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 4 T T T T  AXI  AXI  AXI  AXI  AXI Nr. 79 Martin Ulrich Während die Weltöffentlichkeit mit den Opfern des Hurrikans Katrina war, be- merkte ein prominenter republikani- scher Abgeordneter gegenüber Lobby- isten: „Endlich ist New Orleans von den Sozialwohnungen gesäubert. Wir konn- ten das nicht tun, aber Gott hat es ge- tan.“ Und ein reicher Bauunternehmer:  „Ich denke wir haben jetzt einen schö- nen reinen Tisch zum Neuanfang.“ Ge- legenheit macht Diebe: Diese Lobby- isten nahmen sich niedrigere Steuern, weniger Vorschriften und billigere Ar- beitskräfte heraus, wollten „Eine klei- nere und sicherere Stadt“ (Eigentums- statt Sozialwohnungen usw.) Sogar Ökonom Milton Friedman war begei- stert: „Die meisten Schulen von New Orleans liegen in Trümmern (...) Es ist aber auch eine Gelegenheit, das Bildungssystem radikal zu reformieren.“ Hiess: Öffentliche Schulen wurden dicht- gemacht, stattdessen Gutscheine für private „Charter Schools“ verteilt - ganz nach dem Willen von „Onkel Miltie“, wie seine Anhänger den Vorreiter des Neo- liberalismus verharmlosend nennen. Neoliberalismus Milton Friedmans radikalkapitalistischen Ansichten nach hat der Staat im Schul- wesen nichts verloren, sondern soll höchstens „Unsere Freiheit schützen“,  „für Recht und Ordnung sorgen“, „Ein- haltung privater Verträge überwachen.“ Ein Netzwerk rechtslastiger Denkfabri- ken applaudiert ihm. Ideologisch sind die Neoliberalen wandlungsfähig, sie verstecken sich - je nach Land - hinter mannigfaltigen Bezeichnungen: „Libe- rale“, „Konservative“, „Reaganomics“ usw. Die Regierung Sri Lankas nach dem Tsunami: „Aus einer grausamen Laune des Schicksals heraus hat die Natur Sri Lanka eine einzigartige Gelegenheit er- öffnet, und aus dieser Tragödie wird ein Urlaubsziel von Weltklasse hervorge- hen.“ Ähnlich funktionieren Tsunamis auf den Malediven als Drohung: Man beschliesst, die Inseln seien für Wohnzwecke ungeeignet, vertreibt Ein- heimische (Oppositionelle ab auf die Gefängnisinsel!) - und schafft so Platz für den Tourismus... Wie man eine grosse Krise ausnutzt, lernte Milton Friedman in den 70ern, als er Pinochet beriet. Chile befand sich noch im Schock des blutigen Militär- putschs, Gelegenheit für den extremsten kapitalistischen Umbau, den ein Land je erlebte. Die „Revolution der Chicagoer Schule“ (Die Ideen stamm- ten aus der Universität Chicagos) Shock and Awe Wenn man um diese Strategie weiss, er- scheinen einem ein paar der infamsten Menschenrechtsverletzungen der Welt- geschichte in völlig neuem Licht. Was man als Entgleisung antidemokratischer Regimes wertete, waren oft in voller Absicht und zugunsten der neoliberalen Ideologie geplante Verbrechen. Als am 11. September die Flugzeuge einschlugen, war das Weisse Haus voll mit Friedman-Schülern - inklusive Friedmans engem Freund Rumsfeld. Sofort nutzte die Regierung Bush die kollektiven Ängste, um den militärisch- industriellen Komplex zu verwirklichen, vor dem Dwight Eisenhower damals noch gewarnt hatte. Und darüber hin- aus entstand sogar ein globaler Krieg, den auf allen Ebenen Privatunterneh- men führen (öffentlich finanziert).  „Noch nie haben zwei Länder , in denen es McDonalds gibt, gegeneinander Krieg geführt.“ erklärte ein Kolumnist. Briti- sche Firmen beraten in Überwachungs- fragen, israelische kennen sich mit Hightech-Zäunen aus, kanadische ver- kaufen Fertighäuser. Miamis Flughafen- mitarbeiter werden von Israel geschult, nicht nur „böse Sachen“, sondern auch  „böse Menschen“ zu erkennen. Folter als Metapher Naomi Klein vermutet, dass im Irak ein Modellstaat eingerichtet werden sollte, und dass man versucht, menschliche Psychen auszulöschen und neu aufzu- bauen. Ein Labor für einen Kapitalismus der Halsabschneider - ein System, das den einzelnen gegen die Gemeinschaft stellt. Auch dafür sind Schocks die Grundlage. CIA-Taktik ist es, Opfer mög- lichst erschütternd gefangen zu neh- men. In tiefster Nacht oder frühmorgens Schläge, dann eine Augenbinde um den Die Schockstrategie Kürzlich fiel mir Naomi Kleins neoliberalismuskritisches Buch „Die Schockstrategie“ in die Hände. Es zeigt eindrücklich die Entstehung, Ausbreitung und die Auswirkungen des Neoliberalismus auf. Ich habe  jene Fakten zusammengefasst, die mich am meisten beeindruckten.

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Martin Ulrich

Während die Weltöffentlichkeit mit denOpfern des Hurrikans Katrina war, be-merkte ein prominenter republikani-scher Abgeordneter gegenüber Lobby-isten: „Endlich ist New Orleans von denSozialwohnungen gesäubert. Wir konn-ten das nicht tun, aber Gott hat es ge-tan.“ Und ein reicher Bauunternehmer:

 „Ich denke wir haben jetzt einen schö-nen reinen Tisch zum Neuanfang.“ Ge-legenheit macht Diebe: Diese Lobby-isten nahmen sich niedrigere Steuern,weniger Vorschriften und billigere Ar-beitskräfte heraus, wollten „Eine klei-

nere und sicherere Stadt“ (Eigentums-statt Sozialwohnungen usw.) SogarÖkonom Milton Friedman war begei-stert: „Die meisten Schulen von NewOrleans liegen in Trümmern (...) Es istaber auch eine Gelegenheit, dasBildungssystem radikal zu reformieren.“Hiess: Öffentliche Schulen wurden dicht-gemacht, stattdessen Gutscheine fürprivate „Charter Schools“ verteilt - ganznach dem Willen von „Onkel Miltie“, wieseine Anhänger den Vorreiter des Neo-liberalismus verharmlosend nennen.

NeoliberalismusMilton Friedmans radikalkapitalistischenAnsichten nach hat der Staat im Schul-wesen nichts verloren, sondern sollhöchstens „Unsere Freiheit schützen“,

  „für Recht und Ordnung sorgen“, „Ein-haltung privater Verträge überwachen.“Ein Netzwerk rechtslastiger Denkfabri-ken applaudiert ihm. Ideologisch sinddie Neoliberalen wandlungsfähig, sieverstecken sich - je nach Land - hintermannigfaltigen Bezeichnungen: „Libe-rale“, „Konservative“, „Reaganomics“usw.

Die Regierung Sri Lankas nach demTsunami: „Aus einer grausamen Laune

des Schicksals heraus hat die Natur SriLanka eine einzigartige Gelegenheit er-öffnet, und aus dieser Tragödie wird ein

Urlaubsziel von Weltklasse hervorge-hen.“ Ähnlich funktionieren Tsunamisauf den Malediven als Drohung: Manbeschliesst, die Inseln seien für

Wohnzwecke ungeeignet, vertreibt Ein-heimische (Oppositionelle ab auf dieGefängnisinsel!) - und schafft so Platzfür den Tourismus...

Wie man eine grosse Krise ausnutzt,lernte Milton Friedman in den 70ern, alser Pinochet beriet. Chile befand sichnoch im Schock des blutigen Militär-putschs, Gelegenheit für denextremsten kapitalistischen Umbau, denein Land je erlebte. Die „Revolution derChicagoer Schule“ (Die Ideen stamm-ten aus der Universität Chicagos)

Shock and AweWenn man um diese Strategie weiss, er-

scheinen einem ein paar der infamstenMenschenrechtsverletzungen der Welt-geschichte in völlig neuem Licht. Wasman als Entgleisung antidemokratischerRegimes wertete, waren oft in vollerAbsicht und zugunsten der neoliberalenIdeologie geplante Verbrechen.

Als am 11. September die Flugzeugeeinschlugen, war das Weisse Haus vollmit Friedman-Schülern - inklusiveFriedmans engem Freund Rumsfeld.Sofort nutzte die Regierung Bush diekollektiven Ängste, um den militärisch-

industriellen Komplex zu verwirklichen,vor dem Dwight Eisenhower damalsnoch gewarnt hatte. Und darüber hin-aus entstand sogar ein globaler Krieg,den auf allen Ebenen Privatunterneh-men führen (öffentlich finanziert).

 „Noch nie haben zwei Länder, in denenes McDonalds gibt, gegeneinander Krieggeführt.“ erklärte ein Kolumnist. Briti-sche Firmen beraten in Überwachungs-fragen, israelische kennen sich mitHightech-Zäunen aus, kanadische ver-kaufen Fertighäuser. Miamis Flughafen-

mitarbeiter werden von Israel geschult,nicht nur „böse Sachen“, sondern auch

  „böse Menschen“ zu erkennen.

Folter als MetapherNaomi Klein vermutet, dass im Irak einModellstaat eingerichtet werden sollte,und dass man versucht, menschlichePsychen auszulöschen und neu aufzu-bauen. Ein Labor für einen Kapitalismusder Halsabschneider - ein System, dasden einzelnen gegen die Gemeinschaftstellt. Auch dafür sind Schocks dieGrundlage. CIA-Taktik ist es, Opfer mög-

lichst erschütternd gefangen zu neh-men. In tiefster Nacht oder frühmorgensSchläge, dann eine Augenbinde um den

Die Schockstrategie

Kürzlich fiel mir Naomi Kleins neoliberalismuskritisches Buch „DieSchockstrategie“ in die Hände. Es zeigt eindrücklich die Entstehung,Ausbreitung und die Auswirkungen des Neoliberalismus auf. Ich habe  jene Fakten zusammengefasst, die mich am meisten beeindruckten.

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Kopf. 615´000 Iraker in den erstendreieinhalb Besatzungsjahren bekamendies oder ähnliches zu spüren. Folter istnicht nur ein Werkzeug beim ganzenKreuzzug des freien Marktes von Chileüber China bis zum Irak, sondern aucheine treffende Metapher für die tödlicheLogik der Schock-Strategie, die der Neo-liberalismus mit sich bringt. Nichtsde-stotrotz wurde eine Resolution verab-

schiedet, die Friedman als einen „welt-weit führenden Verfechter der Freiheit,nicht nur in der Wirtschaft, sondern auf allen Gebieten“ rühmt. Und ArnoldSchwarzenegger widmete ihm den „Mil-ton Friedman Day“ und redet ihm imWerbefilm „Free to choose“ das Wort:

 „Wo ich herkomme, hörte man 18-jäh-rige auf der Strasse über ihre Pensionreden... Aber ich wollte mehr!“

PsychiatrieKlein besucht in Montreal eine Frau, diein den 50er Jahren in der Psychiatrieweilte, wo sie für Experimente miss-

braucht wurde. Abermals waren ihr 150bis 200 Volt durch die Frontallappengeleitet worden, der Körper von hefti-gen Krämpfen erschüttert, und so Frak-turen, Verstauchungen, zerbrocheneZähne verursacht. Nach der Psychiatriewar die Frau ärmer dran als vorher:Verstossen von der Familie, auf dasDurchwühlen von Abfällen angewiesen,Gedächtnisverlust, Inkontinenz, teilwei-se regrediert, sodass sie zeitweilig nuk-kelte oder ihrem kleinen Neffen dasFläschchen entreissen wollte.

Dahinter steckte der damalige welt-oberste Psychiater selbst, EwenCameron, Präsident der WorldPsychiatric Association mit Beziehungenzur CIA. Wie die Kriegstreiber Länder

 „zurück in die Steinzeit“ bombardieren,wollte er seine Patienten wieder zu Kin-dern machen: Man musste dem „Pati-enten“ jegliche Luzidität nehmen, dieRaum-Zeit-Achse zerstören, er durfteauch nicht mehr wissen, wer er ist. Dazuwar jedes Mittel recht: Uhren verstel-len, zu Unzeiten essen, Deprivatvion,Schlafentzug, Dauerschlaf, Upper, Dow-

ner, Halluzinogene... Nach dem  „Entprägen“ des Menschen wollte manihn mit monatelangen Tonbandstimmen

wieder prägen (Wäre Cameron nicht sorenomiert gewesen, hätte die Fachweltihn wohl ausgelacht - Seine Ideen hat-te er aus Anzeigen für „Kissen-lautsprecher“, die einem im Schlaf Fremdsprachen lehrten.)

Wer die Seele kennt, weiss, dass all diesnicht funktioniert. Ein Psychiater-Kolle-ge über Cameron: „Die Freudianer ha-

ben all diese subtilen Methoden entwik-kelt, mit denen sie Zwiebelhäute ab-schälen, um zum Kern des Problemsvorzustossen. Cameron wollte die Häu-te geradewegs durchbohren. Aber die-se Schichten sind das einzige, was esgibt.“

Für den Kalten Krieg erforschte dasMKUltra-Programm dennoch Technikenzur Gehirnwäsche, wofür man in 10 Jah-ren 25 Mio. Dollar aufwarf. 44 Unis und12 Krankenhäuser waren involviert. Umsicherzustellen, dass niemand dem Alb-traum entrinnen konnte, verabreichteCameron lähmendes Curare, sodass die

  „Patienten“ Gefangene ihres eigenenKörpers wurden.

Praktische Anwendung der FolterEine vom honduranischen „Bataillon 3-16“ Gefolterte berichtet: „Sie sagten, siewürden mich foltern, bis ich verrückt sei.Ich glaubte ihnen nicht. Aber dann zo-gen sie mir die Beine auseinander undhängten die Drähte an meine Genitali-en.“ Es sei noch ein Mann im Raum ge-

wesen, ein „Mr. Mike“, der sich im Hin-tergrund gehalten habe. Auch andereFolteropfer beschreiben englischsprachi-gen Foltermentoren. Schon 1966 schick-te der Geheimdienst zu Testzweckendrei Psychiater nach Saigon, mit dembevorzugten Page-Russel-Elektro-schocker im Gepäck. Manchmal holteman zu Schulungszwecken Bettler vonder Strasse. Aufgrund der Enthüllung,dass das Bataillon 3-16 in Texas ausge-bildet worden war, rückte die CIA ihrsogenanntes „Kubark“-Folterhandbuchheraus.

Nach dem 11. September wurde dasFoltern quasi legalisiert. Man unterlägenicht der Genfer Konvention, weil manTerrorverdächtige nicht als Kriegsgefan-gene betrachte, sondern als „feindlicheKombattanten“. Als einer der erstenbekam der Kriminelle José Padilla dieneue Regelung zu spüren. Man beschul-digte ihn, eine schmutzige Bombe bau-en zu wollen und folterte ihn 1307 Tageper Reizdeprivation. Er durfte keinenanderen menschlichen Kontakt habenals zu Verhöroffizieren. Diese malträtier-

ten seine ausgehungerten Sinne mitgrellem Licht und hämmernden Klängen(Beliebt sind auch Hundegebell,

Säuglingsgeschrei und Miauen.) VorGericht fehlte dem psychisch zerstörtenPadilla schlussendlich jede Fähigkeit,sich zu verteidigen - befand ein Psych-iater (Der Richter widersprach ihm). Einehemaliger Seelsorger Guantanamosbeschreibt die Folteropfer: „Sie redetenvölligen Unsinn. Viele von ihnen san-gen laut Kinderlieder, die sie dauerndwiederholten.“

Menschenrechtsgruppen weisen darauf hin, dass Guantanamo von allen US-Verhöreinrichtungen gerade noch diebeste sei, denn Anwälte und das RoteKreuz hätten wenigstens begrenzt eineKontrolle darüber. Es gibt im Irak abermindestens ein kleines Folterzentrum,

das man vor dem IKRK verbarg, sogarvor eigenen Kadern, und dessen nichts-sagenden Namen man bewusst mehr-mals änderte (Task Force 20, 121 usw.)Per Computer konnten die GIs ein ab-gestimmtes „Foltermenü“ ausdrucken.Und brachten GIs Zweifel an, so hatteman auch schon eine PowerPoint-Prä-sentation bereit, die die Folter legiti-mierte. Die Guantamohäftlinge sindhäufig harmlose Taxifahrer, Köche,

Ziegenhirten - denn es ist eine Prämieausgesetzt auf jeden „Taliban“, den manverrät... Eine lukrative Einnahmequel-le.

Das Foltern von ÖkonomienWie der Mensch, so wird auch die Wirt-schaft „entprägt“. Als Mittel dazu dientder Dreizack des freien Marktes: Priva-tisierung, Deregulierung, Einschnittebeim Sozialen. Der Neoliberalismus gehtdavon aus, dass der Markt sich ohnestaatliche Eingriffe wie ein natürlichesÖkosystem selber im Gleichgewicht hal-

ten könne, und genau die richtigenProduktmengen zu genau den richtigenPreisen herstellen würde.

Gangster mit „Chica-go Typewriter“ in denHänden

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Als hauptsächliche Gegenspieler be-trachtete man John Maynard Keynes undden Developmentalismus, die mit regle-mentierten Wirtschaftssystemen Süd-amerika breiten Wohlstand gebracht

hatten. Amerika war zwar bereits kapi-talistisch, doch nach Ansicht der Neo-liberalen noch zu wenig. Aber Friedmankonnte Keynes nicht gut anfechten - eswar schliesslich die Zeit nach der Welt-wirtschaftskrise, und behelfs des „NewDeal“ wollte man die Bestie Markt eherzügeln als freilassen - darum interes-sierte sich vorerst noch kaum einerfür Friedmans gewagte Vorschläge.

Dann aber, zu einer Zeit, als linksra-dikale Vorstellungen der Arbeiterweltweit an Bedeutung gewannen,wurde der Neoliberalismus attraktiv- weil er die Interessen der Eigentü-mer auf eine ebenso radikale Weise

verteidigte. Das Ziel war „individu-elle Freiheit“, die versprengten ein-zelnen Bürger sollte über jedes kol-lektive Unterfangen gestellt werden.

Wenn nun Friedmans enger FreundWalter Wriston, Vorsitzender derCitibank, sich vorgewagt und eine Ab-schaffung der Mindestlöhne und Unter-nehmenssteuern gefordert hätte, hätteer natürlich als Raubritter gegolten. Abdiesem Punkt kam Friedman ins Spiel:Sobald nämlich ein brillanter Mathema-tiker und angesehener Akademiker die-

selben Vorschläge unterbreitet, bekom-men sie eine andere Dimension. Der im-mense Vorteil, unternehmerische Aspek-te durch akademische Institutionen zufiltern, verschaffte der Chicagoer Schu-le Zuwendungen.

Ultrakonservative gegen RosaroteDer „rosarote“ Developmentalismus ge-fährde die Konzerne und sei der ersteSchritt zum totalen Kommunismus,warnten Konzerne. Mehrere dieser Kon-zerne wurden rechtlich von der KanzleiSullivan&Cromwell vertreten, zu der

zufälligerweise auch die Gebrüder AllenDulles (CIA) und J.F.Dulles (Aussen-minister) gute Beziehungen unterhiel-

ten - sie war nämlich ihr ehemaliger Ar-beitgeber. Es dauerte nicht lange, bisdie CIA Staatsstreiche indevelopmentalistischen Ländern durch-führte: Im Iran gegen Mossadegh, densie durch den brutalen Schah ersetzten,

in Guatemala holten sie JacoboArbenz Guzmán weg vom Fen-ster.

In Chile indoktrinierte man zahl-reiche dortige Studenten unterdem Vorwand von Austauschpro-grammen (von Ford finanziert).Man brachte den Studenten bei,Versuche zum Abbau der Armutzu verachten, und viele von ih-nen verpflückten dann in ihrenDoktorarbeiten die Narreteiendes Developmentalismus. Aber

Chile blieb links - bis in Amerika Nixonan die Macht kam. Der Rest ist bekannt:Allende wurde brutal sabotiert, die „Chi-cago Boys“ hatten ein leichtes Spiel. Sierieben sich die Hände und scharten sichum die Druckmaschinen des CIA-finan-zierten „El Mercurio“ und warteten -während draussen geschossen wurde -

auf druckfertige Exemplare des „Ziegel-steins“ - ihrer neoliberalen Bibel.

Margreth Thatcher war begeistert vonden Erfolgen in Chile. Leider konnte manim demokratischen England nichtPinochets Härte vorgehen, und somusste man kleinere Brötchenbacken: Weil die Mieter der So-zialwohnungen die konservativen

Tories nicht wählten (denn diesevertraten die Mieterinteresseneher weniger), bot Thatcher ih-nen plötzlich an, die Wohnungenfür wenig Geld zu kaufen... (Dataucht ein altes ungelöstes Fra-gezeichen von mir auf: Was sollman eigentlich abstimmen? Daswas für einen selbst gut ist, oderdas, was man als gut fürs Landerachtet?)

In Indonesien ging man gegenSukarno vor, zugunsten von Suharto.

Auf den gezielten CIA-Abschusslistenstanden ca. 4000 - 5000 Menschen,wahllose Massaker durch aufgestachel-

te Mobs kamen hinzu. Auch hier wand-te man den Trick mit dem Austausch-studium an, nach dessen Absolvierungdie „Berkeley Mafia“ genannten Gast-studenten mit dem Ziel in ihre Heimatzurückkehrten, dort eine originalgetreueKopie der Gastgeber-Uni zu errichten.Nicht alle Professoren hatten ein gutesGefühl bei der Sache. Prof. Len Doylefand, die Uni „sollte sich nicht an etwas

beteiligen, das im Grunde zu einemAufstand gegen die Regierung wurde“.Man ersetzte ihn.

Thunder in ParadiseIronischerweise wurde ein ehemaligerSchüler Friedmans zu einem seiner lau-testen Kritiker. Der Abtrünnige besuch-te Allendes Chile, das ihm als Alb-traumland des Developmentalismus be-schrieben worden war. Ihm gefiel, waser sah, also blieb er. Und konnte nachdem Putsch hautnah die selbst-regulierende Kraft des Marktes miterle-ben: 376 % Inflation, unermesslicheGrundnahrungsmittelpreise, Rekord-arbeitslosigkeit, Konkurse wegen billi-ger Importware. Eine kleine Clique von

Spekulanten sahnte ab, die sog. Pi-ranhas. Sie waren nicht selten „Chi-cago Boys“. Diese beschwichtigten:Der Fehler liege nicht an ihrem Sy-stem, sondern daran, dass es nichtstreng genug umgesetzt werde. Alsodemontierte Diktator Pinochet auf Friedmans Anraten schockartigschnell den letzten Rest Wohlfahrts-

staat. Vor dem völligen Zusammen-bruch bewahrte Chile, dass dieKupferbergbaugesellschaft nie priva-tisiert worden war.

Wer in Südamerika vor den Juntas flie-hen musste, war auch im Nachbarlandnicht sicher: Die Regierung betriebengemeinsam die „Operation Condor“,tauschten behelfs eines Computersy-stems aus Washington Informationen

über Subversive aus. Folterzentren la-

gen z.T. bewusst in dichtbesiedeltenGebieten. Verdächtige wurden amhelllichten Tag mit einem Grossaufgebot

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vom Arbeitsplatz weg entführt, in einemFall sogar vom Traualtar, wobei die Ver-schleppten noch ihre Namen riefen, auf dass ihre Familien davon erfahren. DieBeseitigung der Leichen geschah nach-lässig: Aus Helikoptern ins Meer oderauf die Felder der Bauern herab, zahn-und fingerlos (ähnlich wie heute im Irak)

Es wird spekuliert, dass nach Südame-

rika geflohene Nazis die dortigen Ge-heimdienste beratschlagt hatten. Inbestimmten Ländern standen Anders-denkende permanent unter Lebensge-fahr. Die überwiegende Mehrheit derStaatsterror-Opfer in Südamerika wa-ren friedliche Aktivisten. Auch dieser

  „Krieg gegen den Terrorismus“ richtetesich in Wirklichkeit gegen alles, was sichder neuen Ordnung widersetzte.

Widerstand zwecklos?Schriftsteller Rodolfo Walsh, der ein CIA-Telex abfangen, entschlüsseln und so-mit Kuba vor dem Schweinebucht-An-griff warnen konnte, musste im Unter-grund leben. Seine Tochter sowiedutzende von Freunden waren bereitstot. In seinem „offenen Brief einesSchriftstellers an die Militärjunta“ er-kannte er bereits, dass die Gefahr nichtnur physisch ist, sondern dem ganzenLand auch eine neue Wirtschaftsordnungaufgedrängt wird - geplantes Elend.Walsh wurde mit einem fingierten Tref-fen in einen Hinterhalt gelockt und er-schossen, entging aber wenigstens der

Folter. Sein Motto war: „Reden ist nichtdas Verbrechen, sondern Verhaftet-werden“ So eröffnete er zuerst das Feu-er.

Botschafter Orlando Letelier machte ineinem Essay Friedman mitverantwort-lich für Pinochets Verbrechen. Kaum ei-nen Monat später wurden er und eineBerufskollegin in Washington von einer

Bombe unter seinem Autositz zerrissen.Die Mörder waren im Wissen der CIAeingereist. Nach dem Attentat konnteFriedman - dank einiger engagierter Ak-

tivisten - lange keinen Vortrag mehrhalten ohne mit Letelier-Zitaten unter-brochen zu werden oder den Hinteraus-

gang nehmen zu müssen.

Für den Neoliberalismus musste eineganze Kultur zerstört werden: Bücher-verbrennungen, Aufrufe zu Denunzian-tentum und zum Entfernen kritischerGrafitti. Um das Versammlungsverbotdurchsetzen zu können und sogarTrauerversammlungen aufzulösen,besass man hunderte von Wasserwer-

fern, manche so praktisch-schmal, dass

sie die Gehsteige abfahren konnten.Selbst gegen Sozialarbeiter und Armen-priester griff man durch. Das gefiel denKonzernen (z.B. Ford, GM), die man-cherorts eigene Foltertrupps finanzier-ten. Aufmüpfige eigene Arbeiter wurden

direkt vom Fliessband weg abgeführt,und plakativ durch die ganze Fabrikgezerrt.

In Foltergefängnissen wollte man die Ak-tivisten von ihrer menschlichen Solida-rität „heilen“. Der schlimmsteHaftverstoss bestand darin, dass dieHäftlinge einander die Wunden zu ver-sorgen oder essen zu teilen versuchten.Eigennutz war Trumpf und wurde be-lohnt: Man bot ihnen ständigTeufelspakte gegen Mitgefangene an.

In El Salvador liess man verstümmelteTote zur Abschreckung am Strassenrandliegen. Auch im Irak gehörten solcheLeichen zum Strassenbild, mit Bohrlö-chern im Kopf. Zum selben Zweck zeig-te ein US-finanzierter Sender perma-nent Menschen mit zerschlagenen Ge-sichtern, sie mussten der Kamera Ver-brechen gestehen, die sie eigentlich garnicht begangen hatten. 2005 entdeckteman in einem Verliess des Innenmini-steriums 173 Gefangene. Bei einigenlöste sich die Haut ab, Zähne und Zehen-nägel fehlten.

NachkriegspläneNach Saddams Sturz hielten die Iraker

begeistert spontane Wahlen ab. Dieblauäugigeren unter den GIs, die glaub-ten, sie kämpften tatsächlich für Demo-kratie, halfen sogar noch beim Zimmernvon Wahlurnen. Paul Bremer, der Zivil-verwalter des Iraks, machte dann aberbald deutlich, dass dies nicht die Mei-nung war. Denn die Regierung solltenicht gewählt werden, sondern ernannt.

Die US-Nachkriegsplanung ging nämlichin eine andere Richtung: Der ganze Iraksollte mit Pringles und Popkultur gekauftwerden („Ein gut ausgestatteter 7Ele-ven-Markt kann 30 irakischen Läden denGaraus machen.“) Umsonst Gefolterteschickte man in die „Liebesbaracke“, wosie Junkfood bekamen und Hollywood-filme ansehen durften - auf dass sie diemonate- oder jahrelange Folter einfachvergässen.

Der irakische Industrieminister bat umGeneratoren, um die 17 einheimischenZementfabriken wieder in Gang zu brin-gen. Aber die Amis importieren ihreBaustoffe lieber - zum zehnfachen Preis.Über 700 Mitarbeiter der „Sicherheits-firma“ Blackwater sind früher chilenischeMilitärs gewesen. James Steele, Bera-ter mehrerer mittelamerikanischerTodesschwadronen, diente später dembilanzfälschenden EnergiekonzernEnron, und danach wurde er im Irakgebraucht.

Neoliberale Verbrechen vor Gericht

Lange blieb verborgen, dass der wirt-schaftliche Umbau und die als „irratio-nal“ angesehenenMenschenrechtsverstösse zusammen-hingen. Denn Menschenrechtsgruppenkonnten nichts über Ökonomie sagenund mussten unpolitisch bleiben. UndÖkonomen leugneten die Zusammen-hänge, Folter lag nicht in ihrem Fach-bereich.

Pinochet entging allen Prozessen. We-nigstens einen hohen Junta Polizeikom-missar konnte man kürzlich vor Gericht

stellen. Aber die altvertraute Strategieder Terrorjahre wirkte noch 2007 wei-ter...

Während des historischen Prozessesfehlte plötzlich ein Zeuge: Jorge JulioLópez. Und es war nicht sein erstes Mal- Er wurde als der erste Mensch in Ar-gentinien bekannt, der „doppelt ver-schwand“.

Die rechtliche Handhabe ist oft mangel-haft, und der durch die Schockstrategieermöglichte schnelle Reichtum längst

zum Crack der Finanzmärkte geworden.Statt dass man dieses Laissez-faire-Sy-stem endlich überdenkt, reagiert man

Chile 1973: Vermummte Verräter marschieren mit Erschiessungs-kommandos durch die Stadionrängeund zeigen auf Subversive unter den Zusammengetriebenen.

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mit der Logik eines Junkies: „Wo gibtsden nächsten Schuss?“

FazitDass Klein keine Linksradikale ist, son-dern eher einer SPlerin entspricht,macht ihr Werk erst recht noch glaub-würdiger und „schockierender“.Furchteinflössend: Dem Neoliberalismusgelang es sogar, wie heute klar wird,

den Kommunismus Chinas undRusslands zu unterwandern. Ich kam beider Lektüre zum Schluss, dass es un-heimlich schwer sein wird, diese ver-heerende Ideologie zurückzudrängen,denn zum heutigen Zeitpunkt wird sievon den meisten Menschen noch nichteinmal als solche erkannt.

Wer naiv glaubt, heute sei man schläuer,und die Geschichte könne sich nicht wie-derholen, irrt! Das amerikanische „Of-fice of Reconstruction and Stabilization“entwirft tagtäglich Pläne zum präventi-ven Wiederaufbau von 25 verschiede-nen widerspenstigen Ländern, die maneventuell auch noch mal schocken könn-te (Iran, Venezuala usw.)

Israels heutige Ghettos werden häufigmit dem Bantustan-System damals inSüdafrika verglichen. Aber der Vergleichhinkt, und das macht mir Sorgen: In-zwischen hat sich die Menschheit näm-lich noch weiter pervertiert: Währenddamals in den Bantustans die Afrikanerwenigstens zum arbeiten gezwungen

wurden, werden die Palästinenser amarbeiten gehindert! Millionen von Men-schen, die man als überflüssig taxiert!Das Markenzeichen des Neoliberalismusist das kategorische Ausgrenzen von 25- 60 % der Bevölkerung. So entstehtmeines Erachtens ein gigantisches Va-kuum an Lebenssinn. Das ist zwar nichtmehr körperliche, aber psychische Fol-ter. Jeder IV-Rentner oder Arbeitsloseweiss es. Man will keine Arbeiter, son-dern Konsumenten.

Naomi Klein konstatiert, dass - ob im

Irak oder in Israel - keine Besetzungohne Folter und Verbrechen existieren.Man soll darum nie nur die Folter-methoden anprangern (und sich damitzum Komplizen machen), sondern im-mer das ganze System, das alles durch-dringt. So handelte auch der TabakbauerSergio Tomasella. Er musste 1990 alsZeuge aussagen, nannte aber nicht dieSoldaten, die ihn gefoltert hatten, son-dern prangerte die Strukturen an, diegeändert werden müssten.

Klein setzt bei allen Vorbehalten auf Evo

Morales in Bolivien, Rafael Correa inEcuador, Néstor Kirchner in Argentini-en, Hugo Chávez in Venezuela und Fi-del Castro auf Kuba.

Naomi KleinDie in Toronto lebendeglobalisierungskritische kanadischeJournalistin und Aktivistin wurde am 5.Mai 1970 in Montreal, Québec geboren.

Ihre Eltern waren die als Gegner desVietnamkrieges nach Kanada gezogenen

Dokumentarfilmer Micheal und BonnieSherr Klein. Ihr Grossvater hatte denersten Streik der Disney-Animatorenmitorganisiert, ihr Bruder leitet ein Zen-trum für alternative Politik. Sie ist mitdem jüdischen Fernsehjournalisten undDokumentarfilmer Avi Lewis verheira-tet. Aufgrund von Artikeln während derersten Intifada und ihrer Teilnahme ander Aktion „Boycott, Divestment andSanctions“ gegen Isreal wurde sie trotz

  jüdischen Wurzeln in manchen Mediendes Antisemitismus bezichtigt.

In der Jugend war Klein vonDesignerlabels fasziniert, dies habe sich

  jedoch infolge Interessenverlagerungauf ein vernünftiges Mass reduziert. Siewollte Anglistik und Philosophie studie-ren. Dann bekam ihre Mutter aber ei-

nen Schlaganfall, sodass Naomi Kleinsie, unterstützt vom Vater und dem Bru-der, pflegen musste. Als sie an die Unizurückkehrte, ereignete sich der sie prä-gende Amoklauf an der PolytechnischenHochschule Montréal, bei dem MarcLépine aus Hass auf Feministinnen vier-zehn Frauen ermordete, weitere drei-zehn Menschen verletzte und sich selbstrichtete.

Nach dem Studium begann Klein für eineStudentenzeitung zu schreiben undwurde zur Chefredakteurin. Sie trat einVolontariat bei einer Tageszeitung anund ging danach als Redakteurin zu ei-ner kleinen alternativen Zeitschrift.

1996 beschloss sie, das Studium fort-zusetzen, stellte aber fest, dass sich vie-les verändert hatte und die Studentennicht mehr an Identitäts- sondern anWirtschaftsfragen interessiert waren.Klein verliess die Uni und schrieb ihrerstes Buch „No Logo“ (2000), das vonder globalisierten Markenkultur handelt.