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Königs Abi-Trainer Ralf Gebauer Prüfungsvorbereitung Abitur NRW 2015 Deutsch Leistungskurs Prüfungsvorbereitung mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen

Prüfungsvorbereitung Abitur NRW 2015 - Bange Verlag · Über den Autor: Ralf Gebauer, geb. 1945 in Kragelund (Dänemark), lehrte als Studiendirektor die Fä-cher Deutsch, Philosophie

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Page 1: Prüfungsvorbereitung Abitur NRW 2015 - Bange Verlag · Über den Autor: Ralf Gebauer, geb. 1945 in Kragelund (Dänemark), lehrte als Studiendirektor die Fä-cher Deutsch, Philosophie

Königs Abi-Trainer

Ralf Gebauer

PrüfungsvorbereitungAbitur NRW 2015

Deutsch Leistungskurs

Prüfungsvorbereitung mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen

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Über den Autor:Ralf Gebauer, geb. 1945 in Kragelund (Dänemark), lehrte als Studiendirektor die Fä-cher Deutsch, Philosophie und Kunst am Haranni-Gymnasium in Herne.Bereits erschienen: Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Ent-wicklung epischer Texte. Schnitzler: Traumnovelle, Thomas Mann: Mario und der Zauberer, Hollfeld: Bange-Verlag, 1. Aufl. 2010 (Reihe Abi-Trainer)Prüfungsvorbereitung Abitur NRW 2012/2013. Deutsch Leistungskurs mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen, Hollfeld: Bange-Verlag. 1. Aufl. 2011 (Reihe Abi-Trainer)Prüfungsvorbereitung Abitur NRW 2012/2013. Deutsch Grundkurs mit allen Schwer-punktthemen: Wissen, Verknüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösun-gen, Hollfeld: Bange-Verlag. 1. Aufl. 2012 (Reihe Abi-Trainer)Abitur NRW 2014. Deutsch Leistungskurs mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Ver-knüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen, Hollfeld: Bange-Verlag, 1. Aufl. 2012 (Reihe Abi-Trainer)Abitur NRW 2014. Deutsch Grundkurs mit allen Schwerpunktthemen: Wissen, Ver-knüpfungsaspekte und Abi-Übungsaufgaben mit Lösungen, Hollfeld: Bange-Verlag, 1. Aufl. 2012 (Reihe Abi-Trainer)

1. Auflage 2013ISBN: 978-3-8044-3217-8© 2013 by Bange Verlag GmbH, 96142 HollfeldAlle Rechte vorbehalten! Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftli-chen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Die öffentliche Zugäng-lichmachung eines für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werkes ist stets nur mit Einwilligung des Berechtigten zulässig.

Hinweis:Die Rechtschreibung wurde der amtlichen Neuregelung angepasst. (Kafka-Zitate aus dem Roman Der Proceß folgen der zitierten Reclam-Ausgabe, die die Schreibeigen-heiten Kafkas bewahrt.)

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Inhalt

Vorwort ......................................................................................................................... 5

TeiL i: GRuNDLAGeNWisseN

1. Obligatorische schwerpunktthemen ............................................................ 8

1.1 epochenumbruch 18./19. Jahrhundert – unter besonderer Berücksichtigung der entwicklung des Dramas ......... 8

1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert ........................ 81.1.2 Friedrich Schiller, Kabale und Liebe (1784) ................................................... 121.1.3 Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris (1786) ....................... 23

1.2 epochenumbruch 19./20. Jahrhundert – unter besonderer Berücksichtigung der entwicklung epischer Texte .... 31

1.2.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert ........................ 311.2.2 Franz Kafka, Der Proceß (1915/1925) ............................................................. 351.2.3 Literarische Beispiele der Neuen Sachlichkeit: Romanauszüge / Erzähltexte von Erich Kästner, Hans Fallada, Marieluise Fleißer oder Irmgard Keun .......................................................................................... 53 Die Neue Sachlichkeit .................................................................................. 53 Hans Fallada (1893–1947) ............................................................................ 55 Erich Kästner (1899–1974) ........................................................................... 58 Marieluise Fleißer (1901–1974) .................................................................. 59 Irmgard Keun (1905–1982) ......................................................................... 611.2.4 Joseph Roth, Hiob (1930) ............................................................................... 64

1.3 Gegenwartsliteratur (2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) .............................. 77

1.3.1 Zeitgeschichtlicher und historischer Hintergrund ........................................ 771.3.2 Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras (1951) ................................................. 78

1.4 Lyrik der Romantik, des expressionismus und der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990) .................................................... 84

1.4.1 Lyrik der Romantik ........................................................................................... 841.4.2 Lyrik des Expressionismus ................................................................................ 871.4.3 Lyrik der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990) ............................................. 90

1.5 spracherwerb und sprachentwicklung ....................................................... 93

1.5.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) – Auszüge aus I. Teil, 1. und 2. Abschnitt ............................ 931.5.2 Ontogenetischer Spracherwerb: Sprachentwicklung .................................. 961.5.3 Spracherwerbstheorie ..................................................................................... 96

1.6 Aspekte des sprachwandels in der Gegenwart: einfluss neuer Medien; Mehrsprachigkeit .................................................. 98

1.6.1 Sprachwandeltheorien .................................................................................... 981.6.2 Übersicht: Sprache – Denken – Wirklichkeit ................................................. 1011.6.3 Mehrsprachigkeit ............................................................................................. 102

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Inhalt

1.7 sprachkritik, sprachskepsis, sprachnot ....................................................... 103

1.7.1 Hugo von Hofmannsthal, Chandos-Brief – in Auszügen (als gemeinsamer Basistext) ............................................................................ 1041.7.2 Gedichte und Sachtexte zum Thema ............................................................. 106

2. Verknüpfungsaspekte ..................................................................................... 107

2.1 Psychologischer Aspekt: individuation und sozialisation ........................ 107

2.2 Genderaspekt .................................................................................................. 114

2.2.1 Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft ...................................................... 1142.2.2 Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ............................................................ 118

2.3 Literarhistorischer Aspekt: Die literarische entwicklung als Pendelbewegung zwischen Ratio und sensus (epochenmerkmale) ...... 122

2.4 Thematische Aspekte ..................................................................................... 125

2.4.1 Liebe als literarisches Motiv ............................................................................ 1252.4.2 Schuld als literarisches Motiv .......................................................................... 1292.4.3 Der Künstler als literarisches Motiv ................................................................ 1342.4.4 Das Komische als literarisches Motiv .............................................................. 137

2.5 Gattungstheoretische Aspekte ..................................................................... 141

2.5.1 Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert .......................................................................................... 1412.5.2 Die Rolle des Erzählers .................................................................................... 142

TeiL ii: ÜBuNGsAufGABeN Hinweise, Tipps und Lösungsmöglichkeiten

1. Die Aufgabenstellungen im Abitur ............................................................... 146

2. Übungsaufgaben ............................................................................................. 150

2.1 Abiturprüfung Übungspaket i ...................................................................... 150

2.2 Lösungsvorschläge zum Übungspaket i ...................................................... 157

2.3 Abiturprüfung Übungspaket ii ..................................................................... 172

2.4 Lösungsvorschläge zum Übungspaket ii ..................................................... 179

Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 194

stichwortverzeichnis ................................................................................................... 195

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Vorwort

Vorwort

Universitäre Forschung hat das natürliche Bestreben, sich zu erweitern; schulische Bildung hingegen ist oft zum Gegenteil aufgefordert. Ihr soll der Spagat gelingen, Fähigkeiten und Wissen des Einzelnen zu erweitern, indem sie das sich vermehrende und differenzierende Wissen wieder reduziert auf kleine, handhabbare Module. Das ist ohne Reduktionen, Vergröberungen und Auslassungen nicht möglich und gilt besonders für solch zugespitzte Situationen wie Prüfungen. Da unsere Merkfähig-keit sich am ehesten durch bildhafte Gedankenverbindungen steigert, wird auch in diesem Bändchen versucht, das Disparate und Vielfältige der Wissensgegenstände in möglichst griffigen und anschaulichen Erinnerungsmodellen und Schemata bildhaft miteinander zu vernetzen. Der vorliegende Band ist dreigeteilt: Im ersten Teil wird in komprimierter Form ein Repetitorium aller Inhalte vorgelegt, die für die schriftliche Abiturprüfung im Leistungskurs Deutsch des Landes Nordrhein-Westfalen für das Abiturjahr 2015 verpflichtend vorausgesetzt werden. Dabei wird nach den Grunddaten der Texte zunächst ein knapper Einblick in den biografischen Bezug des jeweiligen Werks ge-geben und eine gegliederte Inhaltsangabe des vorgegebenen Textes angeboten. Daran schließen sich Hinweise auf stilistische Analysen und mögliche Interpretati-onsaspekte an. Sofern keine Einzelwerke vorgegeben sind, sondern nur Autoren bzw. Themen und Epochen, werden die jeweils in Frage kommenden Werke und das notwendige Grundwissen zu Themen und Epochen in Form eines gerafften Über-blicks zusammengefasst. Dabei wird von den Autoren der Neuen Sachlichkeit jeweils ein Werk in die Darstellung mit aufgenommen. Die Umfangsbeschränkung dieses Bandes nötigt zudem, sich auch bei den aspektreichen Romanen Der Proceß und Tauben im Gras mit raffenden Zusammenfassungen der Analyse und der Interpreta-tion zu begnügen.Das Bändchen ist in diesem Teil bewusst als Repetitorium angelegt, d. h., es setzt die unterrichtliche erarbeitung der stoffe, der literarischen Gattungen und stilistischen epochen voraus und bietet eine verknappte Wiederholung. Deshalb wäre es nicht ausreichend, wenn man sich nur auf die in der Reduzierung zwangsläufig vergrö-bernde Darstellung verließe.

Der zweite Teil liefert eine Reihe von Aspekten, unter denen generelles Wissen merkfähig aufbereitet wird und die einzelnen Schwerpunktthemen miteinander verknüpft werden können. Dieser Teil soll es den Benutzern erleichtern, sich die möglicherweise auch im Unterricht als unverbundenes Nacheinander erlebten In-halte aus einer distanzierten Perspektive anzueignen und bei einer vergleichenden Zusammenschau eine stoffliche Souveränität zu gewinnen.

Im dritten Teil wird dann die Abiturprüfung in Form von zwei Übungspaketen simu-liert. Jede Übung enthält wie im Abitur drei Aufgaben in einer Formulierung, wie sie auch in den vergangenen vier Abiturjahrgängen gestellt wurde. Die Aufgabenstel-lungen berücksichtigen die Vorgaben der gültigen Richtlinien und Lehrpläne. Die

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Vorwort

Lösungsvorschläge orientieren sich in ihrem Profil an dem punktgestützten Bewer-tungsverfahren, wie es bei der schriftlichen Abiturprüfung zur Anwendung kommt. Alle Lösungsvorschläge erscheinen als stichpunktartiger Erwartungshorizont, wie ihn auch die korrigierende Lehrkraft vom Ministerium erhalten könnte. Besonders das nach allen operationellen Erwartungen, die wegen ihrer Verbind-lichkeit kursiv gedruckt sind, erscheinende „z. B.“ soll immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass die jeweils folgenden Lösungsvorschläge auch durch adäquate andere Lösungsinhalte ersetzt werden können. Sinnvolle Lösungsteile, die nicht unter die operationellen Erwartungen subsumierbar sind, können im Rahmen eines oder mehrerer weiterer aufgabenbezogener Kriterien durch Punktvergabe bis zur je-weiligen Anzahl Berücksichtigung finden. Die Gesamtpunktzahl je Teilaufgabe darf aber nicht überschritten werden.

Autor und Verlag wünschen Ihnen viel Erfolg beim Umgang mit diesem Material und im bevorstehenden Abitur!

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1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert

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1. Obligatorische schwerpunktthemen

1.1 Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert – unter beson-derer Berücksichtigung der Entwicklung des Dramas

1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert

Übersicht: epochenumbruch

Zeitspanne 1789–1848

Politische entwicklung

Französische Revolution 1789 Befreiungskriege gegen Napoleon: Wiener Kongress 1815Streben nach republikanischen Nationalstaaten

Wirtschaftlicheentwicklung

Beginn der industriellen RevolutionArbeiterproletariat: soziale Bewegungwirtschaftliche Einheit Deutschlands: Zollverein

Geistesgeschichtliche entwicklung

philosophischer Idealismusschneller literarischer Epochenwechsel:Sturm und Drang: Künstlergenie, Leidenschaft des HerzensWeimarer Klassik: harmonischer Ausgleich, abstrakte SittlichkeitRomantik: Verschmelzung von Realität und Irrealität, IronieBiedermeier: genügsames klassisches IdyllVormärz: publizistischer vorrevolutionärer Kampf

Die Epochenumbrüche des 18./19 Jahrhunderts wie des 19./20. Jahrhunderts werden jeweils recht weit gefasst, bis fast zur Hälfte des neuen Jahrhunderts. Für das 18./19. Jahrhundert bedeutet das demnach eine Zeitspanne von der Französischen Revolu-tion 1789 bis zur Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848. Es ist die Zeit zwischen

dem ersten großen eruptiven europäischen Aufbegehren gegen die feudalaristo-kratische epoche des Absolutismus in Frankreich und dem ersten Versuch einer eta-blierung eines deutschen Nationalstaates. Dazwischen lag eine wechselvolle und spannungsreiche historische Entwicklung. Die Französische Revolution resultierte aus den Ergebnissen der Philosophie der Auf-klärung, die sich, ausgehend von einem natürlichen Selbstbestimmungsrecht des Menschen, gegen alle Formen staatlicher und kirchlicher Unterdrückung und Bevor-mundung wandte. Kants berühmte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und sein Aufruf „Sapere

aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be-dienen!“ wurden zur Losung dieser Epoche. In Konse-quenz dieses Denkansatzes sollten an die Stelle der über-

Von der Französischen Revolution bis zur Frankfurter Paulskirche

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“

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1.1.1 Erläuterungen zum Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert

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kommenen feudalen gesellschaftlichen Strukturen solche Systeme treten, die auf dem freien Willen der Individuen beruhten. In Frankreich lautete die Parole der re-volutionären Bewegung: „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Der erringung der individuellen wie nationalen freiheit galt das primäre Bemühen. Doch die Französische Revolution ertrank im Blut der jakobinischen Terrorherrschaft und ermöglichte Napoleons restaurative Eroberungskriegszüge in Europa, die in den Befreiungskriegen unter Friedrich Wilhelm III. erst 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig und dann 1815 mit Napoleons Niederlage in Waterloo ihr endgültiges Ende fanden. Der Wiener Kongress 1814/15 und die Karlsbader Beschlüsse 1819 stellten die alte repressive Ordnung in Europa wieder her, und es kam zur unterdrückung der demokratisch-liberalen und nationalen Bewegungen.Doch der Gedanke eines eigenen, in Bürgerfreiheit selbstbestimmten Nationalstaa-tes ließ sich nicht mehr völlig zurückdrängen. Der Freiheitskampf in Griechenland 1821 weckte auch in anderen Ländern Begeisterung. Das Wartburgfest 1817, das Hambacher Fest 1832, die Juli-Revolution 1830 in Frankreich waren nur Vorspiele zu den aufständischen Bewegungen des Jahres 1848, die auch in Deutschland die Hoff-nungen auf einen geeinten Nationalstaat bündelten. Wenn auch diese Hoffnungen zunächst nicht von Erfolg gekrönt wurden, so war Deutschland nach dem Aufgehen der rund 300 souveränen deutschen Kleinstaaten durch den Regensburger Reichs-deputationshauptschluss von 1803 und den Deutschen Bund von 1815 in letztlich nur noch 39 Einzelstaaten einen deutlichen Schritt zu seiner Vereinigung zum Deut-schen Reich im Jahre 1871 vorangekommen. Im wirtschaftlichen Bereich finden erst gegen Ende der Epoche bemerkenswerte

Veränderungen statt. Aufgrund seiner weltweiten Han-delsbeziehungen, gestützt auf Kapitalismus und Freihan-del, und seiner technischen Fortschritte (Dampfmaschi-ne, Spinnmaschine, mechanischer Webstuhl) breitet sich

von England aus die industrielle Revolution über Europa aus und lässt eine neue soziale Schicht heranwachsen: das Arbeiterproletariat. Geistesgeschichtlich wird dieser Zeitraum von der aus Frankreich kommenden Auf-

klärung und dem Deutschen Idealismus geprägt. Ma-dame de Staël bezeichnete die Epoche später als die Zeit der deutschen Dichter und Denker. Auf den Aufklärer

Immanuel Kant (1724–1804) folgen die idealistisch beseelten philosophischen Syste-mentwürfe eines Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der mit seinem Einheitsbestreben Kants

scharfe Differenzierung von Subjekt und Objekt aufhebt und mit seinen Reden an die deutsche Nation in seinem Publikum eine Art deutsches Selbstbewusstsein wecken will,

eines Friedrich Wilhelm von Schelling (1775–1854), der mit seiner Naturmetaphy-sik die Romantik untermauert,

eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der in seiner Phänomenologie des Geistes die Überlegenheit des Staates gegenüber dem Individuum begrün-det.

Wirtschaftliche Veränderungen

Deutscher Idealismus

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1.2.2 Franz Kafka, Der Proceß (1915/1925)

Deutschen innerhalb der eine halbe Million Einwohner auf nur noch sieben Prozent gesunken war. Deutschsprachige Kultur war auf einen insularen Status geschrumpft und vollzog sich „in einem dreifachen Ghetto: einem deutschen, einem deutsch-jüdischen und einem bürgerlichen.“9

1.2.2 Franz Kafka, Der Proceß (1915/1925)10

Biografischer Bezug

Franz Kafka (1883–1924) gilt weltweit als einer der bedeutendsten Autoren der li-terarischen Moderne, und das, obwohl er nur 41 Jahre alt wurde und zu Lebzeiten nur ein schmales Werk publizierte. Von seinem Erstlingswerk Betrachtung (1912/13), einer Sammlung von kurzen Prosatexten, wurden in fünf Jahren nicht einmal 400 Exemplare verkauft. Alle seine drei Romane blieben unvollendet und erschienen erst nach seinem Tod, auch Der Proceß. Auf diesem, von seinem Freund Max Brod gegen den Willen des Autors veröffentlichten literarischen Nachlass gründet sich Kafkas Ruhm vor allem – und auf der Rätselhaftigkeit seines Werks, das sich trotz zahlloser Interpretationen und Analysen einer endgültigen Deutung zu entziehen scheint. Da bei Franz Kafka der Zusammenhang von Leben und Werk besonders eng ist, hat man sein Leben bis ins Detail erforscht, ohne aber damit die Intention seines Werks entscheidend erschließen zu können.Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als erster Sohn eines jüdischen Kaufmanns von

dessen aus wohlhabenden Kreisen stammenden Frau in Prag geboren. Sein Leben wurde von einer Kette von Wi-dersprüchen bestimmt, von deren Belastung er sich kaum befreien konnte, an denen sich aber seine Texte entzün-

deten. Der vegetarische Linkshänder war vom Elternhaus her ein assimilierter tsche-chischer Jude (seine drei jüngeren Schwestern wurden später in Konzentrationsla-gern ermordet), besuchte aber wegen der damit verbundenen gesellschaftlichen Privilegien das christliche deutschsprachige humanistische Gymnasium in Prag. Er war ein äußerst sensibler Mensch, der sich nach Zuspruch, Anerkennung und Liebe sehnte, aber aus Geschäftsinteressen seiner Eltern nur vom Hauspersonal erzogen und immer wieder vom Vater gedemütigt wurde. Er war ein überdurchschnittlicher Schüler, der mit dem Sozialismus liebäugelte und am liebsten Philosophie, Kunstge-schichte und Germanistik studiert hätte, aber um des tyrannischen Vaters willen ein Jurastudium absolvierte und eine Stelle im Versicherungswesen antrat. Zwischen-zeitlich ließ er sich von seinen Eltern sogar dazu überreden, die ihm widerwärtige Aufgabe eines Kompagnons im Asbestbetrieb seines Schwagers zu übernehmen, um

9 Eduard Goldstücker: Über Franz Kafka aus der Prager Perspektive 1963. In: Ders. (Red.): Franz Kafka aus Prager Sicht. Berlin: Voltaire, 1965, S. 32.

10 Ausführlich: Volker Krischel: Erläuterungen zu Franz Kafka, Der Proceß. Hollfeld: Bange Verlag, 2. Aufl. 2012 (Königs Erläuterungen Bd. 417). – Die Schreibweise „Proceß“ folgt der zugrunde liegenden Reclam-Ausgabe bzw. dem Vorschlag des Kafka-Editors Malcolm Pasley. In der Kafka-Philologie konkurrieren verschiedene Schreibvarianten des Romantitels: „Prozeß“, „Proceß“, „Prozess“ und „Process“ (vgl. z. B. die Textbeispiele in Aufgabe 3, Ü1, dieses Abitrainers). Vgl. dazu einen Kommentar von Thomas Anz: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12267&ausgabe=200807 (Stand: März 2013).

Ein Leben in Widersprüchen

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1.2.2 Franz Kafka, Der Proceß (1915/1925)

die Firma zu retten, die in Schwierigkeiten geraten war (1911/12). Kafka war zwar in seinem Versicherungsberuf erfolgreich und stieg in 18 Jahren vom Aushilfsbeamten zum Obersekretär auf, empfand aber andererseits im Büro „Angst (…) abwechselnd mit Selbstbewusstsein“ (Tagebuch, 19. 1. 191411) und seinen Posten als ‚unerträglich‘ (vgl. TB, 21. 8. 1913), weil er viel lieber schreiben wollte. Er hegte auf der einen Seite den „Wunsch nach besinnungsloser Einsamkeit“ (TB, 1. 7. 1913) und meinte, seinem Wesen nach „ein verschlossener, schweigsamer, ungeselliger, unzufriedener Mensch“ (TB, 21. 8. 1913) zu sein, nahm aber unter der Führung von Max Brod lebhaften An-teil am gesellschaftlichen Leben der Prager Intelligenz. Er strebte einerseits nach ei-nem normalen bürgerlichen Leben mit Frau und Familie, weil er sich unfähig glaub-te, „allein das Leben zu ertragen“ (TB, 21. 7. 1913), andererseits fehlte ihm aber für das Familienleben jeder Sinn, und er hatte Angst vor jeder Bindung, weil sie ihn vom Schreiben hätte abhalten können. Er interessierte sich für politisch umwälzende Ide-en, war aber nahezu beleidigt, als man ihn bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wegen beruflicher Unabkömmlichkeit daran hinderte, für die marode k.u.k-Monarchie Österreich-Ungarn ins Feld zu ziehen. Aus diesen Dilemmata er-wuchsen Zwiespälte, Misstrauen, Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste, die sich in unterschiedlicher Mischung auf verschiedenen Ebenen in seinem Werk immer wieder niederschlugen.Am 1. 6. 1914 verlobte sich Kafka (erstmals) mit der Berliner Angestellten Felice Bau-

er, die er am 13. 8. 1912 bei Brod kennen gelernt und mit der er seither einen intensiven Briefwechsel gepflegt hatte. Bereits am 12. 7. 1914, also keine zwei Monate später, löste das Paar im Berliner Hotel Askanischer Hof

die Verlobung wieder, nicht zuletzt unter dem Druck von Kafkas Unentschlossenheit und immer wieder formulierten Vorbehalten. Kafkas persönliche Krise befand sich damit auf einem Höhepunkt, und er sah sich veranlasst, sich zu verkriechen, „weil ich ruhig zugrunde gehen will“ (TB, 28. 7. 1914). Einen Monat später begann er mit der Niederschrift des Romans Der Proceß – noch ganz unter dem Eindruck jenes „Ge-richtshofs im Hotel“ vom 12. 7. (TB, 23. 7. 1914), als er sich bei der Aussprache zu dritt von der Freundin seiner Verlobten, Grete Bloch (zu der er ebenfalls und teils hinter Felices Rücken einen vertraulichen Briefwechsel aufgebaut hatte), verraten gefühlt hatte.

Daten zum Text:

Textsorte parabolischer Roman (unvollendet)

entstehungszeit vermutl. 11. 8. 1914 – 20. 1. 1915 (abgebrochen)

Veröffentlichung 1925 (posthum hrsg. von Max Brod)

liter. einordnung Expressionismus (phantastischer Realismus)

11 Vgl. Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Hrsg. v. Max Brod. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1973.

Entlobung als „Gerichtstag“

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Neue Sachlichkeit: Erich Kästner (1899 –1974)

erich Kästner (1899–1974)

Erich Kästner, in Dresden geboren und aufgewachsen, litt noch ein Jahr in der Mili-tärausbildung, ehe er nach Ende des Ersten Weltkrieges von 1919–1925 in Leipzig Geschichte und Deutsch studieren konnte. Das Studium finanzierte sich der aus ein-fachen Verhältnissen Stammende durch Gelegenheitsjobs sowie als Journalist und Theaterkritiker, der wegen seiner immer herber werdenden Kritik auch unter wech-

selnden Pseudonymen veröffentlichen musste. Als ihm 1927 wegen eines frivolen Gedichts bei der Neuen Leip-ziger Zeitung gekündigt wurde, ging er bis 1933 nach Berlin, wo er für verschiedene Zeitungen und Publikati-

onsorgane schrieb. Nach vier Gedichtbänden in einfacher Sprache, sogenannter Ge-brauchslyrik, und zwei berühmt gewordenen Kinderbüchern, Emil und die Detektive (1929) und Pünktchen und Anton (1931), veröffentlichte er 1931 den Roman Fabian, der auf eigenen Erfahrungen beruht und als einziger seiner Romane von literari-scher Bedeutung ist.

Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931)

Daten zum Text

Textsorte satirischer Roman in 24 betitelten Kapiteln mit einem Nachwort: Fabian und die Sittenrichter (1931)

entstehungszeit 1930–27. 7. 1931

erscheinungsjahr 1931, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt

einordnung Spätphase der Neuen Sachlichkeit

Thema Scheitern der kulturellen Moral an den Auswüchsen der wirtschaftlichen Macht

Zeit der Handlung 23. Juli 1930–Juli 1931

Ort der Handlung Berlin, Dresden

Hauptfiguren Dr. Jakob Fabian (32), Reklamefachmann; Dr. Stephan Labude; Dr. jur. Cornelia Battenberg; Edwin Makart, Filmindustrieller; Irene Moll, Fabi-ans Vermieterin; Dr. Weckherlin, Institutsgehilfe

inhaltDer aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Germanist Dr. Jakob Fabian avan-ciert vom Adressenschreiber zum Reklamefachmann. In den Kneipen, Kabaretts, Bor-dellen und Künstlerateliers Berlins erlebt er alle Formen großstädtischer Degenerati-on. Als ihm gekündigt wird, zerbricht auch die kurzfristige Beziehung zu der Juristin Cornelia Battenberg, die sich aus Karrieregründen dem Filmindustriellen Makart an-schließt. Fabians Freund Stephan Labude, Sohn eines wohlhabenden Justizrats, arbei-tet an seiner Habilitationsschrift. Als sie aufgrund einer Intrige Dr. Weckherlins abge-

Gebrauchslyrik und Kinderbücher

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1.2.4 Joseph Roth, Hiob (1930)

1.2.4 Joseph Roth, Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930)19

Biografischer Bezug

Als (Moses) Joseph Roth (1894–1939), ein assimilierter Jude aus Galizien20, 1929 in wenigen Tagen in Paris seinen Roman Hiob schrieb, befand er sich in einer Krise, die einen beruflichen, privaten, aber auch formal-stilistischen Umbruch zur Folge hatte. Roth hatte sich mit seinen lyrischen Feuilletons und Reiseberichten aus Frankreich, der Sowjetunion, Albanien, Polen und Italien sowie als Autor mehrerer Zeitungsro-mane bei diversen Tageszeitungen und Zeitschriften in Wien, Prag, Berlin und Frank-furt einen Namen als Journalist gemacht und zählte neben Alfred Polgar und Egon Erwin Kisch zu den bekanntesten und bestbezahlten Feuilletonisten der Weimarer Republik. Seit seiner Russlandreise 1926 veränderten sich jedoch die Überzeugungen des bislang linksliberalen „roten Joseph“, wie er sich selbst einmal nannte und den man nahezu für einen überzeugten Kommunisten gehalten hatte. Im Sommer 1929 ließ er sich aus rein finanziellen Gründen von den reaktionär-konservativen „Münch-ner Neueste Nachrichten“ anwerben. Roth brauchte das Geld für seine Frau Friede-rike (Friedl), geb. Reichler, die er 1922 geheiratet hatte. Sie litt an einer seit 1926 beobachtbaren geistigen Erkrankung, deren Entwicklung zur Schizophrenie 1929 eine dauerhafte Unterbringung in einer Nervenheilanstalt zunächst in Berlin und dann in Wien nötig machte, wo sie vermutlich 1940 der nationalsozialistischen Eu-

thanasie zum Opfer fiel. Roth verlor nach Friedls Erkran-kung mehr und mehr den Halt, gab sich selbst die Schuld am Krankheitsausbruch, suchte Trost im Alkohol und bei der Schauspielerin Sybil Rates sowie bei der Redakteurin

Andrea Manga Bell, die ab 1931 für fünf Jahre seine Lebensgefährtin werden sollte. Als sein Roman Hiob erschien, den viele wie eine fiktionale Umsetzung seines 1927 erschienenen Essays Juden auf Wanderschaft betrachteten, stellte man zudem eine Veränderung seines Schreibstils fest, denn Roth hatte sich von der Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit, als deren Vertreter er bis dahin galt, gelöst.

Daten zum Text:

Textsorte Romanlegende in zwei Teilen und 16 Kapiteln

entstehung 1929 in Paris; abgeschlossen am 27. 3. 1929

erscheinungsjahr Vorabdruck: 14. 9.–21. 10. 1930 in der Frankfurter Zeitung;Buchausgabe: 12. 10. 1930 beim Kiepenheuer-Verlag in Berlin

Biografie Lebenserfahrungen und eigene Schriften zwischen 1926 und 1929

einordnung Literatur der Weimarer Republik

19 Ausführlich: Martin Lowsky: Erläuterungen zu Joseph Roth, Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Hollfeld: Bange, 1. Aufl. 2013 (Königs Erläuterungen Bd. 435).

20 Landschaft im Westen der Ukraine und im Süden Polens, die bis 1918 zu Donaumonarchie gehörte.

Eine vielschichtige Krise

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1.2.4 Joseph Roth, Hiob (1930)

Thema Wandlungsnotwendigkeit des Ostjudentums

Zeit der Handlung 1894–1919 (1921?)

Ort der Handlung Zuchnow (fiktiv, real: Brody/Galizien) in Wolhynien (ein östlich von Galizien in Russland gelegenes Gebiet); New York

Hauptfiguren Mendel Singer, Lehrer (Melamed) einer ostjüdischen Elementarschule (Cheder); seine Frau Deborah, geb. Kossak; seine vier Kinder: Jonas, Schemarjah mit Frau Vega und Freund Mac, Mirjam und Menuchim/Alexej Kossak; der Bauer Sameschkin, der Vermittler Kapturak; die amerikanischen Juden: Skowronnek, Menke, Rottenberg und Groschel

AnmerkungRoths Angaben zur Zeit der Handlung sind widersprüchlich: Mendel ist zu Romanbeginn bei der Geburt Menuchims dreißig Jahre (8,21) alt und soll im Jahr 1914 bereits sechzig Jahre (117,11; 122,1 u. 122,26) alt sein. Demnach wäre Menuchim im Jahr 1884 geboren. Das stimmt jedoch nicht mit anderen Zeitangaben im Roman überein: Mendels Söhne Jonas und Schemarjah sind zu Romanbeginn etwa fünf Jahre alt und werden um 1907 gemustert („Krieg gegen Japan schon beendet“; 28,34, der russisch-japanische Krieg fand 1904/05 statt): Wäre Mendel also bei ihrer Geburt etwa 25 Jahre alt gewesen, so etwa vierzig bei ihrer Musterung und Ende vierzig vor Kriegsausbruch 1914. Es scheint daher geraten, Roths Angaben zu korrigieren und Mendel an folgenden Textstellen um zehn Jahre jünger sein zu lassen, als es der Text angibt: 117,11: „Neun-undvierzig Jahre wurde er jetzt alt.“, 139,18 f.: „Vierzig Jahre, Tag für Tag, hatten diese Hände den Gebetsmantel ausgebreitet ( )“, 140,17: „Mehr als fünfzig Jahre war ich verrückt.“ Das erste Kapitel spielt demnach im Jahr 189421. (Zur Frage des Jahres des Romanendes s. u., S. 69 f..)

inhalt

erster Teil

(1) Der 30-jährige Mendel Singer lebt wie seine Väter als schlecht bezahlter, aber gottesfürchtiger Lehrer einer östjüdischen Elementarschule im wolhynischen Zuch-now. Er und seine Familie – seine Frau Deborah, die beiden Söhne Jonas und Sche-marjah sowie die Tochter Mirjam – leben in ärmlichsten Verhältnissen. Als Mendel seinem 1884 neu geborenen Sohn Menuchim, der verkrüppelt ist und unter Anfällen leidet, aus religiösen Gründen eine Krankenhausbehandlung verweigert, konzent-riert die mit den Umständen ihres Lebens unzufriedene Deborah ihre Sorge ganz auf

das kranke Kind. Nach vergeblichen Gebeten sucht sie einen Wunderrabbi auf, der Menuchim Heilung und Er-folg nach vielen Jahren prophezeit; Deborah dürfe ihren

Sohn jedoch nicht verlassen. (2) Deborah bindet auch die anderen Kinder in die Be-aufsichtigung Menuchims ein. Jonas ist stark, Schemarjah klug und Mirjam hübsch. Sie fühlen sich aber von der Aufgabe überfordert und versuchen, sich von der Last des Bruders zu befreien. Einmal versuchen sie sogar, Menuchim zu ertränken. De-borah löst sich innerlich immer mehr von ihrem Mann und widmet sich ganz dem

21 Vgl. zu diesem Vorschlag Martin Lowsky: Erläuterungen zu Joseph Roth, Hiob. Roman eines einfachen Mannes. Hollfeld: Bange, 1. Aufl. 2013 (Königs Erläuterungen Bd. 435), S. 34–36.

Die Prophezeiung

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1.3.1 Gegenwartsliteratur: Zeitgeschichtlicher und historischer Hintergrund

1.3 Gegenwartsliteratur (2. Hälfte des 20. Jahrhunderts)

1.3.1 Zeitgeschichtlicher und historischer Hintergrund

Überblick

Zeitspanne 1945 –1990: Bonner Republik

Politischeentwicklung

– 1945 –1949: Ende des II. Weltkriegs (8. 5. 1945): Gründung der Bundesrepublik (23. 5. 49) und der DDR (7. 10. 49)

– 1950 –1965: Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Konsolidierung (Ära Adenauer): Juni-Aufstand (1953), Souveränität der DDR (1954) und BRD (1955), Eintritt in NATO bzw. Warschauer Pakt (1955): Kalter Krieg, Mauerbau (13. 8. 1961), Spiegel-Affäre (1962), Anerkennung der Zweistaatentheorie (1964)

– 1966 –1972: Reformen und Koexistenz: Große Koalition (1966 –1969), Studentenunruhen der APO (1967 –1969), sozial-liberale Politik (1969), Ostverträge (1972), Ende des ersten Ära Brandt (1974)

– 1972 –1990: Krisen: Wirtschaftskrise (1972 –1975), Terrorismus der RAF (1972 –1977), Abgrenzungspolitik (1973), Nato-Doppelbeschluss (1979), Gründung der Grünen (1980), innenpolitische Korrupti-onsaffären (1984); KSZE-Akte (1975) begründet Entspannungs-politik und Auflösungstendenzen des Ostblocks (1988), Mauerfall (9. 11. 1989), Wiedervereinigung (3. 10. 1990)

Wirtschaftlicheentwicklung

– 1945 –1949: Währungsreform (1948), Berliner Luftbrücke (1948)– 1950 –1965: Montanunion (1951), Beginn des Wiederaufbaus

(1952), Wirtschaftswunder (1954), Europäische Wirtschaftsgemein-schaft EWG (1957)

– 1966 –1972: Ökonomisches System des Sozialismus in der DDR (1967), Ölkrisen (1973/74), Wirtschaftskrise: Beginn von Arbeits-losigkeit und Staatsverschuldung (1975)

– 1972 –1990: Automatisierung, Rationalisierung der Betriebe und Globalisierung des Markts (EG-Erweiterungen): wachsende Mono-polisierung, Anstieg der Arbeitslosigkeit, wachsende Bedeutung der Kapitalmarkts gegenüber der Warenwirtschaft

Gesellschaftliche entwicklung

– Vertriebenen- und Heimkehrer-Problematik der Nachkriegszeit– Rechtsfragen: Wehrdienst vs. Zivildienst (ab 1955), Auschwitz-

prozesse (1963–68), Diskussion des „Abtreibungs“-Paragraphen 218 (1971/72), Radikalenerlass (1972)

– Frauenbewegung (ab 1971), Bürgerbewegungen (ab 1974), Anti-Atomkraft-Bewegung (ab 1975), Friedensbewegung: BRD ab 1979, DDR ab 1981, Umwelt-Bewegung ab 1981

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1.4.1 Lyrik der Romantik

1.4 Lyrik der Romantik, des Expressionismus und der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990)

Bei der Behandlung der Gattung Lyrik werden keine Einzelwerke, sondern nur drei Epochen vorgegeben, wobei die letzte nicht einmal die grobe stilistische oder the-matische Einheitlichkeit einer Epoche im engeren Sinne aufweist. Deshalb ist es schwierig, selbst herausragende Gedichte der jeweiligen Zeitabschnitte als bekannt vorauszusetzen. Infolgedessen sollen in diesem Kapitel vor allem die strukturellen Wissenselemente angesprochen werden. Dazu gehören neben den Informationen zu den zeitgeschichtlichen und historischen Hintergründen der vorausgesetzten Epochen Romantik, Expressionismus und jüngster Gegenwart vor allem die kennzeichnenden stilistischen Strukturen sowie thematischen Schwerpunkte der jeweiligen Lyrik.

1.4.1 Lyrik der Romantik27

Zur epoche

Die Romantik (1795–1840) lässt sich verstehen als eine protesthafte Reaktion auf die nach der Französischen Revolution als krisenhafte Enttäuschung empfundenen napoleonischen Kriege und die Wiederherstellung des absolutistischen Systems in Europa. (Weiteres zum zeitgeschichtlichen und historischen Hintergrund vgl. Kap. 1.1.1.)Die Romantik setzt die sich von der rationalen Einseitigkeit der Aufklärung wegbe-wegende Entwicklung des Sturm und Drang und der Klassik fort und erweitert sie bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Fichtes subjektiver idealismus, der von ei-nem absolut autonomen, schöpferischen Ich ausgeht, und Schellings identitätsphilo-

sophie, nach der Natur und Geist eine Einheit bilden, schaffen die Bedingung für die Welt- und Kunstauffas-sung einer allumfassenden Synthese. Romantische Lite-ratur versteht sich als eine „progressive Universalpoesie“,

die das Ziel verfolgt, nicht nur „alle getrennten Gattungen der Poesie zu vereinen“ (Friedrich Schlegel), sondern auch alle anderen Bereiche des Lebens. So dominiert die Vorstellung von der Aufhebung und Vereinigung der Gegensätze in einer mysti-schen Einheit, die an mittelalterlichem Wunschdenken anknüpft. Überirdisches soll mit Irdischem, Ewiges mit Zeitlichem, Vergangenes mit Gegenwärtigem, Seelisches mit Körperlichem, Geist und Sinnlichkeit, Bewusstes und Unbewusstes, Traum und Wirklichkeit zu einer harmonischen Vollkommenheit verschmelzen. Die Epoche der Romantik wird in drei Phasen gegliedert: die frühromantik oder „Jenaer Romantik“ zwischen 1795 und 1805, die ihren

Schwerpunkt in der Herausbildung der romantischen Theorie und ihre Hauptver-treter in Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Novalis (Friedrich von Hardenberg) und den Gebrüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel besaß,

27 Ausführlich: Gudrun Blecken: Lyrik der Romantik. Hollfeld: C. Bange Verlag, 1. Aufl. 2012 (Königs Erläuterungen Spezial, Bd. 30327).

Ideologie der universellen Einheit

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1.4.1 Lyrik der Romantik

die Hochromantik oder „Heidelberger Romantik“ zwischen 1805 und 1820, in der man sich unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege auf das Patriotische, National-Historische und Völkische (Märchen, Volkslieder) konzentrierte und die vor allem von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff repräsentiert wird,

die spätromantik oder „Schwäbische Romantik“ zwischen 1820 und 1848, die sich stärker dem Religiösen zuwandte und in Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Eduard Mörike ihre wesentlichsten Autoren fand.

Nicht die bevorzugte literarische Gattung dieser Epoche, aber jene, an der die Epo-chenmerkmale am leichtesten ablesbar sind, ist die Lyrik, weil sie am ehesten und überzeugendsten erlaubt, subjektives Empfinden zum Ausdruck zu bringen und di-vergierende Sphären miteinander zu harmonisieren und zu verschmelzen. Damit das Ich des Schriftstellers sich behaupten kann, wird das Mittel der Ironie eingesetzt. Diese romantische ironie unterscheidet sich von der rhetorischen Ironie insofern, als sie weniger ein Ausdrucksmittel ist als ein Stilmittel der Verfremdung, das die Illusion der Fiktion durchbricht, die Eindimensionalität des Geschriebenen im Sinne der Romantik aufhebt, in Frage stellt und so Distanz schafft.

Übersicht über die Lyrik der Romantik

Motivkreise Natur: Abendrot, Ährenfelder, Idylle, Licht, Mitternacht, Mond, Nacht, Quelle, Ruine, Stille, Tod, Vögel, Wald, Weite, Wildschönheit, Zwielicht Liebe: Brunnen, Einsamkeit, Leid, Melancholie, Tod, Sinnlichkeit, Vogel, ZauberReise: Aufbruch, Einsamkeit, Kutsche, Lied, Posthorn, Reiter, Traum, Trennung, Trompete, Wanderer, Politik: Religion, Tod

Gedichtformen Ballade, Hymnus, lyrische Prosa, Sonett, Volkslied

Stilmittel traditionelle Formbeherrschung, Farbsymbolik, Imperative, Ironie, Paradoxon, Possessivpronomen, Schlichtheit des Ausdrucks, Symbol, Verniedlichungsformen, Wiederholungen

Naturgedichte

Da die Romantik das Ich und das Nicht-Ich in einer harmonischen Einheit denkt, ist das Naturgedicht ein selbstverständlicher Motivschwer-punkt. So lassen sich innerpsychische Vorgänge des Men-schen in eine spiegelnde Beziehung setzen zu den äußer-lichen Gegebenheiten und Vorgängen der Natur. Sie

bietet auch den Raum, in dem das einsame innere Empfinden Objekte findet, auf die es seine Gefühle projizieren kann. Und wenn diese Objekte der Natur eine anth-ropomorphe Gleichstellung mit dem Menschen erfahren, wird die Natur gleichsam zu einem emotionalen Partner des Menschen. Sie erlaubt es auch, in der Rätselhaf-tigkeit und Dunkelheit ihrer Erscheinung jene bewegenden Strömungen des geahn-ten Unbewussten zur Darstellung zu bringen, weil man diese innerseelischen Vor-

Natur als Spiegel der Seele

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1.4.3 Lyrik der jüngsten Gegenwart (etwa ab 1990)

Tendenzen der Lyrik nach 1945

ZeiT NAMe BesCHReiBuNG AuTOReN

1945 –1949 Trümmer-Lyrik Stil des lakonischen Konstatierens

Günter Eich

traditionelle Lyrik Orientierung an Stil-formen der Vergan-genheit z. B. Klassik, Expressionismus

Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann, Elisabeth Lang-gässer, Georg Britting

1951 –1970 hermetische Lyrik am Symbolismus anknüp-fender Stil des l’art pour l’art: Chiffrensprache

Paul Celan, Yvan Goll, Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann

1954 –1964 experimentelle Lyrik in Anlehnung an den Dadaismus: Konkrete Poesie, Wiener Gruppe

Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, Franz Mon, Ernst Jandl, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oskar Pastior, H. C. Artmann

ab 1955 lakonische Lyrik minimalistische Reduk-tion von Umfang und Aussage

Erich Fried, Volker von Törne

1968 –1974 engagierte Lyrik kritisch-tagespolitisch orientiert bis hin zum Agitprop

H. M. Enzensberger, Erich Fried, Franz Josef Degenhardt, Nicolas Born, Dieter Süverkrüp, Yaak Karsunke

1974 –1985 AlltagslyrikNeue subjektivität

prosanaher Stil mit subjektiver Perspektive auf Alltagsprobleme

Rolf Dieter Brinkmann, Wolf Wondratschek, Karin Kiwus, F. C. Delius, Sarah Kirsch, Jürgen Theobaldy

ab 1985 postmoderne Lyrik Stilmischungen: Spiel mit Stilformen, Themen und Motiven

Durs Grünbein, Volker Braun, Ulla Hahn, Sarah Kirsch, Henning Heske

ab 1990 Poetry-slam eventhaft-interaktive Vermittlung von Lyrik

Nora Gomringer, Xóchil Andrea Schütz

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1.5.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache

1.5 Spracherwerb und Sprachentwicklung32

Spracherwerb kann unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet wer-den: Spracherwerb der Menschheit (Phylogenese) oder Spracherwerb des ein-zelnen Menschen (Ontogenese). Die Frage nach dem Ursprung der Sprache ist also jene der Phylogenese, die der Ontogenese ist die Frage nach dem indi-viduellen Spracherwerb und der Sprachentwicklung. Zu beiden Fragenkom-plexen haben sich unterschiedliche Theorien herausgebildet.

1.5.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache

Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) – in Auszügen (als gemeinsamer Bezugstext)

Zum Autor

Johann Gottfried Herder (1744 –1803), in Ostpreußen als Sohn eines pietistischen Kantors und Volksschullehrers geboren, war einer der wesentlichen Wegbereiter für die Entwicklung der bedeutendsten deutschen Literaturepochen. Nach autodidak-tischer Bildung durch eine örtliche Pfarrbibliothek und dem Studium der Medizin, Theologie und Philosophie in Königsberg ließen vor allem die Erfahrungen einer Seereise von Ostpreußen nach Nantes und auf dem Landwege über Paris, Amster-dam und Hamburg nach Eutin sowie einer Italienreise als Begleiter des holstei-nischen Prinzen in ihm die Erkenntnisse wachsen, deren Vermittlung ihn bedeutend machte. Herder erkannte die besondere Ästhetik der gotischen Baukunst und als einer der ersten die Bedeutung Shakespeares; er rezipierte Jean-Jacques Rousseaus Kultur kritik, entdeckte die natürliche Ästhetik in den von ihm gesammelten Volks-

liedern (1778/79) und übertrug den Gedanken einer or-ganischen Entwicklung auf Sprache, Nationalkultur und Geschichte. Damit beeinflusste er nicht nur nachhaltig den jungen Goethe, mit dem er 1770 in Straßburg zu-

sammentraf, sondern wurde zum Anreger von Sturm und Drang, Klassik und Ro-mantik. Herder starb, nach einer Goethe verdankten Hofkarriere in Weimar, zuletzt ver bittert und vereinsamt aufgrund der Ablehnung seines ambitionierten philoso-phischen Spätwerks.

32 Ausführlich: Kerstin Prietzel: Inhaltlicher Schwerpunkt: Reflexion über Sprache, Deutsch-Abitur NRW 2013, 2014 und 2015. Hollfeld: Bange Verlag, 2. Aufl. 2012 (Königs Abi-Trainer).

Entdecker des Volkslieds

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1.5.1 Phylogenetischer Spracherwerb: Ursprung der Sprache

Daten zum Text

Textsorte sprachphilosophische Abhandlung (zwei Teile)

entstehungszeit 1769 –1770

erscheinungsjahr 1772, Berlin bzw. 1789

Thema Begründung des Ursprungs der Sprache aus der Reflexionsfähigkeit als biologische Sonderbegabung des Menschen

Zur Textentstehung

Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache entstand als Siegerbeitrag der für das Jahr 1770 von der Berliner Akademie der Wissenschaften und ihrem Präsi-denten Pierre-Louis de Maupertius ausgelobten, französisch formulierten Preisauf-gabe: „Sind Menschen, ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen, imstande, Sprache zu erfinden und wenn ja, mit welchen Mitteln sind sie dazu gekommen?“. In seiner 1772 erstmalig sehr fehlerhaft und 1789 berichtigt veröffentlichten Schrift bezieht Herder vor allem Stellung zu den bereits veröffentlichen Aussagen des Franzosen Condillac und des Deutschen Süßmilch.

inhalt 33

1. Teil: „Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst sprache erfinden können?“ 16

„Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ 34, so beginnt Herder seine Ausführungen. Er verweist darauf, dass nach einem Naturgesetz der Mensch, dem Tiere ähnlich, seine Empfindungen sprach-lich artikuliere, aber das mache nicht die Wurzeln der menschlichen Sprache aus. Herder wendet sich damit ge-

gen die von dem französischen Philosophen étienne Bonnot de Condillac 1746 vor der Akademie vertretene Auffassung der französischen Aufklärung, Sprache sei aus der Nachahmung tierischer Laute entstanden. Condillacs Theorie müsse nach Herder einen sprachlosen Zustand der Menschen annehmen und werde daher dem spezi-fisch menschlichen Charakter der Sprache mit einer schlichten Graduierung zur tieri-schen Lautung nicht gerecht. Auch Rousseaus Auffassung lehnt Herder ab, weil auch dieser französische Philosoph mit seinem vergleichbaren Ansatz die Menschen zu Tieren degradiere. Andererseits verwirft Herder jedoch ebenfalls die 1756 vom Ber-liner Theologen Johann Peter Süßmilch aufgestellte These, dass die Sprache göttli-chen Ursprungs sein müsse, weil Sprache und Denken sich wechselseitig voraussetz-ten und alle natürlichen Sprachen auf der gleichen perfekten Entwicklungsstufe

33 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam, 2001, S. 5.

34 Ebd., S. 5.

„Schon als Tier hat der Mensch Sprache“

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1.6.1 Sprachwandeltheorien

1.6 Aspekte des Sprachwandels in der Gegenwart: Einfluss neuer Medien, Mehrsprachigkeit

Jede natürliche, lebende Sprache ist mit der Zeit auch dem Wandel unterworfen, die gesprochene Sprache eher als die geschriebene. Die Gesamtentwicklung einer Spra-

che wird in ihrer Sprachgeschichte dokumentiert. Da zu jeder Zeit unterschiedliche Einflüsse auf eine konkrete Sprache einwirken, seien sie politischer, sozialer oder kultureller Natur, entwickeln sich in den überaus hetero-

genen Gruppen der Sprachgemeinschaft auf allen Ebenen des Sprachsystems unter-schiedliche Sprachvorlieben und -tendenzen heraus, die – historisch betrachtet – ei-ner neuen Phase der Sprachgeschichte den Grund legen können. Dazu haben sich mehrere Theorien herausgebildet:

1.6.1 Sprachwandeltheorien

THeORie BesCHReiBuNG KRiTiK/BeuRTeiLuNG

stammbaumtheorie Jede Sprache ist aufzufassen als Zweig einer Sprachfamilie, die wiederum gemeinsam einem Sprachstammbaum zugehören.

Grundlagenwissen

superstrat-Theorie(superstrat:darübergestreutes)

Eine Sprache übernimmt in einer Unterlegenheitssituation Bestand-teile der Sprache des überlegenen Volkes (Transferenzen).

Interessant für Latinismen, Gallizismen (18./19. Jh.) und Anglizismen (20. Jh.)

substrat-Theorie(substrat: daruntergestreutes)

Eine dominante Sprache über-nimmt Elemente der ihr unter-legenen Sprache.

Interessant für regional-sprachliche Varietäten (z. B. Übernahme von „Kanaksprach“ in die dt. Hochsprache)

Wellentheorie Zwischen verwandten Sprachen kommt es immer wieder zu Wechseleinflüssen.

Interessant z. B. für den Ein-fluss des Deutschen auf das Anglo-Amerikanische

stadialtheorie (stadial: stufenweise)

Jede Sprache entwickelt sich organisch in Stadien von einfacher zu komplexer Struktur.

Umkehrtendenz in heuti-ger Sprache beobachtbar: Pragmatismus (Telegramm-stil, SMS-, Comic-Sprache)

Theorie der unsichtbaren Hand

Sprachwandel vollzieht sich evolutionär, d. h. ungeplant und unbeabsichtigt (Trampelpfad-theorie).

Unterschiedliche Einflüsse

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1.6.3 Mehrsprachigkeit

102

1.6.3 Mehrsprachigkeit

Man muss echte Multilingualität, in der Regel Bilingualität, also die alltägliche Ver-wendung von zwei ethnisch unterschiedlichen Sprachen, von der Diglossie, der Ver-wendung von zwei Varietäten derselben ethnischen Sprache, unterscheiden. Von Diglossie würde man also sprechen, wenn neben der normierten Hochsprache noch

eine andere Sprachform benutzt wird, die sich im Niveau deutlich von der Hochsprache unterscheidet, wie z. B. der Dialekt. Umgangssprache, Jugendsprache, Soziolekt oder Ideolekt würden in ihrer relativ geringen Differenz

zur Hochsprache nicht ausreichen, um von einer Diglossie zu sprechen. Anders ist es bei der „Kanaksprach“36, der besonders von Migranten benutzten Mischsprache aus Deutsch und Elementen des Türkischen und der Balkansprachen („Türkendeutsch“). Hier liegen auf unterschiedlichen Ebenen so gravierende Abweichungen vor, dass es bereits einer besonderen Beherrschung dieser subkulturellen Kiez-Sprache bedarf. Das ist auch daran feststellbar, dass es Bestrebungen gibt, diese Sprachvarietät nicht abzuwerten, sondern als interkulturelle Kontaktsprache und Multi-Ethnolekt anzu-erkennen, weil sie als sekundärer (d. h. nachgeahmter) oder sogar tertiärer (d. h. sich in den Medien spiegelnder) Ethnolekt auf die Ursprungssprache zurückwirkt (z. B. Übernahmen der „Kanaksprach“ in die Hochsprache).Echte Bilingualität ist häufig bei Kindern von Migranten oder verschiedensprachi-gen Eltern gegeben. Selten werden dabei beide Sprachen vollständig in Wort und Schrift beherrscht, zumeist dominiert eine. Die identitäts- und Kontrastivhypothese beleuchten unterschiedliche Probleme der Bilingualität. Nach der Kontrastivhypo-these bereitet beim Erwerb einer Zweitsprache das Lernen unterschiedlicher Ele-mente besondere Schwierigkeiten, während identische Elemente leicht erlernbar sind. Dagegen geht die Identitätshypothese davon aus, dass es für den Erwerb keine Rolle spielt, welche Sprache zuerst erlernt wurde. Die Erforschung dieses Phänomens ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen.

36 Diese Wortschöpfung geht wahrscheinlich auf den deutschen Autor türkischer Herkunft Feridun Zaimoglu zurück.

Hochsprache und Dialekt

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1.6.3 Mehrsprachigkeit

103

1.7 Sprachkritik, Sprachskepsis, Sprachnot

Unter sprachkritik versteht man im Allgemeinen die wertende Auseinandersetzung mit der geltenden Norm und der aktuellen Verwendung einer Sprache. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre die bis heute anhaltende Kritik an der Einführung einer neuen deutschen Sprachnorm durch die Rechtschreibreform zwischen 1996 und 2006. In der Regel beziehen sich sprachkritische Äußerungen und Veröffentlichungen auf die Veränderungen, Tendenzen und Auffälligkeiten im aktuellen Sprachgebrauch und alle Formen der Sprachlenkung, die das Denken und die Einstellung der Sprach-teilnehmer beeinflussen sollen und die meist politisch motiviert sind. Dazu gehören: offizielle Sprachregelungen in Bezug auf Einzelbegriffe mit meist wertender

Intention (so waren nach 1949 in der Bundesrepublik für die DDR Begriffe wie „Zone“, „Mitteldeutschland“ oder „sogenannte DDR“ üblich; anderes Beispiel: „Fremdarbeiter“-„Gastarbeiter“-„ausländischer Arbeitnehmer“),

die Definitionsbegrenzung (verordnete Begriffseinengungen: z. B. NS-Zeit: „Pro-paganda“ → „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“),

die Tabuisierung (Verbot, Meidung von Einzelwörtern) und der Euphemismus („Freistellung“ für Entlassung).Sprachkritik richtet sich auch auf die Verwendungsgeschichte („Dirne“, „geil“) und den Missbrauch einzelner Wörter.Sinn dieser Kritik ist zumeist die Warnung vor einem oder der Hinweis auf einen

Sprachwandel mit dem Ziel, den Bestand der Mutterspra-che zu pflegen und diesen vor für unangemessen gehal-tenen Veränderungen zu bewahren (Sprachpurismus).

Hier ist zwischen der wissenschaftlichen Sprachkritik und ihrer populärwissenschaft-lichen Tochter, die oft eher Unterhaltungscharakter hat, zu unterscheiden. So finden sich auf dem Buchmarkt diverse populär gehaltene Stilratgeber (z. B. von Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod).sprachskepsis ist kein wissenschaftlicher Terminus, sondern ein literarhistorischer und bezeichnet die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Formen des Zwei-fels an der Leistungsfähigkeit der Sprache (vgl. den Zusammenhang von Sprache-Denken-Wirklichkeit). Daraus erwuchs auch die Sprachnot.sprachnot ist ebenfalls kein linguistischer Begriff. Er bezieht sich wie der Begriff Sprachskepsis auf eine besondere sprachkritische und literarische Situation zu Ende des 19. Jahrhunderts, in der Autoren ein Problem darin sahen, ihrer individuellen Sicht der Wirklichkeit und ihren vermeintlich neuartigen Gedanken mittels einer all-gemeinen, verbrauchten, konventionellen und in ihren Nuancen bereits belasteten Sprache angemessenen Ausdruck verleihen zu können. Auslöser für diese Verunsi-cherung war neben dem Siegeszug der Naturwissenschaften mit ihren Fachsprachen v. a. der Aufstieg des Massenmediums Tageszeitung. Man fürchtete in dieser Krise, mit seiner Ausdrucksabsicht an den bereitstehenden Standardisierungen, Worthül-sen und Denkschablonen zu scheitern und ersehnte neue Ausdrucksformen. In die-sen Zusammenhang ist der Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal zu stellen.

Sprachpurismus

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2.1 Psychologischer Aspekt: Individuation und Sozialisation

2. Verknüpfungsaspekte

2.1 Psychologischer Aspekt: Individuation und Sozialisation Eine kurze Geschichte der Literatur

Übersicht

Werk Individuation Sozialisation

schiller – Problem der Individuation im Spannungsfeld von religiöser Moral, väterlicher Erziehung und begehren-der Sinnlichkeit (Luise)

– egoistischer Missbrauch des Ande-ren: Ferdinand, Wurm (Präsident)

– Verzicht und Selbstbegrenzung zur Wahrung der Würde anderer (Luise, evtl. Lady Milford)

Goethe – egoistischer Missbrauch des Ande-ren: Pylades, Thoas (z. T.)

– Akzeptanz des Anderen: Iphigenie

Kafka unklar: Vater früh verstorben: fehlende ideologische (religiöse, philosophische) Selbstsicherheit und Identität

Dissens von äußerer und innerer Sozialisation:– äußere: repräsentativer systemkon-

former Beamter: Prokurist (Bank); formelle Sozialbeziehungen: Stamm-tisch, Geliebte

– innere: rebellierende Subjektivität, Schwanken zwischen ängstlichem Anpassungswillen, Auflehnung und herrischer Unterwerfung

Roth Problem der Individuation im Span-nungsfeld von religiöser Moral (Mendel), väterlicher Erziehung (Jonas, Schemar.) und begehrender Sinnlichkeit (Mirjam)

– Rollenkonformität (Mendel)– gehorsame Unterwerfung (Jonas)– Identitätswechsel: Anpassung (Sam)– gescheitert wegen egoistischer

Preisgabe eines grundlegenden Wertesystems (Mirjam)

– langsame Integration (Menuchim)

Koeppen gestört, orientierungslos aufgrund der wirren Zeitsituation

gescheitert wegen Fehlens eines gesell-schaftlichen Grundsystems

Individuation und Sozialisation sind zentrale Prozesse der menschlichen Entwick-lung. In der Phase der individuation nutzt der Einzelne als unabhängiges, eigenstän-diges Individuum seine Möglichkeiten, seine Persönlichkeit nach Maßgabe seiner Veranlagungen und Zielsetzungen zu verwirklichen. In der Phase der sozialisation begreift er sich als Teil der Gemeinschaft, in der er lebt, und übernimmt in ihr nach Maßgabe seiner Individualität eine möglichst widerspruchsfreie Rolle. Die Darstel-

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2.2 Genderaspekt

2.2 Genderaspekt

Die Stellung des Mannes in der Gesellschaft scheint über die Jahrhunderte relativ stabil. Religiös begründet, findet er im Patriarchat eine fest definierte privilegierte und dominante Rolle, die ihm erst seit dem Epochenumbruch 19./20. Jahrhundert ernstlich streitig gemacht wird. Das ist allein an der Au-torschaft von Texten ablesbar, obwohl die Frauen bereits

seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zu schreiben begonnen haben (Hroswitha von Gandersheim, ca. 935 – 1002, wird als erste deutsche Dichterin angesehen) und sogar seither traditionell das Gros des Lesepublikums ausmachen. Dies ist keine Frage der literarischen Qualität: Da auch die Literaturgeschichtsschreibung männlich domi-niert wurde, wurden selbst herausragende Texte von Autorinnen in der Regel gar nicht erst kanonisiert. Selbst die zum Abitur obligatorisch zu lesenden Texte ent-stammen überwiegend männlichen Federn. Erst Marieluise Fleißer und Irmgard Keun bilden eine Ausnahme. Auch die Hauptfiguren der zu lesenden Texte sind überwiegend männlich. Lediglich Goethes Iphigenie und die Romanheldinnen der Autorinnen weichen davon ab: Gisela Kron (Gilgi), Doris und Frieda Geier. Hier wird erkennbar, dass sich im 20. Jahrhundert eine Veränderung der geschlechtsspezifi-schen Wertung vollzieht.

2.2.1 Die Rolle des Mannes in der Gesellschaft

Übersicht

AuTOR fiGuR MÄNNeRBiLD

schiller Präsident absolutistische Position mit unbegrenzter Machtgier

Wurm serviler, skrupelloser Utilitarist41

Ferdinand egomanischer Individualist

Miller selbst- und sittenbewusster Kleinbürger

Goethe Thoas Herrscher: Macht, Durchsetzungs- und Beharrungswille

Pylades Problemlöser: effektiv pragmatisch männliches Denken

Arkas Vermittler: utilitaristische Diplomatie

41 Jemand, der nur auf den Nutzen achtet.

Dominanz männlicher Autoren in der Literaturgeschichte

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2.3 Literarhistorischer Aspekt

2.3 Literarhistorischer Aspekt: Die literarische Entwicklung als Pendelbewegung zwischen Ratio und Sensus (Epochenmerkmale)

Die Menschheitsgeschichte scheint sich manchmal zyklisch, also wie in einem Kreis-lauf, zu vollziehen oder einer Pendelbewegung zwischen zwei Extremen zu ähneln. So kann man sich auch die lite-rarische Entwicklung vorstellen. Die Extreme werden

hier durch zwei Pole gebildet, die sich nicht ausschließen, sondern kompensatorisch miteinander harmonieren können: die Ratio auf der einen und der Sensus auf der anderen Seite. Der Verstand äußert sich dabei in logischen Kategorien, objektiven Kriterien und abstrakten Begriffen, das Gefühl in Pathos, subjektiven Emotionen und expressiver Bildlichkeit. Je nach der historischen Pendelstellung gestalten sich die stilistischen Epochenmerkmale.

Überblick

ePOCHe AKZeNT sCHReiBsTiL

Barock ausgeglichen differenzierte Formartistik

Aufklärung rational didaktisch Diskurs abstrakter Begrifflichkeiten

Anakreontik emotional stilisierte Bildmuster

Pietismus emotional pathetisch-religiöse Empfindung

sturm und Drang emotional genialisch-egoistische Subjektivität

Klassik ausgeglichen idealistisch-strenge Erhabenheit

Romantik emotional sehnsuchtsvolle Fantasie

Biedermeier rational wirklichkeitsnahe Idealität

Vormärz ausgeglichen leidenschaftliches politisches Engagement

Realismus ausgeglichen Betonung von Deskription und Figurenrede

Naturalismus emotional selektierender Verismus (schonungslose Wirklichkeitsdarstellung)

symbolismus rational elitäre, vernunftbetonte Bildlichkeit

impressionismus emotional sensible, sprachskeptische Subjektivität

expressionismus emotional apokalyptische Wortgewalt

Neue sachlichkeit rational wertungsarme, nüchterne Distanz

Trümmerliteratur rational skeptisch-misstrauische Zurückhaltung

Verstand und Gefühl

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2.5.1 Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert

2.5 Gattungstheoretische Aspekte

2.5.1 Der Wandel der Dramentheorie im Epochenumbruch 18./19. Jahrhundert

Übersicht

ePOCHe MeRKMALe THeORie

sturm und DrangKabale und Liebe

klassische Bauformfreie Prosaexpressive, selbstbewusste Sprache als Aus-druck der Leidenschaftgenialisch-kraftvolles Aufbegehren gegen subjektive UnterdrückungKritik der Alltagsrealität

Anmerkungen übers Theater (J. M. L.)

KlassikIphigenie

geschlossene Bauform antike FormstrengeBlankvers: fünfhebiger JambusDarstellung eines Gedankenexperimentsaufklärerisch-erzieherische Absicht

Über epische und dramatische Dichtung (Goethe u. Schiller)Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet (Schiller)Über das Erhabene (Schiller)Über das Pathetische (Schiller)

Im 18. Jahrhundert wurden die Vorstellungen von einem Drama beherrscht von zwei unterschiedlichen Ansichten. Auf der einen Seite stand der an Regeln orientierte Traditionsstrang der Theorie, der sich von der antiken Poetik des Aristoteles bis zu den Werken der französischen Klassiker erstreckte, auf der anderen Seite stand die regelfreie und lebendige Theaterpraxis des ‚Genies‘ Shakespeare. Lessing hatte sich in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767/68) bereits um eine Entschlackung der Dramentheorie verdient gemacht und mit seinem bürgerlichen Trauerspiel den Weg bereitet. Goethe und schiller vollendeten den Prozess. In ihren shakespearehaften

Jugenddramen setzten sie sich über die strengen Vor-schriften des herkömmlichen Theaters hinweg und ga-ben die drei Einheiten des Ortes, der Zeit und der Hand-

lung sowie die strenge Versgebundenheit der Figurenrede auf. Sie verwendeten stattdessen eine kraftvolle, ausdrucksstarke Prosa, die geeignet war, die Leiden-schaft des genialischen Aufbegehrens gegen alle formen der unterdrückung des subjektiven und individuellen zu fassen. Bei Schiller gerät dieser Stil, in dem er seine Zeitkritik formulierte, oft ins überzogen Schwülstige und Pathetische.In ihrer klassischen Phase ließen die beiden Dichterfürsten Dramen folgen, die beide

unterschiedlichen Ansichten miteinander verschmelzen und wieder stärker einer regelhaften Norm unterworfen sind. Während Goethes dramentheoretische Vorstellun-

gen etwas verstreut und am ehesten in seiner mit Schiller verfassten Abhandlung Über epische und dramatische Dichtung (1797) enthalten sind, lassen sich bei Schiller durchaus kompakte Aussagen finden. Allein die Überschriften offenbaren wesentli-

Sturm und Drang

Klassik

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1. Die Aufgabenstellungen im Abitur

1. Die Aufgabenstellungen im Abitur

Die Vorgaben

Für die Ablegung des schriftlichen Abiturs im Fach Deutsch gelten im Grund- und Leistungskurs die gleichen strukturellen inhaltlichen Anforderungen. Diese An-forderungen umfassen die Verstehensleistung und die Darstellungsleistung. Bei der Verstehensleistung wird unterschieden zwischen der Reproduktionsleistung, der Wiedergabe von Kenntnissen (Anforderungsbereich I), dem Transfer, der An-wendung von Kenntnissen (Anforderungsbereich II) und der Problemlösung und Wertung (Anforderungsbereich III). Jede Aufgabenstellung muss alle drei Anforde-rungsbereiche ansprechen. Dabei ist bei den analytischen Aufgabenarten I (nichtfik-tionale Texte) und II (fiktionale Texte) das Verhältnis dieser Anforderungen gleich, bei der argumentativen Aufgabenart III verschiebt sich das Profil zugunsten des drit-ten Anforderungsbereichs. Seit 2011 wird die Zuordnung der Anforderungsbereiche zu den Punktbewertungen nicht mehr ausgewiesen.Die Art der im Abitur zulässigen Aufgabenstellungen ist auf drei Aufgabenarten festgelegt; im Falle der analytischen Aufgabenarten ist eine Differenzierung durch Kennbuchstaben vorgesehen. Der Kennbuchstabe A bezeichnet dabei die Analyse eines einzigen Textes, die Buchstaben B und C weisen auf einen Vergleich zweier gleichartiger Texte hin oder auf eine spezielle Anforderung. Hier fehlt leider eine Bezeichnungssystematik. Alle Aufgabenstellungen bestehen aus mindestens zwei Aufgabenteilen, die je nach Aufgabenart unterschiedlich gewichtet werden. Die Aufgabenstellung selbst enthält keine Kennzeichnung der vorliegenden Aufgaben-art. Diese treten seit 2012 ohnehin zunehmend zugunsten von üppig formulierten Aufgabenstellungen in den Hintergrund. Deren Formulierung ist ebenfalls regle-mentiert, sodass vor allem an den auffordernden Verben (Operatoren) erkennbar ist, welche Leistung genau erwartet wird. So ist heute vor allem das Augenmerk auf diese bis zu vier Operatoren zu lenken, die den Vorteil besitzen, die Prüflinge meist einer Reflexion des methodischen Vorgehens zu entheben.

Die Operatoren

In der Tradition mancher Schulen und sogar einiger Regierungsbezirke des Landes NRW liegt es, manchmal andere Operatoren als die vom Ministerium festgelegten zu verwenden, weil sie leider auch innerhalb der Fächer unterschiedlich definiert sind. Deshalb hat die Konferenz der Kultusminister sich im Oktober 2012 geeinigt, auf eine Operatorenliste zu verzichten und die Arbeitsaufträge so zu formulieren, „dass sie von Schülerinnen und Schülern aller Länder auch ohne Operatorenliste ver-standen werden können.“44 Danach ist der übergreifende Operator „interpretieren“ wieder für die Erschließung fiktionaler Texte verwendbar. Gleichwohl ist in NRW die am 26. 10. 2007 vom Schulministerium veröffentlichte Operatorenübersicht45 noch nicht zurückgenommen.

44 www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf, S. 40 (Stand: März 2013).

45 www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/fach.php?fach=1 (Stand: März 2013).

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1. Die Aufgabenstellungen im Abitur

Die formalen Anforderungen sind im Leistungskurs und im Grundkurs etwas unter-schiedlich. Klausuren im Leistungskurs werden für viereinviertel Zeitstunden ange-setzt, im Grundkurs beträgt die Bearbeitungszeit drei Zeitstunden. Da drei Aufga-ben zur Auswahl vorgelegt werden, kommt zu dieser Bearbeitungszeit eine halbe Stunde Auswahlzeit hinzu. Es stehen im Leistungskurs also insgesamt 285 Minuten Gesamtarbeitszeit zur Verfügung.

Anforderungsprofil der Aufgabenarten

Die punktgestützten Bewertungen der Lösungsbögen folgen den Abiturvorgaben und wurden auf der Grundlage der in den zurückliegenden Abiturprüfungen in Grund- und Leistungskursen verteilten Punktwerte erstellt. Die Aufgabenart I C und II B wurden bislang noch nicht angeboten. Das ist allerdings nur für die Aufgabenart II B nachvollziehbar.Die Gesamtpunktzahl beträgt im LK und GK z. Zt. 100 Punkte. Die Teilpunktsumme für die Darstellungsleistung beträgt immer 28 Punkte. Die einzelnen Punktsummen bei den Teilaufgaben können je nach Aufgabe variieren und werden in Abhängig-keit von der Aufgabenformulierung zunehmend flexibler gehandhabt.

Übersicht: Punkteverteilung bei den Aufgabenarten

Aufgabenart i A i B i C ii A ii B ii C iii A

1. Teilaufgabe 39/42 36 36 42 42 36/39 24/30

2. Teilaufgabe 30/33 36 36 30 30 33/36 48/42

Darstellung 28 28 28 28 28 28 28

Summe 100 100 100 100 100 100 100

Die Bewertung der Klausurarbeiten geschieht für Grund- und Leistungskurs ver-gleichbar durch einen punktgestützten Bewertungsbogen, der aus einem Raster be-steht, das den erwarteten Lösungskriterien eine maximal zu vergebende Punktzahl zuordnet. Dieser Bewertungsbogen berücksichtigt alle inhaltlichen Anforderungen und weist sie differenziert aus. Er lässt auch einen individuellen Bewertungsspiel-raum von bis zu 6 Punkten für nicht vorhergesehene, aber sinnvolle Lösungsbeiträge zu, sofern dadurch die Gesamthöchstpunktzahl der Teilaufgabe nicht überschritten wird. Die der Leistung zuzumessende Note wird durch Addition aller erreichten Punkte ermittelt und einer Bewertungstabelle entnommen. Es gehört m. E. zu den Vorbereitungen zum Abitur, auch in dieser Hinsicht einen möglichst differenzierten Kenntnisstand zu besitzen.

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2.1 Abiturprüfung Übungspaket I

2. Übungsaufgaben

2.1 Abiturprüfung Übungspaket I

2.1.1 Aufgabe 1 (Ü i)

AufGABeNsTeLLuNG

Materialgrundlage:Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Roman mit Materialien. Ausgewählt von Jörg Ulrich Meyer-Bothling. Leipzig, Stuttgart, Düsseldorf: Ernst Klett Schulbuchver-lag, 2007, S. 39 f.Georg Heym: Die Stadt. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Bd. 1. Hrsg. von K. L. Schneider. Hamburg/München: Ellermann, 1964, S. 452.

Zugelassene Hilfsmittel:Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

TexT 1

irmgard Keun

Das kunstseidene Mädchen (1932)

Die aus armen Verhältnissen stammende 18-jährige Doris, als Bürokraft bei einem Rechtsanwalt gekündigt, träumt davon, berühmt zu werden. Um repräsentieren zu können, stiehlt sie einen Fehmantel (Mantel aus Eichhörnchenfellen), flieht nach Berlin und schlüpft dort bei der ehemaligen Kollegin Tilli Scherer unter. Mit dem vorliegenden Auszug beginnt der zweite Teil des Romans, der überschrieben ist: „Später Herbst – und die große Stadt“.

Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. Mit einer Nachtfahrt und noch neunzig Mark übrig. Damit muss ich leben, bis sich mir Geldquellen bieten. Ich habe Maß-loses erlebt. Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blu-men. Der Westen ist vornehm mit hochprozentigem Licht – wie fabelhafte Steine ganz teuer und mit so gestempelter Einfassung. Wir haben hier ganz übermäßi-ge Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel. Und ich mit dem Feh. Und schicke Männer wie Mädchenhändler, ohne dass sie gerade mit Mädchen handeln, was

1. Analysieren Sie den Auszug aus Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen, indem Sie besonders herausarbeiten, welches Bild von der Stadt darin gezeichnet wird. (42 Punkte)

2. Stellen Sie im Anschluss dar, wie sich dieses Bild im Vergleich zu dem des Gedichts Die Stadt von Georg Heym verändert hat, und erklären Sie die Veränderung vor dem Hintergrund des zeitgeschichtlichen Wandels. (30 Punkte)

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2.1 Abiturprüfung Übungspaket I

es ja nicht mehr gibt – aber sie sehen danach aus, weil sie es tun würden, wenn was bei rauskäme. Sehr viel glänzende schwarze Haare und Nachtaugen so tief im Kopf. Aufregend. Auf dem Kurfürstendamm sind viele Frauen. Die gehen nur. Sie haben gleiche Gesichter und viel Maulwurfpelze – also nicht ganz erste Klas-se – aber doch schick – so mit hochmütigen Beinen und viel Hauch um sich. Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen – unter der Erde und muffig, und man wird gequetscht. Damit fahre ich. Es ist sehr inte-ressant und geht schnell.Und ich wohne bei Tilli Scherer in der Münzstraße, das ist beim Alexanderplatz, da sind nur Arbeitslose ohne Hemd und furchtbar viele. Aber wir haben zwei Zimmer, und Tilli hat Haare aus gefärbtem Gold und einen verreisten Mann, der arbeitet bei Essen Straßenbahnschienen. Und sie filmt. Aber sie kriegt keine Rol-len, und es geht auf der Börse ungerecht zu. Tilli ist weich und rund wie ein Plümo* und hat Augen wie blankgeputzte blaue Glasmurmeln. Manchmal weint sie, weil sie gern getröstet wird. Ich auch. Ohne sie hätte ich kein Dach. Ich bin ihr dankbar, und wir haben dieselbe Art und machen uns keine böse Luft. Wenn ich ihr Gesicht sehe, wenn es schläft, habe ich gute Gedanken um sie. Und darauf kommt es an, wie man zu einem steht, wenn er schläft und keinen Einfluss auf einen nimmt. Es gibt auch Omnibusse – sehr hoch – wie Aussichtstürme, die ren-nen. Damit fahre ich auch manchmal. Zu Hause waren auch viele Straßen, aber die waren wie verwandt zusammen. Hier sind noch viel mehr Straßen und so viele, dass sie sich gegenseitig nicht kennen. Es ist eine fabelhafte Stadt.

Anmerkungen:irmgard Keun (1905–1982): gelernte Stenotypistin, erfolglose Schauspielerin, auf Ermutigung Alfred Döblins erfolgreiche Schriftstellerin. Das kunstseidene Mädchen ist ihr zweiter Roman.*Plümo: Plumeau: Federdeckbett

TexT 2

Georg Heym

Die Stadt (1911)

Sehr weit ist diese Nacht. Und WolkenscheinZerreißet vor des Mondes Untergang.Und tausend Fenster stehn die Nacht entlangUnd blinzeln mit den Lidern, rot und klein.

Wie Aderwerk gehen Straßen durch die Stadt,Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.Und ewig stumpfer Ton von stumpfem SeinEintönig kommt heraus in Stille matt.

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2.1 Abiturprüfung Übungspaket I

Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei:

Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,Die drohn im Weiten mit gezückter HandUnd scheinen hoch von toter Wolkenwand.

Anmerkungen:Georg Heym (1887–1912): promovierter Jurist, ertrank beim Eislauf.

2.1.2 Aufgabe 2 (Ü i)

AufGABeNsTeLLuNG

Materialgrundlage:Ernst Wilhelm Lotz: Aufbruch der Jugend. In: Ders.: Wolkenüberflaggt. Leipzig: Kurt Wolff, 1917, S. 56 (Der jüngste Tag, Bd. 36).

Zugelassene Hilfsmittel:Wörterbuch zur deutschen RechtschreibungUnkommentierte Ausgabe von Fr. Schillers Drama Kabale und Liebe

TexT

ernst Wilhelm Lotz

Aufbruch der Jugend (1913)

Die flammenden Gärten des Sommers, Winde, tief und voll Samen,Wolken, dunkel gebogen, und Häuser, zerschnitten vom Licht.Müdigkeiten, die aus verwüsteten Nächten über uns kamen,Köstlich gepflegte, verwelkten wie Blumen, die man sich bricht.

Also zu neuen Tagen erstarkt wir spannen die Arme,Unbegreiflichen Lachens erschüttert, wie Kraft, die sich staut,Wie Truppenkolonnen, unruhig nach Ruf der Alarme,Wenn hoch und erwartet der Tag überm Osten blaut.

10

1. Analysieren Sie das Gedicht Aufbruch der Jugend von Ernst Wilhelm Lotz. (42 Punkte)

2. Stellen Sie im Anschluss dar, wie sich die aufbegehrende Jugend in Schillers Drama Kabale und Liebe darstellt. (30 Punkte)

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2.2 Lösungsvorschläge zum Übungspaket I

2.2 Lösungsvorschläge zum Übungspaket I

2.2.1 Lösungsvorschlag Aufgabe 1 (Ü i)

Aufgabenart

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag (II A)

Bezüge zu den Vorgaben 2015

Inhaltlicher Schwerpunkt: Literarische Beispiele der Neuen Sachlichkeit: Romanauszüge/Erzähltexte von

Erich Kästner, Hans Fallada, Marieluise Fleißer oder Irmgard Keun Lyrik der Romantik, des Expressionismus und der jüngsten Gegenwart (etwa ab

1990)

eRLÄuTeRuNG DeR AufGABeNsTeLLuNG

Es liegt die im Leistungskurs am häufigsten angewendete Aufgabenart II A vor. Formal erfordert sie zunächst eine Analyse des Erzählausschnitts unter Berücksich-tigung der textsortentypischen Kriterien. Die Analyse umfasst also die gegliederte inhaltliche Wiedergabe, die Textbeschreibung, die funktionale Untersuchung der verwendeten Darstellungsmittel sowie die Deutung im Sinne der Aufgabenstellung, welches Bild der Stadt Berlin entworfen wird. Darüber hinaus wird es sinnvoll sein, das entstandene Berlin-Bild durch die Person ihrer Entwerferin zu relativieren und den Textausschnitt in seinen historischen Kontext einzuordnen.Der für den weiterführenden Schreibauftrag heranzuziehende Gedichttext ist nur inhaltlich zu erschließen. Es ist also nicht nötig, die sprachliche Form des Textes zu kennzeichnen, da das Gedicht als eigenständiger Text nicht in den Mittelpunkt zu stellen ist. Es sind lediglich die Aussagen des Gedichts durch Deutung zu ermitteln und zu denen des Textes von Keun in Beziehung zu setzen. Dabei unterstellt die Aufgabe eine inhaltliche Vergleichbarkeit wie Andersartigkeit. Beides sollte kurz he-rausgefunden, begründet und bewertet werden. Der Schwerpunkt des weiterfüh-renden Schreibauftrags verlangt, dass vorrangig die Veränderungen vor dem Hin-tergrund des zeitgenössischen Wandels von 1910 zu 1932 erläutert werden sollen.