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Bernhard Freiherr v. Richthofen (1836-1895) Polizeipräsident von Berlin (1885-1895) von Hilmann v. Halem Berlin, 2012 Bernhard Freiherr v. Richthofen (1836-1895), Polizeipräsident von Berlin (1885-1895) von Hilmann von Halem steht unter einer Creative Commons Namensnennung- NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz 1

Polizeipräsident Bernhard Freiherr von Richthofen Stand 4.7.2013

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Bernhard Freiherr v. Richthofen (1836-1895)Polizeipräsident von Berlin (1885-1895)

vonHilmann v. Halem

Berlin, 2012

Bernhard Freiherr v. Richthofen (1836-1895), Polizeipräsident von Berlin (1885-1895) von Hilmann von Halem steht unter einer Creative Commons Namensnennung-

NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz

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Bernhard Freiherr v. Richthofen (1836-1895)Polizeipräsident von Berlin (1885-1895)

von Hilmann v. Halem

„Am Tag der Reichsgründung, dem 18. Januar 1871, wurde für Berlin ein neues Kapitel seiner Geschichte aufgeschlagen. … Dem Boom im Zusammenhang mit der Reichsgründung und der damit einhergehenden Funktionserweiterung für Berlin folgte allerdings die Krise auf dem Fuß. Zahlreiche Unternehmen, ohne solide Grundlage gegründet und im wahrsten Sinne des Wortes auf Erfolg spekulierend, brachen zusammen. Vom „Gründerkrach“ im Oktober 1873 zog sich die Krise bis ins Jahr 1879 hin. Die Hauptopfer waren auch damals die „kleinen Leute“, weite Teile der Bevölkerung verarmten und verelendeten. Kein Wunder, dass die Sozialdemokratische Partei regen Zulauf erhielt … Zwar versuchte Bismarck durch das „Sozialistengesetz“, das von 1878 bis 1890 galt, der Sozialdemokratie das Rückgrat zu brechen, aber auch in der Zeit des Verbots der SPD durch den „Eisernen Kanzler“ nahmen die Stimmen für die sozialdemokratischen Kandidaten weiter zu.“1

So beschreibt Eckart D. Stratenschulte die Verhältnisse zur Zeit, als Bernhard Freiherr v. Richthofen Berliner Polizeipräsident war und als Teil seiner Amtsgeschäfte das Sozialistengesetz durchsetzen musste.

Fast zehn Jahre, von 1885 bis 1895, war Bernhard Freiherr v. Richthofen Königlicher Polizeipräsident von Berlin. In seiner Amtszeit wurde das Polizeipräsidium beträchtlich erweitert und zog von seinem alten Domizil am Molkenmarkt 1 zum Alexanderplatz um.

Herkunft und Familie2

B e r n h a r d Ludwig Eduard Freiherr v. Richthofen aus der Barzdorf-Kohlhöher Linie des Geschlechts, wurde am 8. Juni 1836 in Cammerau, Kreis Schweidnitz, Schlesien, als Sohn des Königlich preußischen Leutnants a.D. und Rittergutsbesitzers Eduard Freiherrn v. Richthofen (1801-1863) auf Cammerau, Ellguth und Schmarker, Kohlengrubenbesitzer zu Ellguth, und der Amalie v. Schmettau a.d.H. Schilkowitz (1809-1843), geboren.

Seine Großeltern väterlicherseits waren Andreas Ludwig Freiherr v. Richthofen (1764-1818), Gutsbesitzer auf Cammerau und Majoratsherr auf Gäbersdorf und Henriette v. Lüttwitz (1768- 1804), Tochter des Kgl. preußischen Hauptmanns Christoph August v. Lüttwitz und seiner Gemahlin, Maximiliane Henriette v. Haupt. Die Großeltern mütterlicherseits waren der Kgl. preuß. Kammerherr und Leutnant a.D. Philipp v. Schmettau auf Schilkowitz, Kreis Trebnitz und Amalie v. Prittwitz und Gaffron.

Von den neun, sämtlich unverheirateten, Geschwistern überlebten ihn nur Viktor, General- major z.D., zuletzt Kommandeur der 22. Infanteriebrigade in Breslau und Eduard, Oberst, Kommandeur des Grenadierregiments König Friedrich I. (4. ostpreußisches) Nr. 5 in Danzig, beide Ehrenritter des Johanniterordens. Auch Bernhard blieb ledig. Er starb während eines Kururlaubs, den er in Bad Ems verbracht hatte, am 6. Juni 1895 in der Universitätsklinik in Bonn und wurde auf eigenen Wunsch nicht nach Berlin oder in eine Familiengrablege überführt sondern am Samstag, 8. Juni 1895 (seinem 59. Geburtstag!), in Bonn beigesetzt.

1 Eckart D. Stratenschulte, Kleine Geschichte Berlins, 3. Auflage, München 2001, S.2 Gothaisches Genealogisches Taschenbuch (GGT), Freiherren und Adel, erschienen bis 1942; Genealogisches Handbuch des Adels (GHdA) Handbücher und Adelslexikon, Freiherrliche und Adelige Häuser, bis 2004 ausgewertet.

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Bernhard v. Richthofen hatte einen ausgeprägten Familiensinn. Der Berliner Lokalanzeiger3

berichtete in seinem Nachruf, er habe im Präsidialgebäude eine behaglich eingerichtete Dienstwohnung gehabt, „wo häufig die Angehörigen der weitverzweigten Familie beisammen waren.“ Auch erfahren wir, dass er 1895 „nach beendigter Kur zahlreichen Verwandten Besuche abstatten“ wollte. Dazu kam es dann leider nicht mehr.

Mit rührender Liebe hing er an dem Andenken seiner Eltern, unter deren Bildern er jeden Nachmittag auf dem Sofa auf die Minute genau eine halbe Stunde lang ruhte.4

Beruflicher Werdegang

Nach dem Schulbesuch mit Reifeprüfung auf der Königlichen Ritterakademie5 in Liegnitz, wohin der Vater mit seiner Familie, nach einem finanziell günstigen Verkauf der Cammerau´schen Güter, umgezogen war, studierte Bernhard die Rechts- und Kameralwissenschaften an den Universitäten Halle und Berlin. Nach absolviertem akademischen Triennium ging er aber dann nicht, wie vielleicht beabsichtigt, in den diplomatischen Dienst, auch nicht in die Rechtsprechung, sondern in die Verwaltung. Er bestand am 16. April 1858 beim Königlichen Kammergericht in Berlin die Prüfung pro auscultatura und wurde, nachdem er am 4. Juni 1858 als Appellationsgerichtsauscultator vereidigt worden war, zu seiner praktischen Ausbildung beim Kreisgericht Glogau beschäftigt. Dieser Beamteneid wurde 1885 in seiner Bestallungsurkunde zum Polizeipräsidenten von Berlin noch als gültig bezeichnet.6 Nachdem er das Zeugnis der Reife zur zweiten juristischen Prüfung erworben und das vorschriftsmäßige Probereferat abgeliefert hatte, beantragte er beim Regierungspräsidium in Liegnitz die Zulassung als Referendar. Er bestand die erforderliche Prüfung am 10. März 1860 und wurde nach der Entlassung aus dem Justizdienst am 12. März desselben Jahres als Referendar in das Liegnitzer Regierungskolle- gium eingeführt und verpflichtet. Hier arbeitete er nacheinander in der Finanzabteilung, in den Abteilungen des Innern7 sowie der für Kirchen- und Schulwesen8. Freiherr v. Richthofen9 ist, wie der zuständige Regierungspräsident Graf v. Zedlitz-Trützschler10 aufgrund seiner Zeugnisse und Beurteilungen in seiner Befürwortung des Antrags zur Prüfungszulassung zur dritten (höheren) Staatsprüfung bezeugt11, nach und nach in allen Zweigen der Verwaltung beschäftigt worden. Zwischenzeitlich verwaltete er vom 13. Juni 1861 bis 9. Januar 1862 das Landratsamt in Rothenburg in der Oberlausitz und vertrat den Vorstand der Polizeiverwaltung in Görlitz.

3 Berliner Lokalanzeiger, Nr. 260 (Abendblatt), 6. Juni 1895, siehe unten Anm. 26.4 Deutsche Warte, Hauprblatt, 8. Juni 1895, siehe unten Anm. 26.5 GStA PK I. HA Rep. 125, Nr. 4012, Blatt 3 und 4 des nicht paginierten Konvoluts; „Zeugniß der Reife für die Zulassung zur höheren Staatsprüfung des Regierungs-Referendarius Freiherrn von Richthofen“, eigentlich eine Beschreibung des bisherigen beruflichen Werdegangs mit Empfehlung des Regierungspräsidenten Graf von Zedlitz-Trützschler in Liegnitz. 6 Landesarchiv Berlin A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8352 / 1, fol. 6.7 wie Anm. 5, S. 38 ebd. S. 39 Bernhard schrieb seinen Namen mit zwei „f“: Richthoffen. Aufgrund A. KO. Berlin 30. 3. 1881 wurde der einheitliche Familienname „Richthofen“ angenommen. Vgl. Einleitung zu GHdA wie Anm.2, Freiherrliche Häuser B VII, 1978,. S. 30010 Laut Wikipedia: Carl Graf v. Zedlitz-Trützschler, Regierungspräsident in Liegnitz, Schlesien (1855-1868); Laut GGT wie Anm. 2, Gräfliche Häuser, 76. Jahrgang, 1903, S. 1002: Königlich preuß. WGR Karl E d u a r d Graf von Zedlitz und Trützschler [von Falkenstein] (1800-1880).11 GStA PK wie Anm. 5, Blatt 3, S. 2.

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Die erwähnte höhere Prüfung, hat Richthofen nie abgelegt. Die Zulassung zu dieser Prüfung durch die Königliche Ober-Examinations-Kommission in Berlin wurde mit Schreiben vom 6. August 1862 genehmigt.12 Vor dem Antreten zur Prüfung hätte er innerhalb eines Jahres drei schriftliche wissenschaftliche Arbeiten einreichen müssen: eine allgemeinwissenschaftliche, eine finanzwissenschaftliche und eine polizeiwissenschaftliche Probearbeit.13 Dazu ist es nicht gekommen. Immer wieder hat Freiherr v. Richthofen eine Fristverlängerung zur Abgabe der Probearbeiten beantragt. Jedes Mal befürwortete der Regierungspräsident das Gesuch: das erste am 23. Juli 1863 ab August eine sechsmonatige Nachfrist, von der Ober-Examinations- Kommission sowie dem Finanz- und Innenministerium genehmigt am 13. August 1863.14 Am 14. Februar 1864 beantragte Richthofen wegen längerer Krankheit eine weitere Nachfrist von drei Monaten. Die Registratur der Kommission bestätigte15, dass bisher keine der drei Probearbeiten abgeliefert wurde. Der Finanzminister16 und der Innenminister17 genehmigten eine Frist bis zum 1. Juni 1864. Nachdem er auch diese Frist hatte verstreichen lassen und daraufhin von der Ober-Examinations-Kommission aus der Kandidatenliste zur höheren Staatsprüfung gestrichen worden war, beantragte und erhielt er im Juli 1866 seinen Abschied aus dem Staatsdienst.18 Ohne Berufsaussichten verbrachte er völlig verzweifelt einige Wochen bei seinem Verwandten, Graf zu Solms, auf dem Gut Polgsen bei Wohlau in Schlesien.19

In dieser Zeit schrieb ohne sein Wissen seine Schwester Wally Freiin v. Richthoffen20 einen vier Seiten langen Brief21 an den Staats- und Justizminister, Graf zur Lippe, und bat ihn, sich dafür einzusetzen, dass ihr Bruder auch ohne die höhere (dritte) Staatsprüfung eine Stelle in der praktischen Verwaltung bekommen könnte. Graf zur Lippe22 leitete diesen „Schmerzens- schrei, der einen jungen Beamten betrifft, den ich seit mehreren Jahren kenne“ an seinen „verehrtesten Freund“, den Staats- und Innenminister, Graf zu Eulenburg, weiter, der den Vorgang mit dem Brief des Grafen zur Lippe an den Regierungspräsidenten von Liegnitz, Graf Zedlitz-Trützschler, weitergab und ihn bat, sich vertraulich und gutachtlich dazu zu äußern.23 Graf Zedlitz-Trützschler, seit Jahren ein engagierter Förderer Bernhard Freiherrv. Richthofens, hob Richthofens erfolgreiche Tätigkeit als Verwalter des Landratsamts in Rothenburg, Oberlausitz. und als Vertreter des Polizeipräsidenten in Görlitz hervor, erklärte, warum er die dritte Staatsprüfung nicht abgelegt hatte und empfahl ihn wärmstens für einen Landratsposten.24 Der Innenminister bot Richthofen zunächst die kommissarische Leitung des Landkreises Buk in Neutomischel25, Provinz Posen, an, die dieser auch 1867/68 annahm. Durch königliche Kabinettsordre vom 6. August 1868 wurde er dann offiziell zum Landrat dieses Kreises ernannt und bekleidete diese Stelle bis 1874.

Vom 1. 10. 1874 bis 19. 10. 1885 war er Landrat des Kreises Stolp in Pommern. Zu seinen Aufgaben gehörte hier auch die Leitung des Fräuleinstifts in Stolp und Ruhnau.

12 wie Anm. 11, fol. 13 wie Anm. 5, Blatt 114 GStA PK 1. HA Rep. 77 Nr. 2126, fol. 2; Antrag auf Fristverlängerung um 6 Monate: ebd. fol. 1 15 ebd. fol. 3-4; Genehmigung einer Nachfrist von 3 Monaten durch die o.a. Minister: fol. 5.16 Carl v. Bodelschwingh (1800-1873), Staats- und Finanzminister (1851-1858 und 1862-1866), Wikipedia17 Friedrich Albrecht Graf zu Eulenburg (1815-1881), Staats- und Innenminister (1862-1878) aus Wikipedia18 GStA PK wie Anm. 14, fol. 12/1319 ebd. fol. 1920 V a l l y [oder Wally] Luise Wilhelmine Freiin v. Richthoffen (1830-1875), älteste Schwester.21 wie Anm. 11, fol. 22 Leopold Graf zur Lippe = Leopold Graf und Edler Herr zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld (1815-1889), Königl. preuß. Staats- und Justizminister (1862-1867) aus Wikipedia23 wie Anm. 14: Graf Eulenburg an Graf Zedlitzsch-Trützschler: leitet Brief von Graf Lippe weiter, bittet um vertrauliches Gutachten über Richthofen24 wie Anm. 5, Blatt 3 und 425 oder Neutomysl; wie Anm. 14: fol. 21: Graf Eulenburg an Bernhard Freiherrn v. Richthofen.

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In den Zeitungsnachrufen26 wird immer wieder abschätzig erwähnt, er sei „Landrat in Hinterpommern“27 gewesen, bevor ihm die weit höhere und verantwortlichere Stelle des Berliner Polizeipräsidenten übertragen wurde. Man hielt ihn nicht für diese Aufgabe geeignet. Mit 2226,44 qkm war der Kreis Stolp jedoch der größte Landkreis Preußens.28 Die Leitung eines Landkreises scheint genau seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprochen zu haben.

Freiherr v. Richthofen wurde auf Empfehlung29 des damaligen Innenministers, Robert v. Puttkamer, vom Deutschen Kaiser Wilhelm I. König von Preußen durch Kabinettsordre vom 19. Oktober 1885 zum Königlichen Polizeipräsidenten von Berlin ernannt.30 Dies teilte ihm der Innenminister durch Erlaß vom 24. Oktober 1885 mit. Nach der Amtseinführung durch den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg und des Stadtkreises Berlin, Dr. Heinrich (seit 1888 v.) Achenbach, trat er seinen Dienst effektiv am 26. Oktober und offiziell am 1. November 1885 an. Diese Tatsache teilte er am 26. Oktober achtundsechzig Personen in getrennten Schreiben mit, darunter dem Kanzler des Deutschen Reiches Fürst Otto v. Bismarck, dem Chef der Admiralität Generalleutnant Georg Leo Graf v. Caprivi31, dem Kaiserlichen WGR Dr. Heinrich v. Stephan32 [„Post-Stephan“] und dem Chef des General- stabs der Armee Generalfeldmarschall Graf v. Moltke33 sowie dreizehn Berliner und überregionalen Zeitungen mit: „Berlin, den 26. Octbr. 1885Nachdem Seine Majestät der König Allergnädigst geruht haben, mich zum Polizei-Präsidenten von Berlin zu ernennen, bringe ich hierdurch zur öffentlichen Kenntniß, daß ich heute die Geschäfte übernommen habe und in schleunigen Angelegenheiten zu jeder Zeit, im Uebrigen aber, mit Ausnahme des Dienstags und Freitags, in den Vormittagsstunden von 9 bis 2 Uhr in meinem Dienstzimmer, Molkenmarkt Nr. 1, Zimmer 26, zu sprechen bin.Der Polizei-PräsidentRichthofen“

Arbeit und Lebensweise

Richthofen war als gewissenhafter und fleißiger Beamter bekannt. „Leidenschaften hatte er nicht“ schrieb der Berliner Lokalanzeiger34 „denn er dachte nur an seine Berufspflichten, welche auch keineswegs unbedeutend waren, und die es mit sich brachten, daß er sich oft der öffentlichen Kritik aussetzen mußte. Die Folge seiner schlichten, zurückgezogenen Lebens- weise war, daß niemand von ihm sprach, und der Umstand, daß er sich nirgends vordrängte, ist ein Beweis, daß er von jeher nichts weniger gewesen ist als ein Streber. Bei seiner stolzen

26 Die insgesamt 49 Zeitungsartikel wurden im Polizeipräsidium ausgeschnitten, auf Folioblätter aufgeklebt und als fol. 168-187 in die vom Landesarchiv Berlin verwahrte Personalakte Richthofens, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8352/1, eingefügt. Da die Personalakte ansonsten nicht viele aussagekräftige Schriftstücke enthält, bilden sie die wichtigste Quelle für ein Lebensbild des Berliner Polizeipräsidenten v. Richthofen. 27 unter anderem Vossische Zeitung, Abendblatt, Nr. 260, 6. Juni 1895, ebd. wie Anm. 26.28 Karl-Heinz Pagel, Stolp in Pommern – eine ostdeutsche Stadt, Lübeck 1977, S. 15.29 Innenminister R o b e r t Viktor v. Puttkamer hatte dem Kaiser bereits mündlich Bernhard Freiherrn v. Richthofen als Nachfolger des Polizeipräsidenten Guido v. Madai vorgeschlagen. In einem ausführlichen Schreiben vom 16. Oktober 1885, wie Anm. 11, fol. 23 v – 26 r, in der Anlage der Entwurf der Bestallungsurkunde, ebd. fol.23 r und v, gleichlautend mit der von Kaiser Wilhelm I. unterschriebenen A. KO. vom 19. Oktober 1885, Landesarchiv Berlin A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8352/1. 30 Die folgenden Ausführungen nach der Personalakte wie Anm. 26. 31 Georg Leo Graf v. Caprivi (1831-1899), als Nachfolger Bismarcks Reichskanzler (1890-1894).32 WGR=Wirklicher Geheimer Rat Heinrich v. Stephan (1831-1897), Organisator der Deutschen Reichspost, Generalpostmeister und Gründer des Weltpostvereins (1874)33 Helmuth Graf v. Moltke (1800-1891), Generalfeldmarschall, Chef des Generalstabs der preußischen Armee. Er leitete die Kriegführung 1866 und 1870/71.34 Berliner Lokalanzeiger, Abendblatt Nr. 260 vom 6. Juni 1885, wie Anm. 26..

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Lebensanschauung machte er doch keinen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig. Sein sicheres, furchtloses Auftreten galt als der Ausdruck eines guten Gewissens und eines aufrichtigen Sinnes … Sein Wahlspruch war: „Recht muß doch Recht bleiben“ und durch nichts ließ er sich bewegen, von diesem Wahlspruch abzuweichen … Auf der Straße vermutete niemand in dem alten, hochgewachsenen Herrn in einfacher schwarzer Kleidung, den ersten Beamten der Berliner Polizei. Wer aber näher mit ihm verkehrte, war bald entzückt von dem schlichten, liebenswürdigen Wesen des Polizeipräsidenten.“ Er war kein geselliger Mensch, blieb lieber für sich und gab selten öfter als einmal pro Woche ein Abendessen mit Gästen. „Es war eine fast krankhafte Scheu, sich öffentlich zu zeigen und nur, wenn unbedingt notwendig, gab Herr v. Richthofen dem Zwang nach und erschien bei besonderen Festlichkeiten und Anlässen in der Uniform seines Standes.“35

„Sein Stammlokal in Berlin war Dressel36 … Der echte Berliner Humor des Besitzers dieses vornehmen Restaurants sagte dem Beamten ganz besonders zu. Er unterhielt sich gern mit dem Wirt und nahm wohlwollend und aufmerksam das hin, was dieser ihm vortrug, nicht nur an Speise und Trank, sondern auch an Erzählungen über Tagesereignisse.“37

Vergleich mit seinem Amtsvorgänger Guido v. Madai

Immer wieder wurde in der Presse nach Richthofens Tod ein Vergleich zwischen ihm und seinem Vorgänger, dem Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Guido v. Madai, gezogen,der aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand getreten war. Madai scheint bei der Bevölkerung sehr beliebt und bei der Jugend populär gewesen zu sein. Er hatte sein Amt 13 Jahre lang „ersprießlich und im besten Einvernehmen mit der Bevölkerung verwaltet.“38

„ … als Menschen waren die beiden Polizeipräsidenten von Berlin grundverschieden: Madai war eine gedrungene Figur von stattlichem Leibesumfang, Epikuräer in seiner Lebensauf- fassung, liebenswürdig gegen Jeden, der ihn aufsuchte, lebte in glücklicher Ehe und war jedem Straßenjungen von Berlin bekannt. Herr v. Richthofen dagegen, von großer, derber Gestalt, war verschlossen und wortkarg und lebte einsam sein Leben als Junggeselle, selten nur sah man ihn in der Würde des Amtes und nicht viele Berliner wird es geben, die ihn überhaupt von Angesicht gekannt haben.“

„Es gab Zeiten in Berlin, wo der Polizei-Präsident der populärste Mann in der Stadt war. Jedermann kannte ihn, der kritischen Veranlagung der Berliner gemäß wurden gute und schlechte Witze über seine Persönlichkeit gemacht, die mit gutem Humor entgegen- genommen wurden. Wenn Herr v. Madai, der in dieser Beziehung die sogenannte gute alte Zeit verkörperte, zur Parade ritt, hatte er eine solche Gefolgschaft von heranwachsenden Staatsbürgern hinter sich, daß man glauben konnte, die Reezengasse sei entvölkert. Mit dem Amtsantritt des Herrn v. Richthofen wurde das anders. An die Stelle jener gutmütigen Polizei, die auch bisweilen ein Auge zudrückte, trat das was man heute mit dem modernen Wort „Schneidigkeit“ bezeichnet …“

Umfang der Dienstgeschäfte35 Der Reichsbote, Hauptblatt, Nr. 192, 7. Juni 1895, wie Anm. 2636 Rudolf Dressel, neben Lorenz Adlon einer der führenden Gastronomen in Berlin im späten 19. Jahrhundert.37 Berliner Börsen-Courier, Nr. 260,Beilage, 6. Juni 1895, wie Anm. 2638 z. B. ebd. sowie Berliner Illustrierte Zeitung Nr. 24, 16. Juni 1895; ebd. Das kleine Journal, Nr. 153, Hauptblatt, 7. Juni 1895.

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Als Polizeipräsident war Bernhard Freiherr v. Richthofen gleichzeitig Regierungspräsident für die Reichshauptstadt Berlin. Der Oberpräsident blieb für die Provinz Brandenburg und die Stadt Berlin auch nach einer Reform der Provinzialordnungen weiterhin das kommunale Aufsichtsorgan. Berlin war aber de facto ein eigenständiger Regierungsbezirk. Richthofen erhielt auch die gleichen Bezüge wie ein Regierungspräsident, nämlich jährlich 15.000 Mark zuzüglich 4.800 Mark Equipagengelder.39

Das Polizeipräsidium bestand aus dem Präsidialbüro, der Politischen Polizei, den Abteilungen I-VI, die im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich, für ortspolizeiliche Aufgaben zuständig waren, sowie der Sittenpolizei, dem Einwohnermeldeamt und Fachhauptmannschaften. Auch die Berliner Feuerwehr, die Polizeidirektion Charlottenburg und die Staatliche Anstalt zu Ge-winnung von tierischem Impfstoff unterstanden dem Polizeipräsidenten.40

Der kommunale Bezirk Berlins umfasste 1885 vierundsiebzig Polizeireviere, die Bevölkerungzählte im selben Jahr 1.315.287 Einwohner.41 Ende 1895, Richthofens Todesjahr, waren es über 360.000 mehr:1.678.924.42

„Dem Polizeipräsidenten war der Schutz des Kaisers und seiner Familie, die Aufrechterhal- tung der Ruhe und Ordnung in der Reichshauptstadt, die Ausübung der politischen Polizei, vor allem die Überwachung der Vereinsversammlungen, der Theater, der Presse, das ganze weitläufige Gebiet der Sicherheits-, Verkehrs-, Gewerbe-, Sittlichkeits- und Baupolizei anvertraut.“43

Kritik an Richthofens Amtsführung

Einige Vorgänge werden in den meisten Nachrufen in der Presse immer wieder kritisiert:

„Die Bewohner der Reichshauptstadt beschwerten sich über ihn, weil er, im Gegensatz zu früheren Gepflogenheiten, bei den Festen unseres Königshauses übertriebene Absperrungsmaßregeln zu treffen liebte, die allerdings die Gewißheit boten, daß keine unliebsamen Zwischenfälle sich ereigneten, aber auch vielen die Freude des Zuschauens raubten und für die Gewerbetreibenden, Reisenden und Ärzte manche Schäden mit sich brachten.“44

„Das Absperrungssystem, das bei jeder noch so geringfügigen Gelegenheit den Verkehr aufs Äußerste störte …“.45 „Es sei hier nur erinnert an die Vorgänge, die sich in Folge der Anordnungen der Polizei bei der Ausstellung der Leiche Kaiser Wilhelms I. am Berliner Dom abspielten. Anstatt von möglichst vielen Seiten her Zugänge zum Dom zu schaffen, ließ man nur von einer Seite her den Zutritt der unermeßlichen Menge zum Dom zu und die Folge war ein geradezu beängstigendes Gedränge, in dem viele Personen Verletzungen davontrugen, die Abgeordne- ten und die städtischen Behörden Berlins überhaupt keinen Zutritt zu der Leiche erhielten.“ 46

39 wie Anm. 6, fol. 1 und fol. 3/440 Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat, 1886 und weitere Jahrgänge41 Wikipedia: Berlin, Bevölkerungsstatistik42 Wikipedia ebd.43 Kölnische Zeitung, Köln am Rhein, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.44 ebd.45 Berliner Abendpost, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.46 Freisinnigen Zeitung, Beiblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.

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„Mit seiner Amtstätigkeit verbunden war auch die Verwendung von Gummischläuchen nicht uniformierter Schutzleute gegen das Publikum.“47 „Die Beschwerden, die aus Anlaß der Vorgänge nach der Arbeitslosenversammlung in Friedrichshain am 18. Januar 1894 in der Presse gegen die Polizei erhoben wurden, führten bekanntlich zu dem „Gummischlauchprozeß“ und zu der Verurteilung einer Anzahl Redakteure zu harten Gefängnisstrafen.“48

Durchsetzung von Bismarcks „Sozialistengesetz“(„Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. 10. 1878“, gültig, nach mehreren Verlängerungen durch den Reichstag, bis 1890).

Die Berichte der Berliner Polizeipräsidenten zum Sozialistengesetz, deren Originale in verschiedenen Archiven liegen, wurden 2009 in einem Band, herausgegeben von Beatrice Falk und Ingo Materna, ediert.49

„Mit Inkrafttreten der preußischen Verfassung von 1850 war der Berliner Polizeipräsident zugleich die Zentralstelle der politischen Polizei Preußens, der über den lokalen und begrenzten regionalen Bereich hinaus mit „Aufgaben des Verfassungsschutzes“ eine den preußischen Gesamtstaat umfassende Zuständigkeit hatte. Diese Funktion einer Zentralbehörde erweiterte sich mit der Reichsgründung 1871 auf das deutsche Reichsgebiet. Die exponierte Position des Berliner Polizeipräsidenten war eine Besonderheit in Preußen- Deutschland.“50

Von den insgesamt 48 Quartalsberichten des Polizeipräsidenten an den Preußischen Innenminister, dem er direkt unterstellt war, zeichnete Bernhard Freiherr v. Richthofen beiachtzehn Berichten51 verantwortlich, bei drei Berichten sein Stellvertreter, Oberregierungsrat Friedheim.52 Sie waren verfasst von Regierungsassessor Dr. Wühlisch53 (12), Polizeirat Muhl54

(1), Regierungsassessor Hoppe55 (5), Regierungsassessor Graf v. Schlieffen56 (1)

47 Berliner Zeitung, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.48 Freisinnigen Zeitung, Beiblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.49 „Die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, Teil 2: Die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten über die sozialdemokratische Bewegung in Berlin während des Sozialistengesetzes 1878- 1890, Bearbeitet und eingeleitet von Beatrice Falk und Ingo Materna, in Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, hrsg. von Uwe Schaper, Band 8, Teil II, zugleich: Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, hrsg. von Klaus Neitmann, Band 57; zitiert: Falk/Materna, S.… .50 wie Anm. 48, Falk/Materna, Einleitung, S. 16.51 ebd., Falk/Materna, Berichte III/28 Quartalsbericht III/1885 vom 16. November 1885 bis zum letzten Bericht: III/48 Quartalsbericht III/1890 vom 10. November 1890, S. 415 bis 658.52 ebd., Falk/Materna, Berichte: III/35 Quartal II/1887, 5. August 1887; III/39 Quartal II/1888, 10. August 1888; III/47 Quartal II/1890, 13. August 1890 – jeweils zur Urlaubszeit des Polizeipräsidenten v. Richthofen. ebd., S. 289, Anm. 39: Otto Friedheim (1834-1916), 1880 Regierungsrat im Polizeipräsidium. 1883 Oberregierungsrat und Dirigent der I. Abteilung, ständiger Stellvertreter des Polizeipräsidenten, 1895 Geheimer Regierungsrat, 1909 Geheimer Oberregierungsrat. 53 ebd., S. 347: Dr. jur. G. Wühlisch, 1884-1888 Regierungsassessor bei der Politischen Polizei im Berliner Präsidium. Er hatte bereits unter Richthofens Vorgänger, WGR Guido v. Madai, die Berichte III/24 bis 27 verfasst. In Richthofens Amtszeit schrieb er 12 Berichte, durchgehend von III/28 Quartal III/1885 bis III/39 Quartal II/1888.54 ebd., S. 560: Polizeirat J. Muhl, Bericht III/40 Quartal III/1888 55 ebd., S. 571: Regierungsassessor Hoppe, Dezernent bei der Politischen Polizei im Präsidium; er verfasste 5 Berichte: III/41 Quartal IV/1888 und alle vier Berichte des Jahres 1889, III/42 bis III/45.56 ebd., S. 629: Regierungsassessor Georg Graf v. Schlieffen, Regierungsassistent (sic!) bei der Politischen Polizei, evtl. 1894 – 1902 Landrat in Wiesbaden, Bericht III/46 Quartal I/1890.

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und Regierungsassessor v. Lamprecht57 (2).

Vom Innenminister wurden alle Berichte der Landespolizeibehörden (i.e. Regierungs- präsidenten) an den Berliner Polizeipräsidenten weitergeleitet, der sie als wichtige Zuarbeit für seine halbjährliche Berichterstattung in den „Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung“ nutzte. Die Behörden unterschieden nicht zwischen Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Für den Reichskanzler Otto v. Bismarck sollten „die roten Reichsfeinde“, eine verbrecherische Gesellschaft „von Mördern und Mordbrennern“ in einem „Vernichtungskrieg“ ausgeschaltet werden.58

„In keiner zweiten Stadt Deutschlands ist das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom Augenblick seiner Verkündung an mit solcher Härte zur Anwendung gekommen wie in Berlin, in keiner zweiten Stadt sind so viele Experimente mit ihm gemacht worden wie hier, in keiner zweiten Stadt stieß das Bestreben, die Kräfte der Sozialdemokratie zur Einheit in der Aktion zusammenzuhalten, auf größere Schwierigkeiten als in der Hauptstadt Preußens und des Reiches.“59

„Berliner Polizeibeamte observierten Sozialdemokraten – mitunter tagelang - , alle Versammlungen wurden überwacht und protokolliert, es wurden Haussuchungendurchgeführt, Spitzel innerhalb der sozialdemokratischen Organisation bezahlt, die Berliner Tagespresse ausgewertet und sogar der „Sozialdemokrat“, das Presseorgan der deutschen Sozialdemokratie, abonniert.“60

„Es fällt auf, dass der Berliner Polizeipräsident aufgrund seiner Doppelfunktion als Berichterstatter für den eigenen Polizeibezirk und als Zentrale für das gesamte Reich mit der Materie bestens vertraut war und besonders detailreiche Berichte ablieferte. Er hielt sich auch – im Gegensatz zu den beiden Regierungspräsidenten der Provinz Brandenburg [Frankfurt/Oder und Potsdam] – an das durch den Preußischen Minister des Innern vorgegebene Schema der Zweiteilung eines jeden Berichtes in einen allgemeinen Textteil und einen eher statistischen Teil mit einer genauen Aufstellung „derjenigen Fälle …, in denen das Gesetz mit seinen Verbots- und Strafbestimmungen zur Anwendung gebracht worden ist.“61

Die Strafen waren: Verbote von Vereinen, Versammlungen, Festlichkeiten und Ausflügen, periodischer und nichtperiodischer Druckschriften sowie künstlerischer Werke, Beitrags- und anderer Geldsammlungen; Auflösung von Versammlungen und Festlichkeiten, Aufenthalts- versagungen für einzelne Stadtteile oder das ganze Stadtgebiet, Ausweisungen, kürzere oder längere Gefängnisstrafen etc.62

Von Seiten der Polizei wurden der freien Entfaltung literarischer und künstlerischer Kräfte Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Viele Autoren mussten sich den Eingang zur Bühne erst durch die Gerichte erkämpfen. Gerade Richthofens Amtszeit kennzeichnet den Kampf der Zensur gegen das freie Wort.63 Kunst, Theater und Literatur wurden zensiert, die öffentliche Aufführung mancher Stücke verboten.

57 ebd., S. 639: Regierungsassessor Johann Friedrich v. Lamprecht, Regierungsreferendar (sic!); Berichte III/47 Quartal II/1890 und III/48 Quartal III/189058 ebd., S. 9, Einleitung, dort zitiert als Äußerungen Bismarcks mit Quellenangabe. 59 ebd., S. 18, zitiert mit Quellenangabe nach Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, II, Berlin 190760 ebd., S. 25, Einleitung61 ebd., S. 24 und 2562 ebd., Zusammenstellung aus den Berichten ab III/28. 63 „Das kleine Journal“, Hauptblatt, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.

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Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die Weber“, das Hauptwerk des Naturalismus, geschrieben als objektives geschichtliches Drama vom Hungeraufstand schlesischer Weber im Jahre 1844, hatte sich gegen eine Unzahl polizeilicher und gerichtlicher Verfolgungen als angeblich gegen den Staat gerichtetes Umsturzdrama durchzusetzen. Es wurde für öffentliche Theater verboten und erlebte erst am 26. Februar 1893 als private Veranstaltung der Freien Bühne seine Uraufführung.64

Als am 21. September 1893 Gerhart Hauptmanns Drama „Der Biberpelz“ im Deutschen Theater seine Uraufführung hatte, wurde für dieses Haus die königliche Loge gekündigt.65

Mit der Aussage: „Die janze Richtung paßt uns nich!“ ist Richthofen in den Zitatenschatz eingegangen. Damit begründete er gegenüber Oskar Blumenthal, Direktor des Lessing- Theaters, 1890 sein Verbot der Aufführung von Hermann Sudermanns Drama „Sodoms Ende“.66 Auf Blumenthals Initiative war das Lessing-Theater am Friedrich-Karl-Ufer 1888 mit Lessings „Nathan der Weise“ eröffnet worden.67

„Charakteristisch für die Berichte des Polizeipräsidenten als auch für deren Quellen ist ihre starke Abhängigkeit von der Sicht der Autoren. Die einseitige Dokumentation über die Berliner Arbeiterbewegung durch die Exekutivbeamten hatte sowohl Konsequenzen für die Vollständigkeit und Authentizität der Informationen als auch für die angebotenen Wertungen, deren Intention die Diffamierung der Sozialdemokratie sowie die Hervorhebung der eigenen polizeilichen Maßnahmen war.“68

Freiherr von Richthofens Berichte über die Durchführung des Sozialistengesetzes von 1878

Es ist unmöglich, in diesem Zusammenhang die 22 Berichte, die in Richthofens Amtszeit verfasst und an den Innenminister weitergeleitet wurden, ausführlich zu referieren. Wir wollen einige Schlaglichter setzen zur Illustration dessen, was die Staatsgewalt über die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ zwischen 1885 und 1890 erfuhr und zur Grundlage ihrer Politik gegenüber diesen Bestrebungen machte.

Bericht III/28, Quartal III/1885, 16. November 188569

In der Amtszeit des Polizeipräsidenten Guido v. Madai hatte die Polizei oft mit der Gewerkschafts- und Streikbewegung zu tun. Das änderte sich im Herbst 1885. Die Sozialdemokraten bereiteten sich auf die Berliner Stadtverordnetenwahl vor. Sie wollten mehr eigene Kandidaten durchsetzen. Der Bericht spricht von schrofferer Agitation, rücksichtsloserem Auftreten der Gegner des Staates, die herausfordernder und widerstandslustiger würden.Die Landpartie der Arbeiter-Bezirksvereine nach Köpenik am 30. August, einem jährlich wiederkehrendem Ereignis zum Andenken an Ferdinand Lassalle, sei „vom Geist des Widerstandes und Umsturzes beseelt“ gewesen.

64 Ingo Materna, Wolfgang Ribbe, Geschichte in Daten, BERLIN, Wiesbaden: Fourier Verlag 2003, S. 13665 ebd. S. 136

65

66 Mitteilung von Karl-Friedrich Freiherrn v. Richthofen, Richthofen´sches Familienarchiv, Schloss Königsbrück67 wie Anm. 59, S. 13368 Falk/Materna, Einleitung, S. 2569 ebd. S. 415-428

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Nach der Auflösung einer Versammlung am 20. September vor dem 57. Polizeirevier seien die Rufe „Es lebe die Sozialdemokratie!“ und „Es lebe die Republik!“ laut geworden.Mehr und mehr machten auch Frauen von sich reden, die zur Förderung der Arbeiterinnen- bewegung aufriefen.Nachdem die Badische Regierung den „Centralverband der Metallarbeiter Deutschlands“ am 10. August aufgelöst hatte, waren auch vier Metallarbeitervereine in Berlin betroffen.

Bericht III/29, Quartal IV/1885, 2. Februar 188670

Nach Einschätzung der Polizei wird die Bewegung radikaler. Aus heutiger Sicht sind die auf den Flugblättern der „volksfreundlichen Candidaten der Arbeiterpartei“ erhobenen Forderungen zum Teil noch immer nicht völlig erreicht:

- „Steuerminderung für arme Arbeiter“- „Verteilung der Lasten auf die Schultern derer, die durch ihren Besitz Steuern zahlen- können.“- „Einführung der progressiven Einkommensteuer mit Selbsteinschätzung“- „Schaffung städtischer Institutionen, um den Kindern der Armen den Besuch höherer- Schulen zu ermöglichen“- „Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts auch für - die Kommunalwahlen“

Nach Meinung der Polizei steht trotz aller gegenteiligen Versicherungen von offizieller sozialdemokratischer Seite doch nach wie vor, nach der innersten Überzeugung der Beteiligten, am Ende schließlich der große Entscheidungskampf gegen die konservativen Mächte.Es machen sich Zentralisationsbestrebungen bemerkbar: der Kongress der Schmiede und Stellmacher beschließt zentrale Verbände: für die Schmiede in Berlin, für die Stellmacher in Hamburg.Alle Vereine und Verbände werden polizeilich überwacht um gegebenenfalls „repressiv gegen sie vorzugehen“.

Bericht III/30, Quartal I/1886, 8. Mai 188671

„Keine besonders bemerkenswerten Vorkommnisse“. Zur allgemeinen Sicht der Polizei gehören ständig wiederkehrende Versuche der Redner zur Aufreizung der großen Massen bis hin zu offener Gewalt mit der Waffe in der Hand. Deshalb wird auch die Erteilung von Waffenscheinen streng kontrolliert und eine genaue Statistik über die Beschlagnahme sozialdemokratischer Veröffentlichungen (Bücher, Zeitschriften und Flugblätter) eingeführt.

Bericht III/31, Quartal II/1886, 28. Juli 188672

Die Ausweisung des Reichstagsabgeordneten Paul Singer war ein „besonders harter Schlag für die Berliner sozialdemokratische Partei“.Immer wieder wird von Strafverfahren gegen Arbeiterführer berichtet, z.B. in diesem Quartal gegen den Schlosser Franz Berndt und den Schriftsteller Jens Lauritz Christensen.

70 Falk/Materna S. 429-44771 ebd. S. 448-46172 ebd. S. 462-476

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Bericht III/32, Quartal III/1886, 10. November 188673

Ein Rückschlag für die Polizei waren die Freisprüche in den o.a. Strafprozessen. Franz Berndt und Jens Lauritz Christensen wurden wegen ihrer Zeugenaussage im Prozess gegen den Polizeispitzel Ferdinand Ihring, der sich unter dem Pseudonym „Mahlow“ in den Arbeiter- Bezirksverein für den Osten Berlins eingeschlichen hatte, zu 6 Monaten Haft verurteilt. Das Urteil wurde jedoch vom Landgericht in 2. Instanz wieder aufgehoben. Der Polizeipräsident fand das „geradezu unverständlich“.

Bericht III/33, Quartal IV/1886, 5. Februar 188774

Weitere Radikalisierung und Brutalität gegenüber Polizisten. Sichtbarer Ausdruck der Stimmung in Arbeiterkreisen ist ein 6 Meter langes rotes Banner mit gelber Aufschrift „Nieder mit der Barbarei! Hoch lebe die soziale Revolution!“Ansonsten verlagert sich die „äußerst lebhaft betriebene Agitation“ wegen der Versammlungsverbote in Werkstätten, Fabrikräume und Schanklokale.

Bericht III/34, Quartal I/1887, 30. Mai 188775

Auflösung des Reichstags und Neuwahlen: trotz kurzer Vorbereitungszeit waren die Sozialdemokraten dafür gerüstet, auch finanziell. Sie erhielten Spenden aus dem In- und Ausland, besonders den USA. Im Spätherbst reiste Wilhelm Liebknecht durch Nordamerika.Die Polizei triumphiert, dass sie von einem Flugblatt 450 000 Exemplare noch in der Druckerei beschlagnahmen konnten – ein bedeutender finanzieller Verlust für die Sozialdemokraten.Im Vergleich zur Wahl von 1884 hatten die Sozialdemokraten in allen sechs Wahlbezirken einen Stimmengewinn, insgesamt 31,5 % mehr.

Bericht III/35, Quartal II/1887, 5. August 188776

Nach den Reichstagswahlen trat die sozialdemokratische Bewegung weniger öffentlich hervor. Eher traf man sich geheim in kleinen Gruppen. Auf Landpartien begnügte man sich mit Gesellschaftsspielen und harmlosen Unterhaltungen. Man sang Lieder nach bekannten Melodien, denen sozialdemokratische Texte unterlegt waren. Weiter entfernten Zuhörern waren die Texte „zumeist wenig verständlich“.Die Vertrauensmänner, die der inneren Organisation der Partei angehören, waren mit den Reichstagsabgeordneten und anderen Parteiführern unzufrieden, „da diese im öffentlichen Leben … nicht immer mit der nötigen Schärfe und Schroffheit ihren sozialdemokratischen Standpunkt verfechten“.In diesem Quartal begann die Pressefehde zwischen dem immer radikaler werdenden „Berliner Volksblatt“ und der deshalb neugegründeten „Berliner Volkstribüne“.

73 ebd. S. 477-48674 ebd. S. 487-49575 ebd. S. 496-50776 ebd. S. 508-517

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Bericht III/36, Quartal III/1887, 6. November 188777

Am 15. Juli erfolgte die Aufhebung des geheimen sozialdemokratischen Centralcomités und die Inhaftierung sämtlicher Mitglieder. Die Lassallefeier in Grünau, eine Zusammenkunft, die sich immer zur Massenkundgebung ausdehnte, wurde verboten. Kleine Gruppen trafen sich dennoch im Wald und hissten rote Fahnen. 23 Personen wurden festgenommen. Wegen der häufigen Verhaftung der Verteiler von Flugblättern wurden diese jetzt von Frauen und Kindern verteilt.Die sozialdemokratische Partei hatte Schwierigkeiten, die Stellen der verhafteten Mitglieder des Zentralkomitees zu ersetzen. Es wurde beschlossen, wichtige Mitteilungen, besonders zur Rechnungslegung, nur noch mündlich oder durch Boten zu übermitteln. Die Lohnkommissionen der Zimmerer und Maurer wurden wegen „sozialdemokratischer Bestrebungen“ aufgelöst.

Bericht III/37, Quartal IV/1887, 15. Februar 188878

In diesem Quartal geht es besonders darum, ob man an der Wahl teilnehmen oder „Wahlenthaltung“ üben soll. Die Reichstagsabgeordneten werden von der Partei aufgefordert, ihr Mandat niederzulegen. Dies tat nur der Abgeordnete Fritz Goercki, der bei den Genossen ohnehin schon lange als „Bourgeois“ galt und ihm anvertraute Gelder veruntreut haben soll. Ihm folgten zwei Monate später zwei weitere Stadtverordnete.Hinsichtlich des Reichstagsabgeordneten Paul Singer betrachteten es die Genossen als „ein Unding … wenn man dauernd einen Großkapitalisten und Geschäftstreibenden, der seinen Arbeitern und Arbeiterinnen notorisch dieselben sogenannten „Hungerlöhne“ zahle wie die übrigen als Ausbeuter gekennzeichneten Industriellen an der Spitze der Bewegung in einer dominierenden Stellung dulde, mochten auch sonst seine schätzenswerten Geldzuschüsse die Interessen der Partei fördern.“

Bericht III/38, Quartal I/1888, 20. Mai 188879

Auf einer Wählerversammlung wird Wahlenthaltung bei den Stadtverordnetenwahlen beschlossen, weil „die Eroberung [nur] einiger Sitze in der Stadtverordnetenversammlung die aufsteigende Entwicklung der Arbeiterpartei in keiner Weise gefördert hat“.Im Prozess gegen die Mitglieder des Zentralkomitees werden nur geringe Strafen, in dem gegen polnische Agitatoren dagegen hohe Strafen verhängt.

Bericht III/39, Quartal II/1888, 10. August 188880

Im April erfolgte die Auffindung und Beschlagnahme einer geheimen Druckerei in der Wohnung eines Buchdruckers, als dort gerade eine Anzahl Sozialdemokraten ein Flugblatt herstellte. Die ganze Ausrüstung sowie über 22.000 Flugblätter wurden beschlagnahmt. Der Druckvermerk lautete “Genossenschaftsdruckerei Hottingen-Zürich“ obwohl die Blätter im Deutschen Reich hergestellt worden waren. Das bewies eine seit langem gehegte Vermutung.

77 ebd. S. 518-52678 ebd. S. 527-53879 ebd. S. 539-54880 ebd. S. 549-559

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Der Inhalt des Flugblatts waren „nicht wiederzugebende Schmähungen“ aller drei Monarchen des „Dreikaiserjahres“ 1888.Aufgrund eines Schreibens von August Bebel wurde mehrheitlich beschlossen, wieder an den Stadtverordnetenwahlen teilzunehmen. Bebel hatte „die prinzipielle Nichtbeteiligung als Abstinenzpolitik der Anarchisten“ bezeichnet. Wegen des Verbots der Wahl-Flugblätter durch die Behörden gelangten nur drei Sozialdemokraten in die Stadtverordnetenversammlung.Immer wieder werden zum Ärger der Polizei Gefängnisstrafen eines Gerichts durch Freisprüche eines anderen aufgehoben.

Bericht III/40, Quartal III/1888, 28. November 188881

„Die sozialdemokratische Bewegung in Berlin trug, soweit sie in die Öffentlichkeit trat, einen etwas gemäßigten Charakter“. Die Partei hatte „ihren Anhängern größere Vorsicht in ihrem öffentlichen Auftreten dringendst“ befohlen. Durch die Erkrankung des Reichstagsabgeordneten Wilhelm Hasenclever war eine Nachwahl im VI. Wahlkreis notwendig geworden. Wilhelm Liebkrecht wurde am 30. August „mit 26 067 Stimmen gegen 7 496, welche der freisinnige Kandidat erhielt“, gewählt.An Stelle einer offiziellen und gemeinsamen Lassalle-Feier wurden am 2. September, dem Sedanstag, zwanglose Ausflüge in die Umgebung Berlins unternommen, die äußerlich den Charakter einer patriotischen Feier wahren sollten.Von den 1 311 abgehaltenen Versammlungen „mußten 27 auf Grund des Sozialistengesetzes aufgelöst werden“.

Bericht III/41, Quartal IV/1888, 24. Februar 188982

Auch in diesem Quartal „eine nicht zu verkennende Mäßigung und Zurückhaltung“ der hiesigen sozialdemokratischen Partei.Von 2 054 genehmigten öffentlichen Versammlungen wurden nur 22 polizeilich aufgelöst.Die sozialdemokratische Bewegung hat an Stärke und Ausdehnung zugenommen. Die Partei hat es „trotz aller von den Behörden zur Anwendung gebrachten Unterdrückungsmaßregeln wohl verstanden, ihre Lehren immer breiteren Schichten des Volkes zugänglich zu machen..“

Bericht III/42, Quartal I/1889, 22. Mai 188983

Die Pressefehde „ist während der abgelaufenen Berichtsperiode nunmehr anscheinend endgültig beigelegt.“ Durch Vermittlung der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten ist es gelungen, zwischen der radikalen Parteigruppe und den Gemäßigten eine Aussöhnung herbeizuführen. Das führte zur inneren Erstarkung der Partei und zur Bildung von sogenannten sozialdemokratischen „Wahlvereinen zur Errichtung volksthümlicher Wahlen“. Im Februar erfolgte die Gründung des Arbeiterbildungsvereins. Zu seinen Zielen gehört neben der Belehrung der Mitglieder über wissenschaftliche und wirtschaftliche Fragen hauptsächlich die Ausbildung zu sozialdemokratischen Rednern und Agitatoren.

81 ebd. S. 560-57082 ebd. S. 571-58083 ebd. S. 581-591

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Bericht III/43, Quartal II/1889, 13. August 188984

Obenan stand auch im Berichtszeitraum wieder das Verbreiten sozialdemokratischer Druckschriften, besonders die überregionale Zeitung „Der Sozialdemokrat“ und die Berliner Blätter „Volkstribüne“ und „Volksblatt“, dazu zahlreiche Flugblätter, die „wegen ihres umstürzlerischen und aufreizenden Inhalts … verboten beziehungsweise von der öffentlichen Verbreitung ausgeschlossen werden mussten“. Der Parteikasse flossen reichlich Gelder zu. Trotz hoher Ausgaben für Prozesskosten und Unterstützungsgelder hatte die Kasse im Juni noch einen Barbestand von über 11 360 Mark. Von diesem Geld wurden vermutlich auch die Kosten für die Teilnahme von Vertretern am Arbeiterkongress im Juli in Paris bezahlt werden.Gewerkschaftstätigkeit: 8 000 Zimmerleute und 18 000 Maurer legten generell die Arbeit nieder und machten die Wiederaufnahme von der Erfüllung folgender Forderungen abhängig: „Mindestlohn von 60 Pfennig pro Stunde, 9stündige Arbeitszeit, Fortfall der Akkordarbeit und Einführung einer 14tägigen Kündigungsfrist.“ Ein großer Teil der Streikenden, ungefähr 4 000 Zimmerer und 11 000 Maurer“ verließen Berlin und gingen außerhalb in Arbeit. Die Bauherren verhielten sich den Wünschen der Arbeiter gegenüber streng ablehnend.

Bericht III/44, Quartal III/1889, 19. November 188985

Der Arbeiterkongress in Paris: „Das bei Gelegenheit dieses Kongresses zutage getretene Solidaritätsgefühl der Arbeiterparteien sämtlicher Kulturstaaten hat der gesamten internationalen Arbeiterschaft, speziell auch der hiesigen Sozialdemokratie, die Größe ihrer Macht recht deutlich zum Bewußtsein gebracht.“Eine „Kommission zur Regelung der Lokalfrage“ ließ die Namen aller Berliner Gast- und Schankwirte feststellen und öffentlich bekannt geben, die der „Hergabe ihrer Lokalitäten zur Abhaltung sozialdemokratischer Versammlungen“ zustimmten. Diese profitierten finanziell davon. Das führte dazu, dass andere auch wieder Versammlungen in ihren Räumen zuließen.Brauereien, die sozialdemokratische Versammlungen ablehnten wurden darüber hinaus damit bestraft, dass Gastwirtschaften, die ihr Bier von solchen Brauereien bezogen, ebenfalls gemieden wurden.Man hielt sich weiterhin an das Gebot der agitatorischen Mäßigung. Das zeigte sich bei der Beisetzung des bekannten Agitators Wilhelm Hasenclever. Obwohl „etwa 15 000 Personen, darunter die hervorragendsten Sozialdemokraten Deutschlands, zusammengeströmt waren, kam es zu keinen Ausschreitungen.

Bericht III/45, Quartal IV/1889, 18. Februar 189086

Bei den Stadtverordnetenwahlen im November und Dezember 1889 siegten die sozialdemokratischen Kandidaten in 9 Wahlkreisen. Der sozialdemokratischen Partei wird eine „überaus straffe Disziplin“ bescheinigt. Die „Parole, alle unnötigen Provokationen der Behörden nach Möglichkeit zu vermeiden, wird nach wie vor streng befolgt“.Bei den „Berliner Arbeiterinnen war die Agitation in den vergangenen Monaten eine außerordentlich rege und lebhafte“. Man bemüht sich, auch außerhalb Berlins in einzelnen Orten die Arbeiterinnen gewerkschaftlich zu organisieren“.

84 ebd. S. 592-60385 ebd. S. 604-61886 ebd. S. 619-628

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Bericht III/46, Quartal I/1890, 2. Mai 189087

Die sozialdemokratische Bewegung in Berlin hat an Lebhaftigkeit und Umfang außerordentlich zugenommen. „Neben der Agitation für die Feier des 1. Mai wurden zunächst die Vorbereitungen für die Reichstagswahlen mit Eifer und Energie betrieben“.„Die Wirkung der durch Wort und Schrift betriebenen sozialistischen Propaganda zeigte sich in dem Ergebnis der Reichstagswahlen. Im ersten Wahlgang wurde Singer mit großer Stimmenmehrheit (40 709 Stimmen) für den 4. und Liebknecht (42 274 Stimmen) für den 6. Wahlkreis gewählt“. In drei Wahlkreisen kamen die sozialdemokratischen Kandidaten in die Stichwahl und waren in einem davon erfolgreich.

Bericht III/47, Quartal II/1890, 13. August 189088

Man stritt sich in der Partei noch darum, ob am 1. Mai gearbeitet werden solle oder nicht.Das vorgesehene Ende der Wirksamkeit des Sozialistengesetzes macht sich bemerkbar.Die jüngeren ehrgeizigen Vertrauensleute fürchten nach Rückkehr der alten bewährten Parteiführer ihren Einfluss in der Partei einzubüßen. Man will abwarten, welche Schritte die Fraktionsleitung nach Ablauf des Sozialistengesetzes am 1. Oktober 1890 unternimmt. Die Zeitungen „Der Sozialdemokrat“ und „Berliner Volkstribüne“ sollen dann ihr Erscheinen einstellen und das „Berliner Volksblatt“ das Zentral-Parteiorgan werden. Die Reichstag abge- ordneten Igna[t]z Auer, Paul Singer und August Bebel werden Redakteure dieser Zeitung.Zur Feier zum 1. Mai: Die Radikalen traten für eine allgemeine Arbeitseinstellung an diesem Tag ein, legten die Arbeit nieder und nahmen an der Feier teil. Die Gemäßigten gingen zur Arbeit. Arbeitgeber schlossen sich zusammen und stellten den am 1. Mai feiernden Arbeitern Entlassung bezw. zeitweise Aussperrung in Aussicht.Die Gewerkschaften wählten Delegierte zu einer „Zentralen Streikkommission“, die Kontakt zu außerdeutschen gleichartigen Gewerkschaften anbahnen soll.„Die hiesige Arbeiterinnenbewegung beruht hauptsächlich auf dem Allgemeinen Arbeiterinnenverein sämtlicher Berufszweige Berlins und Umgegend, dessen Bedeutung stetig zunimmt.“

[Der letzte] Bericht III/48, Quartal III/1890, 10. November 189089

Die sozialdemokratische Bewegung stand wesentlich unter dem Einfluss des bevorstehenden Ablaufs der Gültigkeitsdauer des Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 [Sozialistengesetz]. Fast alle Versammlungen verliefen ohne Störung.Im „Berliner Volksblatt“ wurde ein allgemeiner Parteitag auf den 12. Oktober nach Halle a/S ausgeschrieben. Die Wahlen der Delegierten begannen „am ersten Tag der neuen Aera“, dem 1. Oktober gleichzeitig in ganz Deutschland.Wieder begann ein neuer Streit zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel der Partei. Den Sieg der gemäßigten Richtung entschieden Reden Bebels und Singers.Nachdem die städtischen Behörden die Benutzung des großen Rathaussaals für eine zentrale Feier des Gesetzesablaufs abgelehnt hatte, wurde an mehreren Orten gefeiert, wobei besonders die zurückgekehrten Ausgewiesenen begrüßt und festlich bewirtet wurden.

87 ebd. S. 629-63888 ebd. S. 639-64889 ebd. S. 649-658

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Im jeweils zweiten Teil der genannten Berichte, der „Übersicht“, finden sich ausführliche Statistiken der Maßnahmen (z.B. Schließung von Versammlungen, Verbot von Vereinigungen, Verbot der Herstellung und Verbreitung von Druckerzeugnissen etc.) und Strafen (Geld- und Gefängnisstrafen, Ausweisungen etc.).Die Durchführung des Sozialistengesetzes war kein Ruhmesblatt der deutschen Geschichte.

Richthofens Verhältnis zum Kaiser und König

Bernhard Freiherr v. Richthofen diente als Berliner Polizeipräsident unter den drei Kaisern des preußisch-deutschen Kaiserreichs von 1871: Kaiser Wilhelm I. bis 1888, Kaiser Friedrich III. [dem sog. „99-Tage-Kaiser“] im „Dreikaiserjahr“ 1888 und Kaiser Wilhelm II. von 1888 bis 1895.

In einem Nachruf nach seinem Tode heißt es allgemein: „Der Polizeipräsident steht in der unmittelbaren Nähe des Monarchen, wenn auch die ehedem üblich gewesenen täglichen directen Vorträge längst aufgehört haben.“90 Das trifft sicher für Wilhelm II. zu. War es aber vielleicht noch unter Wilhelm I. und Friedrich III. üblich?

Der Reichsanzeiger schrieb: „In dem Heimgegangenen verliert Seine Majestät der Kaiser und König einen seiner treuesten Diener, die Verwaltung einen ihrer tüchtigsten Beamten.“ Dieser Satz wurde von vielen Zeitungen nachgedruckt.91

„Wie aus verläßlicher Quelle mitgeteilt wird, hat das plötzliche Ableben des Polizeipräsi- denten auf den Kaiser einen tiefgehenden Eindruck gemacht. Der Monarch empfand nämlich für den Verstorbenen eine ganz besondere Sympathie, welche aus dem unerschütterlichen Vertrauen auf dessen Verläßlichkeit hervorgegangen war. Sehr oft hörte man den Kaiser in seiner Umgebung sagen: „Auf Richthofen darf ich mich verlassen.“92

Die Personalakte gibt außer einer Belobigung des Polizeipräsidenten und der ganzen Polizei vom 3. März 189293 für die „ganz besondere Sympathie“ nicht viel her. Der entsprechende Text der Mitteilung des Innenministers Ludwig Herrfurth lautet:

„An den Königlichen Polizei-Präsidenten Herrn Freiherrn [sic!] von Richthofen, hierselbst:

Seine Majestät der Kaiser und König haben auf meinen Antrag mittelst Allerhöchster Ordre vom heutigen Tage mich zu beauftragen geruht, der hiesigen Schutzmannschaft für ihr besonnenes, umsichtiges und energisches Verhalten bei den in den letzten Tagen vorigen Monats stattgehabten Straßenunruhen Allerhöchst Seine Anerkennung auszusprechen.

Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich daher ergebenst, diese Allerhöchste Anerkennung mittelstTagesbefehls zur Kenntniß der Schutzmannschaft bringen zu lassen.

Gleichzeitig sehe ich einer gefälligen Anzeige darüber ergebenst entgegen, ob es etwa angezeigt erscheint, für einzelne Beamte der Schutzmannschaft aus Anlaß der bezeichneten

90 Berliner Börsen-Courier, Beilage, 6. Juni 1895, wie Anm. 26.91 Deutscher Reichs-Anzeiger, 6. Juni 1895; Das kleine Journal, (Hauptblatt), 8. Juni 1895; Staatsbürger- Zeitung, Hauptblatt, 7. Juni 1895 etc., wie Anm. 26.92 Berliner Lokalanzeiger, Abendblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.93 wie Anm. 6, fol. 102; Anmerkung: v. = Adelsprädikat, von = Namensbestandteil, bei Zitaten wird die Schreibweise originalgetreu übernommen. H. v. Halem

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Vorgänge die Verleihung von Auszeichnungen Allerhöchsten Orts zu beantragen oder ob etwa aus anderweitigen Rücksichten hiervon abzusehen sein wird.

Der Minister des Innern

gez. Herrfurth“

Auf demselben Blatt (fol. 102) ist vermerkt:„Der erste Absatz des vorstehenden Erlasses ist durch Tagesbefehl bekannt gemacht worden.“und weiter unten:„Mittelst Berichts vom 8. März 1892 sind zu Ordensverleihungen in Vorschlag gebracht:Polizeioberst Paris, Polizei-Hauptmann Barkow, Polizei-Lieut. Lange u. Haccius sowie ein Abtheilungs-Wachtmeister, zwei Polizei-Wachtmeister und fünf Schutzleute.“

Aber natürlich war die Berufung eines hohen königlich preußischen Beamten in monarchischer Zeit eine „ad personam“ zwischen dem König und seinem Untertan, dem er Pflichten auferlegt und Privilegien und Schutz gewährt. So heißt es in der Kabinettsordre94 zur Ernennung Freiherr v. Richthofens zum Königlichen Polizeipräsidenten:

„Baden-Baden, 19. Oktober 1885

Wir Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen etc. thun kund und fügen zu wissen, daß Wir Allergnädigst geruht haben, den Landrath Freiherrn Bernhard von Richthofen zum Polizei-Präsidenten von Berlin zu ernennen.Es ist dies in dem Vertrauen geschehen, daß der nunmehrige Polizei-Präsident Freiherr von Richthofen Uns und Unserm Königlichen Hause in unverbrüchlicher Treue ergeben bleiben und die Pflichten des ihm anvertrauten Amtes in ihrem ganzen Umfange mit stets regem Eifer erfüllen werde, wogegen derselbe sich Unseres Allerhöchsten Schutzes bei den mit seinem gegenwärtigen Amte verbundenen Rechten zu erfreuen haben soll.Urkundlich haben Wir diese Bestallung Allerhöchst Selbst vollzogen und mit Unserem Königlichen Insiegel versehen lassen.Gegeben, Baden-Baden, den 19 ten Oktober 1885. –

L. S. gez. Wilhelm „ von PuttkamerBestallungals Polizei-Präsidentvon Berlin für den LandrathFreiherrn Bernhard von Richthofen zu Stolp.“

Mit keinem Wort ist von einer Verpflichtung gegenüber dem Staat und Volk die Rede.

Im Schriftverkehr des Monarchen mit seinen Untertanen heißt es seit jeher – auch in den letzten Jahrzehnten der konstitutionellen Monarchie – „Wir befehlen allergnädigst“, der Untertan – der bereits Staatsbürger sein sollte – gelobt, alles „ergebenst“ zu tun.Eine Bitte oder ein Antrag wurde „demütigst“ gestellt und „untertänigst“ unterschrieben, die Genehmigung „gnädigst“ gewährt.

94 wie Anm. 6, fol. 5

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Natürlich weisen auch die preußischen Orden Richthofens – meist nur zweit- und drittklassige - , auf eine gewisse Wertschätzung durch den Monarchen hin. So erhielt er „aus Anlaß des geschickten Verhaltens bei den … Straßenunruhen“ den „Königlichen Kronen-Orden zweiter Klasse mit dem Stern.“ Im Nachruf schreibt der Berliner Börsen-Courier allerdings: „Das krasse Einschreiten [der Polizei] bei Gelegenheit der Arbeitslosenversammlungen fand beim Chef der Berliner Polizei keine Billigung …“95

Ein anderer preußischer Orden Richthofens war der Rote Adler Orden. Bei seinem Amtsan-tritt in Berlin hatte er nur diesen Orden 4. Klasse. Dann kamen hinzu die Orden „3. Klasse mit Schleife“ und schließlich 1889 der „2. Klasse mit Eichenlaub“.

„Der verewigte Polizeipräsident besaß zahlreiche Orden, darunter namentlich viele fremdländische, die ihm von auswärtigen Fürsten bei Besuchen am Berliner Hofe verliehen worden sind. Neben preußischen, bayerischen und sächsischen Orden besaß Herr von Richthofen den russischen Annen- und Stanislaus-Orden, ferner den persischen Sonnen- und Löwen-Orden, sowie schwedische, rumänische, österreichische und japanische Orden.“96

Bei einigen wird in der Verleihungsurkunde eigens auf die Verdienste um die Sicherheit der ausländischen Gäste hingewiesen. Ein großer Teil der Dokumente in seiner Personalakte im Landesarchiv Berlin handelt von diesen Verleihungen sowie seinen Anträgen, die Orden anlegen und tragen zu dürfen, die ausnahmslos genehmigt wurden.

Ritter des Johanniterordens, wie sein Vater und seine Brüder Eduard und Viktor, die dem Orden als Ehrenritter angehörten, war er meines Wissens nicht.

Beziehung zum Reichskanzler Fürst v. Bismarck und zum Innenminister v. Puttkamer

Dem nachbarschaftlichen Verkehr Richthofens mit Bismarck auf dessen in der Nähe von Stolp in Pommern gelegenen Gut Varzin und mit dem nicht weit von dort beheimateten Robert Viktor v. Puttkamer, dem preußischen Innenminister aus der Familie von Bismarcks Ehefrau Johanna, der sicher freundnachbarlich war, soll Richthofen seine Berufung als Polizeipräsident und sogar schon vorher als Stolper Landrat verdanken.97 Das lässt sich mit schriftlichen Belegen in Bezug auf Otto v. Bismarck und die Berufung Richthofens zum Berliner Polizeipräsidenten nicht beweisen. Schon eher für die Landratsstelle in Stolp:

Hier müssen wir eine Begebenheit einschalten, die Richthofens Amtsvorgänger in Stolp und Bismarck auf dem Gut Varzin betrifft, das ihm seine Frau Johanna, geborene v. Puttkamer, in die Ehe gebracht hatte.„Der Vorgänger des Herrn von Richthofen im Landratsamt von Stolp war Herr von Gottberg98

gewesen, der sich in seinem Kreise großer Beliebtheit erfreute, aber plötzlich abging, nachdem er mit dem Fürsten von Bismarck wegen einer Hypothek auf Varzin in Zwist geraten

95 wie Anm. 6, fol. 96 Berliner Lokalanzeiger, Abendblatt, 6. Juni 1905, wie Anm. 2697 Berliner Börsen-Courier“, Beilage, 6. Juni 1895, wie Anm. 26: „Es hieß daß … die persönliche Bekanntschaft mit einem sehr einflußreichen Nachbar, mit dem Fürsten Bismarck in Varzin, die Ursache seiner Berufung zu der so wesentlich höheren und verantwortlicheren Stellung gewesen sei“;: „Berliner Abendpost“, Hauptblatt, 7. Juni 1895: „Seiner persönlichen Bekanntschaft mit dem Fürsten Bismarck, der ihn von Varzin her kannte, verdankte er seine Berufung.“ 98 Hans Hugo Erdmann v. Gottberg (1812-1890), von 1853 bis 1873 Landrat des Kreises Stolp in Pommern.

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war. So wenigstens hat Herr von Gottberg die Sache dargestellt. Die Hypothek lastete auf Varzin von Preußens schlimmen Tagen her. Friedrich Wilhelm III.99 hatte ein Kapital, das der Vater des Landrats von Gottberg dem Könige vorgestreckt hatte, auf Varzin eintragen lassen. Der Landrat von Gottberg verlangte einen höheren Zinsfuß, sein Verlangen hatte aber nur die Folge, daß Herr von Bleichröder100, der Bevollmächtigte des Fürsten, die Hypothek sofort auszahlte. Nicht lange nachher nahm Herr von Gottberg seinen Abschied. Sein Nach- folger wurde auf Veranlassung des Reichskanzlers Frhr. von Richthofen …“101

Robert v. Puttkamer allerdings hat sich 1885 bei Kaiser Wilhelm I. mündlich und schriftlich durch seine Empfehlung dafür eingesetzt, dass Bernhard Freiherr v. Richthofen die Stelle des Polizeipräsidenten von Berlin erhielt.102 Von beiden berichtete die Presse nach Richthofens Tod wiederholt, er sei mit ihnen verwandt gewesen.103 Ein genealogisch begründeter Beweis konnte bisher nicht gefunden werden, weder hinsichtlich Bismarcks noch Puttkamers. Um einige Ecken war jedoch der gesamte preußische Adel miteinander versippt und verschwägert.

Die Staatsbürger-Zeitung104 berichtet aufgrund eines nur mit Initialen [ „Herr v. W. .. auf “] genannten Gewährsmannes von einer Abweisung, die Richthofen in einer Herzensange- legenheit erfahren habe, nämlich, dass er als Landrat von Stolp „in nähere Familienbe- ziehungen zum Hause des Fürsten treten sollte. Hierin aber hatte Herr v. Richthofen kein Glück, seine Persönlichkeit erweckte mehr Furcht als Zuneigung.“An anderer Stelle, 105 etwas ausführlicher: „Herr von Richthofen, der auf Veranlassung des Fürsten von Bismarck Polizeipräsident von Berlin geworden war, hatte demselben Protektor auch die Landratsstelle in Stolp zu verdanken106. Bismarck wollte ihn sogar durch engste Bande an seine Familie knüpfen. Der Versuch mißlang jedoch. Die Persönlichkeit des Werbenden erweckte mehr Furcht als Zuneigung.“Der gleiche Wortlaut der Schlussfolgerung beider Zeitungsberichte beweist, dass von einander abgeschrieben wurde.Es wäre interessant, herauszufinden, wer die betreffende Dame war. Aus der nächsten Umgebung des Fürsten käme in Frage seine Tochter Gräfin Marie v. Bismarck, „der erklärte Liebling ihres Vaters“107, 12 Jahre jünger als Richthofen, die 1878 Kuno Graf zu Rantzau, Gesandter im Haag, heiratete. Vielleicht wird diese Angelegenheit irgendwo in der umfangreichen Bismarck-Literatur behandelt.

Richthofen und die Frauen

99 Friedrich Wilhelm III. König von Preußen (1770-1840), König 1797-1840100 Gerson v. Bleichröder (1822-1893), Besitzer des Bankhauses S. Bleichröder, Bankier Bismarcks, 1872 geadelt.101 Staatsbürger-Zeitung, Beiblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.102 wie Anm. 5, fol. 23-26 mit Entwurf der Bestallungsurkunde, fol. 23103 z.B. „Volkszeitung“, Abendblatt, 6. Juni 1895, wie Anm. 26: „Richthofen, ein Verwandter der Familie Bismarck, wurde in der Hochsaison der Bismarck´schen Machtfülle als Nachfolger Madai´s nach Berlin berufen …“.104 „Die Staatsbürger-Zeitung“, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.105 Berliner Zeitung, Beiblatt, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.106 siehe oben S. 12 und Anm. 72107 In einem Brief an seine Ehefrau Johanna – Gastein 28. August [18]71 nennt Bismarck seine Tochter Marie (geboren 21. August 1848) „das lustige Marienwürmchen“. Aus: Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, hrsg. vom Fürsten Herbert Bismarck, Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. 1931, S. 580.

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„Auf diesen [eben genannten] Mißerfolg dürfte wohl seine Abneigung gegen das weibliche Geschlecht überhaupt und die Einsamkeit des Junggesellen zurückzuführen sein. Herr v. Richthofen verkehrte seitdem mit Damen so wenig als möglich; er sprach sogar fast niemals mit weiblichen Personen. Auch mit Damen seiner nächsten Umgebung verkehrte er nur schriftlich, indem er seine Befehle einer Schiefertafel anvertraute, die draußen an der Tür hing. Hatte er plötzlich einmal einen Wunsch, so rief er nicht, gab auch kein Zeichen mit der silbernen Glocke, die auf seinem Tisch stand, sondern ließ einen kurzen Pfiff ertönen. Darauf erschien entweder sein Kutscher Wilhelm oder ein Schreiber, um als Vermittler des Auftrags zu dienen.“108

Richthofen und seine Untergebenen

Immer wieder lesen wir in den Zeitungsnachrufen, unserer wichtigsten Quelle, dass sich der Polizeipräsident für seine Untergebenen einsetzte. Er wird mit den Worten zitiert: „’Was meine Leute angeht, das vertrete ich’, so sagte des öfteren Herr von Richthofen, der sich über die geringsten Details täglich Vortrag halten ließ, und es ist eine bekannte Tatsache, daß er Angriffe gegen die Berliner Polizei so auffaßte, als ob sie gegen ihn gerichtet seien.“109

„Der Tod des Polizeipräsidenten … wird von allen seinen Untergebenen aufrichtig und tief beklagt; denn alle liebten ihren Vorgesetzten wegen dessen wahrhaft väterlicher Fürsorge für jeden seiner Beamten. und wegen seiner Herzensgüte … Ein im Dienst ergrauter Polizeibeamter erzählte unserm Gewährsmann feuchten Auges die folgende charakteristische Episode aus dem Leben des Verewigten: Als Freiherr von Richthofen während seines Aufenthalts in Bad Ems die Promenade entlang schritt, erhob sich ein hagerer, blasser Mann von der Bank und grüßte den Präsidenten. Dieser faßte den Mann näher ins Auge und, ihn erkennend, reichte er ihm mit den Worten: „Ah, ein Berliner Schutzmann im Bade“ die Hand. Als Frhr. v. R. auf seine Frage hörte, daß der Beamte augenleidend sei, griff er in die Tasche und übergab dem darob nicht wenig überraschten Schutzmann mit den Worten: „Da machen Sie sich einen guten Tag!“ eine Doppelkrone. … Nicht minder charakteristisch für die Herzensgüte des Verstorbenen ist ein Ausspruch, den der Präsident vor wenigen Jahren tat, als er in die Lage kam, aus den sog. Manquements (Gehaltsersparnisse aus unbesetzten Stellen) den durch die Vakanzen im Dienst überbürdeten Beamten beträchtliche Gratifikationen auszahlen lassen zu können. Er sagte, während er das betreffende Schreiben unterzeichnete: „Gott sei Dank, das hätte ich endlich durchgesetzt, - das ist doch einmal eine reine, ungetrübte Freude.“ – Noch wenige Tage vor seiner Abreise von hier drückte Frhr. v. Richthofen sein Bedauern darüber aus, daß der Nachtdienst für die älteren Exekutiv-Beamten recht schwer sein müsse, da sie eine Nacht um die andere Dienst auf Wache hätten. „Es ist ein schweres Brot“, meinte der Präsident ernst, „was die Leute haben, aber ich werde die Sache im Auge behalten und ihnen, sobald ich irgend kann, Erleichterungen schaffen.“ Der plötzliche Tod des Präsidenten hat nun die fürsorgliche Absicht vereitelt.“110

Hier eine völlig andere Meinung: „Gegen seine Beamten war er nichts weniger als „väterlich“, was gegenüber den

108 Staatsbürger-Zeitung, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.109 Berliner Börsen-Courier, Beilage, 6. Juni 1895, wie Anm. 26.110 Intelligenzblatt, Hauptblatt, 8. Juni 1895 und Staatsbürger-Zeitung, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.

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Lobhudeleien gewisser Blätter ausdrücklich betont werden mag. Die Berliner haben einen unbeliebteren Polizei-Präsidenten noch nie gehabt, als den Frhrn. von Richthofen.“111

In seinem Tagesbefehl, mit dem Polizei-Oberst Krause am 6. Juni 1895 „die Herren Polizei-Offiziere und Beamten“ vom plötzlichen Tod ihres „hochverehrten Chefs“ in Kenntnis setzt, heißt es u. a.: „Von unbegrenztem Wohlwollen für jeden seiner zahlreichen Untergebenen beseelt, hat der Verewigte mit seltener Hingabe, unerschütterlicher Mannhaftigkeit und Gerechtigkeitsliebe seines verantwortungsvollen Amtes gewaltet, dem Korps [der Schutzmannschaft] aber während des Jahrzehnts seiner hiesigen Amtstätigkeit in zahllosen Fällen Beweise seiner besonderen Fürsorge gegeben. Es sei für uns Alle eine Ehrenpflicht, das Andenken des Dahingeschiedenen hochzuhalten!“112 Polizei-Oberst Krause war Mitglied der Delegation, die das Polizeipräsidium bei Richthofens Beisetzung am 8. Juni in Bonn vertrat. Als weitere Mitglieder waren zu dieser Delegation befohlen:Geheimer Regierungsrat Graf v. Pückler, Dirigent der Kriminalpolizei; Regierungsrat Liber,stellvertretender Dirigent der I. Abteilung [somit in Vertretung des amtierenden Polizeipräsidenten Oberregierungsrat Friedheim]; Geheimer Regierungsrat Muhl, Dirigent der politischen Polizei; Polizei-Hauptmann Bichmann, erster Adjutant; ein Polizei-Wachtmeister und ein Schutzmann.113

Erinnerungen von Zeitgenossen an die Stolper Landratszeit Richthofens (1874-1885)114

„Aus der Landratszeit des Verstorbenen werden uns einige Züge mitgeteilt, die für die ganze Persönlichkeit auch in der späteren Lebens- und Amtszeit umso bezeichnender sind, als Herr v. Richthofen auch in Berlin nur insoweit von seinen früheren Gepflogenheiten abwich, als es unter den veränderten Verhältnissen durchaus unvermeidlich war.Der Landrat von Stolp stand jeden Morgen zwischen 6 und 7 Uhr auf und ging nie zum ersten Frühstück, ohne als frommer Mann sein Morgengebet verrichtet zu haben. Das Frühstück bereitete ihm die Frau seines Kutschers Wilhelm, die er nie anders nannte als „Wilhelms Frau“. Er trank in der Regel Kakao, selten Kaffee, und aß dazu „Schlensäcke“, ein Gebäck zwischen Kuchen und Semmel. Die Butter dazu mußte jeden Morgen frisch geholt werden. Unmittelbar nach dem Frühstück machte sich der Landrat an die Arbeit, der er sich ununterbrochen widmete, bis er sich um 1 ¾ Uhr in ein Hotel zum Mittagstisch begab. Er speiste am liebsten in einer möglichst kleinen Gesellschaft, meist mit nur wenigen Offizieren. War das Essen zu Ende, stand Wilhelm schon mit dem Wagen bereit, der mit einem Schimmelpaar bespannt war. Aber der Landrat benutzte den Wagen nur selten. Wenn das Wetter nicht allzu schlecht war, fuhr Wilhelm mit dem leeren Wagen voraus und der Landrat folgte zu Fuß nach einem benachbarten Dorfe, um dort seinen Kaffee zu trinken. Auch auf dem Heimweg folgte er dem leeren Wagen. Die Zeit von 6 bis 10 Uhr abends widmete Herr v. Richthofen wieder ununterbrochener Arbeit. Dazu trank er eine Flasche Rüdesheimer Berg, eine Marke, von der sein geräumiger Keller durchweg einen Vorrat von 2000 Flaschen barg. Zum Wein genas [genoss] er Biskuits und Keks, ein besonderes Abendbrot kannte er nicht.Gesellschaften und Festlichkeiten machte Herr v. Richthofen nur mit, wenn er ihnen durchaus nicht entgehen konnte. Man konnte aber jedes Mal im Voraus sicher sein, daß er als der erste aufbrach, sobald es möglich war.

111 Berliner Zeitung, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.112 Intelligenzblatt, Hauptblatt, 8. Juni 1895, wie Anm. 26. 113 ebd.114 Staatsbürger-Zeitung, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.

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Freiherr v. Richthofen hatte auch andere seltsame Gepflogenheiten. So öffnete er z.B. niemals eine Tür mit der Hand sondern immer mit dem Ellbogen, und er stieß sie stets mit dem Fuß wieder zu. Die Wirkungen dieser Gewohnheit zeigten sich bald an den Türleisten. Schäden dieser Art durften aber nicht repariert werden, ebenso wenig wie der Hauswirt die Vertiefung ausfüllen durfte, die die Stiefel des Landrats bald unter dem Schreibtisch hervorgerufen hatten.So streng und verschlossen Herr v. Richthofen in seinem Wesen war, so herzensgut zeigte er sich oft in Notfällen. Zahlreiche Familien seines Kreises haben in Unglücksfällen, etwa wenn der Ernährer gestorben war, reichliche Unterstützungen von ihm erhalten.In seiner Häuslichkeit war der Landrat durchaus einfach. Von 12 Zimmern, die seine Wohnung enthielt, benutzte er nur vier. Keine enthielt eine Tapete, alle waren mit Ölfarbe gestrichen, und zwar ohne Ausnahme einfarbig. Die Räume seines Büros waren sämtlich weiß getüncht.In seinen Entschlüssen war er hastig und übereilt; er mußte daher häufig getroffene Anordnungen abändern. Als sich eines Tages seine beiden Schimmel in einem geteerten Stall beschmutzt hatten, wollte er sie auf der Stelle erschießen. Der Sekretär des Kreisausschusses verhinderte im letzten Augenblick die Ausführung dieses plötzlichen Entschlusses. Dieser Sekretär [Er hieß Lüdtke und arbeitete die ganze Zeit für ihn] war überhaupt eine der wenigen Personen, die auf den Landrat einigen Einfluß ausübten. In gewissem Sinn und bis zu einem gewissen Grad konnte das auch Wilhelm, den er auch nach Berlin mitnahm.Zu seinen wenigen Vertrauten gehörte der Bruder des ehemaligen Ministers v. Puttkamer115

und der Rittergutsbesitzer v. Below-Saleske.116

Im Ganzen war Freiherr v. Richthofen ein Sonderling und Hypochonder. Für Musik und Theater hatte er kein Interesse. Auf der Straße sah er stets vor sich, um niemanden grüßen zu müssen. Den prächtigen Garten, der in Stolp zu seiner Wohnung gehörte, hat er nie betreten.Seine Erholung während der Arbeit bestand darin, daß er den Spielen der Kinder, die im Hofe oder im Garten sich tummelten, mit lebhafter Theilnahme zusah. Dabei erheiterten sich oft seine sonst strengen Gesichtszüge. Beliebt war er als Landrath in seinem Kreise nicht; man hielt ihn für einen mittelmäßig begabten, aber sehr pflichttreuen und arbeitsamen Beamten.Mit dem Oberbürgermeister von Stolp lag er in ständiger Fehde, da er von dessen Rechten nur sehr wenig anerkannte.“

Krankheit und Tod

„Bonn a. Rhein, 6. Juni [1895], 6 Uhr 10 Minuten (Telegramm unseres Correspondenten.)

Heute Nacht 4 Uhr starb hier in der königl. Universitäts-Klinik der Polizei-Präsident von Berlin F r e i h e r r v o n R i c h t h o f e n an Herzlähmung. … Wohl litt Freiherr von

115 Der Staats- und Innenminister R o b e r t Viktor v. Puttkamer (1828-1900), Vorgesetzter des Polizeipräsidenten Bernhard Freiherr v. Richthofen, hatte drei Brüder: R i c h a r d Karl v. P. (1826-1898), Geheimer Regierungsrat und Landrat; B e r n h a r d Albert v. P. (1838-1906), Herr auf Dampen, Plauth und Gallnau; Franz Ewald J e s k o v. P. (1841-1918), Fideikommissherr, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und Regierungspräsident, Mitglied des preußischen Herrenhauses. Vgl. GGT wie Anm. 2, Adelige Häuser A, 1942, Seite 415 f.116 Alexander Ewald v. Below (1801-1882), Herr auf Saleske etc., Rechtsritter des Johanniterordens, der mit seinem Bruder K a r l Friedrich (1794-1867), Landmarschall der Ritterschaft von Livland, das Fideikommiß Saleske gründete. Alexander Ewald scheint, wie sein Freund Richthofen, unverheiratet gewesen zu sein. Vgl. GGT wie Anm. 2, Adelige Häuser (Uradel), 1902, S. 75.

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Richthofen seit längeren Jahren an einem Leberleiden, zu dessen Heilung er sich alljährlich nach Karlsbad zu begeben pflegte, indessen konnte sein Befinden als gefahrdrohend nicht bezeichnet werden. In diesem Jahre nun hatte er sich entschlossen, zur Kur nach Ems zu gehen, um dort für einen quälenden Husten, welcher von der im Winter überstandenen Influenza zurückgeblieben war, Heilung zu suchen. … Die Lunge wurde in Mitleidenschaft gezogen, und vor etwa vierzehn Tagen verschlimmerte sich der Zustand des Erkrankten derart, daß die Ärzte es für geraten erachteten, Herrn von Richthofen nach Bonn a. Rh. in die königliche Universitätsklinik überzuführen. Dort ist er am ersten Pfingstfeiertag so schwer erkrankt, daß man seine Brüder nach Bonn berief.“117

Andere Zeitungsberichte sprachen von Gehirnlähmung oder von Zungenkrebs. Es wurde vermutet, dass er an den Folgen einer Operation gestorben sei. Am plausibelsten scheint der folgende Bericht zu sein:

„Frhr. v. Richthofen starb an Lungentumor (Geschwulst), hauptsächlich in der rechten Lunge. Die Geschwulst wirkte durch Anschwellen auf die Blut- und Nervengefäße sowie auf das Gehirn und veranlasste starke Atemnot und namentlich in den letzten Tagen häufige Bewußtlosigkeit. Eine Operation hat wegen Aussichtslosigkeit nicht stattgefunden.“118

Telegraphischer Bericht des Korrespondenzen des Berliner Lokalanzeigers vom Beisetzungstag, Bonn a. Rh., 8. Juni 1895, 19 Uhr:119

„Die Beerdigung des verstorbenen Berliner Polizeipräsidenten v. Richthofen fand auf seinen Wunsch in einfachster Weise statt. Die Leiche war in der Kapelle der Klinik aufgebahrt, welche dem ernsten Akte angemessen hergerichtet worden war. Der Sarg war bedeckt mit prachtvollen Blumen und kostbaren Kränzen mit herrlichen Schleifen, unter denen diejenigendes Kaiserpaares und des Berliner Magistrats besonders hervorstachen. Ferner waren prächtige Kranzspenden vom Berliner Präsidium, dessen verschiedenen Abteilungen, von der Berliner Feuerwehr, von Schutzleuten der verschiedenen Polizei-Hauptmannschaften und von einer großen Anzahl Privatpersonen eingetroffen. Von der Kapelle aus bewegte sich der Trauerzug nach der letzten Ruhestätte auf dem neuen Friedhof. Dem Sarge folgten die Brüder des Verblichenen, der Generalmajor und der Oberst von Richthofen, ferner der Regierungspräsident von Richthofen120 aus Köln; dann kamen der Oberpräsident der Rheinprovinz Hasse als Vertreter des Kaisers, die Berliner und Potsdamer Abordnungen, der Oberbürgermeister Spiritus als Vertreter der Stadt Bonn, die hiesige Polizei und die Spitzen der Behörden. Den Trauerzug schloß eine große Anzahl von Civilpersonen. Den prachtvollen Lorbeerkranz des Kaiserpaares trugen ein Wachtmeister der Berliner Schutzmannschaft und ein Feuerwehrmann und der Oberbürgermeister Spiritus den von dem Berliner Magistrat übersandten Kranz. Auf dem Friedhof sprach an der offenen Gruft Pastor Bahnke ein tiefempfundenes Grabgebet. (A.)“

Der Text der Todesanzeige des Stolper Kreisausschusses:121

„Die Einwohner des Stolper Kreises haben mit tiefer Betrübniß von dem Tode des Königlichen Polizei-Präsidenten von Berlin,

Freiherrn von Richthofen,117 Berliner Lokalanzeiger, Abendblatt, 6. Juni 1895, wie Anm. 26..118 Freisinnigen-Zeitung, Beiblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.119 wie Anm. 2.120 Hugo Freiherr von Richthofen (1842-1904), seit 1894 Regierungspräsident in Köln, 1901-1903 Oberpräsident der Provinz Ostpreußen. vgl. GHdA wie Anm. 2, Freiherren B VII, Bd.68 der Gesamtreihe. 121 Neue Preußische Zeitung, Abendblatt, Berlin, 13. Juni 1895, wie Anm. 26.

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Kenntniß erhalten. Der nun Verewigte hat elf Jahre lang, von 1874 bis 1885, der Verwaltung des Kreisesvorgestanden, und in dieser Zeit sich durch seine Pflichttreue, Unparteilichkeit und Jedermanngerecht werdende Humanität das unbegrenzte Vertrauen und die Liebe aller Kreis-Einsassenerworben. Wenn auch die dienstlichen Beziehungen zwischen dem Polizei-Präsidenten von Berlinund dem Kreise Stolp seit nunmehr über 9 Jahre schon gelöst waren, so ist die Erinnerung anihn doch unter uns lebendig geblieben und wir werden dem leider so früh dahingeschiedenen seltenen Mann und Beamten stets ein dankbares, ehrenvolles Andenken bewahren. Stolp, den 8. Juni 1895.

Der Kreisausschuß des Stolper Kreises.v o n P u t t k a m e r, Königl. Landrath; Kammerherr v o n Z i t z e w i t z , Kreisdeputirter;Rittergutsbesitzer Dr. B r e y e r , Kreisdeputirter; Appellationsgerichts-Rath a. D.v o n P u t t k a m e r; Amtsgerichtsrath a. D. und Landschafts-Syndikus K r a u s e; Rittergutsbesitzer, Rittmeister S t e i f e n s a n d; Mühlenbesitzer T o m m .“

Richthofen im Urteil seiner Zeitgenossen

Kurz nach dem Tod des Polizeipräsidenten Bernhard Freiherr v. Richthofen am 6. Juni 1895 hielt sich die Presse weitgehend an die Maxime, dass „über die Toten nur Gutes berichtet werden soll.“Dann setzte die Kritik ein, je nach der politischen Einstellung der Zeitungen und Zeitschriften entweder positiv bis überschwänglich lobend oder leicht kritisch über allgemein negativ bis geradezu gehässig. Aber auch eingehendere Charakterdarstellungen, die Positives und Negatives gegeneinander abwägen, sind in den 49 Presseausschnitten zu finden, die der Personalakte Richthofens beiliegen.Es wurde kritisiert, dass Freiherr v. Richthofen in so zahlreichen Nachrufen gewürdigt wurde, wohingegen über den bereits am 2. Juni desselben Jahres, also 4 Tage vorher, gestorbenen Justizminister Friedberg122, über eine kurze Meldung hinaus, noch kein Nachruf erschienen sei. Als Verfasser eines Strafgesetzbuches und der deutschen Strafprozessordnunghatte er zweifellos eine größere Bedeutung.

Aus dem offiziellen Presseorgan des Polizeipräsidiums:123

„Der Königliche Polizei-Präsident Freiherr Bernhard von Richthofen ist Donnerstag [6. 6.] früh zwischen 4 und 5 Uhr in der Königlichen Universitätsklinik zu Bonn an Gehirnlähmung verstorben. Diese Trauerkunde bewegt ganz Berlin, denn der Verewigte genoß bei der Bevölkerung große Liebe, Achtung und Verehrung. … Der Dahingeschiedene zeichnete sich durch Humanität, Gerechtigkeitssinn und große Herzensgüte aus, und die ihm Untergebenen haben an ihm einen treuen Freund und fürsorgenden Vater verloren. Seine Bescheidenheit und seine vornehme Gesinnung machten ihn bis in die höchsten Kreise hinauf beliebt. …“

Dazu aus entgegengesetzter Richtung:124 „… eine überschwängliche Verkennung des Tatsächlichen sei d i e s e m Blatte verziehen …“

„Die sämmtlichen Beamten vom höchstgestellten bis zum untersten, empfanden die Nachricht mit tiefster Erschütterung, denn sie haben in dem Entschlafenen ihren „humanen und

122 Heinrich v. Friedberg (1813-1895), von 1879 bis 1889 preußischer Staats- und Justizminister, 1888 geadelt. Wikipedia123 Berliner Intelligenzblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.124 Berliner Tageblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.

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gerechten Chef“ verloren, den sie einmütig beklagen. … Der gerade Sinn des Verewigten, seine Gerechtigkeitsliebe und seine wohlwollende Gesinnung werden ihm in weiten Kreisen ein ehrenvolles Andenken sichern.“125

„In aufrichtiger tiefer Trauer beklagen die Beamten des Polizei-Präsidiums den frühen Tod eines allezeit wohlwollenden Vorgesetzten, der ihnen in treuester Hingabe an den Dienst des Königs und des Vaterlandes, in seiner Gerechtigkeitsliebe und Lauterkeit der Gesinnung jederzeit ein leuchtendes Vorbild war und dem sie unbegrenzte Hochachtung, Liebe und Dankbarkeit dauernd bewahren werden.“126

„Mit überraschender Schnelligkeit wußte sich der durch ein hervorragendes Organisationstalent und eisernen Fleiß ausgezeichnete Beamte in das mühevolle und verantwortungsreiche Amt einzuarbeiten, das er unter den schwierigsten Verhältnissen mit großer Umsicht und praktischem Geschick verwaltet hat.“127

Dagegen:„Ein Mann tatkräftigen Eingreifens, außer, wenn er direkten Weisungen von oben her folgen mußte, war er nicht. Er ließ die Maschine der Polizeiverwaltung am liebsten ihren alten Gang weiter gehen und war nur bemüht, Störungen fern zu halten. Man wird kaum sagen können, daß seine Amtsführung als Polizeipräsident von Berlin im Guten wie im Bösen sonderliche Eindrücke in der Berliner Bürgerschaft hinterläßt.“128

„Worin bestanden denn die Verdienste dieses Landrates? Wo und wie hatte er irgend eine Art von Befähigungsnachweis für die Verwaltung des hochwichtigen Postens, auf den man just i h n berufen, erbracht? Er war ein Verwandter und Hausfreund des Minister-Präsidenten Fürsten Bismarck, ein Verwandter des Minister-Vize-Präsidenten Herrn von Puttkamer, der Nepotismus stand in schönster Blüte und so zog der hinterpommersche Landrat als Herr und Gebieter in das Berlinische Polizei-Präsidium ein und schaltete und waltete so, wie es von ihm zu erwarten war. Nirgend die leiseste Spur großgeistigen und großherzigen Empfindens und Tuns, wohl aber das Bestreben, die Macht der Polizei in aller Größe und Rücksichts- losigkeit dem Volke zu Gemüte zu führen … Die Sicherheitszustände in der Stadt ließen viel zu wünschen übrig, - aber in den kleinsten Bezirksvereins-Versammlungen erschienen (bis zum Frühjahr 1890) regelmäßig je ein Polizei-Lieutenant und ein Schutzmann zur Über- wachung. Die allerschwersten Verbrechen harren heute noch der Sühne, weil die Entdeckung der Täter der Polizei durchaus nicht gelingen wollte, - aber über jedes „anstößige Wort“, welches ein oppositioneller Redakteur einmal gesagt oder geschrieben, zeigte sich der Herr Polizei-Präsident persönlich auf´s Beste unterrichtet.“129

„Freiherr Bernhard von Richthofen … mit ihm ist einer der rechtschaffensten, ehrenhaftesten deutschen Männer des deutschen Vaterlandes aus dem Leben geschieden – Freilich, populär, volkstümlich ist der Verstorbene eigentlich nie gewesen, er hat es stets verschmäht nach Volksgunst zu haschen, es lag ihm fern, sich in seinem hohen und verantwortlichen Posten durch Liebedienerei, sei es nach oben oder unten, beliebt zu machen. …“130

125 Neue Preußische Zeitung, 6 Juni 1895, wie Anm. 26.126 Der Vertreter des Polizeipräsidenten, Oberregierungsrat Otto Friedheim, zitiert in: Das kleine Journal, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.127 Der Reichsanzeiger, zitiert im Beiblatt der Märkischen Volkszeitung, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.128 Vossische Zeitung, zitiert ebd.129 Berliner Zeitung, Hauptblatt, 7 Juni 1895, wie Anm. 26.130 Der Reichsbote, Hauptblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.

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„Richthofen … wurde in der Hochsaison der Bismarck´schen Machtfülle als Nachfolger Madai´s nach Berlin berufen; unseres Wissens der erste Fall, daß ein hinterpommerscher Landrat schlankweg zum Polizei-Präsidenten der Reichshauptstadt befördert wurde.“131

„Wenn Herr v. Richthofen die Erwartungen nicht befriedigt hat, die man in ihn setzen zu müssen glaubte, so lag das gewiß nicht am Mangel eines guten Willens; er war ein durchaus pflichttreuer, gewissenhafter Beamter, aber er hat sich nie daran gewöhnen können, die Verhältnisse einer Weltstadt mit anderen Maßen zu messen, als diejenigen des Kreises, aus dem er gekommen war.“132

„Die eng begrenzten Anschauungen des hinterpommerschen Landrats hat v. Richthofen in den neuen Wirkungskreis hinübergenommen und sich niemals von ihnen losmachen können. Es wäre hart, den Verstorbenen für alles das verantwortlich zu machen, was unter seiner Leitung die Berliner Polizei an Mißgriffen und Mißerfolgen zu verzeichnen hatte; denn in den wichtigsten Dingen war er nur ein Werkzeug in höherer Hand, und in anderen Fragen war er bei dem ungeheuer komplizierten Apparat, den er zu beherrschen hatte, auf die tätige Mitarbeit Anderer angewiesen. Bei der Bevölkerung Berlins war er wenig populär …“133

„Man darf sich heute wohl aller der Schwierigkeiten erinnern, welche von Seiten der Polizei der freien Entfaltung literarischer und künstlerischer Kräfte in den Weg gelegt wurden. Viele Autoren mußten sich den Eingang zur Bühne erst durch die Gerichte erkämpfen, und wenn es auch keineswegs in unserer Absicht liegt, Herrn von Richthofen persönlich für alle Mißgriffe, die in dieser Beziehung vorgekommen sind, verantwortlich zu machen, so kennzeichnet doch aber gerade seine Amtszeit den Kampf der Zensur gegen das freie Wort.“134

„Eine Säule der heute noch bestehenden Ordnung ist geborsten: Freiherr von Richthofen, der Polizeipräsident von Berlin ist … gestorben. [Er] war kein in der allerersten Reihe stehender Held in der für Ordnung, Religion und Sitte fechtenden Kampfgenossenschaft … er führte prompt die Befehle aus, die ihm je nach dem Geist und den Gaben seiner Vorgesetzten gegeben wurden, anscheinend nur wenig bekümmert darum, wie sie gerade wirkten …“135

„Der ehemalige pommersche Landrat hatte zunächst Mühe, sich in Berlin geltend zu machen. Man vermißte bei ihm die Urbanität seines Vorgängers, glaubte in seinem Auftreten die Gewöhnung an kleine, rustikale Verhältnisse zu entdecken, hielt ihn zudem für einen strammen Parteimann, der den in ihrer überwiegenden Mehrheit anderen politischen Zielen nachstrebenden Berlinern unmöglich wohlgesinnt sein könne. Nach und nach änderten sich die Anschauungen. Man hatte den neuen Polizeichef besser kennen gelernt; er seinerseits hatte sich in Berlin acclimatisiert. Der plötzliche Sprung von Stolp nach der Hauptstadt war vergessen, vergessen auch das anfänglich schroffe, landrätliche Auftreten des Beamten, der hier im Einklang mit den städtischen Behörden umfassende Interessen zu pflegen hatte. Die Machtbefugnisse des Polizei-Präsidenten von Berlin sind sehr groß, sein Wirkungskreis ist umfangreicher, als der des Ministers eines Kleinstaats, dessen Budget, dessen Einwohnerzahl nicht in Vergleich zu stellen ist mit den entsprechenden Zahlen der Hauptstadt. …“136

„… er war persönlich ein stiller Mann, der seine eigenen Wege ging. Allerdings, die Spuren seiner Tätigkeit waren in der Öffentlichkeit umso mehr bemerkbar und es wird nicht viele

131 Volkszeitung, Abendblatt, 6. Juni 1895, wie Anm. 26.132 Berliner Tageblatt, Abendblatt, 6. Juni 1895, wie Anm. 26.133 Berliner Abendpost, Hauptblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.134 Das kleine Journal, Hauptblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.135 Vorwärts, Hauptblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.136 Berliner Börsen-Courier, Beilage, 6. Juni 1895, wie Anm. 26.

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Berliner geben, die sich nach dem Regime Richthofen zurücksehnen. Hoffentlich heißt es nicht auch im Polizeipräsidium nur: Ein Mann über Bord! Der Kurs bleibt der alte! sondern tritt auch mit dem Wechsel der Person ein Wechsel des Systems ein, das den öffentlichen Verkehr oft schwer genug geschädigt hat. Man muß am Alexanderplatz wieder zu der Einsicht gelangen, daß die Polizei des Publikums wegen da ist, nicht das Publikum der Polizei wegen. …“137

Der Nachfolger Richthofens als Berliner Polizeipräsident

In vielen Zeitungen wurden Spekulationen angestellt, wer wohl der nächste Polizeipräsident werden könnte. Genannt wurden Herr Bienko, Polizeipräsident von Breslau; Graf v. Königsdorff,138 Polizeipräsident von Kassel; Herr Kessler, Polizeipräsident von Magdeburg und schon früher als Chef der Politischen Polizei in Berlin sowie Herr Stubenrauch, Landrat in Teltow.„… die Ernennung eines der [letzteren] beiden Herren wird aber in Zweifel gezogen, da außer Herrn Winter, welcher Ende der 40er Jahre Polizeipräsident von Berlin war, diese Stellung stets nur von adligen Herren bekleidet wurde.“139 Niemand von diesen Aspiranten erhielt diesmal die Stellung.

Es ist interessant, dass E r n s t Leberecht Hugo Georg Colmar Stubenrauch (1853-1909), der Gründer des wirtschaftlich wichtigen Teltow-Kanals, als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat später dennoch Polizeipräsident wurde, nachdem er im Jahr 1900 von Kaiser Wilhelm II. als Ernst v. Stubenrauch, nobilitiert worden war.140

Richthofens Nachfolger wurde, vom Kaiser am 13. Juni 1895 ernannt,

„Herr v. Windheim, bisher Polizeipräsident von Stettin“.

Weder das Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat noch die kaiserliche Kabinettsordre gibt den Vornamen des Herrn v. Windheim an.

Ehrungen

Hier muß man fast „Fehlanzeige“ melden. Freiherr v. Richthofen erhielt nie einen höheren Titel, nicht einmal, wie sein Stellvertreter Friedheim, eine Beförderung vom Regierungsrat zum Oberregierungsrat und schließlich zum Geheimen Oberregierungsrat, geschweige denn, wie sein Vorgänger Guido v. Madai, den eines Wirklichen Geheimen Oberregierungsrats.

137 Unbekannte Zeitung, wie Anm. 26, weil der Anfang des Artikels fehlt. Vielleicht wurde im Polizeipräsidium vergessen, den Anfang einzukleben. Dem erhaltenen Torso steht ein Porträtfoto (Brustbild, wohl nach einem Ölgemälde) von Bernhard Freiherrn v. Richthofen voran.138 F e l i x Silvius Ferdinand Graf v. Königsdorff (* 1835), Herr auf Groß-Damerkow und Aalbeck, Kr. Lauenburg, Pommern; vgl. GGT wie Anm. 2, Gräfliche Häuser, 1903, S. 435. 139 Berliner Lokalanzeiger, Abendblatt, 7. Juni 1895, wie Anm. 26.140 Volker Spiess (Hrsg.), Berliner Biographisches Lexikon, 2. Auflage, Berlin: Haude &Spener 2003, S. 419.

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Aber Richthofen und Madai wurden durch Benennung von Straßen141 im Berliner Stadtteil Friedrichshain geehrt:

Die Madaistraße wurde 1886, noch zu Lebzeiten des Geehrten, nach Guido v. Madai (1810-1892) so benannt. 1962 erhielt sie den Namen Erich-Steinfurth-Straße nach dem Schlosser, Lokomotivheizer und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, Erich Steinfurth (1896-1934).

Die Richthofenstraße wurde 1898, drei Jahre nach seinem Tod, nach B e r n h a r d Ludwig Eduard Freiherrn v. Richthofen (1836-1895) benannt. 1951 wurde der Straßenname in Auerstraße geändert, nach dem österreichischen Chemiker Carl Freiherr Auer v. Welsbach (1858-1929).

Dem berühmten Geographen und Geologen, Prof. Dr. Ferdinand Freiherr v. Richthofen(1833-1905), Begründer der Wirtschaftsgeographie, nach dem Gebirgszüge in Asien und Amerika benannt sind, Lehrer des schwedischen Asienforschers Sven Hedin (1865-1952), ist in Berlin keine Straße gewidmet.

Die des „Roten Kampffliegers“ (1892-1918) findet man unter Manfred-von-Richthofen-Straße im Stadtteil Tempelhof.

Ein satirisches Gedicht142 auf den Polizeipräsidenten Bernhard Freiherrn v. Richthofen:

Polizeipräsident v. Richthofen +

Du s p e r r t e s t ab der Straßen vielFür niedern Volks Gewimmel

Drum wünschen wir als letztes ZielDir einen S p e r r s i t z im Himmel.

Anekdoten über Bernhard Freiherrn v. Richthofen als Berliner Polizeipräsident

„Mit seinen Beamten [in Stolp], soweit sie ihm untergeben waren, verkehrte er nur dienstlich und kurz. Ebenso verhielt es sich auch später in Berlin. Als ihm gleich nach seinem Amtsantritt hier ein Bürobeamter den Wunsch vortrug, zu den uniformierten Beamten über-treten zu dürfen, hörte der Präsident den Vortrag schweigend an und hatte dann nur die Antwort: „Bon!“ Damit blieb es beim Alten.“143

„In Berlin verkehrte er viel bei Dressel144 und im Hotel du Nord. Hier war er auch einmal Zeuge, wie nach den Februar-Krawallen zwei schwerhörige Abgeordnete, v. P. und F., den Stab über ihn brachen, wobei einer dem andern ins Hörrohr rief: „Na, Richthofen wird ja nun auch bald springen!“ Er sprang hinterher zwar nicht, aber die Situation erschien ihm momentan doch so ungemütlich, daß er bald das Zimmer verließ.“

141 Sylvia Lais, Hans-Jürgen Mende (Hrsg.), Lexikon Berliner Straßennamen, Berlin: Haude & Spener 2004, S. 291, 293, 371.142 Zeitschrift „Ulk“, 14. Juni 1895, wie Anm. 26.143 Berliner Zeitung, Beiblatt, 8. Juni 1895, wie Anm. 26.144 siehe Anm. 33

29

„Während Herr v. Richthofen gleich nach seinem Amtsantritt sämtlichen Büros der sechs ihm unterstellten Abteilungen des Polizeipräsidiums seinen Besuch abstattete und dem Büro- personal somit Gelegenheit gab, ihn genau anzusehen, war er den Exekutivbeamten noch nicht bekannt. Als nun der neue Präsident einmal Nachmittags auf einer Revierinspektion in schlichter Ziviltracht das xte Revier betrat und den Herrn Vorsteher zu sprechen wünschte, wurde ihm vom Wachtmeister bedeutet, daß so was nicht so ohne Weiteres angängig wäre, da der Herr Leutnant für das Publikum nur in den Bürostunden zu haben sei. „Und wann pflegt der Herr Leutnant seine Sprechstunden abzuhalten?“ forschte der Fremde. „Meist von 4 Uhr an; manchmal wird´s aber auch später“, versetzte der Beamte kurz und schrieb weiter. „Es ist aber gleich fünf“, meinte der Unerkannte und setzte sich auf eine Bank, auf welcher bereits einige andere Leute, der Ankunft des Herrn Reviervorstehers harrend, Platz genommen hatten. Nach einigen Minuten erhob sich der ungeduldige Hüne, schritt auf den Wachtmeister zu und überreichte diesem seine Karte mit den Worten: „Ich lasse den Herrn Leutnant bitten, sich unverzüglich herzubemühen.“ Des Wachtmeisters Stirn legte sich in Falten, er sah erstaunt zu dem Sprecher auf, kaum aber hatte er auf die Karte einen Blick geworfen, so fuhr er von seinem Sitz in die Höhe und war starr vor Schreck. „Verzeihen Herr Präsident, der Herr Leutnant wird sofort erscheinen,“ kam es über die Lippen des im Dienst ergrauten Mannes, und so schnell ihn seine alten Beine tragen konnten, verließ er das Büro, um nach wenigen Minuten die Ankunft des Herrn Vorstehers anzukündigen. Daß Letzterer über den unerwarteten Besuch nicht sehr erbaut war, versteht sich von selbst.“145

„In einem anderen Polizeirevier erschien bald darauf der Präsident unverhofft zum Morgenappell und examinierte die Schutzmannschaft. Über das Versammlungsrecht befragt, meinte ein Probist [Schutzmann auf Probe]: „Jeder Preuße hat das Recht, sich zu versammeln.“ Alles lachte, nur der Präsident blieb ernst und sagte: „Das Kunststück wollen Sie uns mal vormachen.“146

Schlussbemerkung

Wenn auch die eigentliche Personalakte des Berliner Polizeipräsidenten Bernhard Freiherr v. Richthofen nicht viel zu einem Lebensbild beisteuert, so haben die zahlreichen, dort eingeklebten Zeitungsartikel eine recht lebendige Kurzbiographie geliefert. Natürlich sind die Artikelschreiber je nach politischer und weltanschaulicher Couleur parteiisch. Wer zwischenden Zeilen zu lesen versteht und das eine gegen das andere abwägt, kann sich wohl ein Bild von dieser Persönlichkeit machen.

Quellen und Literatur

Archivalische Quellen

145 Berliner Tageblatt, Beiblatt, 9. Juni 1895, wie Anm. 26.146 ebd.

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Quellen für diesen Bericht waren in erster Linie 2 Aktenkonvolute im Landesarchiv Berlin, Eichborndamm 115, 13403 Berlin-Wittenau:

1. Bernhard Freiherr v. Richthofen, Polizeipräsident von Berlin, Personalia [Personalakte] mit Originalen eingegangener Schreiben und Konzepten ausgegangener Briefe sowie 37 Seiten mit 49 aufgeklebten Zeitungsausschnitten Berliner und z.T. überregionaler Zeitungen, Nachrufen auf den Polizeipräsidenten nach seinem Tod in Bonn am 6. Juni 1895.

Signatur: Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 8352 / 1

2. Historische und wichtige Miszellen: Signatur: Landesarchiv Berlin A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 11735

[Hier fand sich kaum etwas Brauchbares für diese Arbeit.]

Weitere Quellen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin:

3. Ein Teil der Personalakte Richthofens, besonders aus der Frühzeit, früher „Beamten-Sachen spec. Lit: R. No. 88, jetzt:

Sign. GStA PK I. HA Rep. 77 [Ministerium des Innern] Nr. 2126

4. Ein weiterer Teil betr. die höhere (dritte) Staatsprüfung:Sign. GStA PK I. HA Rep. 125 [Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte]

Nr. 4012

Bücher:„Die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, Band 2: Die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten über die sozialdemokratische Bewegung in Berlin während desSozialistengesetzes 1878-1890, bearbeitet und eingeleitet von Beatrice Falk und Ingo Materna Berlin: BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2009= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, herausgegeben von Uwe Schaper, Band 8, Teil II,zugleich: Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, herausgegeben von Klaus Neitmann, Band 57. zitiert: „Falk/Materna S. ..“

[Die hier edierten 48 Berichte der Berliner Polizeipräsidenten Guido v. Madai und Bernhard Freiherr v. Richthofen zwischen 1879 und 1890 konnten nicht im einzelnen ausgewertet werden. Es hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Daher wird auf das Buch verwiesen.]

Dachenhausen, Alexander Freiherr v., Genealogisches Taschenbuch des Uradels, Brünn: Friedrich Irrgang 2 Bände, 1891 und 1893Genealogisches Handbuch des Adels (GHdA) – Handbücher und Adelslexikon – Limburg a.d.Lahn: C. A. Starke (herangezogen bis 2004)Gothaisches Genealogisches Taschenbuch (GGT) – Adelshandbücher Gotha: Justus Perthes (erschienen bis 1942)Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat, Bände 1847-1896 Berlin: in Kommission bei R. v. DeckerLais, Sylvia / Mende, Hans-Jürgen (Hrsg.), Lexikon Berliner Straßennamen, Berlin: Haude & Spener 2004Ledebur, Leopold Freiherr v., Adelslexicon der Preussischen Monarchie, Band 1-3, Berlin; Ludwig Rauh (1855-1858)Materna, Ingo / Ribbe, Wolfgang in Verbindung mit Rosemarie Baudisch / Bärbel Holtz/ Gaby Huch /Heinz Seyer, Geschichte in Daten: Berlin, München/Berlin: Koehler &

31

Amelang (Lizenzausgabe für Fourier Verlag, Wiesbaden 1997)Spiess, Volker (Hrsg.), Berliner Biographisches Lexikon, Berlin: Haude & Spener 2003, 2. überarbeitete und erweiterte AuflageStratenschulte, Eckart D., Kleine Geschichte Berlins, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 3. Auflage 2001

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Ahnentafel der ersten 5 Generationenvon

B e r n h a r d Freiherr v. Richthofen (1836-1895)Polizeipräsident von Berlin (1885-1895)

I

1 Freiherr v. Richthofen, B e r n h a r d Ludwig Eduard, * Cammerau 8. 6. 1836, + Bonn 5. 6. 1895, begr. Bonn 8. 6. 1895 Landrat in Neutomischel, Provinz Posen; Landrat in Stolp, Pommern, Vorsteher des adeligen Fräuleinstifts zu Stolp und Ruhnau (Kuhnau ?); Polizeipräsident von Berlin (1885-1895).___________________________________________________________________________

II

2 Freiherr v. Richthofen, E d u a r d Wilhelm Ludwig, * Cammerau 22.(getauft 24.) 11. 1801, + Liegnitz 12. 7. 1863 Herr auf Cammerau (verkauft 1842), Ellguth und Schmarker (verkauft 1852); Kohlengrubenbesitzer zu Ellguth; Kgl. preuß Secondeleutnant; RRr des Joh.Ord. oo Schilkowitz 9. 12. 1828

3 v. Schmettau, A m a l i e (Amelie) Clothilde Emma Johanna Caroline Adolfine (Wolfine), * Stroppen 24. 6. 1809, + Liegnitz 25. 11. 1843, begr. Liegnitz 28. 11. 1843 (Peter und Paul).___________________________________________________________________________

III

4 Freiherr v. Richthofen, Andreas L u d w i g , * Kohlhöhe 12. 12. 1764, + Gäbersdorf 8. 10. 1818 Herr auf Gäbersdorf, Maßlisch-Hammer (verkauft 1791) und Cammerau; Kgl. preuß. Leutnant; Kreisdeputierter, Marschkommissarius und Landesältester im Kreis Schweidnitz, Fürstentum Jauer, Schlesien oo Groß-Raake 30. 9. 1789

5 v. Lüttwitz, H e n r i e t t e Eleonore Johanne (Charlotte ?), * Klein-Briesen 29. 5. 1768, + Cammerau 19. 11. 1804

6 v. Schmettau, Philipp Wilhelm Johann Georg [Friedrich Wilhelm?] *Neuhaldensleben 3. 9. 1777, getauft Neuhaldensleben 11. 9. 1777, + Lüben 7. 7. 1845, Herr auf Schilkowitz; Kgl. preuß. Kammerherr, Kgl. preuß. Leutnant oo Schilkowitz 21. 4. 1807

7 v. Prittwitz und Gaffron, Beate Amalie Helene, * Schilkowitz 20. 12. 1778, + Lüben 6. 3. 1841

33

___________________________________________________________________________

IV

8 Freiherr v. Richthofen, C a r l Ludwig, * Barzdorf 24. 8. 1733, + Kohlhöhe 4. 6. 1795 Herr auf Kohlhöhe, Sernerwald, Würgsdorf (verkauft) Ober- und Nieder Royn, Groß-Rosen, Poischwitz, Klein-Gäbersdorf, Neumühle, Hummel und Ant. Barzdorf; Landschaftsdirektor und Landschaftsrat der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, Landrat zu Striegau, Landesältester. oo Schloß Lehnhaus 5. 10. 1757

9 Edle v. Waltmann, Freiin v. Grunfeld und Guttenstädten, Erdmuthe, * Lehnhaus 7. 4. 1739, + Kohlhöhe 7. 1. 1785

10 v. Lüttwitz, Christoph A u g u s t , * 6. 12. 1733, + Groß-Raake 8. 1. 1809 Herr auf Klein-Briesen bei Neiße und Groß-Raake bei Trebnitz; Kgl. preuß. Rittmeister und Kapitän a.D.. oo 1771

11 v. Haupt a.d.H. Kauer, Maximiliane H e n r i e t t e Charlotte , * Breslau 7. 7. 1747, + Groß-Raake 11. 1. 1810

12 v. Schmettau, Carl Wilhelm Friedrich, * Sandau 26. (get. 28.) 12. 1734, + Liegnitz 31. 3. 1798, Kgl. preuß. Generalleutnant oo Stendal 14. 7. 1764

13 v. Goetze, Sophie Luise Agnese, * Stendal 13. 11. 1734, + Neuhaldensleben 16. 8. 1780

14 v. Prittwitz und Gaffron, Wolfgang Moritz, *Polnisch Ellguth, Kreis Oels 8. 7. 1731, + Lüben 27. 1. 1812, Herr auf Schilkowitz, Kgl. preuß. Generalleutnant, oo Strehlen 5. 2. 1765

15 v. Schlichting, Margarethe Susanna Johanna, * Kunow, Kreis Krossen 7. 3. 1738, + Lüben 28. 6. 1811, begr. Wersingawe 30. 6. 1611___________________________________________________________________________

V

16 Freiherr v. Richthofen, Samuel, * Rauske 10. 6. 1700, + Barzdorf 3. 2. 1754 (Preußischer Freiherrnstand als „v. Richthofen“ 6. 11. 1741) Herr auf Kohlhöhe, Rauske, Barzdorf, Groß- und Klein-Rosen, Oberstreit, Schwiegern, Metschkau, Hummel, Sernerwald usw.; Deputierter des Kreises Striegau. oo Metschkau 29. 11. 1725

17 v. Heintze und Weißenrode, Johanna Elisabeth, * Neudorf 21. 7. 1707,

34

+ Klein-Rosen 23. 4. 1772.

18 Edler v. Waltmann, Freiherr v. Grunfeld und Guttenstädten, Andreas Wilhelm, * , + , Herr auf Lehnhaus, Schiefe, Haßdorf, Ober- und Nieder-Mauer, Winscheldorf, Ottendorf, Tiergarten, Kolbnitz usw.; Kaiserl. Rat, Landesdeputierter und Landrat. oo

19 v. Unruh a.d.H. Ochelhermsdorf, Erdmuthe Juliane, * , *

20 v. Lüttwitz, Kaspar Sigmund, * 25. 4. 1693, + 29. 7. 1748, Herr auf Mittel-Dammer und Brona oo Steinau 15. 4. 1723

21 v. Frankenberg und Ludwigsdorff a.d.H Hünern, Anna Johanna Eleonore Helene, * 16. 6. 1697, +

22 v. Haupt, [evtl.] Johann Max[imilian], * 1705, + ….. , Herr auf Kauer, Kreis Groß-Glogau oo

23 NN,

24 v. Schmettau, Johann Ernst, * 1703/04, + Neustadt, Oberschlesien 22. 5. 1764, Kgl. preuß. Generalmajor oo 1730 (Dispens 1. Aufgebot 1. 10.)

25 Schlüter, Anna Sophia, getauft Rathenow 18. 7. 1712, + Rathenow 20. 4. 1740.

26 v. Goetze, Ernst Ludwig, * Berlin 1697, + Bennerich bei Dresden 19. 12. 1745, Kgl. preuß. General oo 1737 (Königliche Erlaubnis 30. 10.)

27 Schlüter, Maria Dorothea, * Rathenow 6. 5. 1716, + 1755.

28 v. Prittwitz und Gaffron oo

29 v. Siegroth, Helene Charlotte, * 1710, + 1784

30 v. Schlichting, oo

31 NN,

Vorläufiges EndeWeitere Daten im Freiherr v. Richthofen´schen Familienarchiv,

Schloß KönigsbrückGut Sondermühlen, 49324 M e l l e

35