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9 UHR PROLOG: DER LADEN Neukölln schläft noch. Nur vereinzelt sind Leute unterwegs. Bringen Flaschen weg. Kaufen neue. Vielleicht liegt es an den Sommerferien. Oder am Sommer selbst: heiß und feucht. Im Altbau lässt es sich eher aushalten als auf der Karl-Marx- Straße zwischen Neukölln-Arcaden und Her- mannplatz. Dabei hat Fatih Ücel, 25, seit rund zwei Wochen Besitzer von „Internet und Spät- kauf“, extra eine mobile Klimaanlage aufgebaut. Doch der Schlauch ist zu kurz, nur die Kunden direkt vor der Theke bekommen etwas kühle Luft. Ücel sitzt hinter der Theke, erträgt die Hitze und schaut über den PC seine Lieblingsserie: Günesi Beklerken. Es geht um Macht, Verrat und Krimina- lität. Im Hinterraum stehen neun Desktop-PCs mit Internetzugang auf zehn Quadratmetern. Vorne Spätkauf, hinten Internetbude – das ist heute in Berlin eine gängige Kombination. Ende der Neunziger eröffneten in jeder deut- schen Kleinstadt Cafés, in denen das Surfen im Mittelpunkt stand. Als das erste Internetcafé die- ser Art gilt „Falken’s Maze“, das 1994 in Fürth eröffnet wurde. Fünf Jahre später starrte ein schlanker Boris Becker in der Werbung auf einen Röhrenbildschirm und fragte: „Bin ich da schon drin, oder was?“ Ein Internetanschluss war teuer, Flatrates gab es noch nicht, die Verbindungen wur- den im Minutentakt abgerechnet. Das konnten oder wollten sich zuerst vor allem Besserverdie- ner leisten. Damals kam Internetcafés eine gesell- schaftliche Funktion zu: Bürger konnten für klei- nes Geld an Informationen teilhaben. Die ersten Cafés waren Attraktionen. 1998 eröffnete die Firma Cybermind das damals größte Europas in Charlottenburg. Die Zeitschrift „Computerwo- che“ schrieb dazu: „Surfer können entweder aus einer Etage, die dem Salon der Titanic nachemp- funden wurde, oder einer Etage, die nach Motiven des Fritz-Lang-Films ,Metropolis‘ gestaltet ist, in die Weiten des Cyberspace aufbrechen.“ Heute sitzt man im Hinterzimmer eines Neuköllner Spät- kaufs mit kahlen Wänden und zu wenig Platz. Laut einer Studie von ARD und ZDF von 2013 sind inzwischen 77,2 Prozent der Erwachsenen ab 14 Jahren in Deutschland online. Die Verbrei- tung mobiler Endgeräte mit Internet ist in den letz- ten Jahren rasant angestiegen. Gut 40 Prozent sind in Deutschland auch unterwegs online. Viele der damals eröffneten Läden haben längst wieder dichtgemacht. Wie viele es waren, wo sie waren, das hat keiner festgehalten, weder die sta- tistischen Ämter von Land und Bund noch der Ho- tel- und Gaststätten- oder der Einzelhandelsver- band. Das liegt auch daran, dass die kommerziel- len Internetorte mit ihren stationären Rechnern Hybride sind, nie wirklich Café, aber bis heute, im Hinterzimmer der Spätis, auch kein eigenes „Ge- schäft“. Über ihr Werden und Vergehen führt nie- mand Buch, und auch das Netz, das doch angeb- lich nichts vergisst, gibt über diesen Punkt seiner Geschichte nur spärlich Auskunft. Allein ein Inter- netcafé in Kassel war zuletzt häufig in den Schlag- zeilen. Der Betreiber wurde im Frühjahr 2006 in seinem Laden im Stadtteil Nord-Holland ermor- det. So wurde ein Internetcafé zu einem der Syno- nyme für den Terror des NSU. Ansonsten ist es hierzulande ruhig geworden um die Cybercafés, wie sie zu Anfang hießen. Und doch gibt es sie noch. Wer aber nutzt hierzulande noch Internetcafés? In einer Zeit, in der so viele mit ihrem Smartphone 24 Stunden online sind? Fatih Ücel weiß es auch nicht, hat auch deshalb der Recherche in seinem neuen Laden zuge- stimmt, weil das ja auch für ihn interessant ist. „Die meisten“, sagt er „kommen nur kurz rein, um etwas auszudrucken.“ 10 UHR SZENE 1: DER JUNGE Fatih muss bei seiner Serie auf Pause drücken, so leise redet der türkische Junge, der den Laden be- tritt. Youness, 14, will ins Internet. Wer ins Inter- net möchte, sagt vorne an der Theke Bescheid. Fatih Ücel schaltet dann von seinem PC aus einen der neun Rechner im Hinterraum frei. Von da an läuft die Uhr runter. Am Ende bezahlt man vorne. Ücel klickt zwei Mal: „Platz sieben, okay?“ Ja, sagt Youness, geht vorbei an den drei großen Kühl- schränken, einem guten Dutzend Bierkästen, vor- bei an einem kleinen Waschbecken bis in den hin- teren Raum. An jedem Platz ein 15-Zoll-Monitor aus der Übergangszeit zwischen Röhren- und Flachbildschirm, eine Tastatur, Maus und Web- cam. Youness sucht nach Videos, gibt „Allah“ ein und drückt auf Enter. Der Fastenmonat Ramadan geht bald zu Ende. Youness klickt auf das Video: „Vertraue auf Allah – eine wahre Geschichte“. Er setzt den Kopfhörer auf. Das blaue T-Shirt spannt über seinem Bauch, das rechte Bein zuckt in der schwarzen Jogginghose. Das Video beginnt mit ei- nem einzelnen Bild, eine Person auf einem Hügel. Dazu wechselnde Texttafeln. Eine Glaubensge- schichte in acht Minuten Powerpoint. Youness liest jedes Wort mit, kaum hörbar, noch leiser als gerade an der Theke: „Das Einzige, was ich brau- che“, flüstert er, „ist das Vertrauen zu ALLAH.“ Ein Geräusch, wie man es aus dem christlichen Gottesdienst kennt, wenn Konfirmanden mehr murmelnd denn sprechend das Vaterunser vor sich hertragen. Youness hat gerade Sommerferien. Bei ihm zu Hause gibt es kein Internet, keinen Computer. Ein Handy besitzt er nicht, geschweige denn ein Smartphone. Die Zehn- und Zwanzig-Cent-Mün- zen hat er neben der Tastatur aufgestapelt. Zwei Stunden wird er davon surfen können, wenn er sich Wasser und Süßes verkneift. Am Ende des Videos neue Vorschläge. Wenn Sie das letzte Video mochten, wie wäre es damit? Youness klickt auf „Mädchen in Libyen rezitiert Quran, während ihr Kugeln entfernt werden“. Das Video zeigt ebendas: Ein Mädchen rezitiert den Koran, während aus ihrem Körper Pistolenkugeln entfernt werden. Youness stöhnt auf, vergräbt sein Gesicht in den kleinen Händen, hat mit so viel Elend auch nicht gerechnet. Neben ihm kommen und gehen die Ausdrucker. Ein Attest an Platz fünf. Zehn Flyer an Platz drei. Youness ist jetzt auf einer Seite für Browser-Ga- mes. Er meldet sich bei Counter-Strike an. Ein Egoshooter. Spiele wie dieses werden eigentlich von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) auf die Tauglichkeit für Jugendliche getes- tet. Nur handelt es sich bei diesem Spiel um eines, das man direkt im Browser spielen kann, also we- der vollständig herunterladen noch auf einem Da- tenträger käuflich erwerben muss. So entzieht es sich der USK – und da hier keine Jugendschutzge- setzgebung greift, sind auch die Cafébetreiber nicht genötigt, ihre Kunden zu kontrollieren. Und so sitzt Youness jetzt vor dem Bildschirm und steu- ert mit den Pfeiltasten des Keyboards seine Figur, von der nicht mehr als eine Pistole zu sehen ist, durch eine Art Industrieanlage. Mit der linken Maustaste feuert er immer wieder die Waffe ab. Zu Hause dürfte er so etwas nicht spielen, selbst wenn es einen Computer gäbe. Hier, an Platz sie- ben, wird er nicht gestört, Fatih Ücel verkauft vorne im Laden Bier und Zigaretten. Immer wie- der springt Youness von seinem Platz auf und geht ein paar Meter, immer dann, wenn er im Spiel ge- rade getötet wurde. Nach zwei Stunden muss er aufhören, das Taschengeld ist aufgebraucht. 12 UHR ZWISCHENSPIEL: DAS BUSINESS Der Getränkelieferant bringt Kästen mit Bier und Softdrinks. Fatih Ücel stapelt sie neben der Theke zu Türmen auf, obwohl er einen Keller unter dem Laden hat. „Beim Vorbesitzer wurde ein paar Mal eingebrochen.“ Es ist einer dieser Keller, die von außen zu erreichen sind. Einbrecher könnten so in den Laden gelangen. Nicht aber, wenn acht Bier- kisten auf der Luke stehen. Ücel hat noch wenig Erfahrung. Er hat gesehen, dass der Laden läuft, gerade im vorderen Teil. Die Umsätze durch Aus- drucke und Internetnutzung schwanken, belaufen sich durchschnittlich aber auf etwa 60 Euro am Tag. Nächstes Jahr will Ücel die Hardware erneu- ern. Größere Monitore, schnellere Rechner. Was bleibt, ist die Frage nach der Haftung. Was ist, wenn jemand an einem der PCs illegale Dateien, etwa Kinderpornografie, herunterlädt? Ücel weiß nicht genau, wie es mit der Haftung aussieht, weiß nichts vom Urteil des Landgerichts Hamburg vom 25. November 2010, dem zufolge der Betreiber eines Internetcafés durchaus haften kann, wenn er keine Maßnahmen ergreift, um illegale Down- loads seiner Kunden zu verhindern. Das noch von Ücels Vorgänger installierte System beinhaltet je- doch Schutzprogramme, man kann zum Beispiel keine Anwendungen zum sogenannten Filesha- ring, dem Dateienaustausch innerhalb eines Netz- werks, auf dem Rechner installieren. Fatih Ücel schaut außerdem immer wieder mal in das Hinter- zimmer, auch weil ab und an etwas geklaut wird. Erst vor ein paar Tagen wieder fehlte eine Maus an einem der Rechner. Ücels Vorgänger genießt jetzt seine Rente in der türkischen Heimat. Die PCs hinten waren im Preis mit inbegriffen. Gut 40 000 Euro hat Ücel für alles zusammen bezahlt. 40 000 Euro für den gesamten Bestand, die monatliche Miete kommt obendrauf. Ücel hat nur einen erweiterten Hauptschulab- schluss. Weil er zu selten in der Schule war, sagt er. Gearbeitet hat er immer. Erst in den Gemüselä- den der Stadt, später als Fahrer für eine türkische Bäckerei. Er hat gut verdient. Vor acht Monaten konnte er einen Laden für seine Mutter eröffnen. King & Queen, zwei Häuser weiter Richtung Her- mannplatz, das Schild „Neueröffnung“ klebt noch am Türrahmen. Ein Brautmodengeschäft, Mutter Ücel ist für ihre Maßanfertigungen bekannt. 13 UHR SZENE 2: DER BACKPACKER Sie wollten verreisen, ganz spontan. Timo Lin- ting, 27, und seine Freundin sind von Utrecht aus losgefahren. Das Ziel: Berlin. Die vergangene Nacht haben sie in einem Hostel am Rathaus Neu- kölln verbracht, Zehn-Bett-Zimmer, 17 Euro die Nacht. „Ein fürchterlicher Ort. Laut, dreckig.“ Und: nur ein internetfähiger Rechner. Ein Smartphone besitzt Linting nicht, seinen Laptop hat er zu Hause gelassen. Das passe nicht zum Rucksackreisen. Jetzt sitzt er da mit einer aufge- schlagenen Berlin-Karte, die zu oft falsch zusam- mengelegt wurde, starrt auf die Airbnb-Seite, die private Unterkünfte an Leute wie Linting vermit- telt. Ein letztes Mal, hier in diesem Internetcafé, über die Tastatur gebeugt, ist er, seinen hiesigen Lebensbedingungen nach, Tourist. Drei Klicks und fünf Stationen mit der U-Bahn, und ihn erwar- ten hohe Decken eines lichtdurchfluteten Altbaus. Die Transformation vom Hostel- zum Altbaube- wohner dauert keine zehn Minuten und kostet nur 30 Cent. So wie jede angefangene halbe Stunde bei „Spätkauf und Internet“. Linting musste dafür an diesem Tag nur über die Straße gehen, der Späti liegt rund 150 Meter vom Hostel entfernt. „In den Niederlanden“, sagt er, „sind Internetca- fés fast ausgestorben.“ 15 UHR SZENE 3: DER FLÜCHTLING Abdul al Aziz Fyad weiß nicht, wohin mit seinen knapp zwei Metern. Fyad, 28, setzt sich so vorsich- tig auf den weißen Plastik-Klappstuhl an Rechner Nummer fünf, als hätte er Angst, ihn zu zerbre- chen. Er loggt sich bei Facebook ein, den Oberkör- per im gelben Hemd beugt er weit über die Tasta- tur, seine linke Hand liegt auf seinem Knie, mit der rechten tippt er jeden Buchstaben einzeln ein. Fyad stammt aus Syrien, in Berlin ist er nur zu Besuch, einen Monat lang. Seine Heimat hat er vor einiger Zeit verlassen, musste sie verlassen. „Der Krieg“, sagt er und will noch etwas hinzufü- gen. Doch sein Englisch ist schlecht. Und was gibt es da noch groß zu sagen? Fyad wiederholt die beiden Worte, auf dem Bildschirm blinkt ein Chatfenster. Nach und nach öffnen sich weitere, bis er gleichzeitig mit vier Freunden aus der Heimat chattet. In Syrien hat er als Fotograf gearbeitet, für Zeitungen und Magazine. Jetzt lebt er in Sofia, Bulgarien. Ob er jemals nach Syrien zurückkehren wird, weiß er nicht. Wieder kom- men neue Nachrichten. Seine Freunde aus der Hei- mat schreiben auf Arabisch, Fyad antwortet auf Englisch. In eines der offenen Fenster schreibt er „I miss u“, muss dabei jeden Buchstaben einzeln suchen und tippt ihn vorsichtig mit dem rechten Zeigefinger an. Er ist die Tastatur mit den lateini- schen Buchstaben nicht gewohnt. Wieder blinkt eine Nachricht auf, jetzt auf Englisch. „I miss u too“. Gut zwei Stunden wird Fyad nicht von sei- nem Platz aufstehen. Er hört keine Musik, schaut kein Video, trinkt nichts, isst nichts. Er sitzt in dieser kleinen Parzelle und ringt per Ein-Fin- ger-Suchsystem nach Worten. Den Oberkörper beugt Fyad immer weiter runter. Als wolle er in den Bildschirm eintauchen, um der Heimat etwas näher zu kommen. 17 UHR SZENE 4: DIE ZEITTOTSCHLÄGERIN Für einen Moment ist sie überfordert. Deirdre Tunney steht vorne am Tresen, schaut erst auf die Telefone, dann auf das Getränke-Tabak-Wimmel- bild, das sich hinter Fatih Ücel auftut. „Internet, bitte“, sagt sie. Ücel erkennt den englischen Ak- zent, tippt etwas in seinen Computer, nickt in Rich- tung des kleinen Durchgangs und sagt: „Number two.“ Kurz darauf sitzt Tunney an einem der Rech- ner, der Internet-Explorer öffnet sich vor ihr. Sie loggt sich bei Facebook ein, checkt noch mal die Seite vom Klunkerkranich, der Open-Air-Bar auf dem obersten Parkdeck der Neukölln Arcaden. Deirdre Tunney will dort später zum Konzert. This is the kid und Rozie Plain spielen, Frauen mit Elfenstimmen, dazu Schnurrbärte an den Gitar- ren. Tunney, 35, ist Musikerin und vor einem Jahr von Irland nach Berlin gezogen. Dass diese Stadt nicht auf eine weitere Musikerin – und sei sie noch so talentiert – gewartet hat, weiß sie. Jetzt hat Tun- ney nicht einen Job, sie hat drei. Neben der Musik – sie spielt in Kneipen, schön gezupfte Nylongitar- renmusik mit klarer Stimme – unterrichtet sie Kin- der. Englisch und Musik. Dazu ist sie Yoga-Lehre- rin. In einer Stunde trifft sie sich mit ihren Freun- den zum Konzert, und weil sie direkt von der Ar- beit gekommen ist und es sich nicht lohnt, noch einmal nach Hause zu fahren, sitzt sie jetzt hier, keine 100 Meter vom Klunkerkranich entfernt. Das Fatale am Internet – das wissen alle, die täglich am Computer sitzen – ist dieses Zeitloch, in das man fällt, sobald man den Browser öffnet. Und das, obwohl man nur fünf Minuten die Mails checken wollte. Für Deirdre Tunney ist das jetzt genau das Richtige. Zeit totschlagen. 60 Minuten für 60 Cent, günstiger geht’s kaum. Sie schaut sich noch mal die Bands an, die sie heute Abend sehen wird, schreibt eine Mail. Tunney mag Internetcafés. „Es erinnert mich an eine Zeit, die ich selbst nicht mehr erlebt habe“, sagt sie. An eine Zeit, in der viele Iren noch kein Telefon hatten, Kommunikation noch nicht im- mer und überall im Vorbeigehen möglich war. Kurz: Es erinnert sie an eine Zeit, in der Leute extra zur Telefonzelle gelaufen sind, die Münzen in den Taschen klimpernd, immer in der Hoff- nung, dass der am anderen Ende auch da sei. So wie Tunney jetzt dasitzt, die roten Locken zu ei- nem Wuschel auf ihrem Kopf drapiert, schwarze Spitze lugt aus ihrem türkisfarbenen Oberteil her- vor, schafft sie es, diesem kargen Raum so etwas wie Romantik zu verleihen. Sie starrt auf den Bild- schirm vor sich, Google zeigt eine neue Mail an. Sie klickt auf „Antworten“, zögert dann einen Mo- ment und tippt mit ihren gepflegten Gitarristin- nenfingern auf die Tastatur, die dringend eine Rei- nigung nötig hätte. 18:00 UHR SZENE 5: DIE BEWERBERIN Auf der Karl-Marx-Straße hasten, schlendern und wanken Nachhausekommer, Spätaufsteher und Voralkoholisierte vorbei. Zwei Studenten aus dem Haus nebenan kaufen im Spätkauf-Internetcafé Club Mate und Tabak ohne Zusatzstoffe. Kurz da- rauf hievt eine junge Mutter einen Kinderwagen in den Laden, bleibt an der Bussi-Bär-Wassereis-Kar- ton-Pappe hängen, die als Fußmatte dient. Einmal Internet, sagt sie. Als wäre es etwas, das man wie eine Flasche Bier mitnehmen könnte. Ücel schal- tet den Rechner an Platz Nummer eins ein. Es er- tönt ein Sound, der dem aus der Telekom-Wer- bung nicht unähnlich ist. Die Mutter schiebt den Kinderwagen an den Bierkästen vorbei und setzt sich. Sie will sich be- werben. Auf eine Vollzeitstelle als Verkäuferin. Bei Forever 18. Das Kaufhaus in den Neukölln Ar- caden wirbt damit, „tolle junge Mode für modebe- wusste Leute“ zu haben. Das Sommerkleid Ango- lina bekommt man für zehn Euro. Die Tochter, zweieinhalb, rebelliert im Kinder- wagen und schmeißt ihren Teddy auf den Boden. Die Mutter ungerührt, das dezent geschminkte Ge- sicht noch so jugendlich, dass sie beim Weinkauf an der Supermarktkasse sicher nach ihrem Aus- weis gefragt würde. Auf dem Schild über ihr hat einer mit rotem Filzstift „Rauhen verboten“ ge- schrieben, jemand anderes hat mit schwarzem Stift ein C ergänzt. Es ist ein kurzes Anschreiben, knapp zehn Zei- len lang. Sie sei sehr belastbar, steht da, spreche Deutsch und Serbokroatisch fließend. Hinter ihr windet sich das Kind im Wagen. An Platz fünf, drei Rechner von ihr entfernt, schaut jemand Fuß- ballvideos bei Youtube. Best of Messi 2014. Er trägt Kopfhörer, doch die Musik kommt aus den Boxen seines PCs. Er merkt es nicht. Während sich Reggae-Klänge mit dem Surren der Rechner und den Unmutsbekundungen ihres Kindes vermi- schen, versucht die Mutter, ihre Bewerbung auszu- drucken – klappt aber nicht. Fatih Ücel kommt dazu, klickt zwei Mal, und der Drucker am Tresen rumpelt endlich los. Ücel: „Du solltest die Bewerbung unterschreiben.“ Mutter: „Nein, muss ich nicht. Meinte der Typ vom Jobcenter.“ Ücel: „Ich musste meine Bewerbungen immer un- terschreiben.“ Mutter: „Nein, muss man nicht.“ Ücel: „Überleg es dir noch mal.“ Beim Hinausgehen bezahlt sie 40 Cent, zehn für den Ausdruck, 30 für „einmal Internet“. Ihre Be- werbung hat sie nicht unterschrieben. Und der Kinderwagen bleibt schon wieder an der Bussi-Wassereis-Pappe hängen. Es regnet. Fatih Ücel schaut raus auf die Straße. „Die Bewerbung“, sagt er, „kann sie vergessen.“ 18:30 UHR ZWISCHENSPIEL: DER BRUDER Wachablösung. Selcuk Ücel, 24, übernimmt jetzt das Geschäft. Gemeinsam mit seinem älteren Bru- der hat er in den Laden investiert. Gerade hat er Semesterferien, sein Studium steht kurz vor dem Ende. Wirtschaft und Politik. Danach will er weg aus Berlin, obwohl er hier geboren ist, in Tempel- hof aufgewachsen. Trotzdem will er raus, viel- leicht nach Brandenburg. Es ist ihm zu laut in der Stadt, zu voll, zu dreckig. Jetzt aber steht er neben seinem Bruder Fatih vor dem Laden und raucht. Ein älterer Mann mit Plastiktüte geht an ihnen vor- bei in den Laden, greift rechts zu einem der zwei Fernsprecher, mit denen man für 35 Cent in der ersten Minute und jeweils 14 Cent pro Minute ab der zweiten in die Türkei telefonieren kann. „Wenn der nicht bezahlen kann“, sagt Fatih zu Sel- cuk, „ist okay.“ Wer bekannt ist, darf anschreiben lassen. „Bei uns in der Türkei“, sagt Selcuk, „ist das normal. Da wird einmal die Woche bezahlt.“ 19:30 UHR SZENE 6: DER ABEND Aus dem Grau der Straße betritt Armin, 46, den Laden und bringt etwas Farbe hinein. Um genau zu sein: zehn Farben. Jeder seiner Finger ist mit einer anderen lackiert. Die Jeans zu weit für den dünnen Körper, die Lederjacke passt perfekt. Ücel begrüßt ihn, Stammkunde, man kennt sich. Noch bevor Armin bestellt, greift Ücel hinter sich nach dem blauen Chee-Tah-Tabak. Sonst noch was? „Ein Pilsator und das hier kopieren, bitte.“ Es ist eine DIN-A4-Seite, asiatische Musiker an allerhand In- strumenten. „Ziemlich abgefahren“, sagt er, „so Reißverschluss-Musik. Kann man nicht beschrei- ben, muss man hören.“ Ab und zu geht Armin – Vorname muss reichen – auch nach hinten an ei- nen der Rechner. Drei Mal im Jahr oder so, sagt er. Das reiche, wofür auch immer. „Internetcafés sind doch super“, sagt er, „muss man den ganzen Scheiß nicht zu Hause haben. Man kommt rein, macht seinen Mist und raus.“ Während er das sagt, weiß man nicht so recht, in welches Auge man blicken soll. Eines ist ein Glasauge, so viel ist sicher. Welches, bleibt ein Rätsel. 22 UHR SZENE 7: DIE STILLE Das erste Mal an diesem Tag ist keiner der Rech- ner im Hinterzimmer belegt. Aus dem Hinterhof durchweht ein leichter Wind die orangefarbenen Lamellen vor dem Fenster. An Platz sieben, wo Youness vor einigen Stunden erst Allah-Videos schaute und später Counter-Strike spielte, hat je- mand eine Dose Fanta stehen lassen. Gegenüber hat Deirdre Tunney Zeit totgeschlagen. Nichts zeugt davon, dass sie heute hier war. Rechts neben ihr wurde eine Bewerbung geschrieben, die wohl eher nicht zur Anstellung führen wird. Auf Platz fünf hinten rechts in der Ecke hängt ein weiteres falsch geschriebenes Hinweisschild: „Rahun ver- boten“. Zwei Stunden lang saß Abdul al Aziz Fyad dort und schrieb gegen das Heimweh an. Über die Jahre haben sich nicht nur die Internet- cafés verändert, auch die Nutzung hat sich gewan- delt. Fatih und Selcuk Ücel sind erst seit ein paar Wochen imGeschäft, sie haben keinen Vergleich. Veteranen der Szene sagen, dass vor allem der Tou- ristenfaktor zugenommen hat. Die Zocker, die frü- her ihre LAN-Partys im Internetcafé gefeiert ha- ben, sind gänzlich verschwunden. An schickeren Standorten ersetzt das Internetcafé mitunter das Büro. Studenten und Kreative fliehen vor der Pro- krastination des heimischen Schreibtisches in die Internetcafés der Stadt. Aber es ist auch der Ort für diejenigen, die ano- nym im Internet agieren wollen. So wie Richard, der es, als er am frühen Nachmittag an einem der Rechner saß, schon zu bereuen schien, überhaupt seinen Vornamen genannt zu haben. Mit seinem Cockney-Englisch, dem spärlichen Haupthaar und den schmalen Augen erinnerte er an den Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour. Ständig drehte er sich um und vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete. Die einzelnen Plätze sind nur durch eine schmale Trennwand abgegrenzt. Ohne große An- strengung kann man von überall die anderen Moni- tore einsehen. Pornos etwa wurden heute nicht geschaut. Das traute sich niemand. „Ich werde keine weiteren Fragen beantworten“, sagte Ri- chard, nachdem er nur die nach seinem Namen beantwortet hatte. Wer weiß, vielleicht ist er ein Informant, ein Whistleblower. In Zeiten flächen- deckender Überwachung ist der Gedanke gar nicht so abwegig, wie es im ersten Moment scheint. Erst im vergangenen Jahr erklärte der „Spiegel“ den Lesern, wie man mit sensiblen Infor- mationen an ihn herantreten könne: „Schreiben Sie uns von einem Internetcafé aus über eine ei- gens eingerichtete E-Mail-Adresse, die keine Rück- schlüsse auf Ihren Namen zulässt.“ 23 UHR SZENE 8: DER DICHTER Im hinteren Teil des Spätis ist es immer noch ganz ruhig, nur das konstante Grundrauschen der Rech- ner ist zu hören. Vorne werden Zigaretten und Wegbier geholt. Das alte Punkerpils Sternburg wird dabei am häufigsten gekauft. Dabei ist es mit 80 Cent nicht mal das billigste im Angebot. Pilsa- tor kostet nur 70 Cent für den halben Liter. Tufan Sazlam mag die Ruhe. Leicht gebückt tritt er durch die Tür, streift seine Schuhe an der Bussi-Bär-Pappe ab und reicht Selcuk Ücel die Hand. Sazlam und die Ücel-Brüder sind zusam- men aufgewachsen, haben zusammen das erste Bier getrunken, die ersten Zigaretten geraucht. Sazlam wohnt heute noch in Tempelhof, bei sei- nen Eltern. Gemeinsam mit den beiden Schwes- tern in einer Dreizimmerwohnung. Einen PC gibt es, Internet auch. Nur steht der Rechner in dem Zimmer, in dem der Vater schläft, wenn er von der Nachtschicht kommt. „Hier habe ich meine Ruhe, meine Freunde, und ich bekomme mit, wenn was passiert“, sagt er. In der Nacht des Weltmeistertriumphs der deut- schen Fußball-Nationalmannschaft hat er seinen Blog ins Leben gerufen, an dem gleichen Platz, an dem er auch jetzt sitzt. In derselben Nacht, in der die Ücel-Brüder das erste Mal die Türen zu ihrem neuen Laden aufgemacht haben. Sein erster Ein- trag: Impressionen von der Fanmeile nach dem Sieg. „Die Deutschland Fahnen (einer schwänkte nackt die Fahne) haben die ganze Fanmeile ge- schmückt.“ Am Tag nach dem WM-Triumphwar er Zeuge eines Motoradunfalls. Mit dem Handy machte er ein Foto und schrieb das Beobachtete als eine Art Erlebnisbericht auf. Ans Ende setzte er einen Aufruf: „Liebe Motorradfahrer, BITTE fahrt vorsichtig, seid nicht überheblich, es kann sehr schlimm (tödlich) enden.“ Den Blog hat er nach sich benannt. Untertitel: Fotos mit Story. Es gibt einige Bilder seiner Hei- mat, Samsun, am Schwarzen Meer gelegen. Sein Großvater inmitten einer Schafsherde, sein klei- ner Cousin, der Fluss, der an der Weide entlang- fließt. Unter den Fotos hat er seine Gedanken in einem Gedicht festgehalten: Die Zeit steht still, der Wind weht schrill. Auf den Berg will ich gehen, und die Natur im Einklang erleben. Dieser Ort gibt mir inneren Frieden, hier kann ich mich vom Stress verabschieden. Ich genieß die Natur, denn ich lieb die Kultur. Sieben Kommentare stehen darunter. „Ne güzel!“, schreibt ein User. Wie schön! Sazlam antwortet: Lok Teeekkür“, vielen Dank. 2 UHR EPILOG: DIE IDEE Um zwei Uhr nachts ist Neukölln eingeschlafen. Sazlam ist immer noch da, trinkt einen Schluck Red Bull und erzählt von dem Lyrik-Kurs, den er besucht hat, weil er wissen wollte, wie das geht, seine Gefühle in Worte zu fassen. Er bilde sich gern weiter, sagt er. Auch weil er weiß, dass sein erweiterter Hauptschulabschluss nicht viel wert ist. Eigentlich wäre für ihn in der Schule mehr drin gewesen, mindestens der Mittlere Schulab- schluss. „Aber ich hatte zu viele Fehltage“, sagt er, die gleiche Geschichte wie bei Fatih Ücel. Die Fer- dinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg war nicht der richtige Ort für einen Typen wie Sazlam. Es gab viel Stress mit den Mitschülern, Schlägereien. Er hat sich gewehrt, hat zurückgeschlagen. Bis er irgendwann keine Lust mehr hatte. Jetzt macht Sazlam seinen MSA an der Abend- schule nach. Danach will er eine Ausbildung ma- chen, zum IT-Systemelektroniker. Und an seinem Blog weiterarbeiten. Nachts, hinten im Laden. Für den nächsten Artikel hat er schon eine Idee. Er will die Geschichte von Fatih Ücel aufschreiben. Der Titel steht schon fest: „Vom Brotauslieferer zum Jungunternehmer“. „Internetcafés erinnern mich an eine Zeit, die ich nicht mehr erlebt habe.“ „Ich vermisse meine Freunde aus der Heimat – hier lese ich ihre Nachrichten.“ T @ nte-Emma-LAN * Deirdre Tunney, Musikerin aus Irland Abdul al Aziz Fyad, Fotograf aus Syrien * LAN = Local Area Network = Lokales Computernetzwerk. Im Gegensatz zum Wireless LAN sind die Rechner hier mit Kabeln verbunden. Foto: Dominik Drutschmann Foto: Dominik Drutschmann Vorne die Snacks. Hinten geht’s ins Internet. Ich hab’s gefunden. Timo Linting aus Utrecht sucht eine Unterkunft in Berlin. Internet und Spätkauf. Diese Kombination ist in Berlin heute deutlich gängiger als das klassische Internetcafé. Hier steht Fatih Ücel vor dem Laden, den er seit wenigen Wochen gemeinsam mit seinem Bruder Selcuk in der Neuköllner Karl-Marx-Straße betreibt. 22 DER TAGESSPIEGEL NR. 22 122 / SONNABEND, 2. AUGUST 2014 23 MEHR BERLIN Text: Dominik Drutschmann Fotos: David Heerde Ruf doch mal an! An den Fernsprechern können Kunden günstig ins Ausland telefonieren. Was guckst du? Während seiner Schicht schaut Selcuk Ücel an der Kasse türkische Serien. Bin ich schon drin? Bei den Ücels im Laden gibt es zehn Online-Arbeitsplätze, eine Stunde kostet 60 Cent. Vor 20 Jahren eröffneten in Deutschland die ersten Internetcafés. Heute, im Zeitalter des Smartphones, braucht sie niemand mehr. Wirklich? Niemand? Eine Bestandsaufnahme in acht Neuköllner Szenen Schreib das auf. Der Blogger Tufan Sazlam nutzt das Internetcafé als Dichterklause.

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9 UHRPROLOG: DER LADENNeukölln schläft noch. Nur vereinzelt sind Leuteunterwegs. Bringen Flaschen weg. Kaufen neue.Vielleicht liegt es an den Sommerferien. Oder amSommer selbst: heiß und feucht. Im Altbau lässtes sich eher aushalten als auf der Karl-Marx-Straße zwischen Neukölln-Arcaden und Her-mannplatz. Dabei hat Fatih Ücel, 25, seit rundzwei Wochen Besitzer von „Internet und Spät-kauf“, extra eine mobile Klimaanlage aufgebaut.Doch der Schlauch ist zu kurz, nur die Kundendirekt vor der Theke bekommen etwas kühle Luft.Ücel sitzt hinter der Theke, erträgt die Hitze undschaut über den PC seine Lieblingsserie: GünesiBeklerken. Es geht um Macht, Verrat und Krimina-lität. Im Hinterraum stehen neun Desktop-PCsmit Internetzugang auf zehn Quadratmetern.Vorne Spätkauf, hinten Internetbude – das istheute in Berlin eine gängige Kombination.

Ende der Neunziger eröffneten in jeder deut-schen Kleinstadt Cafés, in denen das Surfen imMittelpunkt stand. Als das erste Internetcafé die-ser Art gilt „Falken’s Maze“, das 1994 in Fürtheröffnet wurde. Fünf Jahre später starrte einschlanker Boris Becker in der Werbung auf einenRöhrenbildschirm und fragte: „Bin ich da schondrin, oder was?“ Ein Internetanschluss war teuer,Flatrates gab es noch nicht, die Verbindungen wur-den im Minutentakt abgerechnet. Das konntenoder wollten sich zuerst vor allem Besserverdie-ner leisten. Damals kam Internetcafés eine gesell-schaftliche Funktion zu: Bürger konnten für klei-nes Geld an Informationen teilhaben. Die erstenCafés waren Attraktionen. 1998 eröffnete dieFirma Cybermind das damals größte Europas inCharlottenburg. Die Zeitschrift „Computerwo-che“ schrieb dazu: „Surfer können entweder auseiner Etage, die dem Salon der Titanic nachemp-funden wurde, oder einer Etage, die nach Motivendes Fritz-Lang-Films ,Metropolis‘ gestaltet ist, indie Weiten des Cyberspace aufbrechen.“ Heutesitzt man im Hinterzimmer eines Neuköllner Spät-kaufs mit kahlen Wänden und zu wenig Platz.

Laut einer Studie von ARD und ZDF von 2013sind inzwischen 77,2 Prozent der Erwachsenenab 14 Jahren in Deutschland online. Die Verbrei-tung mobiler Endgeräte mit Internet ist in den letz-ten Jahren rasant angestiegen. Gut 40 Prozentsind in Deutschland auch unterwegs online.

Viele der damals eröffneten Läden haben längstwieder dichtgemacht. Wie viele es waren, wo siewaren, das hat keiner festgehalten, weder die sta-tistischen Ämter von Land und Bund noch der Ho-tel- und Gaststätten- oder der Einzelhandelsver-band. Das liegt auch daran, dass die kommerziel-len Internetorte mit ihren stationären RechnernHybride sind, nie wirklich Café, aber bis heute, imHinterzimmer der Spätis, auch kein eigenes „Ge-schäft“. Über ihr Werden und Vergehen führt nie-mand Buch, und auch das Netz, das doch angeb-lich nichts vergisst, gibt über diesen Punkt seinerGeschichte nur spärlich Auskunft. Allein ein Inter-netcafé in Kassel war zuletzt häufig in den Schlag-zeilen. Der Betreiber wurde im Frühjahr 2006 inseinem Laden im Stadtteil Nord-Holland ermor-det. So wurde ein Internetcafé zu einem der Syno-nyme für den Terror des NSU.

Ansonsten ist es hierzulande ruhig gewordenum die Cybercafés, wie sie zu Anfang hießen. Unddoch gibt es sie noch. Wer aber nutzt hierzulandenoch Internetcafés? In einer Zeit, in der so vielemit ihrem Smartphone 24 Stunden online sind?

Fatih Ücel weiß es auch nicht, hat auch deshalbder Recherche in seinem neuen Laden zuge-stimmt, weil das ja auch für ihn interessant ist.„Die meisten“, sagt er „kommen nur kurz rein, umetwas auszudrucken.“

10 UHRSZENE 1: DER JUNGEFatih muss bei seiner Serie auf Pause drücken, soleise redet der türkische Junge, der den Laden be-tritt. Youness, 14, will ins Internet. Wer ins Inter-net möchte, sagt vorne an der Theke Bescheid.Fatih Ücel schaltet dann von seinem PC aus einender neun Rechner im Hinterraum frei. Von da anläuft die Uhr runter. Am Ende bezahlt man vorne.Ücel klickt zwei Mal: „Platz sieben, okay?“ Ja, sagtYouness, geht vorbei an den drei großen Kühl-schränken, einem guten Dutzend Bierkästen, vor-bei an einem kleinen Waschbecken bis in den hin-teren Raum. An jedem Platz ein 15-Zoll-Monitoraus der Übergangszeit zwischen Röhren- undFlachbildschirm, eine Tastatur, Maus und Web-cam. Youness sucht nach Videos, gibt „Allah“ einund drückt auf Enter. Der Fastenmonat Ramadangeht bald zu Ende. Youness klickt auf das Video:„Vertraue auf Allah – eine wahre Geschichte“. Ersetzt den Kopfhörer auf. Das blaue T-Shirt spannt

über seinem Bauch, das rechte Bein zuckt in derschwarzen Jogginghose. Das Video beginnt mit ei-nem einzelnen Bild, eine Person auf einem Hügel.Dazu wechselnde Texttafeln. Eine Glaubensge-schichte in acht Minuten Powerpoint. Younessliest jedes Wort mit, kaum hörbar, noch leiser alsgerade an der Theke: „Das Einzige, was ich brau-che“, flüstert er, „ist das Vertrauen zu ALLAH.“Ein Geräusch, wie man es aus dem christlichenGottesdienst kennt, wenn Konfirmanden mehrmurmelnd denn sprechend das Vaterunser vorsich hertragen.

Youness hat gerade Sommerferien. Bei ihm zuHause gibt es kein Internet, keinen Computer. EinHandy besitzt er nicht, geschweige denn einSmartphone. Die Zehn- und Zwanzig-Cent-Mün-zen hat er neben der Tastatur aufgestapelt. ZweiStunden wird er davon surfen können, wenn ersich Wasser und Süßes verkneift.

Am Ende des Videos neue Vorschläge. WennSie das letzte Video mochten, wie wäre es damit?Youness klickt auf „Mädchen in Libyen rezitiertQuran, während ihr Kugeln entfernt werden“. DasVideo zeigt ebendas: Ein Mädchen rezitiert denKoran, während aus ihrem Körper Pistolenkugelnentfernt werden. Youness stöhnt auf, vergräbtsein Gesicht in den kleinen Händen, hat mit so vielElend auch nicht gerechnet.

Neben ihm kommen und gehen die Ausdrucker.Ein Attest an Platz fünf. Zehn Flyer an Platz drei.Youness ist jetzt auf einer Seite für Browser-Ga-mes. Er meldet sich bei Counter-Strike an. EinEgoshooter. Spiele wie dieses werden eigentlichvon der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle(USK) auf die Tauglichkeit für Jugendliche getes-tet. Nur handelt es sich bei diesem Spiel um eines,das man direkt im Browser spielen kann, also we-der vollständig herunterladen noch auf einem Da-tenträger käuflich erwerben muss. So entzieht essich der USK – und da hier keine Jugendschutzge-setzgebung greift, sind auch die Cafébetreibernicht genötigt, ihre Kunden zu kontrollieren. Undso sitzt Youness jetzt vor dem Bildschirm und steu-ert mit den Pfeiltasten des Keyboards seine Figur,von der nicht mehr als eine Pistole zu sehen ist,durch eine Art Industrieanlage. Mit der linkenMaustaste feuert er immer wieder die Waffe ab.Zu Hause dürfte er so etwas nicht spielen, selbstwenn es einen Computer gäbe. Hier, an Platz sie-ben, wird er nicht gestört, Fatih Ücel verkauft

vorne im Laden Bier und Zigaretten. Immer wie-der springt Youness von seinem Platz auf und gehtein paar Meter, immer dann, wenn er im Spiel ge-rade getötet wurde. Nach zwei Stunden muss eraufhören, das Taschengeld ist aufgebraucht.

12 UHRZWISCHENSPIEL: DAS BUSINESSDer Getränkelieferant bringt Kästen mit Bier undSoftdrinks. Fatih Ücel stapelt sie neben der Thekezu Türmen auf, obwohl er einen Keller unter demLaden hat. „Beim Vorbesitzer wurde ein paar Maleingebrochen.“ Es ist einer dieser Keller, die vonaußen zu erreichen sind. Einbrecher könnten so inden Laden gelangen. Nicht aber, wenn acht Bier-kisten auf der Luke stehen. Ücel hat noch wenigErfahrung. Er hat gesehen, dass der Laden läuft,gerade im vorderen Teil. Die Umsätze durch Aus-drucke und Internetnutzung schwanken, belaufensich durchschnittlich aber auf etwa 60 Euro amTag. Nächstes Jahr will Ücel die Hardware erneu-ern. Größere Monitore, schnellere Rechner. Wasbleibt, ist die Frage nach der Haftung. Was ist,wenn jemand an einem der PCs illegale Dateien,etwa Kinderpornografie, herunterlädt? Ücel weißnicht genau, wie es mit der Haftung aussieht, weißnichts vom Urteil des Landgerichts Hamburg vom25. November 2010, dem zufolge der Betreibereines Internetcafés durchaus haften kann, wenn erkeine Maßnahmen ergreift, um illegale Down-loads seiner Kunden zu verhindern. Das noch vonÜcels Vorgänger installierte System beinhaltet je-doch Schutzprogramme, man kann zum Beispielkeine Anwendungen zum sogenannten Filesha-ring, dem Dateienaustausch innerhalb eines Netz-werks, auf dem Rechner installieren. Fatih Ücelschaut außerdem immer wieder mal in das Hinter-zimmer, auch weil ab und an etwas geklaut wird.Erst vor ein paar Tagen wieder fehlte eine Maus aneinem der Rechner.

Ücels Vorgänger genießt jetzt seine Rente in dertürkischen Heimat. Die PCs hinten waren im Preismit inbegriffen. Gut 40000 Euro hat Ücel für alleszusammen bezahlt. 40000 Euro für den gesamtenBestand, die monatliche Miete kommt obendrauf.

Ücel hat nur einen erweiterten Hauptschulab-schluss. Weil er zu selten in der Schule war, sagter. Gearbeitet hat er immer. Erst in den Gemüselä-den der Stadt, später als Fahrer für eine türkischeBäckerei. Er hat gut verdient. Vor acht Monaten

konnte er einen Laden für seine Mutter eröffnen.King & Queen, zwei Häuser weiter Richtung Her-mannplatz, das Schild „Neueröffnung“ klebt nocham Türrahmen. Ein Brautmodengeschäft, MutterÜcel ist für ihre Maßanfertigungen bekannt.

13 UHRSZENE 2: DER BACKPACKERSie wollten verreisen, ganz spontan. Timo Lin-ting, 27, und seine Freundin sind von Utrecht auslosgefahren. Das Ziel: Berlin. Die vergangeneNacht haben sie in einem Hostel am Rathaus Neu-kölln verbracht, Zehn-Bett-Zimmer, 17 Euro dieNacht. „Ein fürchterlicher Ort. Laut, dreckig.“Und: nur ein internetfähiger Rechner. EinSmartphone besitzt Linting nicht, seinen Laptophat er zu Hause gelassen. Das passe nicht zum

Rucksackreisen. Jetzt sitzt er da mit einer aufge-schlagenen Berlin-Karte, die zu oft falsch zusam-mengelegt wurde, starrt auf die Airbnb-Seite, dieprivate Unterkünfte an Leute wie Linting vermit-telt. Ein letztes Mal, hier in diesem Internetcafé,über die Tastatur gebeugt, ist er, seinen hiesigenLebensbedingungen nach, Tourist. Drei Klicksund fünf Stationen mit der U-Bahn, und ihn erwar-ten hohe Decken eines lichtdurchfluteten Altbaus.

Die Transformation vom Hostel- zum Altbaube-wohner dauert keine zehn Minuten und kostet nur30 Cent. So wie jede angefangene halbe Stundebei „Spätkauf und Internet“. Linting musste dafüran diesem Tag nur über die Straße gehen, derSpäti liegt rund 150 Meter vom Hostel entfernt.„In den Niederlanden“, sagt er, „sind Internetca-fés fast ausgestorben.“

15 UHRSZENE 3: DER FLÜCHTLINGAbdul al Aziz Fyad weiß nicht, wohin mit seinenknapp zwei Metern. Fyad, 28, setzt sich so vorsich-tig auf den weißen Plastik-Klappstuhl an RechnerNummer fünf, als hätte er Angst, ihn zu zerbre-chen. Er loggt sich bei Facebook ein, den Oberkör-per im gelben Hemd beugt er weit über die Tasta-tur, seine linke Hand liegt auf seinem Knie, mitder rechten tippt er jeden Buchstaben einzeln ein.

Fyad stammt aus Syrien, in Berlin ist er nur zuBesuch, einen Monat lang. Seine Heimat hat ervor einiger Zeit verlassen, musste sie verlassen.„Der Krieg“, sagt er und will noch etwas hinzufü-gen. Doch sein Englisch ist schlecht.

Und was gibt es da noch groß zu sagen? Fyadwiederholt die beiden Worte, auf dem Bildschirmblinkt ein Chatfenster. Nach und nach öffnen sichweitere, bis er gleichzeitig mit vier Freunden ausder Heimat chattet. In Syrien hat er als Fotografgearbeitet, für Zeitungen und Magazine. Jetzt lebter in Sofia, Bulgarien. Ob er jemals nach Syrienzurückkehren wird, weiß er nicht. Wieder kom-men neue Nachrichten. Seine Freunde aus der Hei-mat schreiben auf Arabisch, Fyad antwortet aufEnglisch. In eines der offenen Fenster schreibt er„I miss u“, muss dabei jeden Buchstaben einzelnsuchen und tippt ihn vorsichtig mit dem rechtenZeigefinger an. Er ist die Tastatur mit den lateini-schen Buchstaben nicht gewohnt. Wieder blinkteine Nachricht auf, jetzt auf Englisch. „I miss utoo“. Gut zwei Stunden wird Fyad nicht von sei-nem Platz aufstehen. Er hört keine Musik, schautkein Video, trinkt nichts, isst nichts. Er sitzt indieser kleinen Parzelle und ringt per Ein-Fin-ger-Suchsystem nach Worten. Den Oberkörperbeugt Fyad immer weiter runter. Als wolle er inden Bildschirm eintauchen, um der Heimat etwasnäher zu kommen.

17 UHRSZENE 4: DIE ZEITTOTSCHLÄGERINFür einen Moment ist sie überfordert. DeirdreTunney steht vorne am Tresen, schaut erst auf dieTelefone, dann auf das Getränke-Tabak-Wimmel-bild, das sich hinter Fatih Ücel auftut. „Internet,bitte“, sagt sie. Ücel erkennt den englischen Ak-zent, tipptetwas inseinenComputer,nickt inRich-tung des kleinen Durchgangs und sagt: „Numbertwo.“ Kurz darauf sitzt Tunney an einem der Rech-ner, der Internet-Explorer öffnet sich vor ihr. Sieloggt sich bei Facebook ein, checkt noch mal dieSeite vom Klunkerkranich, der Open-Air-Bar aufdem obersten Parkdeck der Neukölln Arcaden.

Deirdre Tunney will dort später zum Konzert.This is the kid und Rozie Plain spielen, Frauen mitElfenstimmen, dazu Schnurrbärte an den Gitar-ren. Tunney, 35, ist Musikerin und vor einem Jahrvon Irland nach Berlin gezogen. Dass diese Stadtnicht auf eine weitere Musikerin – und sei sie nochso talentiert – gewartet hat, weiß sie. Jetzt hat Tun-ney nicht einen Job, sie hat drei. Neben der Musik– sie spielt in Kneipen, schön gezupfte Nylongitar-renmusik mit klarer Stimme – unterrichtet sie Kin-der. Englisch und Musik. Dazu ist sie Yoga-Lehre-rin. In einer Stunde trifft sie sich mit ihren Freun-den zum Konzert, und weil sie direkt von der Ar-beit gekommen ist und es sich nicht lohnt, nocheinmal nach Hause zu fahren, sitzt sie jetzt hier,keine 100 Meter vom Klunkerkranich entfernt.

Das Fatale am Internet – das wissen alle, dietäglich am Computer sitzen – ist dieses Zeitloch,in das man fällt, sobald man den Browser öffnet.Und das, obwohl man nur fünf Minuten die Mailschecken wollte. Für Deirdre Tunney ist das jetztgenau das Richtige. Zeit totschlagen. 60 Minutenfür 60 Cent, günstiger geht’s kaum. Sie schaut sichnoch mal die Bands an, die sie heute Abend sehenwird, schreibt eine Mail.

Tunney mag Internetcafés. „Es erinnert mich aneine Zeit, die ich selbst nicht mehr erlebt habe“,sagt sie. An eine Zeit, in der viele Iren noch keinTelefon hatten, Kommunikation noch nicht im-mer und überall im Vorbeigehen möglich war.Kurz: Es erinnert sie an eine Zeit, in der Leuteextra zur Telefonzelle gelaufen sind, die Münzenin den Taschen klimpernd, immer in der Hoff-nung, dass der am anderen Ende auch da sei. So

wie Tunney jetzt dasitzt, die roten Locken zu ei-nem Wuschel auf ihrem Kopf drapiert, schwarzeSpitze lugt aus ihrem türkisfarbenen Oberteil her-vor, schafft sie es, diesem kargen Raum so etwaswie Romantik zu verleihen. Sie starrt auf den Bild-schirm vor sich, Google zeigt eine neue Mail an.Sie klickt auf „Antworten“, zögert dann einen Mo-ment und tippt mit ihren gepflegten Gitarristin-nenfingern auf die Tastatur, die dringend eine Rei-nigung nötig hätte.

18:00 UHRSZENE 5: DIE BEWERBERINAuf der Karl-Marx-Straße hasten, schlendern undwanken Nachhausekommer, Spätaufsteher undVoralkoholisierte vorbei. Zwei Studenten aus demHaus nebenan kaufen im Spätkauf-InternetcaféClub Mate und Tabak ohne Zusatzstoffe. Kurz da-rauf hievt eine junge Mutter einen Kinderwagen inden Laden, bleibt an der Bussi-Bär-Wassereis-Kar-ton-Pappe hängen, die als Fußmatte dient. EinmalInternet, sagt sie. Als wäre es etwas, das man wieeine Flasche Bier mitnehmen könnte. Ücel schal-tet den Rechner an Platz Nummer eins ein. Es er-tönt ein Sound, der dem aus der Telekom-Wer-bung nicht unähnlich ist.

Die Mutter schiebt den Kinderwagen an denBierkästen vorbei und setzt sich. Sie will sich be-werben. Auf eine Vollzeitstelle als Verkäuferin.Bei Forever 18. Das Kaufhaus in den Neukölln Ar-caden wirbt damit, „tolle junge Mode für modebe-wusste Leute“ zu haben. Das Sommerkleid Ango-lina bekommt man für zehn Euro.

Die Tochter, zweieinhalb, rebelliert im Kinder-wagen und schmeißt ihren Teddy auf den Boden.Die Mutter ungerührt, das dezent geschminkte Ge-sicht noch so jugendlich, dass sie beim Weinkaufan der Supermarktkasse sicher nach ihrem Aus-weis gefragt würde. Auf dem Schild über ihr hateiner mit rotem Filzstift „Rauhen verboten“ ge-schrieben, jemand anderes hat mit schwarzemStift ein C ergänzt.

Es ist ein kurzes Anschreiben, knapp zehn Zei-len lang. Sie sei sehr belastbar, steht da, sprecheDeutsch und Serbokroatisch fließend. Hinter ihrwindet sich das Kind im Wagen. An Platz fünf,drei Rechner von ihr entfernt, schaut jemand Fuß-ballvideos bei Youtube. Best of Messi 2014. Erträgt Kopfhörer, doch die Musik kommt aus denBoxen seines PCs. Er merkt es nicht. Währendsich Reggae-Klänge mit dem Surren der Rechnerund den Unmutsbekundungen ihres Kindes vermi-schen, versucht die Mutter, ihre Bewerbung auszu-drucken – klappt aber nicht. Fatih Ücel kommtdazu, klickt zwei Mal, und der Drucker am Tresenrumpelt endlich los.

Ücel: „Du solltest die Bewerbung unterschreiben.“Mutter: „Nein, muss ich nicht. Meinte der Typvom Jobcenter.“Ücel: „Ich musste meine Bewerbungen immer un-terschreiben.“Mutter: „Nein, muss man nicht.“Ücel: „Überleg es dir noch mal.“

Beim Hinausgehen bezahlt sie 40 Cent, zehn fürden Ausdruck, 30 für „einmal Internet“. Ihre Be-werbung hat sie nicht unterschrieben. Und derKinderwagen bleibt schon wieder an derBussi-Wassereis-Pappe hängen. Es regnet. FatihÜcel schaut raus auf die Straße. „Die Bewerbung“,sagt er, „kann sie vergessen.“

18:30 UHRZWISCHENSPIEL: DER BRUDERWachablösung. Selcuk Ücel, 24, übernimmt jetztdas Geschäft. Gemeinsam mit seinem älteren Bru-der hat er in den Laden investiert. Gerade hat erSemesterferien, sein Studium steht kurz vor demEnde. Wirtschaft und Politik. Danach will er wegaus Berlin, obwohl er hier geboren ist, in Tempel-hof aufgewachsen. Trotzdem will er raus, viel-leicht nach Brandenburg. Es ist ihm zu laut in derStadt, zu voll, zu dreckig. Jetzt aber steht er nebenseinem Bruder Fatih vor dem Laden und raucht.Ein älterer Mann mit Plastiktüte geht an ihnen vor-bei in den Laden, greift rechts zu einem der zweiFernsprecher, mit denen man für 35 Cent in derersten Minute und jeweils 14 Cent pro Minute abder zweiten in die Türkei telefonieren kann.„Wenn der nicht bezahlen kann“, sagt Fatih zu Sel-cuk, „ist okay.“ Wer bekannt ist, darf anschreibenlassen. „Bei uns in der Türkei“, sagt Selcuk, „istdas normal. Da wird einmal die Woche bezahlt.“

19:30 UHRSZENE 6: DER ABENDAus dem Grau der Straße betritt Armin, 46, denLaden und bringt etwas Farbe hinein. Um genauzu sein: zehn Farben. Jeder seiner Finger ist miteiner anderen lackiert. Die Jeans zu weit für dendünnen Körper, die Lederjacke passt perfekt. Ücelbegrüßt ihn, Stammkunde, man kennt sich. Nochbevor Armin bestellt, greift Ücel hinter sich nachdem blauen Chee-Tah-Tabak. Sonst noch was? „EinPilsator und das hier kopieren, bitte.“ Es ist eineDIN-A4-Seite, asiatische Musiker an allerhand In-strumenten. „Ziemlich abgefahren“, sagt er, „soReißverschluss-Musik. Kann man nicht beschrei-ben, muss man hören.“ Ab und zu geht Armin –Vorname muss reichen – auch nach hinten an ei-nen der Rechner. Drei Mal im Jahr oder so, sagt er.Das reiche, wofür auch immer. „Internetcafés sinddoch super“, sagt er, „muss man den ganzenScheiß nicht zu Hause haben. Man kommt rein,macht seinen Mist und raus.“ Während er dassagt, weiß man nicht so recht, in welches Augeman blicken soll. Eines ist ein Glasauge, so viel istsicher. Welches, bleibt ein Rätsel.

22 UHRSZENE 7: DIE STILLEDas erste Mal an diesem Tag ist keiner der Rech-ner im Hinterzimmer belegt. Aus dem Hinterhofdurchweht ein leichter Wind die orangefarbenenLamellen vor dem Fenster. An Platz sieben, woYouness vor einigen Stunden erst Allah-Videosschaute und später Counter-Strike spielte, hat je-mand eine Dose Fanta stehen lassen. Gegenüberhat Deirdre Tunney Zeit totgeschlagen. Nichtszeugt davon, dass sie heute hier war. Rechts nebenihr wurde eine Bewerbung geschrieben, die wohleher nicht zur Anstellung führen wird. Auf Platzfünf hinten rechts in der Ecke hängt ein weiteresfalsch geschriebenes Hinweisschild: „Rahun ver-boten“. Zwei Stunden lang saß Abdul al Aziz Fyaddort und schrieb gegen das Heimweh an.

Über die Jahre haben sich nicht nur die Internet-cafés verändert, auch die Nutzung hat sich gewan-delt. Fatih und Selcuk Ücel sind erst seit ein paarWochen im Geschäft, sie haben keinen Vergleich.Veteranen der Szene sagen, dass vor allem der Tou-ristenfaktor zugenommen hat. Die Zocker, die frü-her ihre LAN-Partys im Internetcafé gefeiert ha-ben, sind gänzlich verschwunden. An schickerenStandorten ersetzt das Internetcafé mitunter dasBüro. Studenten und Kreative fliehen vor der Pro-krastination des heimischen Schreibtisches in dieInternetcafés der Stadt.

Aber es ist auch der Ort für diejenigen, die ano-nym im Internet agieren wollen. So wie Richard,der es, als er am frühen Nachmittag an einem derRechner saß, schon zu bereuen schien, überhauptseinen Vornamen genannt zu haben. Mit seinemCockney-Englisch, dem spärlichen Haupthaarund den schmalen Augen erinnerte er an denPink-Floyd-Gitarristen David Gilmour. Ständigdrehte er sich um und vergewisserte sich, dass ihnniemand beobachtete.

Die einzelnen Plätze sind nur durch eineschmale Trennwand abgegrenzt. Ohne große An-strengung kann man von überall die anderen Moni-tore einsehen. Pornos etwa wurden heute nichtgeschaut. Das traute sich niemand. „Ich werdekeine weiteren Fragen beantworten“, sagte Ri-chard, nachdem er nur die nach seinem Namenbeantwortet hatte. Wer weiß, vielleicht ist er einInformant, ein Whistleblower. In Zeiten flächen-deckender Überwachung ist der Gedanke garnicht so abwegig, wie es im ersten Momentscheint. Erst im vergangenen Jahr erklärte der„Spiegel“ den Lesern, wie man mit sensiblen Infor-mationen an ihn herantreten könne: „SchreibenSie uns von einem Internetcafé aus über eine ei-gens eingerichtete E-Mail-Adresse, die keine Rück-schlüsse auf Ihren Namen zulässt.“

23 UHRSZENE 8: DER DICHTERIm hinteren Teil des Spätis ist es immer noch ganzruhig, nur das konstante Grundrauschen der Rech-ner ist zu hören. Vorne werden Zigaretten undWegbier geholt. Das alte Punkerpils Sternburgwird dabei am häufigsten gekauft. Dabei ist es mit80 Cent nicht mal das billigste im Angebot. Pilsa-tor kostet nur 70 Cent für den halben Liter.

Tufan Sazlam mag die Ruhe. Leicht gebückt tritter durch die Tür, streift seine Schuhe an derBussi-Bär-Pappe ab und reicht Selcuk Ücel dieHand. Sazlam und die Ücel-Brüder sind zusam-men aufgewachsen, haben zusammen das ersteBier getrunken, die ersten Zigaretten geraucht.Sazlam wohnt heute noch in Tempelhof, bei sei-nen Eltern. Gemeinsam mit den beiden Schwes-tern in einer Dreizimmerwohnung. Einen PC gibtes, Internet auch. Nur steht der Rechner in demZimmer, in dem der Vater schläft, wenn er von derNachtschicht kommt. „Hier habe ich meine Ruhe,meine Freunde, und ich bekomme mit, wenn waspassiert“, sagt er.

In der Nacht des Weltmeistertriumphs der deut-schen Fußball-Nationalmannschaft hat er seinenBlog ins Leben gerufen, an dem gleichen Platz, andem er auch jetzt sitzt. In derselben Nacht, in derdie Ücel-Brüder das erste Mal die Türen zu ihremneuen Laden aufgemacht haben. Sein erster Ein-trag: Impressionen von der Fanmeile nach demSieg. „Die Deutschland Fahnen (einer schwänktenackt die Fahne) haben die ganze Fanmeile ge-schmückt.“ Am Tag nach dem WM-Triumph warer Zeuge eines Motoradunfalls. Mit dem Handymachte er ein Foto und schrieb das Beobachteteals eine Art Erlebnisbericht auf. Ans Ende setzte

er einen Aufruf: „Liebe Motorradfahrer, BITTEfahrt vorsichtig, seid nicht überheblich, es kannsehr schlimm (tödlich) enden.“

Den Blog hat er nach sich benannt. Untertitel:Fotos mit Story. Es gibt einige Bilder seiner Hei-mat, Samsun, am Schwarzen Meer gelegen. SeinGroßvater inmitten einer Schafsherde, sein klei-ner Cousin, der Fluss, der an der Weide entlang-fließt. Unter den Fotos hat er seine Gedanken ineinem Gedicht festgehalten:

Die Zeit steht still, der Wind weht schrill.Auf den Berg will ich gehen,

und die Natur im Einklang erleben.Dieser Ort gibt mir inneren Frieden,

hier kann ich mich vom Stress verabschieden.Ich genieß die Natur, denn ich lieb die Kultur.

Sieben Kommentare stehen darunter. „Ne güzel!“,schreibt ein User. Wie schön! Sazlam antwortet:„Lok Teeekkür“, vielen Dank.

2 UHREPILOG: DIE IDEEUm zwei Uhr nachts ist Neukölln eingeschlafen.Sazlam ist immer noch da, trinkt einen SchluckRed Bull und erzählt von dem Lyrik-Kurs, den erbesucht hat, weil er wissen wollte, wie das geht,seine Gefühle in Worte zu fassen. Er bilde sichgern weiter, sagt er. Auch weil er weiß, dass seinerweiterter Hauptschulabschluss nicht viel wertist. Eigentlich wäre für ihn in der Schule mehr dringewesen, mindestens der Mittlere Schulab-schluss. „Aber ich hatte zu viele Fehltage“, sagt er,die gleiche Geschichte wie bei Fatih Ücel. Die Fer-dinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg war nichtder richtige Ort für einen Typen wie Sazlam. Esgab viel Stress mit den Mitschülern, Schlägereien.Er hat sich gewehrt, hat zurückgeschlagen. Bis erirgendwann keine Lust mehr hatte.

Jetzt macht Sazlam seinen MSA an der Abend-schule nach. Danach will er eine Ausbildung ma-chen, zum IT-Systemelektroniker. Und an seinemBlog weiterarbeiten. Nachts, hinten im Laden. Fürden nächsten Artikel hat er schon eine Idee. Erwill die Geschichte von Fatih Ücel aufschreiben.Der Titel steht schon fest: „Vom Brotausliefererzum Jungunternehmer“.

„Internetcaféserinnern michan eine Zeit, dieich nicht mehrerlebt habe.“

„Ich vermissemeine Freundeaus der Heimat –hier lese ich ihreNachrichten.“

T@nte-Emma-LAN *

Deirdre Tunney,Musikerin aus Irland

Abdul al Aziz Fyad,Fotograf aus Syrien

* LAN = Local Area Network = Lokales Computernetzwerk. Im Gegensatz zum Wireless LAN sind die Rechner hier mit Kabeln verbunden.

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Vorne die Snacks. Hinten geht’s ins Internet.

Ich hab’s gefunden. Timo Linting aus Utrecht sucht eine Unterkunft in Berlin.

Internet und Spätkauf. Diese Kombination ist in Berlin heute deutlich gängiger als das klassische Internetcafé. Hier steht Fatih Ücel vor dem Laden, den er seit wenigen Wochen gemeinsam mit seinem Bruder Selcuk in der Neuköllner Karl-Marx-Straße betreibt.

22 DER TAGESSPIEGEL NR. 22 122 / SONNABEND, 2. AUGUST 2014 23MEHR BERLIN

Text: Dominik Drutschmann

Fotos: David Heerde

Ruf doch mal an! An den Fernsprechern können Kunden günstig ins Ausland telefonieren.

Was guckst du? Während seiner Schicht schaut Selcuk Ücel an der Kasse türkische Serien.

Bin ich schon drin? Bei den Ücels im Laden gibt es zehn Online-Arbeitsplätze, eine Stunde kostet 60 Cent.

Vor 20 Jahreneröffneten in Deutschlanddie ersten Internetcafés.

Heute, im Zeitalterdes Smartphones,

braucht sie niemand mehr.Wirklich? Niemand?

Eine Bestandsaufnahmein acht Neuköllner Szenen

Schreib das auf. Der Blogger Tufan Sazlam nutzt das Internetcafé als Dichterklause.