe geglaubt, Sie wollten sich dieses Wunderding

ansehen – Sir!« Das ›Sir‹ hatte recht indigniert geklungen.

»Lassen Sie mich, und bleiben Sie drüben, bis ich Sie rufe!

Und seien Sie still!«

Ich beobachtete angestrengt – wartete ab. Unter der

blaugeäderten Hand- der dürren Hand eines Schwindsüchtigen

– kam jetzt deutlich und ohne Streichung zum Vorschein: –

And my weak spirit fails

To think how the dead must freeze –

und mit zitternder Hand schrieb er weiter –

Beneath the churchyard mould.

(Und mein matter Geist nicht fähig / Auszudenken, wie’s

die Toten frieren muß – / Unter des Kirchhofs Erde)

Page 149: Mit der Nachtpost

Damit hielt er inne, legte die Feder zur Seite und lehnte sich

wieder zurück.

Für einen Augenblick – der für mich eine halbe Ewigkeit war

– drehte sich der Verkaufsraum vor meinem Blick wie ein

irisierender Wirbel, durch welchen ich leidenschaftslos meiner

eigenen Seele zusah, wie sie sich wehrte gegen übermächtige

Angst. Dann stieg mir der Zigarettengeruch aus Mr. Shaynors

Anzug in die Nase, und ich vernahm seinen rasselnden Atem –

mir war er wie Trompetengeschmetter! Ich verharrte noch

immer auf meinem Beobachtungsposten wie auf dem

Schießstand vorm nächsten Schuß auf die Scheibe, halb

vorgebeugt, die Hände gegen die Knie, die Augen ganz nahe

am schwarzrotundgelben Überwurf um seine Schultern.

Aufmunternd raunte ich vor mich hin – offenbar zu meinem

anderen Ich –, in getragenen Sätzen, wie sie nur im Traume

gesprochen werden.

»Hat er Keats wirklich gelesen – so beweist das noch nichts.

Und wenn nicht – gleiche Ursachen müssen zu gleichen

Wirkungen führen! Das ist unumstößlich. Sei du lieber froh,

daß du ›St. Agnes Eve‹ auswendig kannst, auch ohne das Buch!

Und weil im gegebenen Fall Fanny Brand, welche die

Schlüsselfigur dieses Rätsels zu sein scheint, im großen und

Page 150: Mit der Nachtpost

ganzen für Fanny Brawne stehen könnte; ferner im Hinblick

auf das hellrote, arterielle Blut auf dem Taschentuch, über das

du dir eben vorhin Gedanken gemacht hast im Laden; und auch

noch miteingerechnet den Effekt der professionellen

Umgebung, ihrer beinah perfekten Duplizität∗ – so ist das

Ergebnis nur logisch und unausweichlich. Ebenso

unausweichlich wie Induktion.«

Doch meine andere Seelenhälfte wollte sich noch nicht

zufriedengeben: sie hatte sich in einen winzigen,

unangemessenen Winkel zurückgezogen – in immenser

Entfernung.

Indes, alsbald war ich wieder bei mir. Meine Hände

umklammerten immer noch meine Knie, und meine Augen

hefteten sich auf das Blatt vor Mr. Shaynor. Wie Träumende

das Zerbersten des Erdreichs und das Auferstehen der Toten

hinnehmen und es sich erklären mit dem Tagrest aus

Abendgebet oder Einmaleinshersagen, so akzeptierte auch ich

alle Fakten, derer ich ansichtig werden sollte, wie immer sie

sich darstellen mochten – ja, hatte auch schon eine faßbare,

glaubhafte Theorie, mit der sich das alles begründen ließ. Ich

∗ Auch John Keats (1795-1821) war Drogist und starb an der Schwindsucht.

Anm. d. U.

Page 151: Mit der Nachtpost

war jenen Fakten sogar schon voraus und eilte vor ihnen her,

mit solcher Sicherheit nahm ich an, daß meine Theorie auf sie

passen werde. Was ich heute noch von ihr weiß, sind die

hochtrabenden Worte: ›Hat er Keats wirklich gelesen, so ist es

das Chloroform; wenn aber nicht, so ist es der nämliche

Krankheitserreger, die Hertzsche Frequenz der Tuberkulose,

plus Fanny Brand und dem Status des gleichen Berufes, was

im Verein mit dem unterbewußten Denken, wie es der Welt ja

bekannt ist, hier einen temporär induzierten Keats herauf

geschwemmt hat!‹

Jetzt machte Shaynor sich wieder ans Werk, strich aus und

schrieb weiter – alles so rasch wie bisher. Zwei, drei

unbeschriebene Blätter schob er zur Seite. Dann schrieb er

wieder – und sprach dabei leise mit: –

The little smoke of a candle that goes out.

(Der dünne Rauch einer Kerze, die erlischt.)

»Nein«, brummte er. »Little smoke – little smoke – little smoke.

Und weiter?« Er schob das Kinn vor, in Richtung des Plakats,

Page 152: Mit der Nachtpost

wo jetzt die letzte von Blaudett’s Kathedralpastillen

verrauchte. »Aha!« Und dann, merklich erleichtert: –

The little smoke that dies in moonlight cold.

(Der dünne Rauch, der stirbt im kalten Mondlicht.)

Es lag auf der Hand – er war fixiert durch die

vorangegangenen Reime, denn er schrieb »gold – cold –

mould« wieder und wieder hin – zu vielen Malen. Neuerlich

blickte er nach dem Plakat, auf der Suche nach Inspiration –

und schrieb unverweilt, ohne Streichung, die Zeile auf, die er

als erste gesprochen: –

And threw warm gules on Madeleine’s young breast.

Wie ich mich des Originals entsann, stand dort »fair« (schön)

– ein abgedroschener Ausdruck – und nicht

»young«, und so nickte ich beifällig, ohne es recht zu wollen

und wiewohl ich wußte, daß sein Versuch, die originale Zeile

»its little smoke in pallid moonlight died« (Ihr dünner Rauch

erstarb im fahlen Mondlicht) zu reproduzieren,

danebengegangen war.

Page 153: Mit der Nachtpost

Es folgten ohne Unterbrechung zehn oder fünfzehn Zeilen

nüchterner Prosa – ein Bekenntnis der nackten Seele, wie sie

sich körperlich nach der Geliebten sehne – unkeusch im Sinne

von dem, was wir Unkeuschheit nennen, auch unerquicklich,

aber überaus menschlich. Es war dies, so schien mir in jener

Umgebung und um jene Stunde, der Rohstoff, aus dem Keats

die sechs-, die sieben- und achtundzwanzigste Strophe seines

Gedichtes geformt hat. Ich empfand keine Scham, bei solcher

Enthüllung zugegen zu sein, und auch meine Angst war mit

dem Rauch der Pastille dahin.

»Das ist es«, murmelte ich. »Das ist der Entwurf! Mach

weiter – und setz es um, Mann – so setz es schon um!«

Neuerlich fing Mr. Shaynor mit Versifizierungen an, in denen

»loveliness« sich auf »her empty dress« (Anmutsfülle – leeren

Kleides Hülle) reimte. Er nahm eine Falte der weichen,

gemusterten Decke, legte sie über die Hand, strich liebkosend

darüber hin, dachte nach, murmelte irgendwas, brachte

Wortfetzen zu Papier, die ich nicht entziffern konnte, schloß

schläfrig die Augen – und ließ das Zeug kopfschüttelnd fallen.

Ich aber war ratlos, weil ich damals (anders als heute) noch

nicht begriff, wie sehr diese rot, schwarz und gelb gemusterte

Decke seinen Träumen Farbe verlieh.

Page 154: Mit der Nachtpost

Ein paar Minuten danach schob er die Feder beiseite, stützte

das Kinn in die Hand und besah nachdenklich und wachen

Blicks seinen Laden. Er ließ den Überwurf fallen, erhob sich,

trat zu den Schubladenreihen und las laut die Bezeichnungen

auf deren Schildchen. Auf seinem Rückweg nahm er Christies

Neue Heilpflanzenkunde sowie den alten Culpepper, den ich

ihm geschenkt hatte, vom Pult, schlug beide auf, legte die

Bücher nebeneinander und las wie ein Buchhalter,

leidenschaftslos, zunächst in dem einen, dann in dem anderen

Band, die Feder hinter dem Ohr.

»Welches himmlische Wunder mag denn jetzt kommen?«

fragte ich mich.

»Manna – Manna – Manna«, sprach er zuletzt und zog die

Brauen zusammen. »Das ist’s, was ich wollte! Gut! Also los!

Gut, gut! Mein Gott, ist das gut!« Und mit erhobener Stimme

sprach er fehlerlos vor sich hin, ohne zu zögern:

Candied apple, quince and plum and gourd,

And jellies smoother than the creamy curd,

And lucent syrups tinct with cinnamon,

Manna and dates in Argosy transferred

Page 155: Mit der Nachtpost

From Fez; and spiced dainties, every one

From silken Samarcand to cedared Lebanon.

(Kandierter Apfel, Quitte, Pflaum’ und Kürbis, / Gelees

auch, weicher noch als dicker Rahm, / Und klarer Sirup,

cinnamongefärbt, / Manna und Datteln, übers Meer

gebracht / Aus Fes; würzige Leckereien, jede von / Schön-

Samarkand bis Zedern-Libanon).

Er sprach es zum zweitenmal, ersetzte aber das »smoother« der

zweiten Zeile durch »blander« (milder), schrieb es in einem

Zug und ohne Streichungen nieder, wobei er diesmal (meinem

gespannten Blick entging keine Silbe), seinen scheußlichen

zweiten Einfall durch »soother« (linder) ersetzte, so daß unter

seiner Hand nun alles hervorkam, wie es gedruckt steht im

Buch – ganz so wie im Buch!

Ein heulender Windstoß fuhr die Straße entlang, gefolgt vom

Prasseln eines Regengusses.

Nachdem Mr. Shaynor eine Weile still vor sich hingelächelt –

mit gutem Recht, wie mir schien –, begann er aufs neue zu

schreiben, wobei er das jeweils letzte Blatt über die Schulter

warf: –

Page 156: Mit der Nachtpost

The sharp rain falling on the window-pane,

Rattling sleet – the wind-blown sleet.

(Der scharfe Regen an den Fensterscheiben,

Das Hagelprasseln – windgepeitschter Hagel.)

Danach wieder Prosa: »Es ist sehr kalt am Morgen, wenn der

Wind Regen und Hagel mit sich bringt. Ich hörte draußen den

Hagel an der Fensterscheibe und habe an dich gedacht, du

meine Geliebte. Ich denke ja unablässig an dich. Ich wünsch’

mir, wir könnten weglaufen wie zwei Verliebte, hinaus in den

Sturm, und jenes Häuschen über der Küste bewohnen, an das

wir schon immer gedacht haben, du meine einzig Geliebte.

Dort könnten wir sitzen und durch unsre Fenster aufs Meer

hinabsehen. Ein Märchenland wär’ das, nur uns zu eigen – ein

Märchen am Meer – ein Märchen am Meer…«

Er hielt inne – hob lauschend den Kopf. Das gleichmäßig

schwebende Tosen des Ärmelkanals längs der Küste, das uns

so lange Gesellschaft geleistet, war plötzlich umgeschlagen –

war lauter und höher geworden zufolge der stärkeren Brandung

beim Wechsel der Ebbe zur Flut. Als hätte da eine Armee

plötzlich den Schritt gewechselt, so neu klang nun das

Page 157: Mit der Nachtpost

Pulsieren der See und füllte unser Gehör, bis wir uns daran

gewöhnt hatten und es nicht länger wahrnahmen.

A fairyland for you and me

Across the foam – beyond…

A magic foam, a perilous sea.

(Ein Märchenland für dich und mich / Hinter der See – dort

drüben…/ Ein Zaubermeer, der Fährnis voll.)

Abermals knurrte er vor sich hin, dachte angestrengt nach und

nagte an der Unterlippe. Die Kehle wurde mir trocken, doch

wagte ich keinen Schluck, sie zu befeuchten, denn ich wollte

den Zauber nicht brechen, der ihn näher und näher an jene

Flutmarke führte, die nur zwei Adamssöhne jemals erreicht

haben. Bedenken wir doch, daß unter all den Millionen Zeilen,

die jemals geschrieben wurden, es nur fünfe gibt – fünf ganz

kurze Zeilen – von denen man sagen kann: »Sie sind die pure

Magie. Sie sind die reine Vision. Alles andre ist bloß Poesie.«

Und Mr. Shaynor war zweien davon schon auf der Spur!

Ich schwor mir, daß keinerlei unbewußter Gedanke von mir

Einfluß ausüben solle auf diese so blindlings agierende Seele,

Page 158: Mit der Nachtpost

und hielt mich verzweifelt an die restlichen drei, die ich

unausgesetzt wiederholte:

A savage spot as holy and enchanted

As e’er beneath a waning moon was haunted

By woman wailing for her demon lover.

(Ein finstrer Ort – so weihevoll und zaubrisch / Wie je nur

einer unterm Schwindmond heimgesucht ward / von

Weiberklag’ um den Gespensterbuhlen.)

Doch obwohl ich mein Hirn dadurch abgelenkt glaubte, hing

ich mit all meinen Sinnen an den Schriftzügen dieser

verdorrten, knochigen Hand, deren Finger braunfleckig waren

von Chemikalien und Zigaretten.

Our windows fronting on the dangerous foam,

(Unsre Fenster, hinaus aufs gefahrvolle Meer,)

(das schrieb er nach langen, unschlüssigen Versuchen), und

dann –

Page 159: Mit der Nachtpost

Our open casements facing desolate seas Forlorn –

forlorn –

(Unsre offnen Fenster vor trostloser See / Verlassen –

hoffnungsleer –)

Aufs neue wurde sein Ausdruck bekümmert und bänglich vor

Unvermögen, wie schon zuvor, als jene Macht ihn erstmals

überkommen hatte. Diesmal jedoch war die Seelenqual

zehnmal so stark. Wie im Thermometer die Quecksilbersäule,

stieg sie zusehends an – machte ihm das Gesicht von innen

erstrahlen, bis ich schon glaubte, die sichtbar gepeinigte Seele

nackt aus ihm fahren zu sehn in unerträglicher Qual. Ein

Schweißtropfen sickerte mir von der Stirn längs der Nase

herab und benetzte mir den Handrücken.

Our windows facing on the desolate seas

And pearly foam of magic fairyland –

(Die Fenster vor der trostlos öden See / Und Perlengischt

aus Zaubermärchenland – )

»Noch nicht – noch nicht«, murmelte er. »Nur einen Moment

noch. Bitte, nur einen Moment, und ich hab’ es – «

Page 160: Mit der Nachtpost

Our magic windows fronting on the sea,

The dangerous foam of desolate seas…

For aye.

(Die Zauberfenster blicken auf das Meer, / Das wüste

Schäumen hoffnungsloser Wogen… / Auf ewiglich.)

Es schüttelte ihn am ganzen Körper – vom Innersten her. Dann

hob er die Arme, sprang auf und stieß dabei den Lehnstuhl

über die glatten Fliesen zurück, so daß er gegen die

Schubladen schlug und polternd umstürzte. Ganz automatisch

bückte ich mich, um ihn wieder aufzustellen.

Als ich mich aufrichtete, gähnte Mr. Shaynor und streckte

sich voll Behagen.

»Ich bin wohl ein wenig eingenickt«, sagte er. »Wie konnte

ich nur diesen Stuhl umwerfen? Was ist denn – Sie sehen ja

aus, als ob – «

»Ihr Sessel hat mich erschreckt«, sagte ich. »Es kam so

unerwartet in dieser Stille.«

Der junge Cashell hinter geschlossener Tür bewahrte

beleidigte Ruhe.

»Ich muß wohl geträumt haben«, vermutete Mr. Shaynor.

Page 161: Mit der Nachtpost

»Wahrscheinlich«, bestätigte ich. »Weil Sie sagen, ›geträumt‹

– ich – ich habe Sie schreiben sehen – eben vorhin – «

Betreten errötete er.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie jemals etwas von der Hand

eines gewissen Keats gelesen haben?«

»Ach – ich hab’ nicht viel Zeit, um Gedichte zu lesen – kann

auch nicht sagen, daß ich mit dem Namen etwas verbinde. Ein

populärer Schriftsteller?«

»So halbwegs. Ich dachte, Sie müßten ihn kennen, weil er ja

der einzige Dichter ist, der auch Drogist war. Er ist eher das,

was man einen Poeten für Liebende nennt.«

»Tatsächlich? Den muß ich mir anschaun. Und worüber hat

er geschrieben?«

»Über sehr vieles. Hier wäre ein Musterbeispiel, das auch Sie

interessieren wird.«

Und ich rezitierte vom Fleck weg die Verse, die er kaum

zehn Minuten zuvor zweimal gesprochen und dann sofort zu

Papier gebracht hatte.

»Aha! Aus der Zeile mit der Tinktur und dem Sirup erkennt

jedermann, daß ihr Verfasser Drogist gewesen sein muß. Ein

sehr schöner Tribut, der da unserm Beruf gezollt ist.«

Page 162: Mit der Nachtpost

»Ich weiß ja nicht«, sagte der junge Cashell in eisiger

Höflichkeit durch die spaltbreit geöffnete Tür, »ob Sie an

unsern banalen Experimenten noch interessiert sind. Sollte dies

aber der Fall sein – «

Ich zog ihn beiseite und raunte ihm zu: »Shaynor schien in

eine Art Bewußtseinsstörung zu fallen, als ich vorhin gesagt

habe, Sie sollen still sein. Ich wollte Sie, auch auf die Gefahr

hin, unhöflich zu wirken, nicht von den Apparaten wegholen,

wo doch der Ruf hereinkommen soll – ist das klar?«

»Bewilligt – fraglos bewilligt«, sprach er verbindlich. »Ich

fand es nur komisch im ersten Moment. Also deshalb hat er

den Stuhl umgeworfen?«

»Ich habe doch hoffentlich nichts versäumt?«

»Da muß ich Sie leider enttäuschen – aber noch ist es Zeit für

das Ende eines recht kuriosen Verkehrs. Mr. Shaynor, auch Sie

können kommen! Hören Sie zu – ich lese ab.«

Der Morseempfänger tickte wahnsinnig rasch. Mr. Cashell

übersetzte die Zeichen: »›K.K.V. Signale unverständlich.‹«

Pause. »›M.M.V. – M.M.V. – Signale unverständlich. Gehen

vor Anker Sandown Bay. Überprüfen Apparatur morgen.‹

Wissen Sie, was das heißt? Zwei Panzerkreuzer vor der Isle of

Wight suchen Verbindung mit Marconisignalen. Keiner kann

Page 163: Mit der Nachtpost

sich verständlich machen, aber unser Empfänger nimmt ihre

Funksprüche auf! Die ganze Zeit geht das schon so. Ich wollte,

Ihr hättet es mithören können!«

»Es grenzt an ein Wunder!« erwiderte ich. »Sie meinen also,

wir hören hier mit, wie die Schiffe vor Portsmouth miteinander

zu sprechen versuchen – und wir hören sie ab, über das halbe

südliche England hinweg?«

»So ist es. Die Sender sind ja intakt, nur die Empfänger sind

nicht abgestimmt, übermitteln nur dann und wann einen Punkt

oder Strich. Funksalat eben.«

»Und wie kommt es zu sowas?«

»Das weiß nur Gott – und morgen vielleicht auch die

Wissenschaft. Möglicherweise klappt’s nicht mit der

Induktion. Vielleicht arbeiten die Empfänger nicht auf der

genauen Sendefrequenz. Nur ein Wort dann und wann – eben

genug, um verrückt zu werden darüber.«

Abermals fing es zu ticken an.

»Da beklagt sich der eine schon wieder. Horch: ›entmutigend

– hoffnungslos‹. Klingt wirklich bemitleidenswert. Wart ihr

jemals zugegen bei einer Seance – einem spiritistischen Zirkel?

Es erinnert daran – ab und zu. Nur Andeutungen, lose Enden

Page 164: Mit der Nachtpost

von irgendwoher – aus dem Nichts. Gelegentlich mal ein Wort

– und alles nur für die Katz.«

»Diese Medien sind samt und sonders Betrüger und

Schwindler«, meldete sich Mr. Shaynor zu Wort. Er stand in

der Tür und zündete sich eine Asthmazigarette an. »Sie

machen es nur aus Geldgier. Ich hab’ es erlebt.«

»Da ist Poole – also doch! Und glasklar! ›L.L.L.‹ Jetzt geht’s

endlich los!« Mr. Cashell betätigte freudestrahlend die

Schaltknöpfe. »Irgendwas, das Sie durchgeben möchten?«

»Nein – lieber nicht«, sagte ich. »Ich geh’ jetzt nach Hause,

zu Bett. Bin etwas müde.«

Page 165: Mit der Nachtpost

Zu dieser Ausgabe

insel taschenbuch 1368 Rudyard Kipling, Mit der Nachtpost

Mit der Nachtpost. S. 9. Originaltitel: With the Night Mail. Erstveröffentlichung in: Mc Clure’s Magazine, New York, November 1905. Mit der Leichtigkeit des A.B.C. S. 50. Originaltitel: As Easy as A.B.C. (1912). Erstveröffentlichung in: Family Magazine (Sunday Newspaper Supplement), London, 25. Februar und 12. März 1912. Drahtlose Botschaft. S. 100. Originaltitel: Wireless. Erstveröffentlichung in: Scribner’s Magazine, London, August 1902. Friedrich Polakovics hat diese drei Erzählungen für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Umschlagabbildung: Illustration von Hans und Botho von Römer: Zweimotoriger „Albatros“-Doppeldecker L 73 (1926). Aus: Wolfgang Lochner, Als die Luftfahrt noch ein Abenteuer war. Bild: Hans und Botho von Römer. Bruckmann Verlag, München o. J. Foto: Deutsches Museum München.