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AUFSÄTZE Zusammenfassung: Die Aufhebung nationaler Grenzen durch Europäisierung und Globali- sierung schränkt den Handlungsraum gewerkschaftlicher Aktivitäten stark ein. Wie können sie auf diese Herausforderungen reagieren? Es zeigt sich, dass die verschiedenen Gewerkschafts- formationen je nach der Variante des Kapitalismus, in der sie ihre Handlungsmuster entwickelt haben, unterschiedliche Chancen haben. Die Möglichkeiten, auf der europäischen Ebene dem Globalisierungsdruck zu begegnen, sind sehr begrenzt, was nicht heißt, dass nicht Erfolge zu verzeichnen wären. Durch die ständige Kommunikation und Konsultation hat sich eine Kultur der europäischen Gewerkschaftspolitik herausgebildet, die gestärkt werden muss. Schlüsselwörter: Gewerkschaften · Europäisierung · Globalisierung · Arbeitsbeziehungen Perspectives of trade unions and industrial relations in Europe in the age of Europeanization and globalization Abstract: The deregulation of national borders in the process of globalization and europeaniza- tion brings constitutes a number of challenges for trade union activities. Differences in industrial relations systems have translated into several types of trade union activities, each of which differ- ently appropriate to deal with these challenges. The author pleas for a consolidation of European trade union culture and communication. Keywords: Trade unions · Europeanization · Globalization · Industrial relations Leviathan (2010) 38:89–102 DOI 10.1007/s11578-010-0076-8 Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften zwischen Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung Jürgen Hoffmann © VS-Verlag 2010 Prof. Dr. J. Hoffmann () Universität Hamburg über Helga Wullweber, Linienstraße 130, 10115 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften zwischen Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung

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Aufsätze

Zusammenfassung:  Die  Aufhebung  nationaler  Grenzen  durch  europäisierung  und  Globali-sierung  schränkt  den  Handlungsraum  gewerkschaftlicher Aktivitäten  stark  ein.  Wie  können  sie auf  diese  Herausforderungen  reagieren?  es  zeigt  sich,  dass  die  verschiedenen  Gewerkschafts-formationen  je  nach der Variante des Kapitalismus,  in der  sie  ihre Handlungsmuster  entwickelt haben,  unterschiedliche  Chancen  haben.  Die  Möglichkeiten,  auf  der  europäischen  ebene  dem Globalisierungsdruck  zu  begegnen,  sind  sehr  begrenzt,  was  nicht  heißt,  dass  nicht  erfolge  zu verzeichnen wären. Durch die ständige Kommunikation und Konsultation hat sich eine Kultur der europäischen Gewerkschaftspolitik herausgebildet, die gestärkt werden muss.

Schlüsselwörter:  Gewerkschaften · europäisierung · Globalisierung · Arbeitsbeziehungen

Perspectives of trade unions and industrial relations in Europe in the age  of Europeanization and globalization

Abstract:  the deregulation of national borders in the process of globalization and europeaniza-tion brings constitutes a number of challenges for trade union activities. Differences in industrial relations systems have translated into several types of trade union activities, each of which differ-ently appropriate to deal with these challenges. the author pleas for a consolidation of european trade union culture and communication.

Keywords:  trade unions · europeanization · Globalization · Industrial relations

Leviathan (2010) 38:89–102DOI 10.1007/s11578-010-0076-8

Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften zwischen Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung

Jürgen Hoffmann

© Vs-Verlag 2010

Prof. Dr. J. Hoffmann ()universität Hamburg über Helga Wullweber, Linienstraße 130,10115 Berlin, Deutschlande-Mail: [email protected]

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 Vorbemerkung

Der folgende Artikel ist der letzte, den Jürgen Hoffmann schreiben konnte. er starb am 29. september 2009. Jürgen Hoffmann studierte in den Jahren 1965 bis 1970 Politologie am Otto-suhr-Institut der freien universität Berlin und war dort bis 1976 wissenschaft-licher Assistent. Von  1976  bis  1980  war  er  mit  einer  kurzen  unterbrechung  als  Lehr-stuhlvertreter der geschäftsführende Redakteur der zeitschrift „prokla – zeitschrift  für kritische sozialwissenschaft“, deren Mitgründer er schon 1970 gewesen war. seit 1982 war er Professor für Politische soziologie an der Hamburger universität für Wirtschaft und Politik,  später an der fakultät  für Wirtschafts- und sozialwissenschaften der uni-versität Hamburg. seit den 1970er Jahren publizierte Jürgen Hoffmann eine Vielzahl von texten, die  immer wieder um die frage der Handlungsmöglichkeiten sozialer Akteure und hier insbesondere der Gewerkschaften unter den sich wandelnden strukturbedingun-gen kapitalistischer Gesellschaften kreisten. Hervorzuheben sind in diesem zusammen-hang  insbesondere  sein  Buch  über  „Arbeitsbeziehungen  im  Rheinischen  Kapitalismus – zwischen Modernisierung und Globalisierung“ aus dem Jahr 2006, und sein aus der Lehre hervorgegangenes Grundlagenbuch über politisches Handeln und gesellschaftliche struktur – „Politische soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte“, an dessen dritter, völlig neu bearbeiteter Auflage er noch bis wenige Wochen vor seinem Tod gearbeitet hat.

1   Einleitung

Den  europäischen  Gewerkschaften  wurde  schon  oft  eine  Krise  nachgesagt.  Dennoch haben sie sich bis in die 90er Jahre erstaunlich gut gehalten. Die Krisenmetapher scheint auch wenig geeignet zu sein, die derzeitigen schwierigkeiten vieler europäischer Gewerk-schaften richtig abzubilden, denn Krise  (krisis) bezeichnet z. B. medizinisch die Phase einer  entwicklung,  in  der  ein  Krankheitsstadium  erreicht  ist,  das  entweder  zum tode oder zur Genesung führt. An diesem Punkt sind die europäischen Gewerkschaften noch lange nicht angelangt – wenn sie denn je dort ankommen. Aber: Die schwierigkeiten und erosionstendenzen, mit denen die Gewerkschaften gegenwärtig konfrontiert  sind,  sind nicht zu übersehen. Die Mitgliederzahlen brechen bei vielen nationalen Organisationen dramatisch ein, ihr politischer Einfluss ist in vielen Ländern zurückgegangen oder konnte – in den transformationsländern – erst gar nicht aufgebaut werden, die Verbindung zu den linken Parteien ist brüchig geworden und auf ihrem ureigenen feld der tarifpolitik sind  die  Gewerkschaften  mit  einer  komplexer  gewordenen  post-fordistischen  umwelt und  neuen  Konkurrenten  (insbesondere  den  Berufsverbänden)  konfrontiert  –  von  den Herausforderungen der europäisierung und „Globalisierung“ ganz zu schweigen.

Aber  Organisationen  können  auch  lernen  –  und  insofern  kommt  es  auf  die  fähig-keit  der  gewerkschaftlichen  Organisationen  an,  diese  Herausforderungen  anzunehmen und adäquat zu beantworten. zumal „die“ europäischen Gewerkschaften höchst unter-schiedlich von den jeweiligen Herausforderungen betroffen sind – je nachdem, welche Organisations- und Politikkulturen und -strukturen sie aufweisen und in welches Kapita-lismus- und sozialstaatsmodell sie eingebettet sind.

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Diese unterschiede werden auch im zentrum des folgenden Beitrags stehen, der eine vergleichende  Übersicht  geben  soll.  zunächst  sollen  die  sozialen,  ökonomischen  und kulturellen Herausforderungen der europäischen Gewerkschaften skizziert werden, dann werden  im zweiten Abschnitt die unterschiedlichen Gewerkschaftsstrukturen und -kul-turen in europa im zusammenhang mit den jeweiligen Kapitalismus- und sozialstaats-typen dargestellt, um im dritten Abschnitt hypothesenhaft einige schlussfolgerungen im Hinblick auf unterschiede in der Betroffenheit der Gewerkschaften in den verschiedenen Kapitalismustypen  und  den  Möglichkeiten,  mit  den  Herausforderungen  der  Moderni-sierung  und  Globalisierung  umzugehen,  zu  formulieren. Aus  der  europäisierung  –  so wird abschließend festgestellt – ergeben sich zumindest derzeit kaum Möglichkeiten der Lösung der Probleme, vielmehr ist sie zumindest derzeit eher teil des Problems.

2   Zwischen Modernisierung und „Globalisierung“

Organisationen benötigen umgrenzte Räume, um handeln zu können. so sind Gewerk-schaften  als  Organisationen  auf  feste  unternehmens-  und  Branchengrenzen,  stabile soziokulturelle Milieus und letztlich auf die Grenzen eines Nationalstaates angewiesen, um handlungsfähig zu sein. Werden diese Grenzen aufgelöst, dann wird die formulierung von gemeinsamen Interessen schwierig, und der Gegenseite – hier: den unternehmern – ist es jederzeit möglich, die so genannte „exit-Option“ zu wählen, um so durch Austritt aus  dem  Handlungsfeld  die  gewerkschaftliche  Handlungsfähigkeit  auszuhebeln.  eben dies geschieht aktuell europaweit – und trifft besonders die entwickelten modernen konti-nentaleuropäischen Gesellschaften. Denn im gegenwärtigen Prozess der Modernisierung von Ökonomie und Gesellschaft, der europäisierung und Internationalisierung der Kapi-talbeziehungen,  oft  mit  dem  schlagwort  von  der  „Globalisierung“  etikettiert,  werden zugleich die gewerkschaftlichen Handlungsspielräume eingeschränkt,

(1)  weil das Kapital die Marktgrenzen über die nationalen Grenzen hinaus ausweitet und in form der „global players“ selbst seine nationale Hülle abstreift und neue formen der „exit-Optionen“ bei der Verwendung des Profits durch die Internationalisierung des Geldkapitals und international integrierte Produktionskonzepte eröffnet werden ( „disembedding“), wodurch nationale Regelsysteme unter Druck geraten (vgl. Hoff-mann 2006b). zugleich geraten durch die Internationalisierung der Marktkonkurrenz („benchmarking“)  und  die  entwicklung  einer  neuen  globalen  finanzarchitektur Kapitalismusmodelle der konsens- und kooperationsorientierten Art (z. B. der „Rhei-nische Kapitalismus“) unter Konkurrenzdruck von Seiten eines flexibleren, auf die kurze frist ausgelegten Kapitalismusmodells des „shareholder value“-typs;

(2)  weil dieser  Internationalisierungsprozess  seit den 80er  Jahren mit  einem umstruk-turierungsprozess der Produktion vermittelt  ist, durch den eine  interne wie externe flexibilisierung  mit  formen  der  „Entgrenzung der (Erwerbs-) Arbeit“  eingeleitet wurde  (z. B.  erosion  des  Normalarbeitsverhältnisses,  flexibilisierung  der Arbeits-zeiten, Instabilität und Variabilität des Arbeitsortes und -platzes, Verflüssigung der statusgrenzen, vgl. Döhl et al. 2000), die Internationalisierungsoptionen in form des „global sourcings“ eröffnet;

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(3)  weil darüber hinaus auch die Tertiarisierung von Ökonomie und Gesellschaft mittel-bar oder unmittelbar mit dem Globalisierungsprozess verknüpft  ist. es  ist dies  ein Prozess, der zugleich auch mit der „Feminisierung“ der Arbeit einhergeht; ein Pro-zess, der daher Gewerkschaftsorganisationen, die immer noch von der Kultur einer vorwiegend männlichen Industriearbeit geprägt sind, politisch ins Abseits zu stellen droht (vgl. u. a. Baethge 2000);

(4)  und  weil  diese  drei  „Mega-trends“  von  einem  vierten  trend  unterfüttert  werden, nämlich dem seit den 70er Jahren sichtbaren sozialen Modernisierungsprozess in den westlichen  Industriegesellschaften,  in  dem  traditionelle  soziokulturelle  Milieus,  in denen die traditionellen Bewusstseins- und Handlungsstrukturen des Kerns der Arbei-terbewegung regional verankert waren, sich auflösen bzw. pluralisieren (vgl. z. B. für Deutschland: Vester et al. 1993). Die Moderne als Prozess der enttraditionalisierung macht  auch  vor  der Arbeiterbewegung  und  deren  traditionsgebundener  solidarität nicht halt.

Mit  diesen  entwicklungen  in  europa,  hier  als  „Mega-trends“  zusammengefasst,  wer-den  durch  erweiterte  Marktgrenzen  und  mehr  „exit-Optionen“  des  Kapitals  die  Orga-nisationsgrenzen  und  Politikebenen  der  Gewerkschaften  bedroht  bzw.  teilweise  auch ausgehebelt – was dann auch durch die betroffenen gesellschaftlichen Milieus nicht mehr abgefedert werden kann, weil sie sich in Auflösung befinden. In diesem Prozess wer-den auch jene Teilarbeitsmärkte z. B. im tertiären Sektor ausgedehnt bzw. neu definiert, in denen Gewerkschaften aufgrund ihrer Politikkultur nur bedingt oder überhaupt nicht organisations- und verpflichtungsfähig sind. Geht man mit Ebbinghaus u. Visser (1994) davon aus, dass Gewerkschaften dann der Marktmacht des Kapitals wirkungsvoll ent-gegen treten können, wenn ihr Organisationsgebiet deckungsgleich ist mit den jeweiligen Marktgrenzen, dann werden in allen vier o.a. Aspekten diese Marktgrenzen durchlässig, beziehungsweise ausgeweitet, und damit geht zugleich das lebensweltliche Milieu, also die gesellschaftliche einbettung der Gewerkschaften verloren.

3   Grundtypen der industriellen Beziehungen und Gewerkschaften in Europa

Die folgenden Ausführungen beziehen sich einerseits auf Diskussionen um unterschied-liche Kapitalismustypen ( models oder varieties of capitalism – vgl. Crouch u. streeck 1997; ebbinghaus 1999; Coates 2000; Hall u. soskice 2001; Blanke u. Hoffmann 2006; Hoffmann 2006a), auf der anderen seite auf Versuche, die europäischen Gewerkschaften darin systematisch zu gruppieren (ebbinghaus 1999; Hyman 2001). Der Gefahr, einer-seits diese Grundtypen statisch darzustellen und andererseits die jeweiligen Spezifika und internen Widersprüche der vorgestellten systeme dem Idealtypus zu opfern (vgl. Rubery 1994), kann man bei diesem Ansatz nicht völlig entgehen.

In  Großbritannien  entwickelten  sich  kapitalistische  Industrien  schon  sehr  frühzei-tig, im industriellen Sektor dominierten und dominieren weiterhin börsenfinanzierte, oft kleine unternehmen; die ebenfalls frühzeitig und zahlreich entwickelten Gewerkschaften (vgl. streeck 2003) waren/sind vorwiegend Berufsvertretungen bzw. Vertretungen von bestimmten Beschäftigtengruppen,  die  z. t.  zu  allgemeinen Gewerkschaften  ( „general unions“) ausgebaut wurden, die aber in der Regel (Ausnahmen aktuell: unison, GMB, 

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unite) klein blieben und sich selbst auf dem Markt potentieller Mitglieder marktmäßig orientieren, also um diese konkurrieren. In diesem sinn ist das britische Gewerkschafts-system eingepasst  in das britische Modell einer  liberal market economy, die auf Basis der  finanzierung  durch  die  Börse  kurzfristig-marktorientiert  organisiert  ist  und  keine zivilgesellschaftlichen  Institutionen  –  wie  zum  Beispiel  starke  Verbände  –  entwickelt hat.  so konnten  sich weder  Industrieverbände noch flächentarifverträge herausbilden, ein kollektives Arbeitsrecht existiert nicht, die tarifpolitik konzentriert sich auf company bargaining  (unternehmenstarifverträge).  Über  210  (!)  einzelgewerkschaften  (darunter wenige große und gut organisierte wie die erwähnten unite, uNIsON und GMB), die zusammen  genommen  auf  einen  vergleichsweise  hohen  Organisationsgrad  kommen, konkurrieren auch in den Betrieben untereinander und sind dem Wesen nach eher Ver-teilungskoalitionen ( distribution coalitions im sinne von M. Olson vgl. Olson 1965). Der Dachverband tuC ist schwach und besonders auf die unterstützung der Labour Party ausgerichtet – eine Beziehung, die sich unter „New Labour“ stark veränderte. Der staat greift dann in die Arbeitsbeziehungen ein, wenn es aus sicht der jeweiligen Politik gilt, die Macht der Gewerkschaften ordnungspolitisch einzuschränken. typisch dafür waren die  Gesetzgebungen  zu  Gewerkschaftsfusionen  im  19.  Jahrhundert  und  die  thatcher-schen Gewerkschaftsgesetze der achtziger Jahre. unter Blair wurden die europäischen Direktiven zu „information and consultation“ auf der unternehmensebene – wenn auch ohne durchgreifende erfolge – eingeführt und 1999 wurden gesetzliche Mechanismen zur Anerkennung der überbetrieblichen Gewerkschaften als tarifpartner auf unterneh-mensebene durchgesetzt. Bis 2004 anerkannten allerdings gerade einmal dreißig Prozent der unternehmen die überbetrieblichen Gewerkschaften (vgl. fulton 2009). zwei Drittel der Arbeitnehmer werden nicht einmal von den betrieblichen tarifverträgen erfasst, und in siebzig Prozent der unternehmen existieren keine anerkannten ( recognized) Gewerk-schaften  und  dementsprechend  kein  gesetzliches  Recht  auf  tarifverhandlungen  (vgl. fulton 2009, s. 249, 254). Das betrifft vor allem den sektor der kleinen und mittleren unternehmen.

Die Kultur der britischen Arbeitsbeziehungen ist vorwiegend auf direkte Konfliktaus-tragung angelegt, denn sozialpartnerschaft ist bekanntlich nur starken Verbänden möglich, welche kaum existieren. Die shop stewards im Betrieb verstehen sich nicht im sinne der Mitbestimmungsorgane im unternehmen, sondern nur im sinne einer Gegenmacht gegen die „bosses“ („Klasse“ gegen „Klasse“). Die politische Ausrichtung der Gewerkschafts-bewegung ist im übrigen keineswegs sozialistisch, sondern reformistisch, und auch der oft verwendete Klassenbegriff ist nicht genuin marxistisch definiert. Allerdings werden mit der einführung europäischer Betriebsräte neuerdings in die britischen Arbeitsbezie-hungen auch kontinentaleuropäische Mitbestimmungsstrukturen eingebaut. Da die briti-schen Gewerkschaften in der Regel keine festen Organisierungsgrenzen kennen, können sie sich aber im unterschied zu vielen kontinentaleuropäischen Gewerkschaften schnell an Veränderungen in der struktur der Ökonomie anpassen (z. B. Gewerkschaften in neu gegründeten unternehmen im Dienstleistungssektor organisieren). es kommt hinzu, dass die  Organisationsstruktur  von  unten  nach  oben  ( bottom-up)  organisiert  ist  mit  einem hohen Anteil an ehrenamtlicher tätigkeit – auch dies erhöht die flexibilität der Gewerk-schaften, da sie weniger abhängig von der eingefahrenen Routine eines hauptamtlichen 

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Apparats  sind.  In  ihrer  politischen Kultur  stehen daher  die  britischen Gewerkschaften zwischen „Klasse“ und „Markt“ (vgl. Hyman 2001).

In  einem  krassen  Gegensatz  dazu  stehen  die  westlichen  kontinentaleuropäischen Systeme  der Arbeitsbeziehungen:  In der Regel dominieren hier große Gewerkschafts-verbände. Wolfgang streeck  führt  das darauf  zurück,  dass  aufgrund der  relativ  späten entwicklung der Kapitalismen die kontinentaleuropäischen Gewerkschaften in ihrer ent-stehungsphase bereits mit einem gut organisierten Kapitalismus als Gegner konfrontiert wurden  (vgl.  streeck  2003).  Neben  den  industriellen  Interessenverbänden  haben  sich auch  früh  schon  starke  Arbeitgeberverbände  gebildet;  beide  Organisationstypen  sind dabei mehr oder minder organisations- und verpflichtungsfähig (vgl. dazu auch Hoff-mann 2009). Diese Verbände orientieren ihre Politik vorwiegend national oder sektoral (z. B. in der form von flächentarifverträgen), wenngleich seit den 90er Jahren ein Prozess „kontrollierter Dezentralisierung“ (vgl. traxler et al. 2001) zu beobachten ist. Im unter-schied zu Großbritannien sind die Gewerkschaften in koordinierten Marktwirtschaften in der Regel von oben nach unten ( top-down) organisiert, was unter anderem eine Voraus-setzung darstellt, um in tripartistischen Bündnissen akzeptiert zu werden. Außerdem sind rechtlich abgesicherte formen der Konsultation, Information und der Mitbestimmung auf Betriebs- und unternehmensebene stärker ausgebaut, als dies in Großbritannien der fall ist, wo diese – sieht man einmal von den bereits erwähnten europäischen Betriebsräten ab – so gut wie nicht existieren.

Insofern sind die hier geschilderten Gewerkschaftsstrukturen eingepasst in den kon-tinentaleuropäischen  typus  der  koordinierten  Marktwirtschaften.  Diese  Variante  der Marktwirtschaft  ist  dadurch  charakterisiert,  dass  auf  Basis  einer  finanzierungsstruk-tur durch Bankkredite und Anleihen und durch stakeholder an der Börse ( „geduldiges Kapital“) eine besonders für die mittel- und nordeuropäischen Ländern charakteristische langfristig  ausgerichtete  Qualitätsproduktion  dominiert,  in  deren  zentrum  geschützte und daher intern hochgradig flexible Arbeitsmärkte mit starken Anteilen an Facharbeit stehen, während zugleich starke Verbände und Kammern gegenüber den Märkten eine Koordinierungsfunktion  ausüben  und  bei  der  erstellung  öffentlicher  Güter  mitwirken (soziale  sicherungssysteme,  Berufsausbildung,  Grundlagenforschung  etc.).  In  einer zweiten Variante üben der staat, beziehungsweise die eng miteinander verbundenen eli-ten, hier besonders frankreich und auch Italien, eine koordinierende funktion aus und nehmen entweder direkt Einfluss auf Banken und Unternehmen (Nationalisierungen, staatliche Beteiligungen – frankreich, Italien) oder indirekt (Industriepolitik, elitenkom-munikation).  eine  weitere Variante  ist,  dass  der  staat  im  tripartistischen Verbund  mit Arbeitgebern und Gewerkschaften tätig wird. zugleich organisieren die Gewerkschaften in den Ländern der letztgenannten beiden Varianten in der Regel eine gruppenübergrei-fende solidarität,  indem  sie  die Durchsetzungsstärken  einzelner Mitglieder  ausnutzen, um die schwächeren Mitglieder mitzuziehen ( „encompassing organisations“  im sinne von Olson 1965). In den Organisationsformen der Gewerkschaften und in der Rolle des staates bzw. in dem Verhältnis zwischen staat und tarifpartnern gibt es zwischen diesen Varianten der koordinierten Marktwirtschaft entscheidende unterschiede  (vgl. ebbing-haus 1999; Hyman 2001; Blanke u. Hoffmann 2006):

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95Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen 

0   so dominieren in den skandinavischen Ländern ebenso wie in Deutschland und Öster-reich  große  einheitsgewerkschaften,  die  vorwiegend  nach  dem  Industrieverbands-prinzip (in Österreich nach sparten, in schweden nach statuskategorien) organisiert oder untergliedert sind; die einzelgewerkschaften schließen selbständig auf Basis der staatlich  garantierten  tarifautonomie  flächentarifverträge  ab  (was  nationale  tarif-verträge wie in schweden und Haustarifverträge oder tarifverträge für Berufsgrup-pen nicht generell ausschließt), und die umsetzung der tarifverträge  im sinne der Anpassung an betriebliche Bedingungen wird dann oft – vorwiegend für Groß- und Mittelbetriebe  –  durch  betriebliche  oder  unternehmerische  Mitbestimmungsorgane organisiert. Diese Mitbestimmungsorgane haben dabei nicht nur  Informations- und Konsultationsrechte,  sondern  in  ausgewählten  Bereichen  der  unternehmenspolitik auch weitreichende Mitbestimmungs- und Mitentscheidungsrechte (z. B. in schweden und Deutschland). In Österreich und in zwei Bundesländern in Deutschland werden die Arbeitsbeziehungen  zudem  durch  die  zwangsmitgliedschaft  der  Beschäftigten in Arbeiterkammern  ergänzt.  zugleich  sind  die  Gewerkschaften  im  vorstaatlichen Bereich präsent, sei es, dass sie, wie in skandinavien, die Arbeitslosenversicherung organisieren und mit verwalten (was zu hohen Organisationsgraden geführt hat), sei es, dass sie, wie in Deutschland, im korporatistischen system in halböffentlichen Organi-sationen mit den Arbeitgeberverbänden und dem staat tripartistisch kooperieren (z. B. in der sozialversicherung, im dualen Berufsausbildungssystem, in forschungsinsti-tutionen). Die Deckungsdichte der tarifverträge ist dabei – in Deutschland – immer noch relativ hoch (über 60%). Noch höher ist die Prozentzahl der unternehmen, die sich an den tarifverträgen orientieren, wenn auch mit insgesamt abnehmender ten-denz. Wiederum in Anlehnung an Hyman (2001) kann die politische Kultur dieser Gewerkschaften als zwischen „Markt“ und „Gesellschaft“ verortet werden.

0   In den Ländern des etatistischen Kapitalismustyps, also in frankreich und Italien, sind die Gewerkschaftsorganisationen nach politischen bzw. religiösen Kriterien organi-siert,  zugleich  sehr  klassenorientiert  und  jeweils  national-zentralistisch  aufgebaut. Innerbetrieblich existieren zwar Vertretungsorgane – z. B. die Arbeiterdelegierten und conseils d′entreprise in frankreich oder die RSU in Italien –, doch deren Rechte sind im Wesentlichen auf Information und Konsultation beschränkt. Im falle der conseils d′entreprise  nimmt deren Vorsitz  sogar der unternehmer bzw. patron  ein. Obwohl die Verbände als zentralistisch organisierte Gewerkschaftsverbände ebenso wie die Arbeitgeber- bzw. Industrieverbände in der Politik eine wichtige Rolle spielen, haben die Gewerkschaften (besonders in frankreich) nur einen sehr geringen Organisations-grad und sind dementsprechend nur bedingt verpflichtungsfähig. Ihre Stärke liegt hier wie auch in Italien in der fallweisen Mobilisierung der Nichtmitglieder auf der straße und kurzen nationalen streikaktionen (da keine streikgelder gezahlt werden können, sind langwierige streiks in der Regel nicht durchzuhalten) und dem dadurch auf die Regierung ausgeübten Druck. Denn sowohl die tarifverträge als auch  Verein-barungen über wesentliche Bedingungen der Arbeit (wie z. B. die Arbeitszeit) werden entweder auf der nationalen ebene abgeschlossen oder durch die Regierungsorgane (oder nationale Pakte – so in Italien) durchgesetzt – in frankreich durch Allgemein-verbindlichkeitserklärung seitens einer Kommission, der die tarifpartner und Regie-rungsvertreter angehören – oder aber direkt von der Regierung dekretiert (Beispiel: 

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die  Durchsetzung  der  35-stundenwoche  via  Dekret  der  französischen  Arbeitsmi-nisterin).  Der  gewerkschaftliche  Organisationsgrad  ist  in  der  französischen  Privat-wirtschaft gerade einmal 5%, die tarifvertragsdeckungsdichte aber knapp 90%!  In Italien  dominieren  immer  wieder  neu  geschlossene  Kompromisse  zwischen  staat, Gewerkschaften und unternehmensverbänden zur Absicherung der tarife und weite-rer sozialpakte. es herrschen tripartistische Abkommen bei insgesamt geringer Ver-rechtlichung der industriellen Beziehungen vor (vgl. telljohann 2009). Insofern prägt der  etatistische  typ  des  Kapitalismus  ( „statist capitalism“)  in  dieser  Variante  die Arbeitsbeziehungen, und die politische Kultur der Gewerkschaftsbewegungen muss zwischen „Klasse“ und „Gesellschaft“ resp. „Staat“ verortet werden (vgl. Hyman 2001).1

0   Dieses ausdifferenzierte, aber  seit den 50er  Jahren des vorigen Jahrhunderts bis  in die 90er Jahre relativ stabile system der Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften in Westeuropa wird seit der „Wende“ und verstärkt seit ihrer Integration in den europäi-schen Binnenmarkt durch die entwicklung kapitalistischer Marktwirtschaften in den Ländern des ehemaligen Ostblocks herausgefordert. Diese neue Gemengelage wird dadurch verkompliziert, dass die neuen Marktgesellschaften in der Phase des staats-sozialismus keine eigenen Institutionensysteme für Marktbeziehungen entwickelten und daher  jetzt vor der Aufgabe stehen, dies nach einführung der Marktwirtschaft nachholen zu müssen. Da sie dies auf ganz unterschiedliche Weise in Angriff nehmen, ist auch die entwicklung der Arbeitsbeziehungen in diesen Ländern unbestimmt und unterschiedlich: Während die baltischen staaten eher einem neoliberalen Pfad in der Wirtschaftsstruktur folgen und daher eher Arbeitsbeziehungen analog zu den libera-len Marktökonomien entwickeln, folgen die so genannten Visegrad-staaten (Polen, ungarn, tschechische Republik) einem Pfad, der auf eine weiterhin zentrale Rolle des staates setzt. slowenien dagegen baut wiederum eher korporatistische strukturen auf. Allgemein kann vorerst konstatiert werden, dass die Arbeitsbeziehungen durch eine generelle schwäche der Gewerkschaften und eine starke betriebliche Ausrichtung der gewerkschaftlichen Politik oder – wenn vorhanden – der Betriebsratspolitik gekenn-zeichnet sind, wobei das Verhältnis zwischen betrieblichen und gewerkschaftlichen Vertretungsorganen oft noch ungeklärt oder konfliktreich ist. Die Tarifbeziehungen – wenn solche vorhanden sind – sind auf den Betrieb bzw. das unternehmen konzen-triert ( „company bargaining“), Flächentarifverträge findet man selten.

4   Handlungsspielräume unter Globalisierungs- und Modernisierungsbedingungen – erste Hypothesen

Wenn wir die oben dargestellten dramatischen Veränderungen der Handlungsbedingun-gen für Organisationen auf die zuletzt entwickelten typen der Arbeitsbeziehungen in der europäischen union beziehen, dann ergeben sich ganz unterschiedliche Bedrohungssze-

1  Im „triangel“ Markt – Klasse – Gesellschaft zur Verortung der industriellen Beziehungen in europa bei Richard Hyman hat der staat keinen Platz. Das ist ein ergänzungsbedürftiger Nach-teil der Hyman′schen Figur, die dann allerdings kein Triangel mehr wäre; vgl. Hyman 2001.

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narien und entwicklungsmöglichkeiten in den verschiedenen Regionen, die nicht zuletzt mit den Varianten des Kapitalismus in den verschiedenen Regionen zusammen hängen (vgl. dazu auch ebbinghaus 1999; Hall u. soskice 2001; Blanke u. Hoffmann 2006):0   Das pluralistisch-voluntaristische system in den liberalen Marktökonomien ist einer-

seits relativ unempfindlich gegenüber dem Modernisierungs- und Globalisierungs-druck: Es war schon immer flexiblen Marktbedingungen ausgesetzt, die Konzentration auf direkte Verhandlungen auf Betriebsebene ( „company bargaining“) entspricht der tendenz zur Dezentralisierung der Produktions- und Verhandlungsbedingungen. eine Organisationsstruktur, die keine feste Organisationsgrenzen (Betrieb, Branche) kennt, ermöglicht, dass neue Betriebe, Branchen und sektoren relativ schnell gewerkschaft-lich erschlossen werden können – wenngleich in Konkurrenz zwischen den einzelnen Gewerkschaften. Andererseits steht der schwach entwickelte industrielle sektor, der eher  als  Niedriglohn-Ökonomie  bezeichnet  werden  muss  (standardisierte  Massen-produktion – „screwdriver manufacturing“), unter dem Druck von Niedriglohnöko-nomien auf dem Weltmarkt, während der Dienstleistungssektor, der in den liberalen Marktökonomien hoch entwickelt ist, sich in vielen segmenten strukturell gegenüber Organisierungsversuchen sperrt (auch wenn die anglo-amerikanischen Gewerkschaf-ten nicht jene starren Organisationsgrenzen kennen, die die kontinentaleuropäischen Gewerkschaften  charakterisieren).  Der  Dienstleistungssektor  wird  zugleich  –  auf-grund des hohen Anteils der finanzdienstleistungen – von der aktuellen finanzkrise besonders hart getroffen. Dies alles führt wiederum zu einer Verschiebung des Kräfte-verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital zugunsten der Kapitalseite.

0   Auch in frankreich, dem Land des „etatistischen Kapitalismustyps“, existieren Orga-nisationsstrukturen,  die  die Arbeitnehmer  gegenüber  den  zumutungen  des  Moder-nisierungs-  und  Globalisierungsprozesses  schützen:  Da  sich  die  Gewerkschaften weniger als Mitglieder- denn als Mobilisierungsagenturen verstehen, die die Nicht-mitglieder fallweise zu nationalen Aktionen mobilisieren, und da der staat wesentliche Bedingungen der Arbeitsbeziehungen vorgibt, scheinen wichtige Organisations- und Organisierungsbedingungen  gegenüber  Modernisierungsprozessen  immun  zu  sein – solange die Nichtmitglieder noch die sinnhaftigkeit der gewerkschaftlichen Aktio-nen einsehen und die politische Agenda sich nicht frontal gegen die Gewerkschaften wendet. Damit sind aber auch die beiden schwachpunkte der Gewerkschaftsorgani-sationen benannt, die sich zudem bisher als wenig in der Lage erwiesen haben, in den ökonomischen  Modernisierungsprozess  mit  eigenen  Konzepten  aktiv  einzugreifen (das  sei sache der unternehmen!),  sondern hier  eher als Verhinderungskoalitionen an die Öffentlichkeit traten. Dies gilt auch für die italienischen Gewerkschaften, die aufgrund der instabilen politischen Bedingungen und der mangelhaften Institutionali-sierung der industriellen Beziehungen („verhandelte“ – und daher aufkündbare – Par-tizipation, vgl. telljohann 2009) wenig auf den staat setzen können; sie haben dabei zwar erfolge bei der Organisierung der atypischen Arbeit zu verzeichnen, sind aber zugleich durch die ökonomisch bedingte erosion der klassischen Organisationszent-ren in Nord- und Mittelitalien unter Druck geraten und haben mit dem Niedergang der Linken ihre gesellschaftliche Hegemonie (die noch in den sozialpakten der 90er Jahre enthalten war) weitgehend verloren.

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0   Die  fest  gefügten  und  verrechtlichten  strukturen  des  deutschen  (und  österreichi-schen)  systems  des  Rheinischen  Kapitalismus  (Deutschland,  Benelux-staaten,  mit einschränkungen auch Österreich), deren Langfristorientierung ähnlich wie das skan-dinavische system von „geduldigem Kapital“ (Banken und stakeholdern) abhängig ist, werden durch den Globalisierungsdruck und besonders durch die Veränderungen im Bereich des finanzkapitals  (finanzinvestoren,  Investmentfonds, private equity-Anleger)  unter  Druck  gesetzt.  Dasselbe  gilt  auch  für  das  korporatistische  system der  Arbeitsbeziehungen;  dadurch  wird  auch  die  Mitbestimmung  –  besonders  auf der unternehmensebene  im Aufsichtsrat – von den neuen Akteuren  im finanzsek-tor  in frage gestellt.2 zugleich mit dem seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhun-derts stattfindenden Erosionsprozess traditionaler Arbeitermilieus sind es die starren Organisationsgrenzen  der  Gewerkschaften  und  die  hierarchische  Orientierung  des hauptamtlichen Apparats, die wenig Raum lassen, um neue Betriebe und Branchen besonders im Dienstleistungssektor organisatorisch zu erschließen (trotz Organisie-rung in einer vereinten Dienstleistungsgewerkschaft „Ver.di“, vgl. Waddington et al. 2005). Die deutschen Gewerkschaften hatten aufgrund der starren externen Arbeits-marktgrenzen  schon  immer  schwierigkeiten,  kleine  Betriebe  und  den  modernen Dienstleistungssektor  zu  organisieren.  Die  Gewerkschaften  bleiben  aber  im  Kern der deutschen  „Qualitätsproduktion“  (verarbeitende  Industrie, Chemie, Automobil-sektor), die den exporterfolg der deutschen Wirtschaft bestimmt, stark. Hier konn-ten sie den Mitgliederrückgang auch aufhalten, und dies begründet, zusammen mit der Mitgliedschaft in tripartistischen strukturen (sozialversicherung etc.), auch trotz des relativ deutlichen Mitgliederrückgang ihre gesellschaftlich starke stellung. Aller-dings ist der exporterfolg der deutschen Wirtschaft, der u. a. auch auf die jahrelange Lohnzurückhaltung der deutschen Gewerkschaften zurückgeführt werden kann, auch deren Achillesferse: Denn einmal wurden dadurch andere eu-Ökonomien unter star-ken Konkurrenzdruck gesetzt (z. B. Italien) und fielen so als Nachfrager aus, und zum anderen  wurde  dadurch  die  deutsche Wirtschaft  extrem  abhängig  vom Weltmarkt, was sich in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise negativ bemerkbar macht.

0   Die skandinavischen Gewerkschaften – besonders die schwedischen – sind ähnlich wie die Gewerkschaften in den Ländern des Rheinischen Kapitalismus von der ero-sion ihres sozialen systems der Produktion und des Korporatismus bedroht (auch hier herrscht  langfristig orientierte Qualitätsproduktion vor – besonders  in  industriellen Nischen auf Basis der finanzierung durch stakeholder, zu denen hier  in schweden dominante  shareholder  gehören,  die hier  als „geduldiges Kapital“  quasi  stakehol-der sind bzw. waren). sie können dabei allerdings im unterschied zum Rheinischen Kapitalismus  auf  eine  größere,  historisch  gewachsene  Loyalität  der  unternehmer gegenüber  den  sozialen  und  politischen  Institutionen  bauen.  zudem  verfügen  sie auch aufgrund der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung (Ghent-system) weiter-hin über einen überaus hohen Organisationsgrad von fast 80%. Allerdings ist dieser hohe Organisationsgrad gerade gefährdet (vgl. dazu Kjellberg 2006): Der Beitritt zur 

2  Andererseits  zeigen  empirische Analysen,  dass  bislang  das  deutsche  Modell  der  „corporate governance“  immer noch relativ stabil ist (vgl. Gerum 2007) bzw. sich durch minimale Ver-änderungen flexibel an die neue Situation anpassen konnte (vgl. Sick 2008; Vitols 2003)

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99Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen 

Arbeitslosenversicherung wird z. B. von etlichen schwedischen Beschäftigten nicht mehr  automatisch  mit  einem  Beitritt  zu  den  Gewerkschaften  verbunden.  und  die sozialdemokratie als politische Kraft ist nicht mehr hegemonial, wenngleich ihr erbe vorerst  auch von den  liberalen Parteien,  sofern  sie  an die Regierung gelangt  sind, noch mit verwaltet wird.

0 Für die neuen Beitrittsstaaten des Ostens ergibt sich ein überaus diffuses Bild: sie profi-tieren ökonomisch vom eu-Beitritt und den outsourcing-strategien der unternehmen in den entwickelten westeuropäischen Ländern, die besonders Niedriglohnbereiche in diese Länder auslagern. Daraus  resultiert aber vorerst noch keine stabilisierung der oben beschriebenen Arbeitsbeziehungen, der Betriebsräte oder der Gewerkschaften, zumal  die  aktuelle Wirtschaftskrise  besonders  diese  staaten  an  den  Rand  des  Ban-krotts  treibt und damit schlechte Ausgangsbedingungen für Gewerkschaften schafft. Dabei sind einerseits die Beitrittsländer in der Regel die Gewinner der neuen Mobili-tät des Kapitals, indem dieses die hier existierenden Niedriglohnsegmente bei seinen outsourcing-strategien  ausnutzt, während makroökonomisch gesehen wiederum die kontinentaleuropäischen Arbeitsmärkte durch die starke Warennachfrage aus den Bei-trittsländern stabilisiert wurden. Damit wird das ziel einer europäischen solidarität der Arbeiterbewegungen ganz konkret auf die Probe gestellt3 (vgl. dazu Hoffmann 2003).

Gerade die kontinentaleuropäischen Gewerkschaften befinden sich also aktuell – unab-hängig  von  der  gegenwärtig  ablaufenden  tiefgreifenden  Wirtschaftskrise  –  in  einer prekären  umbruchphase:  sie  müssen  auf  der  einen  seite  die  modernen  segmente  der Arbeitsbevölkerung und die weiblichen Beschäftigten (beides konzentriert im Dienstleis-tungsbereich) erreichen, die sich kaum noch in das kulturelle Modell der hier dominie-renden klassischen Industriegewerkschaften einpassen, und auf der anderen seite dürfen sie dabei nicht ihre klassische Klientel vernachlässigen, die nach wie vor den Kern ihrer Mitgliedschaft ausmacht. zugleich werden die herkömmlichen Arbeitsmarktgrenzen per-foriert (interne und externe flexibilisierung, Outsourcing-Prozesse, wachsende Rolle der Klein- und Mittelbetriebe), und die Gewerkschaften sind gezwungen, ihre Organisations-grenzen  zu  öffnen  –  was  stets  ein  hohes  Risiko  beinhaltet  (vgl.  ebbinghaus  u. Visser 1994). Sie geraten zusätzlich im unqualifizierten Arbeitsmarktsegment unter den Druck der Konkurrenz durch die Arbeitsmärkte in den Beitrittsländern der eu. Die kontinen-tal-europäischen Gewerkschaften werden diese Herausforderungen nur dann erfolgreich bestehen, wenn sie lernen, eine Politik des „spagats“ nach vielen seiten zu praktizieren. Dies wird auf Basis der hauptamtlichen Apparate allein nicht möglich sein, sondern wird in den kontinentaleuropäischen Gewerkschaften eine neue Kultur der einbeziehung der Mitgliedschaft in die Gewerkschaftsarbeit erfordern – im unterschied zu den britischen Gewerkschaften, wo schon immer die Mitglieder viel stärker in die Gewerkschaftsarbeit eingebunden waren und sind. Die frage ist daher, ob die historisch gewachsenen gewerk-schaftlichen Organisationen so lernfähig sind, dass sie die schwierigen organisatorischen 

3  eine Antwort auf diese Problematik könnte das verstärkte setzen auf eine Bildungs- und Weiter-bildungspolitik in der eu sein, um in den entwickelteren Ländern Westeuropas den Übergang in eine Dienstleistungs- und „Wissensgesellschaft“ zu ermöglichen und um zugleich die Quali-tätsproduktion  in den Beitrittsländern  zu  entwickeln –  eine Aufgabe,  die  allerdings von den Gewerkschaften allein kaum zu lösen ist.

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umstrukturierungen und die Veränderung der eigenen Kultur in die Wege leiten können. eine bislang offene frage …

5   Europäisierung – Teil der Lösung oder Teil des Problems?

eine schlussfolgerung aus der Herausforderung durch die Internationalisierung der Kapi-talbewegungen könnte die Reorganisation der Gewerkschaften und ihrer Politik auf der europäischen ebene sein (vgl. dazu Hoffmann et al. 2002) – nicht zuletzt um exit-Optio-nen auf seiten des Kapitals zu unterlaufen. Hier auf der europäischen ebene existieren nicht nur der Dachverband etuC ( European Trade Union Confederation), sondern auch eine Reihe von Branchenverbänden wie der europäische Metallarbeiterbund (eMf), die Branchenverbände der Bergbau- und Chemiearbeiter  (eMCef) oder die Verbände des öffentlichen Dienstes (ePsu) und des Dienstleistungssektors (uNI) oder des transport-sektors (etf). Diese „Verbände“ verstehen sich zwar als Interessenverbände gegenüber der europäischen Kommission und gegenüber den auf der europäischen ebene existie-renden Kapitalverbänden (wie Business europe – ex-uNICe). Doch so sehr hier Aktivi-täten entwickelt werden – sie stehen immer unter einem dreifachen Problemdruck:0 Einmal sind die nationalen Gewerkschaftsverbände zögerlich bei der finanziellen und

inhaltlichen unterstützung – das „Hemd ist hier eben doch näher als der Rock“. Da die nationalen Gewerkschaftsstrukturen und -kulturen auch sehr unterschiedlich sind – wie oben dargestellt –, sind sie auch schwer zu koordinieren. Die eu-Kommission zieht daraus den schluss, dass der „stumme zwang der Verhältnisse“ durch Markt-liberalisierung eine solche Koordination schon bringen werde.4

0 Zweitens sind die Europäischen Gewerkschaftsverbände bei der Einflussnahme auf die  europäischen  Institutionen  konfrontiert  mit  den  hochkomplexen  „multi-level governance“-strukturen der europäischen union und hier auch oftmals auf die Ini-tiative von seiten der Kommission angewiesen (vgl. Hoffmann et al. 2002).

0   Drittens sind auf der europäischen ebene die Kapitalverbände wenig bereit, Ansätze flächendeckender Tarifverhandlungen ( „collective bargaining“) auf der europäischen ebene zuzulassen; selbst der sozialdialog wurde eher boykottiert, wenn es nicht die Möglichkeit  gäbe,  hier  von  seiten  der  Kommission  institutionell  aktiv  zu  werden (was allerdings unter der Barroso-Administration selten genug geschah).

Insofern sind die Möglichkeiten, auf der europäischen ebene dem Globalisierungsdruck zu begegnen, für die Gewerkschaften sehr begrenzt – was nicht heißt, dass nicht erfolge zu verzeichnen wären: Dazu gehören

4  Insofern  ist  die  gängige  Charakterisierung  der  europäischen  Politik  als  „neoliberal“  zu  pau-schal: sicher sind die ökonomischen experten als Berater der Kommission in der Regel neo-liberal  inspiriert  (zumindest bis  zur aktuellen finanzkrise, die  ja viele, bis dahin neoliberale Ökonomen  plötzlich  zum  Regulations-begeisterten  keynesianischen  „Paulus“  konvertieren ließ). es wird bei Analyse der Politik der Kommission aber oft vergessen, dass der „stumme zwang  der  Verhältnisse“,  die  Marktliberalisierung,  für  die  Kommission  der  einfachste  Weg ist, die schwierigkeiten einer positiven Integration – angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Wohlfahrtsstaats- und Kapitalismusmodelle in der eu – zu umgehen.

Page 13: Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften zwischen Modernisierung, Europäisierung und Globalisierung

101Perspektiven der europäischen Arbeitsbeziehungen 

0   die einrichtung der europäischen Betriebsräte (eBR/eWC), wenngleich deren Rechte auf die Information und Konsultation begrenzt sind,

0   eine Reihe von Direktiven von seiten des sozialdialogs und der Kommission in form von Minimalstandards in den Arbeitsbedingungen und

0   Rahmenvereinbarungen  ( «framework agreements»)  durch  die  Branchenverbände (vgl. Blanke u. Hoffmann 2006).

Diese erfolge sollte man nicht unterbewerten, hat sich doch durch die ständige Kommu-nikation  und  Konsultation  eine  Kultur  der  europäischen  Gewerkschaftspolitik  heraus-gebildet, der sich auf Dauer auch die nationalen Gewerkschaften nicht entziehen können werden. Aber dazu braucht es zeit! Denn, so wichtig es ist, europa als Lösung zu akti-vieren, – europa bzw. die Politik der europäischen Institutionen in form der «negativen Integration» (Durchsetzung der Marktfreiheiten) sind nicht nur teil der Lösung, sondern vorerst vor allem teil des Problems selbst, wie die aktuellen urteile des europäischen Gerichtshofs (Laval, Viking und Rüffert, vgl. dazu Blanke 2006) gezeigt haben!

Literatur

Baethge, M. 2000. Der unendliche langsame Abschied vom Industrialismus und die zukunft der Dienstleistungsbeschäftigung. WSI-Mitteilungen 3:149–156.

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