7
RAUM 54 2004 Juni Ö s t e r r e i c h i s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r R a u m p l a n u n g u n d R e g i o n a l p o l i t i k Graffiti Graffiti Linz an der Donau: Eine Stadt definiert sich neu Ökostrom und erneuerbare Energie: eine Bilanz RAUM-Forschung: Action Setting – ein „unmögliches“ Projekt

P.b.b. Erscheinungsort Wien Verlagspostamt 1010 WienZlg ... · RAUM-Forschung: Action Setting – ein „unmögliches“ Projekt. 44 R A U M FORSCHUNG RAUM Warum ist es eigentlich

  • Upload
    others

  • View
    4

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

RAUMP.b.b. Erscheinungsort WienVerlagspostamt 1010 WienZlg.-Nr. GZ 02Z030123 M

54

2004J u n i

Ö s

t e

r r

e i

c h

i s

c h

e

Z e

i t

s c

h r

i f

t

f ü

r

R a

u m

p l

a n

u n

g

u n

d

R e

g i

o n

a l

p o

l i

t i

k

Öst

erre

ichi

sche

s In

stitu

t für

Rau

mpl

anun

g, F

ranz

-Jos

efs-

Kai

27,

A-1

010

Wie

n

GraffitiGraffiti

L i n z a n d e r D o n a u : E i n e S t a d t d e f i n i e r t s i c h n e u

Ö k o s t r o m u n d e r n e u e r b a r e E n e r g i e : e i n e B i l a n z

R A U M - F o r s c h u n g : A c t i o n S e t t i n g – e i n „ u n m ö g l i c h e s “ P r o j e k t

44R A U M

F O R S C H U N GRAUM

Warum ist es eigentlich so schwierig, die Zusammenhänge zwischender physisch-materiellen Welt der Dinge und Körper und der sozia-len Welt vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Theorie zuartikulieren? Wenn Planer und Architekten städtebauliche und lan-desplanerische Konzepte oder Allokationsmodelle entwerfen, dannbeziehen sie sich damit auf konkrete Standorte, Infrastruktureinrich-tungen und Siedlungsstrukturen der materiellen Welt. Wie könnensie sicher sein, dass sie damit auch in der sozialen Welt der Wer-te, Bedeutungen und Symbole entsprechende Wirkungen ausüben?

Raumplaner1, Geografen, Architektenund Vertreter einer Reihe andererProfessionen beschäftigen sich mit derGestaltung und Erklärung physisch-ma-terieller Standortgegebenheiten. Mangeht dabei mit Selbstverständlichkeitdavon aus, dass von der materiellenWelt Wirkungen auf die soziale Weltausgehen, die im Sinne einer kausa-len Verursachung gedeutet werdenkönnen. So wird etwa von Planernoder Architekten unterstellt, dass mitder Allokation von Standorten und derGestaltung baulicher Strukturen diesoziale Praxis beeinflusst werden kann.Derartige Zusammenhänge zwischenSach- und Sozialstrukturen werdenauch in der lebensweltlichen Alltags-praxis als gegeben angenommen.Sucht man jedoch nach einer sozial-wissenschaftlichen Theorie, mit dersolche Zusammenhänge begründet,erklärt oder prognostiziert werdenkönnen, dann stellt sich erstaunlicher-weise heraus, dass in der gegenwärti-gen Mainstream-Soziologie derartigeFragen nach den Wechselwirkungenzwischen Sach- und Sozialstrukturen

*) Dr. Peter Weichhart ist Professor für Hu-mangeografie am Institut für Geografie undRegionalforschung der Universität Wien, Vor-standsvorsitzender des Salzburger Instituts fürRaumordnung und Wohnen und Mitglied desWissenschaftlichen Beirates der Akademie fürRaumforschung und Landesplanung (ARL),Hannover.

praktisch nicht thematisiert werden.Bei einer solchen Suche wird außer-dem sehr rasch deutlich, dass die dis-ziplinäre Identität der Soziologie ge-rade durch den ausdrücklichen Ver-zicht auf derartige Fragestellungen be-gründet wird. Die Eigenständigkeitdes Faches Soziologie und ihre Ab-grenzung gegenüber anderen Diszi-plinen fußt nämlich auf dem so ge-nannten Durkheim-Weberschen Axiom.Es wird meist so formuliert: „Sozialesdarf/kann nur durch Soziales erklärtwerden“ (vergl. K.-W. Brand, 1998).Durch dieses Selbstverständnis wurdedie materielle Welt systematisch ausdem Interessenspektrum der Soziolo-gie eliminiert. Diese Auffassung wurdevon vielen anderen Wissenschaftenvom Menschen übernommen – auchvon Vertretern der neueren Human-geografie.Die damit erfolgte Selbstbeschränkunghatte allerdings Folgen. An erster Stel-le ist hier die geradezu sprichwörtli-che „Sachblindheit“ (und – damit ver-bunden – die „Raumblindheit“) derSoziologie zu nennen. Es fällt Soziolo-gen deshalb auch schwer, ökologischeProbleme oder „Natur“ zu thematisie-ren. Denn in der Mainstream-Soziolo-gie wird „Gesellschaft“ als System re-kursiver symbolischer Kommunikationgedeutet. Die materielle Umwelt lässt

sich demnach bestenfalls als externerStörfaktor darstellen. Eine weitere Fol-ge ist das Faktum, dass die Soziologieüber lange Strecken ihrer Geschichtedie Körperlichkeit des Menschen weit-gehend ignorierte.Seit Beginn der 1970er Jahre wirddie eigene Ding- und Raumblindheitvon prominenten Sozialwissenschaf-tern wahrgenommen und ausdrücklichals Defizit gedeutet. Soziologen wieA. Giddens (z. B. 1984) werfen denaktuellen Gesellschaftstheorien vor,den räumlichen und materiellen Kon-text menschlichen Handelns nicht zuberücksichtigen. Als Gegenbewegunglässt sich seither eine zunehmende„Ökologisierung“ von Humanwissen-schaften beobachten.Als eine der bedeutendsten Ausnah-men von dieser generellen Grundhal-tung der Sozialwissenschaften ist die„Ökologische Psychologie“ der Barker-Schule anzusehen, die im Zuge deroben angesprochenen „Ökologisie-rung“ seit den 1970er Jahren auchvon deutschsprachigen Sozialwissen-schaftern rezipiert wurde. Von dieserSchule wurde die Behavior-Setting-Theorie erarbeitet, mit der ein sehrambitionierter Versuch unternommenwird, Zusammenhänge zwischen Sach-und Sozialstrukturen zu modellieren.Im Folgenden soll diese Theorie in al-

Action Setting – ein „unmögliches“ Forschuvon Peter Weichhart*)

4554/04

R A U M - F o r s c h u n g

ler Kürze vorgestellt werden. Anschlie-ßend sollen Überlegungen zu einerModifikation und Modernisierung die-ser Theorie mit dem Ziel angestelltwerden, sie für aktuelle Fragen derRaumordnung nutzbar zu machen.

Die „Ökologische Psychologie“ derBarker-Schule und das Konzept derBehavior Settings

Im Jahr 1947 gründete der Psycholo-ge R. G. Barker die „Midwest Psycho-logical Field Station“ in Oskaloosa,Kansas, um dort das langfristig ange-legte Projekt „A Field Study of Chil-dren’s Behavior“ durchzuführen. ImVerlaufe dieser Forschungen entwickel-te er mit seiner Arbeitsgruppe dasKonzept der Behavior Settings. Eshandelt sich dabei um ein hybridesRealitätsmodell, das im Sinne einer„systemaren Sozialgeschehens-Grund-einheit“ (G. Kaminski, 2000, S. 239)die materielle Welt, die Welt der sub-jektiven Bewusstseinszustände und diesoziale Welt miteinander verknüpft.Ausgangspunkt dieser Überlegungenwar die Beobachtung, dass mit derVeränderung von Orten oder Schau-plätzen kindlicher Aktivitäten substan-zielle Änderungen der Handlungsmus-ter verbunden sind. Zwei Kinder aneinem Schauplatz verhielten sich ähn-

licher als ein Kind an zwei verschie-denen Standorten. Daraus leiteteBarker (1968) die Hypothese ab, dassSchauplätze oder Orte das menschli-che Tun beeinflussen. Durch diesenEinfluss wird die potenziell hohe Va-riabilität und Kontingenz (oder Unbe-stimmtheit) der Alltagswelt in der Rea-lität konkreter Lebensvollzüge erheb-lich eingeengt und normiert. Individu-en geraten in ihrem Tun immer wiederin den Bann bestimmter Kontextbedin-gungen. Ein solcher Kontext bestehtaus raum-zeitlich fixierten sozialenInteraktionspartnern und spezifischenDingkonstellationen und scheint dasTun der Individuen geradezu zu de-terminieren.Barker gliederte das alltägliche Tunvon Individuen nach „Verhaltensepiso-den“. Sie können wiederholt und beiverschiedenen Akteuren auftreten undwerden „standing patterns of beha-vior“ genannt. Solche konstanten Ver-haltensmuster sind an bestimmte Orte,Zeiten, Gegenstände und Interaktions-partner gebunden. Diese Verknüpfun-gen erweisen sich als überaus stabil:In Kaufhäusern werden zu bestimmtenZeiten Waren verkauft, in KirchenGottesdienste abgehalten, in Schulklas-sen wird unterrichtet. Dagegen kommtes extrem selten vor, dass in Waren-häusern Gottesdienste abgehalten undin Kirchen Waren verkauft werden.Derartige Zeit-Ort-Konstellationen, in

denen konstante Verhaltensmuster mitspezifischen Akteuren eingebettetsind, werden von Barker als „Milieu“bezeichnet. Zwischen den Verhaltens-mustern und den Milieus besteht da-bei in der Regel eine Art „Passung“oder strukturelle Koppelung. Die Ge-samtkonstellation aus interindividuellkonstantem Verhaltensmuster und dazupassendem Milieu wird als „Behavior-Milieu-Synomorph“ bezeichnet. SolcheSynomorphe oder Kombinationen zu-sammengehöriger Synomorphe nenntBarker „Behavior Settings“. Synomor-phie bedeutet dabei, dass zwischenden materiellen Gegebenheiten desMilieus und dem konkreten Tun derAkteure strukturelle Entsprechungenbestehen. Milieuelemente dienen alsMittel zur Durchführung der Aktivitä-ten, die Sachausstattung des Settingsermöglicht oder erleichtert den Ablaufdes Verhaltensmusters.Einzelne Individuen partizipieren mitunterschiedlichen Handlungskapazitä-ten sowie unterschiedlichen Gradender Verantwortung oder Betroffenheitan einem Setting. Nach dem Graddieser Involviertheit unterscheidetBarker sechs „Penetrationszonen“, dievom Status des bloßen Zusehers (Zone1) bis zu „Joint Leaders“ (Zone 5) und„Single Leaders“ (Zone 6) reichen.Akteure der Zonen 5 und 6 habendabei Lenkungs- und Koordinations-kompetenzen.

ngsprojekt

46R A U M

Das Geschehen in einem Setting wirddurch Programme gesteuert. Sie be-schreiben die Regeln, Abläufe, Rollen-verteilungen, Verantwortlichkeiten undInteraktionsstrukturen in einemSetting. Diese Programme sind imBewusstsein der beteiligten Akteurepräsent, sie können auch kodifiziertsein und in Form schriftlicher „Regie-anweisungen“ vorliegen. Jeder weiß,wie man sich in einem Seminar, beieinem Empfang, einer Vernissage, ei-ner Vorstandssitzung etc. zu beneh-men hat und welche Ereignisse oderAblaufmuster dabei zu erwarten sind.Settings können aufgrund von Ähn-lichkeiten zu Genotypen zusammen-gefasst werden: Zwei Volksschulklassenmit unterschiedlichen Schülern undLehrern, zwei Gottesdienste der glei-chen Religionsgemeinschaft oder zweiSchuhgeschäfte. Sie haben jeweils dasgleiche Programm und „funktionieren“problemlos weiter, wenn man die Ak-teure der Penetrationszonen 5 und 6wechselseitig austauscht. Und sie wei-sen natürlich funktional äquivalenteMilieuelemente auf. Den „StandingPatterns of Behavior“ in Seminaren(Einkaufszentren), die weltweit nachdem gleichen Muster (Programm) ab-laufen, steht auf der Milieuseite die(ebenso weltweit) standardisierte mate-rielle Ausstattung von Seminarräumen(Einkaufszentren) gegenüber.Die Setting-Theorie steht in der Tradi-tion des Behaviorismus und stellt eineim Kern verhaltenswissenschaftlicheKonzeption dar. Sie muss damit ausheutiger Sicht grundsätzlich obsoleterscheinen. Denn das Menschenbildder gegenwärtigen Sozialwissenschaf-ten ist am „homo intentionalis“ orien-

tiert, der nicht wie ein Automat aufäußere Stimuli bloß reagiert, sondernals selbstbestimmter Akteur Intentiona-lität verwirklicht und im Stande ist,Kontingenz zu produzieren, also im-mer auch anders handeln zu können.Neben dieser generellen Kritik wur-den bei der Rezeption der Theoriezahlreiche Schwächen und Defizite imDetail sowie methodische und mess-technische Probleme aufgezeigt. Willman diese dennoch faszinierendeTheorie daher heute einsetzen, wirdes notwendig sein, sie tiefgreifend zumodifizieren (vergl. zum Folgenden P.Weichhart, 2003).

Eine handlungstheoretische Moderni-sierung der Setting-Theorie

Um die Setting-Theorie zu modernisie-ren und handlungstheoretisch umzu-formulieren, ist es erforderlich, dieArgumentationsrichtung der Primär-theorie gleichsam „umzudrehen“ oderauf den Kopf zu stellen: Ausgangs-punkt einer handlungstheoretischenNeukonzeption sind dabei nicht dieOrte, sondern die Subjekte, die imVollzug bestimmter Handlungen be-stimmte Orte dazu instrumentalisieren,unter Verwendung der dort vorfind-baren materiellen Gegebenheiten undInteraktionspartner bestimmte Intentio-nen zu verwirklichen. Dabei kann manauch in einer handlungstheoretischenPerspektive davon ausgehen, dass einerheblicher Teil menschlichen Han-delns als habitualisiertes oder gewohn-heitsmäßiges Tun anzusehen ist. InAnalogie zur Formulierung Barkerskönnte man von „standing patterns ofactions“ sprechen. Dazu sind die mei-

sten Aktivitäten zu rechnen, die einIndividuum im alltäglichen Lebens-vollzug und in Ausübung seiner sozia-len Rollen unternimmt. Solche Handlun-gen leiten sich aus den Rollenbildern,Normen, Sitten, Gebräuchen undKonventionen des Kultur- und Sozial-systems ab. Sie führen insgesamt zueiner sehr erheblichen Normierungund Standardisierung des Alltags.Im Handeln verwirklichen Akteurenicht nur subjektive Sinnbezüge undIntentionen. Sie setzen im Handelnauch die Fähigkeit um, intendierteund nicht-intendierte Veränderungenin der sozialen und der physisch-mate-riellen Welt zu bewirken. Damit kommtes zu einer Verschränkung und Ver-knüpfung subjektiver Bewusstseinszu-stände mit den Elementen der sozia-len und der physisch-materiellen Welt:Handeln verbindet die berühmten„drei Welten“ K. Poppers (1973).Eine Voraussetzung und Grundbedin-gung für Handlungsvollzüge ist dieKörperlichkeit des Menschen.Sachstrukturen sind dabei bedeutsameMittel und Medien des Handelns. Undspätestens hier wird die Geschichtefür den Planer interessant. Bei sehrvielen Handlungen muss auf materiel-le Dinge zurückgegriffen werden(Rohstoffe, Werkzeuge, Ablagemög-lichkeiten, Baulichkeiten, Infrastruktur-einrichtungen etc.), die räumlich un-gleich verteilt und in unterschiedli-chem Maße zugänglich sind. Viele vonihnen werden im Planungsprozess undin Verfahren der Raumordnung produ-ziert und lokalisiert.Handeln bedeutet in sehr vielen Fäl-len Interagieren mit kopräsenten an-deren Subjekten. Diese Interaktionen

R A U M - F o r s c h u n g

4754/04

werden mit Hilfe materieller Dingeermöglicht, erleichtert oder gesteuert.Verkaufslokale, Amtsstuben, Hörsäle,Werkstätten, Klassenzimmer, Einkaufs-zentren oder CBDs sind dafür an-schauliche Beispiele. Es handelt sichhier um kulturspezifische standardisier-te Konfigurationen materieller Gege-benheiten für die einfache und un-komplizierte Ermöglichung spezifischerHandlungen, welche die „Leichtigkeitdes Seins“ der Alltagswelt mit begrün-den. Solche standardisierten (kultur-spezifischen) materiellen Sachkonfigu-rationen (Einrichtungsgegenstände,Räumlichkeiten, Gebäude, Siedlungs-strukturen), die als Medien von Hand-lungsvollzügen dienen, wollen wir inAnlehnung an Barker als Milieu be-zeichnen. Die strukturelle Koppelungoder „Passung“ zwischen Milieu undElementen des Handlungsvollzugs nen-nen wir analog zu Barker Synomor-phie.Synomorphie sei dabei nicht als Attri-but des Milieus angesehen, sondernwird als Ergebnis von Kolonisations-und Kultivierungsaktivitäten interpre-tiert. Durch diese werden materielleGegebenheiten über Aneignungs- undUmgestaltungsprozesse, nämlich durchden Einsatz von Arbeit, Energie undMaterial, gezielt und aktiv an die Er-fordernisse spezifischer Handlungsvoll-züge angepasst.Genau hier lässt sich der entscheiden-de Unterschied der Neukonzeptionzur Primärtheorie Barkers erkennen:Nicht die Kontextbedingungen deter-minieren das menschliche Tun, diesewurden vielmehr eigens zu dem Zweckgeschaffen, standardisierte Handlungs-vollzüge zu ermöglichen, zu unterstüt-

zen oder zu optimieren. Der zentralePunkt ist die damit postulierte Umkehrder Kausalwirkung: Die Funktionalitätund die Wirkungsweise des Milieus istdas Ergebnis von Kolonisierungsan-strengungen, mit deren Hilfe die be-treffenden Bereiche und Elemente dermateriellen Welt an die Erfordernisseder Sinnstrukturen der sozialen Weltangepasst werden. Um auch termino-logisch zum Ausdruck zu bringen,dass die wirksamen Kausalzusammen-hänge nicht von den Milieuelementen,sondern von den Akteuren und ihrenIntentionalitäten ausgehen, wird alsBezeichnung für den Gesamtzusam-menhang der Begriff „Action Setting“eingeführt.Action Setting (Abb. 1) sind hybrideEntitäten. Ihre Elemente (Akteure –Milieu – Programm) können nur analy-tisch differenziert werden. Als „Ge-genstände“ der Realität existieren sie

ausschließlich im aktuellen Handlungs-vollzug. Deshalb haben Settings nichtnur räumliche, sondern auch zeitlicheGrenzen. Ein Kaufhaus, eine Schul-klasse, eine Ordination existieren alsSetting ausschließlich während derDauer der vom Programm vorgegebe-nen Handlungsvollzüge. Man darfSettings also nicht mit dem Milieu ver-wechseln und mit den materiellenStrukturen gleichsetzen. Nicht dieBühne, nicht die Schauspieler, nichtdas Stück allein, sondern die konkreteAufführung einer bestimmten Inszenie-rung konstituiert das Setting.Action Settings stellen also einen„transaktionistischen“ oder hybridenZusammenhang zwischen materiellen,mentalen und sozialen Phänomenendar. Durch Action Settings werdeneinzelne Akteure (Lehrer, Schüler,Käufer, Verkäufer etc.) und ihre sub-jektiven Intentionalitäten in gesell-

R A U M - F o r s c h u n g

Abbildung 1Action Settings

48R A U M

schaftliche Zusammenhänge eingebun-den. Die Programme vermitteln dabeistandardisierte Handlungsroutinen,Rollenbilder und Lebensstile, vor derenHintergrund die Intentionalität derEinzelakteure miteinander in Bezie-hung gesetzt wird. Dabei findetgleichsam eine Synchronisation undSynchorisation der Akteure statt. Jebesser die einzelnen Handlungseinhei-ten (Acteme) und die zu ihrer Verwirk-lichung erforderlichen materiellen Mit-tel und Verfahren aufeinander bezo-gen sind, desto ausgeprägter ist dieSynomorphie. Die materiellen Gege-benheiten des Milieus werden durchKultivierung und Kolonisation ständigan die Erfordernisse der Handlungs-vollzüge angepasst. Indem die Akteu-re zur Umsetzung ihrer Intentionendie Vorgaben der vom Sozialsystemdefinierten Programme verwirklichen,realisieren sie jene „Dualität derStruktur“, welche in der Strukturations-theorie (A. Giddens, 1984) den Ge-gensatz zwischen Mikro- und Makro-soziologie aufhebt.

Ein anwendungsorientiertesForschungsprojekt

Es wird behauptet, dass das oben inaller Kürze skizzierte Konzept derAction Settings geeignet erscheint,eine Reihe von Problemen und For-schungsfragen der Siedlungs-, Stadt-und Sozialgeografie, aber auch der

Siedlungssoziologie und der Raumpla-nung wesentlich adäquater zu formu-lieren und zu behandeln, als dies bis-her der Fall war. Es bietet vor allemMöglichkeiten, die Rückwirkung mate-rieller Gegebenheiten auf die sozialeWelt auf nicht-deterministische Weisezu erfassen, und verweist mit demKonzept der Synomorphie auf Mög-lichkeiten, die Effizienz und den Er-folg von Planung zu beschreiben undzu evaluieren.Dazu müsste dieses Konzept aberwesentlich breiter ausgearbeitet undvor dem Hintergrund aktueller Sozial-theorien detailliert werden. Der Autorbeabsichtigt, in nächster Zeit ein For-schungsprojekt zu beantragen, in des-sen Rahmen genau diese Aufgabeangegangen werden soll. Das Projektsoll einerseits als Grundlagenforschungkonzipiert werden, andererseits sollenaber bereits konkrete empirische An-wendungsmöglichkeiten erprobt wer-den.In einem ersten Arbeitsschritt wäredabei zu prüfen, wie sich das Kon-zept der Action Settings in den Kon-text neuerer Sozialtheorien einfügenlässt. Ein besonderer Klärungsbedarfbesteht hier für die Programmkompo-nente. Wo kommen eigentlich die Pro-gramme her, welche die Setting-Struk-turen steuern? Barker hatte sich we-der bei der Programm- noch bei derAkteurskomponente um eine Verknüp-fung seines Ansatzes mit anderen

Theorien bemüht. Damit wurde in sei-nem Modell der gesellschaftliche Kon-text weitgehend ignoriert. Die Konsti-tuierung der Programme und die Hin-tergründe ihrer Veränderung in derZeit wurden nicht thematisiert.Gerade bei der Programmkomponen-te ergeben sich aus heutiger Sichtaber eine ganze Reihe von Schnitt-stellen und Anschlussmöglichkeiten zuaktuellen sozialwissenschaftlichen Dis-kursen. Neben Rollentheorien undLebensstiltheorien sind hier vor allemHabitustheorien (N. Elias, P. Bourdieu)zu nennen. Unter „Habitus“ verstehtman gesellschaftlich vermittelte Wahr-nehmungs- und Bewertungsschemata,aufgrund derer Individuen Hand-lungsentscheidungen treffen. Habi-tustheorien wollen erklären, wie Men-schen gesellschaftlich vorgegebeneHandlungsroutinen und Normvorstel-lungen internalisieren und damit,trotz der Entwicklung einer eigenstän-digen Persönlichkeit und der grund-sätzlichen Möglichkeit von Kontin-genz, gesellschaftliche Strukturen re-produzieren. Wie bereits angedeu-tet, bietet sich hier auch die Struk-turationstheorie von A. Giddens alsBezugsgröße an. Diese Theorie er-laubt eine direkte Verknüpfung mitdem Konzept der Action Settingsauch über den Schlüsselbegriff

R A U M - F o r s c h u n g

Nicht die Bühne, nicht die Schauspieler,nicht das Stück allein, sondern die konkrete

Aufführung einerbestimmten Inszenierung konstituiert das Setting.

4954/04

„Locale“. Darunter versteht Giddenshandlungs- oder tätigkeitsspezifischeRaumausschnitte, die ein bestimmtesAnordnungsmuster von materiellenGegebenheiten und interagierendenAkteuren aufweist. Unter der Be-zeichnung „Schauplatz“ wird diesesKonzept auch als zentraler Begriff inder handlungstheoretischen Sozial-geografie von B. Werlen (1995 und1997) übernommen.Für die Akteurskomponente ergebensich interessante Anschlussmöglich-keiten an verschiedene Identitätstheo-rien und vor allem an die „Symboli-sche Handlungstheorie“ von E. E.Boesch (1991). Bei der Milieukompo-nente sollte man in der Stadt- undSiedlungssoziologie, der Architektur-theorie, der Ergonomie oder in derStadt- und Siedlungsgeografie fündigwerden.Einschränkend ist allerdings festzuhal-ten, dass die Setting-Theorie nur sol-che Handlungsabläufe modellierenkann, bei denen die Körperlichkeitder Akteure und die Kopräsenz derInteraktionspartner eine Rolle spielt.Für Handlungen, die im Kontext spät-moderner „Entankerungsprozesse“ zusehen sind, bietet sie keine oder nurbegrenzte Analyse- und Erklärungs-möglichkeiten. Auf der anderen Seiteist anzumerken, dass Settings in vielenFällen nur wenig oder gar keine Spiel-räume lassen, Handlungsabläufe aufdie konstitutive Leistung eigener Inten-tionalität zu beziehen. Bei solchen„Gewalt-Settings“ liegen die Defini-tionsmacht und die Synomorphien aus-schließlich im sozialen System oderbei besonders mächtigen Einzelakteu-ren (totalitäre Institutionen, Gefängnis,Absperrungen etc.).Für die Analyse von Siedlungssystemenund die Raumordnung ist die Fragevon Bedeutung, ob die Setting-Theorie

auf höhere Maßstabsebenen übertra-gen werden kann. Das Grundkonzeptgeht ja gleichsam von den kleinstenökologischen Einheiten des Zusammen-hangs von Sach- und Sozialstrukturenaus und operiert auf einer Mikro-Ebe-ne menschlicher Handlungsabläufe. Inunserem Projekt muss deshalb überlegtwerden, ob und wie sich die Zusam-menhänge dieser Mikrostrukturen undihre Kontextualisierung auch in größe-ren Siedlungen oder gar Regionendarstellen lassen. Ein weiteres Problemist die Frage bewusster Fehldeutun-gen. Settings können von den beteilig-ten Akteuren (oder einigen von ih-nen) auch absichtsvoll fehlgedeutetund entgegen dem „eingebauten“Sinn des Programms verwendet wer-den. Wie geht das soziale System mitsolchen Fehldeutungen um?Das Arbeitsprogramm des geplantenForschungsprojekts umfasst unter ande-rem folgende Hauptpunkte:– detaillierte Ausarbeitung der Theo-rie der Action Settings und systemati-sche Darstellung von Verknüpfungs-möglichkeiten zu aktuellen Sozial-theorien– Genotypisierung gegenwärtiger Ac-tion Settings– theoretische Begründung von Makro-Settings– empirische Umsetzung: Pilotprojekt„Stadtzentrum versus Einkaufszen-trum“:

– Analyse der Makrosettings ausge-wählter CBDs im Vergleich zurSetting-Struktur von Einkaufszen-tren in nicht-integrierter Lage– Vergleichende Setting-Analysevon Airport-Center und Europark(Salzburg)

– empirische Umsetzung: Genotypisie-rung von Settings in BallungsräumenDer Autor ist davon überzeugt, dasseine handlungstheoretische Moderni-

sierung der Setting-Theorie gerade fürdie Bereiche Raumforschung, Raum-ordnung und Raumplanung höchstspannende Erkenntnisse und Entwick-lungsoptionen verspricht.

Danksagung: Meinen Mitarbeitern Mag. Nor-bert Gelbmann und Mag. Gerfried Mandlmöchte ich für viele Recherchen, originelleBeiträge, Diskussionen und Anregungen beider Beschäftigung mit diesem Thema danken.Dank schulde ich auch Herrn Prof. G. Kamin-ski, dem wohl besten Kenner der Setting-Theorie, der mir sehr viel Literatur und Mate-rial über die Barker-Schule zur Verfügungstellte und mir viel Zeit für Diskussionen ge-opfert hat.

LiteraturBARKER, R. G., 1968, Ecological Psychology.Concepts and Methods for Studying the Envi-ronment of Human Behavior. – Stanford, Cal.BOESCH, E. E., 1991, Symbolic ActionTheory and Cultural Psychology. – Berlin u.a., (= Recent Research in Psychology)BRAND, K.-W., 1998, Soziologie und Natur– eine schwierige Beziehung. Zur Einfüh-rung. – In: K.-W. BRAND, Hrsg., Soziologieund Natur. Theoretische Perspektiven. –Opladen, (= Soziologie und Ökologie“,Band 2), S. 9-29.GIDDENS, A., 1984, The Constitution ofSociety. Outline of the Theory of Structura-tion. – Cambridge und Oxford.KAMINSKI, G., 2000, Roger G. Barker &Associates: Habitats, Environments, and Hu-man Behavior. Studies in Ecological Psycho-logy and Eco-Behavioral Science from theMidwest Psychological Field Station, 1947-1972 (1978). – In: H. E. LÜCK, R. MILLERund G. SEWZ-VOSSHENRICH, Hrsg., Klassi-ker der Psychologie. – Stuttgart u.a., S. 236-240.POPPER, K. R., 1973, Objektive Erkenntnis.Ein evolutionärer Entwurf. – Hamburg, (=Klassiker des modernen Denkens).WEICHHART, P., 2003, GesellschaftlicherMetabolismus und Action Settings. Die Ver-knüpfung von Sach- und Sozialstrukturen imalltagsweltlichen Handeln. – In: P. MEUS-BURGER und T. SCHWAN, Hrsg., Human-ökologie. Ansätze zur Überwindung derNatur-Kultur-Dichotomie. – Stuttgart (= Erd-kundliches Wissen, Band 135), S. 15-44;1 Abb.WERLEN, B., 1995, Sozialgeographie alltäg-licher Regionalisierungen. Band 1: Zur Onto-logie von Gesellschaft und Raum. – Stuttgart,(= Erdkundliches Wissen, Heft 116).WERLEN, B., 1997, Sozialgeographie alltäg-licher Regionalisierungen. Band 2: Globa-lisierung, Region und Regionalisierung. –Stuttgart, (= Erdkundliches Wissen, Heft119).

1 Aus sprachlichen Gründen werden im Fol-genden ausschließlich männliche Endungenverwendet. Gemeint sind aber selbstverständ-lich immer beide Geschlechter.

R A U M - F o r s c h u n g