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Mittwoch, 2. Mai 2018 bündner woche | 35 Jugendliche mit einer Depression verstehen meistens selbst nicht, was mit ihnen geschieht – dabei brauchen sie vor allem etwas: Verständnis. Bild Adobe Stock HINTER DER MASKE Ein Porträt über ein 14-jähriges Mädchen mit schweren Depressionen Von Magdalena Ceak Sommer 2017: «Nicht schon wieder», denkt sie sich. Wieder eine Untersuchung, die eine langersehnte Diagnose bringen soll. Das junge Mädchen leidet an chroni- scher Antriebslosigkeit, ununterbrochener Müdigkeit und einem extremen Leistungs- abfall in der Schule und im Sport. Sie hat weder einen Eisen- noch einen Vitamin-D- oder Vitamin-B-Mangel. Nun soll ihr Ge- hirn genauer untersucht werden. «Das bringt doch alles gar nichts.» Die Gedanken kreisen in ihrem Kopf. «Ich weiss schon längs- tens, was mit mir los ist.» Innerlich ist sie genervt: von der Situation, den Ärzten und ihren medizinischen Prognosen. Trotzdem lächelt sie, macht leissig mit. Sie legt sich hin, damit die MRI-Untersuchung durch- geführt werden kann. «Wenn ich ihnen sa- ge, was ich wirklich habe, dann denken al- le, dass ich übertreibe», denkt sie weiter, während sie untersucht wird. «Ausserdem kann ich die Untersuchung nicht einfach so abbrechen. Mama hofft schon so lange auf eine Diagnose. Und die Ärzte geben sich eigentlich so viel Mühe.» Jennifer Hemmi* ist 14 Jahre alt. Sie geht in die 2. Oberstufe. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in Da- vos*. Seit letztem Herbst geht sie in eine spezielle Klasse für Schüler, die in der Re- gelklasse grosse Schwierigkeiten haben und die eine Chance für eine positive Ent- wicklung im persönlichen, schulischen so- wie familiären Umfeld benötigen. Denn das junge Mädchen hat schwere Depres- sionen. Einen normalen Schulalltag kann sie nicht bewältigen. «Angefangen hat al- les mit einer Müdigkeit», erinnert sie sich noch heute. Zu Beginn redet sie vorsichtig. Ihre Stimme ist sanft, ihre Wortwahl bedacht. Sie ist ein hübsches Mädchen. Ihre braunen langen Haare hat sie mit einem Haargum- mi zusammengebunden. Sie sitzt aufrecht, sagt, dass sie ihre persönliche Lebensge- schichte erzählen will, um anderen Ju- gendlichen zu helfen. «Ich war ständig müde und kraftlos.» Egal, wie viele Stun- den sie über Nacht schlief, im Alltag funk- tionierte nichts. «Zu- erst nickte ich im Unterricht ein, später verschlief ich sämtliche Stunden.» Sie habe irgendwann die Kon- trolle über ihren Körper verloren. Nicht einmal ihre Schulfreunde hätten sie wach- halten können. «Nachmittags nach der Schule ging ich nach Hause und legte mich ins Bett, um weiterzuschlafen.» Es gibt verschiedene Symptome für eine Depression, und bei allen Betroffenen ma- chen sich diese unterschiedlich bemerk- bar, wie Psychiater und Experten sagen. Anhaltende Niedergeschlagenheit, Interes- senverlust, Freudlosigkeit und verminder- ter Antrieb sind die wichtigsten Anzeichen einer Depression. Darüber hinaus können auch zusätzliche Symptome wie beispiels- weise Schlafstörungen, Ängste, Selbst- zweifel und Konzentrationsstörungen auf- treten. Dabei ist auch das Selbstvertrauen der Betroffenen sehr stark angegriffen. «Jennifer hatte seit Monaten mehrere Symptome, die auf eine Depression hinge- wiesen haben», sagt Caroline Hemmi*, Mutter der 14-Jährigen. Am Anfang sei ihre Tochter noch eine leistungsfähige Sportlerin und gute Schülerin, die oft lach- te, gewesen. In der Schule seien bei ihr nach und nach Konzentrationsprobleme und Gedächtnisstörun- gen aufgetreten. Appe- titverlust und unregel- mässiges Essverhalten seien zu Hause aufgefallen. «Eine Depres- sion macht sich gerade bei Jugendlichen nicht nur durch eine extreme Traurigkeit bemerkbar», weiss Caroline Hemmi als Angehörige, «ebenso können Selbstverlet- zungen und der Alkohol- sowie Drogen- «Zuerst nickte ich im Unterricht ein, später schlief ich nur noch» «Ich wusste schon, dass ich unter einer Depression leide»

Mittwoch, 2. Mai 2018 bündner woche HINTER DER … · Weinst Du plötzlich oder ist Dir oft nach Weinen ... Ihre Mama hat an diesem Abend ... warum.» Sie habe ge-wusst,

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Mittwoch, 2. Mai 2018 bündner woche | 35

Jugendliche mit einer Depression verstehen meistens selbst nicht, was mit ihnen geschieht – dabei brauchen sie vor allem etwas: Verständnis. Bild Adobe Stock

HINTER DER MASKE

Ein Porträt über ein 14-jähriges Mädchenmit schweren Depressionen

Von Magdalena Ceak

Sommer 2017: «Nicht schon wieder»,denkt sie sich. Wieder eine Untersuchung,die eine langersehnte Diagnose bringen soll. Das junge Mädchen leidet an chroni-scher Antriebslosigkeit, ununterbrochener Müdigkeit und einem extremen Leistungs-abfall in der Schule und im Sport. Sie hat weder einen Eisen- noch einen Vitamin-D- oder Vitamin-B-Mangel. Nun soll ihr Ge-hirn genauer untersucht werden. «Dasbringt doch alles garnichts.» Die Gedanken kreisen in ihrem Kopf.«Ich weiss schon längs-tens, was mit mir los ist.» Innerlich ist sie genervt: von der Situation, den Ärzten und ihren medizinischen Prognosen. Trotzdem lächelt sie, macht leissig mit. Sie legt sich hin, damit die MRI-Untersuchung durch-geführt werden kann. «Wenn ich ihnen sa-ge, was ich wirklich habe, dann denken al-le, dass ich übertreibe», denkt sie weiter,während sie untersucht wird. «Ausserdem kann ich die Untersuchung nicht einfach so abbrechen. Mama hofft schon so lange auf eine Diagnose. Und die Ärzte geben sich eigentlich so viel Mühe.» Jennifer Hemmi* ist 14 Jahre alt. Sie geht in die 2. Oberstufe. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in Da-vos*. Seit letztem Herbst geht sie in eine

spezielle Klasse für Schüler, die in der Re-gelklasse grosse Schwierigkeiten habenund die eine Chance für eine positive Ent-wicklung im persönlichen, schulischen so-wie familiären Umfeld benötigen. Denndas junge Mädchen hat schwere Depres-sionen. Einen normalen Schulalltag kann sie nicht bewältigen. «Angefangen hat al-les mit einer Müdigkeit», erinnert sie sich noch heute. Zu Beginn redet sie vorsichtig.

Ihre Stimme ist sanft,ihre Wortwahl bedacht.Sie ist ein hübschesMädchen. Ihre braunen

langen Haare hat sie mit einem Haargum-mi zusammengebunden. Sie sitzt aufrecht,sagt, dass sie ihre persönliche Lebensge-schichte erzählen will, um anderen Ju-gendlichen zu helfen. «Ich war ständigmüde und kraftlos.» Egal, wie viele Stun-den sie über Nacht schlief, im Alltag funk-tionierte nichts. «Zu-erst nickte ich imUnterricht ein, späterverschlief ich sämtliche Stunden.» Sie habe irgendwann die Kon-trolle über ihren Körper verloren. Nicht einmal ihre Schulfreunde hätten sie wach-halten können. «Nachmittags nach derSchule ging ich nach Hause und legte mich ins Bett, um weiterzuschlafen.»

Es gibt verschiedene Symptome für eine Depression, und bei allen Betroffenen ma-chen sich diese unterschiedlich bemerk-bar, wie Psychiater und Experten sagen.Anhaltende Niedergeschlagenheit, Interes-senverlust, Freudlosigkeit und verminder-ter Antrieb sind die wichtigsten Anzeichen einer Depression. Darüber hinaus können auch zusätzliche Symptome wie beispiels-weise Schlafstörungen, Ängste, Selbst-zweifel und Konzentrationsstörungen auf-treten. Dabei ist auch das Selbstvertrauen der Betroffenen sehr stark angegriffen.«Jennifer hatte seit Monaten mehrereSymptome, die auf eine Depression hinge-wiesen haben», sagt Caroline Hemmi*,Mutter der 14-Jährigen. Am Anfang sei ihre Tochter noch eine leistungsfähigeSportlerin und gute Schülerin, die oft lach-te, gewesen. In der Schule seien bei ihr nach und nach Konzentrationsprobleme

und Gedächtnisstörun-gen aufgetreten. Appe-titverlust und unregel-mässiges Essverhalten

seien zu Hause aufgefallen. «Eine Depres-sion macht sich gerade bei Jugendlichen nicht nur durch eine extreme Traurigkeit bemerkbar», weiss Caroline Hemmi alsAngehörige, «ebenso können Selbstverlet-zungen und der Alkohol- sowie Drogen-

«Zuerst nickte ich im Unterrichtein, später schlief ich nur noch»

«Ich wusste schon, dass ich unter einer Depression leide»

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Eine Depression hat viele Gesichter – und sie kann jeden Menschen trefen. Bild Flickr

missbrauch ein grosses Thema sein.» Jun-ge Menschen wollen so ihre Schmerzen betäuben. Ihre Tochter habe sich auchüber Monate selbst verletzt. Eine Situation,die für die Mutter schwer zu ertragen war.«Eine Depression hat viele Gesichter», ist die Mutter überzeugt.Herbst 2017: Schon seit Wochen absolviertJennifer Hemmi eine Untersuchung nach der anderen. Während der letzten medizi-nischen Kontrolle haben die Ärzte Unre-gelmässigkeiten im Gehirn entdeckt. Des-halb geht sie nun in eine spezialisierte Kli-nik für epileptische Anfälle. «Und wieder diese langen Gespräche mit den Ärzten und die verschiedenen Untersuchungsar-ten, die mich so müde machen», denkt sichdie Jugendliche. Sie spielt die Ahnungslo-se, die zuverlässig den Anweisungen der Ärzte folgt.«Während den ganzen Untersuchungenwusste ich schon, dass ich sehr wahr-scheinlich unter einer Depression leide»,meint Jennifer Hemmi. Mitten im Ge-spräch wird sie immer offener. Die 14-Jäh-rige wirkt sehr selbstbewusst. Sie erzählt von jedem noch so kleinen Detail ihrer De-pression. «Wie ich das festgestellt habe?»,meint sie darauf. Ein Schnelltest im Inter-net habe ihr Hinweise auf eine mögliche Depression gegeben. Die Fragen warenkurz und knapp: Fühlst Du Dich oft be-drückt, schwermütig und traurig? Weinst Du plötzlich oder ist Dir oft nach Weinen zumute? Ist Dein Schlaf gestört? Schläfst Du mehr als normal?Siehst Du voller Angst in die Zukunft? Hattest Du schon Suizid-Ge-danken? «Ja, ich weiss, dass solche Tests und Prognosen im Internet nicht wirklich zuverlässig sind.» Aber das Ergebnis die-ses virtuellen Fragebogens habe sie dazu gebracht, sich mit dem Thema Depression auseinanderzusetzen. «Je mehr ich wuss-te, desto klarer war es für mich, dass ich eine Depression habe.» Die 14-Jährigewirkt entschlossen und mutig.Nach Angaben der Internetseite depres-sion.ch sind depressive Störungen auch bei Kindern und Jugendlichen weit ver-

breitet. Zwischen drei und zehn Prozent der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren sind von Depressionen betroffen.Im Jahr 2009, ein Rückblick in die Vergan-genheit: Die sechsjährige Jennifer liegt im Bett und wartet wie jeden Abend auf ihre Mutter. In ihrem Alltag hat die Familie fes-te Rituale, die sie durch den Tag begleiten.Jennifer liebt diese Tra-ditionen. Sie gebendem Mädchen Sicher-heit, Selbstbewusstsein und Orientierung. An diesem Abendkommt Caroline Hemmi ins Zimmer ihrer Tochter und wünscht ihr eine gute Nacht.«Schlof guat», sagt sie. Ihre Stimme ist sanft und ruhig. Dann schaltet sie dasLicht aus und verlässt das Kinderzimmer.Die Sechsjährige zuckt zusammen. Plötz-lich ist sie ganz traurig. Ihre Augen wer-den feucht. Einzelne Tränen liessen ihr über die Wangen. Sie beginnt krampfhaft zu weinen. Dabei atmet sie nur noch stoss-weise. Ihre Mama hat an diesem Abend vergessen, sie in den Arm zu nehmen. Ihr Schluchzen ist nun nicht mehr zu stoppen.«Meine Mama war mir und meinem Bru-der gegenüber immer liebevoll und ver-ständnisvoll», erzählt Jennifer Hemmiheute. Sie hätte eine sorglose und schöne Kindheit gehabt. Nur seien da noch die er-drückenden Gefühle gewesen. Aber sobald etwas nicht wie gewohnt ablief, brach für sie eine Welt zusammen. «Ich war einfach traurig», sagt die Jugendliche, «und ich

wusste nicht einmalwarum.» Sie habe ge-wusst, dass ihre emo-tionalen Reaktionen

sehr stark und teilweise übertrieben wa-ren. «Ich spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte, denn andere Kinder in meinem Alter waren nie in diesem Ausmass trau-rig», ist sich die Jugendliche noch heute si-cher. Deshalb habe sie früh gelernt, ihre Gefühle nicht in jeder Situation zu offen-bahren. Sie habe sich selbst beigebracht,ihre Gefühle zu unterdrücken und zu über-spielen. An Rituale und ihre Mutter habe sie sich schon immer festgeklammert. «Ich weiss aber nicht, ob dies damals auch eine

Art depressive Phasen waren – ich war oft einfach extrem traurig», so Jennifer Hem-mi.Dass ihre Tochter schon als Kind ernst und nachdenklich war, ist Caroline Hemmiselbstverständlich aufgefallen. «Damalsdachte ich, dass Jennifer einfach sensibler als andere Kinder war und einfach mehr

klare Strukturenbrauchte.» Zu dieserZeit war die alleinerzie-hende Mutter über-

zeugt , dass ihr ältestes Kind einfach mehr Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Verständ-nis brauchte. «Nie im Leben hätte ich an eine Depression gedacht», erzählt sie. Ge-rade weil ihre Tochter in einer Lebenspha-se – das war in der 3. und 4. Primarklas-se – ihr inneres Gleichgewicht gefunden hätte. «In dieser Zeit hatte sie viel Freude,war gut in der Schule und liebte denSport», schildert die Mutter.Herbst 2017: Wieder ein Tag auf der Kin-derabteilung im Spital. Jennifer Hemmi führt ein kurzes Gespräch mit einer Psy-chiaterin auf der Abteilung. 15 Minuten dauert der Austausch. Die Psychiateringeht danach auf die Mutter der 14-Jähri-gen zu und sagt ihr offen: «Frau Hemmi,ich vermute, dass ihre Tochter eine De-pression haben könnte.» Eine Schockdia-gnose. «Endlich sind sie darauf gekom-men», denkt sich Jennifer Hemmi. Siewird von einem Gefühl der Erleichterung und Zufriedenheit gepackt.«Ich war einfach nur froh, dass es meine Mama dann endlich wusste», blickt Jenni-fer Hemmi heute zurück. Sie habe über die Jahre immer ihr Innerstes versteckt. «Nie-mand wusste, wie es mir wirklich ging und was ich fühlte.»«Natürlich war ich als Mutter im ersten Moment geschockt», sagt Caroline Hemmi.Vor allem weil ihre Tochter nie offen über ihren inneren Druck und die starke Trau-rigkeit gesprochen habe. Es habe ihr kurz den Boden unter den Füssen weggerissen.Aber nach nur wenigen Tagen habe sie sich wieder gefangen. «Dann war ichdankbar, dass wir eine Diagnose hatten.» Ihr sei ab diesem Moment klar gewesen,

«Ich spürte, dass etwas mit mir nicht stimmt»

«Das war die einzige Zeit, in der ich glücklich war»

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Bild Flickrdass sie als Familie einen langen Weg vor sich hätten. «Ich suchte sofort einen Psy-chiater und begann, mich mit dem Thema Depression intensiv auseinanderzuset-zen.» Ende 2017: In der Schule lassen die Leis-tungen von Jennifer Hemmi immer weiternach. Der Schulalltag erschöpft und über-fordert sie. Überhaupt geht es ihr immerschlechter. Ihre Mutter Caroline Hemmimuss die ersten Entscheidungen treffen:Soll ihre Tochter einen psychiatrischenKlinikaufenthalt machen? Welche Schul-und Unterrichtsform ist für die Jugendli-che die richtige? Die alleinerziehendeMutter entscheidet sich gemeinsam mitder Tochter zuerst für einen Klinikaufent-halt. Die 14-Jährige wagt mutig diesenSchritt. Sie gibt dieser Therapie eine Chan-ce, will bewusst etwas gegen ihre Depres-sion tun. Schnell merkt die Familie aber,dass eine Betreuung zu Hause JenniferHemmi viel besser tut. Das Mädchen gibtzu, dass sie ihr gewohntes Umfeld und ihrliebevoll eingerichtetes Zimmer braucht.Kurz danach kommt es zu einem Wechselin eine spezielle Klasse für Jugendlichemit grossen Schwierigkeiten in der Regel-klasse. In diesen Monaten erleben JenniferHemmi und ihre Familie neben Unterstüt-zung auch eine grosse Ausgrenzung in derGesellschaft und stossen oft auf Unver-ständnis. Eine Situation, welche die14-Jährige noch mehr runterzieht.«Meine neue Klasse tut mir im Momentgut», ist Jennifer Hemmi überzeugt. Täg-lich kann sie nur zwei Stunden in dieSchule gehen. Immer nachmittags, weil siemorgens nicht so einfach aufstehen kann.«Manchmal schaffe ich es nicht aus demBett», erzählt das junge Mädchen, «die An-triebslosigkeit packt mich und ich seheeinfach keinen Sinn darin, irgendetwas zutun.» Ihr neuer Unterrichts-Alltag helfeihr. Schliesslich ist ihr Lehrer sehr gut aus-gebildet für Jugendliche in Krisensituatio-nen. Dass sich Jennifer Hemmi dank Me-dikamenten, Therapie und angepasstenErwartungen langsam besser fühlt, merktauch ihre Mutter: «Jennifer macht kleine,aber für uns bedeutsame Fortschritte, diewir jedes Mal feiern.»Das Jahr 2013 – wieder eine zeitlicheRückblende im Leben der depressiven Ju-gendlichen: Sie geht in die 4. Primarklas-se. Sie liebt Sport. Sie mag es, sich zu be-wegen. Sie will mit ihrem eigenen Körperetwas Besonderes leisten. Der Sport gibtihr mehr als nur ein Hobby und eine Be-schäftigung in der Freizeit. Sie indet sichselbst. Fühlt sich wohl in ihrem Körper.Die Traurigkeit tritt aus ihrem Leben.Während drei Jahren macht sie intensivSport und nimmt an verschiedenen Wett-kämpfen teil.«Das war die einzige Zeit in meinem Le-ben, in der ich glücklich war», erinnert

sich die 14-Jährige. Ihre sportliche Aktivi-tät habe wahrscheinlich dazu beigetragen.Der Rückfall kam wieder in der 5. Primar-klasse. «Als ich wusste, dass sich inner-halb von zwei Schuljahren entscheidenwird, ob ich die Sekundarschule oder insGymnasium gehen werde, baute sich wie-der ein Druck auf», erklärt sie. Wieder ielsie in ihre Traurigkeit und zog sich zurück.Doch die Aufnahmeprüfung für das Gym-nasium verlor sie in dieser Zeit nie ausden Augen. «Ich war eine gute Schülerin,die gerne zur Schule ging.» Nur ihr Inne-res habe ihr Steine in den Weg gelegt.«Diese traurige und depressive Phasewich auch nicht, als ich die Aufnahmeprü-fung bestanden habe.»Das Jahr 2010 – noch eine Erinnerung:Familie Hemmi zieht um. Jennifer Hemmiwechselt vom Kindergarten in die 1. Pri-marklasse. In dieser Zeit macht Mutter Ca-roline Hemmi eine Weiterbildung. DieseVeränderungen im Alltag und die Distanzvon mehreren Stunden zur Mutter sind fürdie Erstklässlerin ein Horror. Bei ihr ent-stehen Heimweh und Verlustängste. JedenAbend kurz vor dem Schlafengehen packtsie eine unbeschreibliche Angst.«In dieser Zeit war ich nur noch traurig undvermisste meine Mama ununterbrochen»,sagt Jennifer Hemmi. Aus diesem Grundhatte ihre Mama die Weiterbildung abgebro-chen, um sich intensiv um die damals Sie-benjährige zu kümmern. Warum sich ihreGefühle in dieser Zeit so extrem entwickel-ten, kann sich die Jugendliche bis heutenicht erklären. «Es war eben nicht so, dassich in meiner Kindheit ein traumatischesErlebnis hatte, das ich nie verarbeitet ha-be», meint die 14-Jährige. Ihr habe es zuHause nie an Zuneigung, Liebe und Ver-ständnis gefehlt. Im Gegenteil. Sie war im-mer behütet und sicher.«Natürlich habe ich mir kurz nach derSchockdiagnose ‘schwere Depression’ vieleFragen gestellt: Wie konnte ich so etwasnicht früher merken? Und habe ich als Mut-ter Fehler gemacht?», erzählt Caroline Hem-mi. Obwohl Jennifer Hemmi nie mit einemeinschneidenden Lebensereignis zu kämp-fen hatte, ist sie depressiv geworden. «Weilmeine Tochter für ihr schönes Leben nichtundankbar erscheinen wollte, hat sie ebenlange nicht über ihre grosse Traurigkeit ge-redet – weder mit mir, noch mit ihren bes-ten Freundinnen», weiss Caroline Hemmi.Deshalb hat die Mutter schnell begriffen,dass eine Depression eine Krankheit ist, dieunter anderem hirnbiologische Ursachenhat. «Das Wichtigste für mich ist nicht, dassmeine Tochter möglichst bald wieder leis-tungsfähig wird», betont sie. Ihr grössterWunsch sei, dass ihr Kind von diesem Lei-densdruck befreit werde und einfach glück-lich sein könne.

* Namen und Wohnort von der Redaktion geändert

mc. «Eine Depression kann jeden Men-schen trefen», sagt Valeria Ciocco, Pro-grammleiterin psychische Gesundheitbeim Gesundheitsamt Graubünden. Mitdem Kreativwettbewerb «Wege aus der Depression» will das GesundheitsamtGraubünden die Krankheit greibarer ma-chen und Vorbehalte gegenüber psychisch Erkrankten abbauen. Betrofene jeden Al-ters können Bilder oder Fotograien zum Thema «Wege aus der Depression» einrei-chen. Einsendeschluss: 13. Juni.

Infos: www.bischit.ch/d/kreativwettbewerb/

WEGE AUS DER DEPRESSION