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JUTTA WINKELMANN Die Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann (rechts) im Klinikgarten des Münchner Krankenhauses Großhadern Der Weg zu Jutta Winkelmann ist kein ganz leichter. Irgendwo in München-Schwabing zweigt von einer Straße eine Gasse ab: Ein Wohnblock baut sich auf. Wo lebt sie nun? Zehn Uhr früh an einem sehr heißen Dienstag im August. Man trifft sich mit einer Frau, die man schon eine Weile kennt: von verschiedenen Begegnungen und lustigen Abenden, geprägt von ihrer Fröh- lichkeit und inspirierenden Gesprächen. Nun ist sie krank. Jut- ta Winkelmann hat Krebs und sie möchte darüber sprechen. Eine Tür im zweiten Stock, sie macht sie selber auf – blond, mit einem warmen Lächeln in einem auffallend jungen Ge- sicht. Schmal ist sie, sehr schmal in einem langen Batikrock und einer Leinenbluse, die zu groß über ihre Schultern fällt. „Hallo“, sagt sie, „schön, dass Sie da sind.“ Innen betritt man ihre Welt, in der nichts Überflüssiges ist: heller Teppich, weiße Vorhänge, die Wände sind weiß gekalkt. In der offenen Küche dampft grüner Tee in einer Kanne, auf ei- nem Holztisch steht ein Laptop; statt eines Sofas eine Art Kis- senlager auf dem Boden. Jetzt fällt auf, es hängen kaum Bilder an den Wänden. Keine Bücher, keine Musik. Wenig Farben, au- ßer: Weiß, Haut und Haaren. Da flitzt die 30-jährige Tochter Karline in Hotpants und T-Shirt durch die Kulisse. Sie ist aus Berlin zu Besuch gekommen – und sucht ein Bügeleisen. Es wird ihr gebracht von einer Frau, die der Mutter verblüffend ähnlich sieht: Zwillingsschwester Gisela. Jutta Winkelmann ist die eine der weltberühmten „Getty Twins“: zwei schöne Schwestern aus Kassel, die mit zwanzig auszogen, um als Hippie-Engel Liebe in die Welt zu bringen, zunächst in Rom und dann in einem Leben ohne Grenzen. Ei- nige Jahre später teilte sich ihr Weg: Jutta ging zurück nach Deutschland, um in München in Rainer Langhans’ angebli- chem Harem zu leben. Gisela heiratete den Enkel des reichsten Mannes der Welt: John Paul Getty III., rothaarig, sommer- sprossig und vor allem bekannt für sein tatsächlich ausschwei- fendes Leben. Während Jutta mit dem „Kommune 1“-Gründer und stets weiß gekleideten Prediger Langhans bis heute be- freundet bleibt, erlebt die Schwester mit ihrem Mann eine Tra- gödie: Paul Getty war 17, als er vor vierzig Jahren von der ka- labrischen Mafia entführt wurde. Weil sein geiziger Großvater, der Öl-Tycoon Jean Paul Getty, sich weigerte, das Lösegeld über anfangs 17 Millionen Dollar zu zahlen, schnitten die Er- presser ihrer Geisel ein Ohr ab. Fünf Monate Todesangst, dann kam Paul für 2,8 Millionen frei (14,2 Millionen gespart). Nach einem Gehirnschlag 1981 war er bis zu seinem Tod 2011 an den Rollstuhl gefesselt. Er wurde nur 54 Jahre alt. Angesichts eines solchen Schicksals schien es lange so, als ob Jutta diejenige der beiden Schwestern war, die das glücklichere Leben hatte. Und dann sitzt man plötzlich auf dem Fußboden ihrer Schwabinger Wohnung und stellt sich die Frage: Wie fängt man an? WELT AM SONNTAG: Wie geht es Ihnen, Frau Winkel- mann? JUTTA WINKELMANN: Die Hitze draußen macht mir zu schaffen, ansonsten geht es mir heute ganz gut. Ich bin um neun Uhr aufgestanden, hab’ ein paar E-Mails geschrieben, hab’ mir etwas Bequemes angezogen. Ganz wichtig: am Mor- gen ein großes Glas Wasser mit viel frischer Zitrone, eine Stun- de später frisch gepressten Gemüsesaft – das braucht mein Körper gerade nach der Therapie. Alles kostet noch Kraft und dauert irgendwie ewig: Zahnpasta aus der Tube drücken, den Kamm durch die Haare ziehen. Trotzdem, es ist der erste ganz gute Tag seit meiner Krankenhausentlassung vor zwei Wochen. Wie läuft ein schlechter Tag? Ich nenne den Krebs die Bestie, sie reißt mich Feuer spuckend aus dem Schlaf. Es brennt vom Halswirbel über den ganzen Rücken. Ich liege da, kann nicht schlucken, kann mich kaum bewegen, aber vielleicht schaffe ich es, gleich meine Beine über den Bettrand zu legen. Der Körper, der zu mir gehört, liegt zwar braun, aber unglaublich dünn auf dem Laken. 42 Kilo. Mir ist klar, ich muss essen. Ich kaue geduldig auf der Pappe, es D Das Leben, der Tod – und der ganze Rest Fortsetzung auf Seite 14 Die Zwillinge Jutta Winkelmann und Gisela Getty waren die Ikonen der Hippie-Zeit, teilten Männer, Drogen und Freiheitsdrang. Jetzt ist Jutta Winkelmann an Krebs erkrankt. In einem Comic dokumentiert sie die Suche nach sich selbst, Gott und der Liebe zum Leben. Ein Gespräch WELT AM SONNTAG 25. AUGUST 2013 SEITE 13 TITELTHEMA

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Die Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann (rechts) im Klinikgarten des Münchner Krankenhauses Großhadern

Der Weg zu Jutta Winkelmann ist kein ganz leichter. Irgendwoin München-Schwabing zweigt von einer Straße eine Gasse ab:Ein Wohnblock baut sich auf. Wo lebt sie nun? Zehn Uhr frühan einem sehr heißen Dienstag im August. Man trifft sich miteiner Frau, die man schon eine Weile kennt: von verschiedenenBegegnungen und lustigen Abenden, geprägt von ihrer Fröh-lichkeit und inspirierenden Gesprächen. Nun ist sie krank. Jut-ta Winkelmann hat Krebs und sie möchte darüber sprechen.Eine Tür im zweiten Stock, sie macht sie selber auf – blond,

mit einem warmen Lächeln in einem auffallend jungen Ge-sicht. Schmal ist sie, sehr schmal in einem langen Batikrockund einer Leinenbluse, die zu groß über ihre Schultern fällt.„Hallo“, sagt sie, „schön, dass Sie da sind.“Innen betritt man ihre Welt, in der nichts Überflüssiges ist:

heller Teppich, weiße Vorhänge, die Wände sind weiß gekalkt.In der offenen Küche dampft grüner Tee in einer Kanne, auf ei-nem Holztisch steht ein Laptop; statt eines Sofas eine Art Kis-senlager auf dem Boden. Jetzt fällt auf, es hängen kaum Bilderan den Wänden. Keine Bücher, keine Musik. Wenig Farben, au-ßer: Weiß, Haut und Haaren. Da flitzt die 30-jährige TochterKarline in Hotpants und T-Shirt durch die Kulisse. Sie ist ausBerlin zu Besuch gekommen – und sucht ein Bügeleisen. Eswird ihr gebracht von einer Frau, die der Mutter verblüffendähnlich sieht: Zwillingsschwester Gisela.Jutta Winkelmann ist die eine der weltberühmten „Getty

Twins“: zwei schöne Schwestern aus Kassel, die mit zwanzigauszogen, um als Hippie-Engel Liebe in die Welt zu bringen,zunächst in Rom und dann in einem Leben ohne Grenzen. Ei-nige Jahre später teilte sich ihr Weg: Jutta ging zurück nachDeutschland, um in München in Rainer Langhans’ angebli-chem Harem zu leben. Gisela heiratete den Enkel des reichstenMannes der Welt: John Paul Getty III., rothaarig, sommer-sprossig und vor allem bekannt für sein tatsächlich ausschwei-fendes Leben. Während Jutta mit dem „Kommune 1“-Gründerund stets weiß gekleideten Prediger Langhans bis heute be-freundet bleibt, erlebt die Schwester mit ihrem Mann eine Tra-gödie: Paul Getty war 17, als er vor vierzig Jahren von der ka-labrischen Mafia entführt wurde. Weil sein geiziger Großvater,der Öl-Tycoon Jean Paul Getty, sich weigerte, das Lösegeldüber anfangs 17 Millionen Dollar zu zahlen, schnitten die Er-presser ihrer Geisel ein Ohr ab. Fünf Monate Todesangst, dannkam Paul für 2,8 Millionen frei (14,2 Millionen gespart). Nacheinem Gehirnschlag 1981 war er bis zu seinem Tod 2011 an denRollstuhl gefesselt. Er wurde nur 54 Jahre alt. Angesichts einessolchen Schicksals schien es lange so, als ob Jutta diejenige derbeiden Schwestern war, die das glücklichere Leben hatte. Unddann sitzt man plötzlich auf dem Fußboden ihrer SchwabingerWohnung und stellt sich die Frage: Wie fängt man an?

WELT AM SONNTAG: Wie geht es Ihnen, Frau Winkel-mann?JUTTA WINKELMANN: Die Hitze draußen macht mir zuschaffen, ansonsten geht es mir heute ganz gut. Ich bin umneun Uhr aufgestanden, hab’ ein paar E-Mails geschrieben,hab’ mir etwas Bequemes angezogen. Ganz wichtig: am Mor-gen ein großes Glas Wasser mit viel frischer Zitrone, eine Stun-de später frisch gepressten Gemüsesaft – das braucht meinKörper gerade nach der Therapie. Alles kostet noch Kraft unddauert irgendwie ewig: Zahnpasta aus der Tube drücken, denKamm durch die Haare ziehen. Trotzdem, es ist der erste ganzgute Tag seit meiner Krankenhausentlassung vor zwei Wochen.

Wie läuft ein schlechter Tag?Ich nenne den Krebs die Bestie, sie reißt mich Feuer spuckendaus dem Schlaf. Es brennt vom Halswirbel über den ganzenRücken. Ich liege da, kann nicht schlucken, kann mich kaumbewegen, aber vielleicht schaffe ich es, gleich meine Beine überden Bettrand zu legen. Der Körper, der zu mir gehört, liegtzwar braun, aber unglaublich dünn auf dem Laken. 42 Kilo. Mirist klar, ich muss essen. Ich kaue geduldig auf der Pappe, es

DDas Leben, der Tod –und der ganze Rest

Fortsetzung auf Seite 14

Die Zwillinge Jutta Winkelmann und Gisela Getty waren die Ikonen der Hippie-Zeit,teilten Männer, Drogen und Freiheitsdrang. Jetzt ist Jutta Winkelmann an Krebs erkrankt. In einemComic dokumentiert sie die Suche nach sich selbst, Gott und der Liebe zum Leben. Ein Gespräch

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WELT AM SONNTAG 2 5 . AUGUST 2013 SE ITE 13

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ganz hart. Du bist wie eingegossen darin, Kopf und der halbeOberkörper, damit du absolut fest und ruhig liegst und jederPunkt mikroskopisch präzise getroffen werden kann.

Ein weltberühmtes Marlene-Dietrich-Zitat lautete: „Ichbin zu Tode fotografiert worden.“ Die Filmgöttin waretwa 80 Jahre alt, als sie erklärte, es werde künftig keinFoto mehr von ihr geben. Sie zeigen sich, noch dazu inden intimsten Situationen einer Krankheit. Gibt es eineGrenze für Sie?Es gibt keine Grenzen für mich und die, die es gab, warenda, um sie zu brechen. June Newton hat ihren komatotenHelmut fotografiert, mit Schläuchen im ganzen Körper, dieletzten Sekunden. Annie Leibovitz dokumentierte denKrebstod ihrer Freundin Susan Sontag. Gisela und ich habenuns mit zwanzig als barbusige „Twins“ gezeigt, jetzt auchmeinen müden Körper zu fotografieren, erscheint mir kon-sequent. Es hilft mir auch, den Schmerz zu verarbeiten.

Wann haben Sie von der Diagnose erfahren?Das war im April. Ich saß an dem kleinen Holztisch dortdrüben, vor meinem Ingwertee, als mein Handy klingelte.Ich dachte, ist sicher Gisela, vielleicht meine Tochter – aberdoch kein Arzt! Mir ging es ja prima. Ich war noch total er-füllt von meiner Indienreise zusammen mit Rainer, die auchals Pilgerreise für meine Gesundung gedacht war. Dass ich inKovalam einmal nach dem Schwimmen über Rückenschmer-zen geklagt hatte, hatte ich längst vergessen. Die Wellen wa-ren sehr stark. Nach meiner Rückkehr war ich eher rein pro-phylaktisch zum Arzt gegangen. Dann kam der Anruf: „FrauWinkelmann, ich muss Ihnen leider sagen: Die Bandscheibeist es nicht. Sie haben ja eine Vorgeschichte, wie wir jetzt inIhrer Krankenakte gesehen haben …“

Sie hatten vor zwölf Jahren Brustkrebs.Rainer war es, der es am See mal beiläufig erwähnte: „Jutta,du hast da was, lass das doch mal untersuchen.“ Meine rech-te Brustwarze war leicht eingedrückt, sie hing etwas, das waralles, was mir an mir auffiel. Na und, habe ich mir nur ge-dacht, ich war fast wütend auf Rainer, der soll sich malselbst angucken. Bin halt nicht mehr zwanzig. Außerdemhatte ich zwei Kinder gestillt, jedes eineinhalb Jahre. Werlange stillt, schützt sich vor Krebs, hieß es früher. Seit zwölf

Jahren trage ich rechts nun eine große Narbe.Aber ich galt als geheilt, ohne Chemotherapie.Die Bluttests waren gut, ich hatte gesund ge-lebt, viel vegane Rohkost, keinen Zucker.

Und dann kehrte die Krankheit zurück.Im Januar 2012 stach auf der Straße plötzlichein Schmerz durch meinen unteren Rücken. Ichbin zum Arzt gekrochen, hab’ mich gekrümmtan den Zäunen festgehalten. Ein Orthopäde hatmich eingerenkt, mir liefen die Tränen, so sehrtat es weh. Spritze – dann wollte er mich wie-der heimschicken. Erst als ich sagte, das ist jaschmerzhafter als meine Krebs-OP damals – dawurde der Doktor hellhörig. Nie hatte ein Arztje wieder in meine Krankenakte geschaut. Undso wusste keiner, dass der Krebs über all die

Jahre heimlich gewachsen war. Das Heikle bei mir ist, dasszwei fünf Zentimeter große Metastasen direkt an meinemHauptnerv sitzen. Wenn der Krebs nur einen halben Milli-meter wächst, schädigt er das Rückenmark, und ich bin ge-lähmt. Das würde dann schon das Ende bedeuten. Einschneller Tod – möglicherweise. Hoffentlich.

Hier bei Ihnen klingelt es immerzu – an Ihrer Tür, IhrTelefon. Ihre Wohnung ist gefüllt mit Leben: Ihre Toch-ter Karline ist da, eifrig am dampfenden Bügelbrett, Ih-re Schwester Gisela mit den Kindern.Oh, ja, ich bin nicht allein. Das muss jetzt auch mal gesagtwerden: Ich bekomme viel Liebe, eigentlich könnte ich inLiebe baden. Manchmal sitzen wir alle zusammen in mei-nem Bett. Karline bekocht mich, mein Sohn Severin mit sei-ner jungen, indischen Frau bringt mir immer neue Filme.Rainer besucht mich und ist bei mir mit seiner Weisheit undGeduld. Mails, Blumen, Postings, es passiert auch viel Schö-nes. Neulich kam Helge, der tut mir immer gut. Er be-herrscht die Kunst, nicht vor dem Schweigen zu fliehen.

Helge Schneider, meinen Sie, den Komiker? Der machtdoch immer nur Witze.Gar nicht. Viele Menschen sind an Schicksalen interessiert,weil sie davon auch ableiten, wie es ihnen geht. Helge kannschweigen, er hat die Geduld dazu, er hält das aus. Hände-halten. Stille. Dann ist jeder auf seinem Flug, bei sich. Daskann ich im Moment am besten ertragen. Neulich tauchtedas mitfühlende Gesicht einer Freundin auf, der habe ich ge-

sagt, sie kann das Ach-Juttchen-Getuelassen. Ich kann es nicht ausstehen,wenn jetzt Leute so betont nett mitmir sind. Ja, ich bin umgeben vom Le-ben. Sie besuchen dich, danach gehtfür sie das Leben lustig weiter. Nur –für dich nicht.

Christoph Schlingensief, der nie ge-raucht hat, erkrankte mit 47 anLungenkrebs und protokollierte dieKrankheit in einem Tagebuch. Manliest darin Sätze wie: „Ich habe ler-nen müssen, auf dem Sofa zu liegenund nichts anderes zu tun, als Ge-danken zu denken.“Ich kenne das, das Ich ist eine großeLast. Das merkt man vor allem nachts,

wenn es still um einen wird und man nicht einschlafen kann.Du liegst da und begreifst auf einmal: Du liebst das Leben!Und du fühlst dich plötzlich unendlich allein. Als würdestdu auf einem Boot sitzen, das immer weiter abtreibt vomLand aufs Meer hinaus, weg von allem, was zu dir gehörtund du so liebst. Du rufst und schreist und winkst verzwei-felt, aber keiner hört dich.

Was sehen Sie da vom Boot aus? Was ist Ihr Leben?Meine Kinder, mit denen ich gelacht und gestritten habe.Meine Arbeit, Freunde, Feste, auf denen ich getanzt habe.Sonnenaufgänge, Schwimmen in eiskalten Gebirgsseen. Dasganze Wundertütenleben, auch mit seinen Chancen, zu

persönliche Geschichte, die Sie da mit Ihrem iPhone er-zählen. Warum tun Sie das?Fotografiert habe ich schon immer gern, geschrieben auch.Ich mache ja auch einen Blog, eine Art öffentliches Tage-buch. Anfang des Jahres war ich für zwei Monate in Indien.Als ich zurückkam, dachte ich, was mach’ ich nur mit all denschönen Fotos? Graphic Novel sieht man heute überall inden Magazinen. Ich mag die Energie dieser Erzählform,selbst wenn es um schwierige Themen geht, der Comicbricht es auf. Es ist ja ein Erwachsenen-Comic bei mir, esgeht um ältere Menschen, um Ängste, Tod, aber auch umLiebe und Kraft und Sinnsuche. Warum ich das mache?Wahrscheinlich auch, weil ich schon wieder auf der Suchenach mir selbst bin, mehr denn je. Als Zwilling bist du alsMensch immer zwei. Auch wenn du den anderen Teil liebst,letztlich suchst du immer deine eigene Identität. Jetzt binich zum ersten Mal allein auf diesem Weg. Ich fand es an derZeit, einmal nur von mir zu erzählen. Es geht hier um mich,zum ersten Mal in meinem Leben.

Sie fotografieren sich also selbst und bearbeiten die Fo-tos dann am Computer. Schauen wir uns ein paar an:Auf einem Bild zum Beispiel sieht man Sie und IhreSchwester. Drüber steht: „Wham!“, „Wir!“

schmeckt alles gleich schlecht. Ich brauche es so sehr, aberdie Bestie spuckt es wieder aus. Es ist so. Ich bin ziemlichkrank. Ich habe Knochenkrebs. Meine halbe Wirbelsäule istzerfressen und im Becken wuchert ein ganzer Herd.

Sagt man „ziemlich krank“, um das Wort „todkrank“ zuvermeiden?Ich weiß, gesunde Menschen wollen sensibel sein und sindin Wahrheit die Befangenen. Mir hilft mittlerweile die Klar-heit: Es ist sehr offen bei mir. Ich kann Ihnen ja mal ein biss-chen was vorlesen: Multifokale Metastasierung … Beteili-gung des Beckenskeletts ... deutlicher Progress mit neu auf-getretenen Metastasen in der HWS – HWK2, HWK4, HWK5,in der Schädelkalotte, im unteren Schambeinast sowie imBereich des Rippenthorax. Übersetzt heißt das, der Krebsfrisst mich auf. Ich nehme jetzt zwar auch Antihormone undBisphosphonate, diese schulischen Sachen. Aber ich weiß,dass ich sterben kann. Nur mein Arzt, der ist optimistisch,der sagt, das kriegen wir hin. Noch eine Weile.

Sie sprechen nicht nur schonungslos über Ihre Krank-heit, Sie zeigen sie auch genauso – und das in der Formeines Comics, den Sie veröffentlichen wollen. DieHauptfigur darin sind Sie. Es ist Ihr Körper, Ihre ganz

Ja, Gisela, mein Sonnenkind. Gro-ße, schöne Schwester. Sie ist da,immer da für mich. Ich weiß oftnicht, wie ich ihr überhaupt dan-ken kann.

Ein anderes zeigt Sie mit RainerLanghans, Kopf an Kopf auf ei-nem Kissen liegend.Ich mag das Vertraute dieses Mo-ments. Hingabe, Weichheit, Wär-me. Ich hatte Schmerzen, mir ging es total dreckig, Übelkeitvon den Medikamenten. Der Rachen brannte, als würde einrostiger Schraubenzieher in meinem Hals rumstochern. Ichmusste plötzlich heulen. Rainer hat sich zu mir aufs Bett ge-legt und mich in den Arm genommen. Neben mir lag dasiPad, da hab ich schnell Fotos gemacht.

Warum tragen Sie auf einem Bild da diese Maske?Das war im Klinikum Großhadern, wo ich jetzt für zwei Mo-nate lag, um meine Photonenbestrahlungen zu bekommen.Insgesamt so vierzig Mal. Auf dem Foto liege ich unter die-ser Bestrahlungskanone, die sich dann summend um deinenKörper dreht. Dabei trägt man diese Kunststoffmaske, sie ist

„Es gibt keineGrenzen fürmich und die, diees gab, waren da,um sie zubrechen“

Der Momentder Diagnose:Vor zwölf Jahrenhatte JuttaWinkelmannBrustkrebs.Sie glaubte sichgeheilt, aberder Krebswuchs weiter

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WELT AM SONNTAG NR. 34 25 . AUGUST 201314 TITELTHEMA

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wachsen, ein Teil von etwas Bedeutendem zu werden, etwasaufzubauen. Wir lieben ja das Leben, wir hängen an ihm.

Wir sind dieses Leben. Es gibt nichts anderes – oder?Es gibt gutes und es gibt schlechtes Leben. Was ich meine,ist, dass du auf einmal das Leben in seiner ganzen Großar-tigkeit begreifst, auch wenn wir uns dauernd beklagen. Unddaraus wuchs eine unglaubliche Panik. Das war nach meinerOperation. Ich bekam Zement in einen Wirbel, zwei Wochenging es mir so schlecht. Ich dachte, das war es jetzt. Ich binimmer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt, schweißgeba-det, verzweifelt, empört, hilflos vor dieser einen existenziel-len Kränkung: Es kann nicht sein, dass du einfach hier jetztso verlöschst.

War das die Angst?Ich hatte zwei Wochen Todesangst: Heulen, Zittern, Zähne-klappern. Im Krankenhaus brach alles raus aus mir, der gan-ze Gestank dieser Scheißangst und kümmerlichen Hilflosig-keit. Alles kam hoch, weil mein Geist so klar war, der Körperaber so reduziert.

Wohin will die Angst einen treiben?Ich wollte gut alt werden, mit einem geistigen Reifungspro-zess. Wollte wenigstens das Gefühl, alles von mir gegeben zuhaben – und jetzt so einfach aus dem Spiel genommen zuwerden, alles zurücklassen zu müssen und nicht zu wissen,wie ist es eigentlich mit dem Sterben? Hilft dir jemand da-bei? Wie elend wird das alles noch? Was, wenn der Todkommt, holt er dich vorsichtig oder ist das brutal, gemein?Und was kommt danach: Gibt es so etwas wie Seele, gibt esdas wirklich? Du verzweifelst an der Vorstellung, dass sichalles im Nichts auflösen soll, die Kontinuität und die Kon-trolle zu verlieren. Das hat mir unglaubliche Angst gemacht.Ich hatte Losergefühle – alle sind gesund und rennen rum,nur ich versage hier. Es war ein Protest durch alle Seelen-zimmer, von Ohnmacht bis Optimismus, wahnsinniger Wutbis Weltuntergang. Wirklich der tiefste Punkt meines Le-bens.

Was hat Ihnen geholfen in diesen Momenten?Ich hatte eine Psychoonkologin. Sie war wunderbar. „Wenndie Angst kommt“, hat sie zu mir gesagt, „da gibt es noch et-was anderes in Ihnen. Sie können die Angst auch ein Stückvor sich stellen.“ Sprechen hilft, es ist ungeheuer wichtig!Und doch: Angst bleibt Angst. Sowieso, der Mensch bestehtzu 50 Prozent aus Angst, nicht alle, aber die meisten, würdeich sagen. Angst ist unser bester Feind. Ich hatte immerAngst – vor Enttäuschung, vor Ablehnung, die Angst, nichtzu genügen, zu versagen. Dabei fehlte mir oft einfach nurder Mut, auszusprechen, was ich wirklich fühle oder denke.

Was, wenn Sie es jetzt sagen?Ich habe nie zu einem Menschen gesagt, dass ich ihn liebe.Ich habe es gesagt, aber ich glaube, es war nie wahr. Ent-schuldigung, ich merke gerade, ich muss jetzt weinen … Ichglaube wirklich, ich habe es noch nie so empfunden undnoch nie so gesagt. Ich hab’s nicht gesagt, nein.

Aber warum?Ich habe immer gedacht, es stimmt nicht. Es gab schon Si-tuationen, und dann habe ich mich gefragt: Kannst du es vonHerzen sagen? Nein, ging nicht, ich konnte nicht lügen. Ichdachte, wenn ich es sage, springt eine hässliche Kröte ausmeinem Mund.

Dann haben Sie nie geliebt, die große Liebe ist Ihnennie begegnet?Die große Liebe ist die Ausrede der Mauerblümchen, hatmein Vater immer gesagt.

Das war doch Ihre Mission: Als Hippie-Zwillinge dieLiebe in die Welt zu tragen.Wir haben die Liebe gesucht! Es war die Studentenbewegung,und die Frage damals: Wie sieht ein neues Leben aus. NachAuschwitz gab es keine Lieder mehr – wie können wir einanderes Leben gestalten? Wir waren Suchende, naiv auch.Und wir waren jung, sexy. Wenn du eine kluge Feministinbist, weißt du, dass es natürlich auch Mädchenanteile in dirgibt. Es gab schon Männer, die ich mochte. Rainer hat es malmit mir geübt: „Sag doch mal ‚ich liebe dich‘ …“. Ich glaube,tief in mir war da immer die Schwester, der Satz wäre wieein Verrat gewesen. Obwohl, nein, das ist schon wieder nichtrichtig gesagt von mir. Ich selbst bin es, die diesen Satz ein-fach noch nie erfüllen konnte. Ich liebe meine Kinder, aberauf eine andere Art natürlich.

Das ist doch was.Oh, ja, sehr. Severin ist jetzt 33, er ist Filmregisseur. Karlineist 30, sehr musikalisch, Mutter, verhei-ratet in Berlin. Die beiden machen michsehr glücklich und auch stolz, denn siehaben sich das alles selbst geschaffen.Ich war nie so eine echte Mutter. Ichhätte mich zum Beispiel in ihrer Puber-tät mehr kümmern müssen, stattdessenhabe ich gearbeitet, bin gereist, ausge-gangen – habe mich verwirklicht.

Das gehört heute zur Definition derguten Mutter.Ich hatte Kinder nie geplant, sie kameneinfach und dann wollte ich sie auch.Karline habe ich sogar alleine zu Hauseentbunden. Ich hatte gar nicht mitbe-kommen, dass es schon so weit ist. Allewaren weg. Ich habe mich dann so hin-gekniet, nach vier Presswehen war sie schon da. Rainer kamdann runter und hat abgeschnitten. Mit 54 habe ich überlegt,vielleicht noch ein Kind zu bekommen.

Mit 54 Jahren noch?Ja, ich habe mich ja lange sehr jung gefühlt, erst mit 58 fühl-te ich mich etwas älter. Die Bio-Magie, plötzlich ist sie weg.Komisch, Männer können das riechen. Du merkst einfach alsFrau, du bist nicht mehr drin im Pool, du stehst am Randund schaust zu. Dieser Abschied ist schon ein Verlust, weiles natürlich auch Macht ist, ein begehrenswertes Wesen zusein, und dann dreht sich keiner mehr um nach dir. Aberman bekommt etwas anderes, so eine Autorität, und ab 60

dann so eine Alterslosigkeit. Ichmuss schon sagen, wenn man dasAngebot des Älterwerdens an-nimmt, aber dabei neugierig undvor allem kreativ bleibt, das mö-gen Männer auch sehr gern.Schönheit ist gar nicht so wichtigfür Männer, es ist die Energie.

Was ist mit Sex. Guter Sex istauch Liebe oder nicht?

Ach, Sex. Früher ist man zu jemandem hingegangen und hatgesagt: „Ich würde gerne mit dir schlafen.“ Oder: „Wollenwir heute Nacht zusammenbleiben, ich weiß auch nochnicht, wie es geht, aber wir können es ja probieren.“ Es gingum Nähe, Zellgespräche. Heute erscheint mir Sex eher wieein Wettkampf. Einsamkeitsduelle.

Die „Kommune 1“ war auch aus Einsamkeit geboren, fürMenschen, die es alleine nicht aushielten. Glücklicherwar man in der Gruppe. In Rainer Langhans’ Harem,sagten Sie selbst einmal, fühlten Sie sich geborgen.Habe ich das? Sagen wir so, als ich Rainer mit 22 kennen-lernte, fand ich sein Kommunen-Experiment interessant.

Aber dabei ging es ja weniger um Romantik, es ging um eineMission: keine Privatsphäre, eine Utopie der Offenheit. Rai-ner hatte nach dieser großen Beziehung mit Uschi Obermai-er so gelitten und sagte danach klar, er möchte nie wieder ei-ne Besitzbeziehung. Dieses Paardenken, du darfst nur michund niemanden sonst lieben, sind bis heute armselige Lie-besversuche in seinen Augen. Seine Überzeugung war, alleszu lieben, alles zu umarmen, sich in einer ständigen Liebes-bewegung mit allem zu befinden. Dabei ging es nicht umSex.

Er soll auch gar kein großer Liebhaber gewesen sein.Das Gerücht stimmt übrigens nicht. Rainer ist einer der bes-ten Liebhaber. Aber bei der 68er-Liebe ging es um etwas vielTieferes als Sex, um Unschuld auch. Ich habe zwar meinenBH im Klo runtergespült und sah darin eine Befreiung, aberim Bett wusste ich gar nicht, was man eigentlich macht. Spä-ter mit Rainer suchten wir eine mehr vergeistigte Liebe undab und zu ging man vergeistigt ins Bett.

Wie geht man vergeistigt ins Bett?Rainer verbietet sich auf Lustempfinden zu sehr abzudrif-ten, er verzichtet auch auf den Samenerguss. Sex ist für ihnreiner Trieb und er wollte weg von der Macht der Hüfte, um

eine höhere, geistige Ebene zu erreichen. Er trinkt ja auchnie Alkohol. Drogen, Geld, Musik, das sind alles „Downer“,wie er sagt, gemessen an dem High, in dem er ist. Damals,sein „Dschungelcamp“-Honorar zum Beispiel – hat er ge-spendet. An Julian Assange und die „Piraten“.

Was hat Sie gereizt an diesem Lebensentwurf?Ich hatte auf meinen Reisen in überhöhte Geisteszuständedurch psychoaktive Substanzen schon so viel Liebe und Of-fenheit erfahren. Sowieso, als Zwilling habe ich immer Liebegeteilt. Ich dachte, naiv auch, das ließe sich auf den Alltagübertragen und sah es auch als spannenden Lernprozess imSinne: Was ist die Rolle des Körpers, wenn es doch nur nochum Darstellung, Sex, Vergänglichkeit, Tod geht? Gisela zogdamals mit Paul nach Amerika und ich zu Rainer nach Mün-chen. Nach und nach kamen die anderen Frauen hinzu, viersind es, die ihn bis heute begleiten. Er wohnte oben, ich un-ten. Ich fand mich toll damals, ich war sicher, ich werde dienächste Uschi. Mit dieser Erfahrung, der Erleuchtung, dassalles Ekstase ist, war ich wirklich bemüht, uns als Familie zubegreifen, tolerant zu sein – aber so einfach ist es ja nicht. InWahrheit, das ist mir klar geworden, habe ich extrem gelit-

„Ich kann esnicht ausstehen,wenn Leute jetztso betont nettzu mir sind“

JuttaWinkelmannsIndienreise:„Hanumans

Herz“, indischeGottheit in

Rishikesh; mitRainer Lang-

hans, Varanasiam Ganges; mitKrebsbestrah-lungsmaske inGroßhadern,wo sie zwei

Monate lag; inNeu-Delhi mit

Rainer Langhansund seinem

„Harem“Brigitte undChrista (im

Uhrzeigersinn)

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25 . AUGUST 2013 WELT AM SONNTAG NR. 34 TITELTHEMA 15

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ten. Ich war furchtbar eifersüchtig auf die anderen Frauen,ich fühlte mich verletzt, ausgeschlossen und schließlich ver-lassen, denn das Gefühl sagt: Liebe teilen geht nicht. Manschafft es eben nicht, man kann nicht alle lieben. Und duwillst die Einzige für ihn sein, oder zumindest – besonders.Liebe will Ausschließlichkeit. Und du möchtest ihn auch be-sitzen. Alles andere erscheint als Lüge, gegen die Natur undtut weh. Ich habe mir damals sehr viel zugemutet. Aber werden Himmel will, muss wohl durch die Hölle gehen.

Sitzt da das Gift?Diese ewige Rainer-Geschichte ist ein großer Teil meinerVerarbeitung gerade in meinem Prozess. Rainer war meinewichtigste Beziehung, auch wenn wir keine Kinder zusam-men haben. Er ist mein Seelenbruder. Ich weiß, es verärgertihn, wenn die Zeitungen unsere Liebesgeschichte immerund immer wieder aufbringen und jetzt diese „Sterbe-schmonzette“, wie er es neulich nannte. Das entspricht auchnicht der Realität. Wir sind getrennt, wobei nicht wirklich.Es ist eine gereifte Liebesbeziehung, aber nicht in verengterForm. Auf unserer Indienreise kam es noch einmal hoch,diese alten Muster. Wir hatten diese beiden Freundinnenaus der Kommune mitgenommen, das war gar nicht geplant,aber ich dachte – warum nicht, sie sind doch eh irgendwie

dabei. Schon auf dem Hinflug sah ich, dass Rainer dauerndmit Brigitte spricht. Ich wollte gar nichts Negatives denken,aber es platzte aus mir heraus: „Hätte ich euch doch nurnicht mitgenommen!“ Und ich habe Rainer angebrüllt: „We-gen dir habe ich das alles, weil du mich verlassen hast.“ Na-türlich wollte ich Rainer damals imponieren, ihn auch fürmich. Heute weiß ich, es geht nicht nur um die eigenen Er-wartungen, sondern vor allem darum, loszulassen. DiesenWeg, das zu schaffen, ist das Ziel. – Wissen Sie, was neulichpassiert ist?

Nein, was?Etwas Fantastisches ist passiert. Neulich habe ich es endlichzu einem Menschen gesagt, dass ich ihn liebe!

Wem?Meinem Arzt. Er hat mich so angstfrei ertragen. Er war ein-fach ganz da für mich und hat still meine Hand gehalten. Ei-nes Nachmittags kam er wieder und da habe ich mich beiihm für seine Hilfe und Unterstützung bedankt, und ihm ge-sagt, wie viel sie mir bedeutet. Das fand ich schon viel. Undwährend ich das so sagte, habe ich gedacht, Mensch, Jutta,jetzt spring! Du fühlst es doch, nun hab’ doch einmal denMut, es auch zu sagen.

Und?Ich hab’s rausgeheult, hab’ geweintund war nass geschwitzt. Gisela wardanach bei mir und sagte, Mensch, Jut-ta, du leuchtest.

(In diesem Moment steckt die Zwil-lingsschwester den Kopf in dieTür): Frau Getty, kommen Sie, set-zen Sie sich doch ein bisschen zuuns. – Wer von Ihnen ist eigentlichzuerst geboren?JUTTA WINKELMANN: Das bin ich!GISELA GETTY: Wir haben oft Witze gemacht: Typisch,hast dich vorgedrängelt! Streber!JUTTA WINKELMANN: Es gibt eigentlich keinen Erstenund Zweiten. Das Ei wird befruchtet und teilt sich.GISELA GETTY: Aber einer kommt zuerst auf die Welt. Esist wie bei der Mondlandung. Jutta war die Erste, die Ältere,die Kleinere …JUTTA WINKELMANN: Schau, das war zum Beispiel im-mer schwierig für mich: Du bekamst immer das bisschenGrößere – das Bessere, in meinen Augen. Ich habe mich ab-serviert gefühlt. Es ist eine ambivalente Liebe bei uns, da ist

auch viel Neid im Spiel, zugleich ist man so verschmolzen.GISELA GETTY: Ich hab’ es nicht ganz so schlimm emp-funden. Als ich mit 23 Paul heiratete, stach ich durch denNamen Getty natürlich automatisch so ein bisschen öffent-lich heraus. Vieles, was Jutta gemacht hat, war in Wahrheitviel substanzieller als meine gesellschaftlichen Geschichten.Es passierte nur nicht so öffentlich. Das hat, glaube ich, oftein Gefühl in dir ausgelöst, du seist weniger wichtig oderwürdest übersehen, was ja überhaupt nicht stimmt. Duweißt doch, wie talentiert du bist.JUTTA WINKELMANN: Du Außen-, ich Innenminister.Ich war schon eifersüchtig auf dein buntes Leben, überhauptdeine Leichtigkeit. Du hast gelächelt, ich musste lange re-den, um etwas zu bekommen, und hatte Angst, dass du esmir dann wieder wegnimmst. Und doch, ich war nur glück-lich, wenn du es warst. Wenn man so will, hat die Krankheiteine gute Sache hervorgebracht: Zum ersten Mal jetzt kannich mich als eigene Person begreifen. Es ist meine Krankheit.Darauf lege ich Wert, so pervers es klingt. Ich denke oft anPaul in letzter Zeit. Du hast ihn so geduldig gepflegt die letz-ten Jahre in London. Auch mit mir gibst du dir unendlichMühe. Als Zwilling spürst du zudem den doppelten Schreck.GISELA GETTY: Nun, ich versuche, wo ich kann, dich zuermuntern, offensiv mit der Krankheit umzugehen, plakativ.Damit meine ich – sich zeigen, ruhig auch extrem. Bei unshat Krankheit immer mit Scham zu tun, man schämt sich.Nein, nicht verstecken! Wenn die Haare ausgehen – extrabunten Turban tragen. Darin liegt auch eine Schönheit, mu-tig damit umzugehen. Ich weiß noch, als du Brustkrebs hat-test, hast du einmal zu Paul gesagt: „Ich weiß nicht, wie dues machst. Wie du mit deinem Schicksal fertig wirst.“JUTTA WINKELMANN: Und er sagte: „Mein Körper istnur die Hülle, ich lebe ganz und gar in meinem Geist.“ Dashilft auch mir, zu wissen, dass das geht. Ich denke wirklichoft an ihn in letzter Zeit.

An was genau?JUTTA WINKELMANN: An diesen wundervollen Men-schen. Paul hatte wirklich etwas Fantastisches. Das kann Gi-sela viel besser erzählen.GISELA GETTY: Diese roten Locken – sein Enkel, derSohn unseres Sohnes Balthazar, sieht genauso aus wie er.Dieselbe Ironie auch. Paul war sehr ironisch, schnell in al-lem, was er aufnahm. Er hatte was Zauberhaftes. Auf Partys,wenn wir uns getrennt unterhielten, kam er nach ein paarStunden zu mir, hob mich hoch vor allen Leuten, trug michin eine Ecke und sagte: „So, jetzt redest du mal mit mir.“ Erkonnte aber auch sehr scharf sein und Leuten richtig Angstmachen. Er sah sich als Aussteiger, aber wusste schon, dasser ein Getty war. Wen er nicht grüßen wollte, bei dem zog erdie Hand weg, fuhr sich mit ihr durchs Haar und sagte: „Sor-ry, Sie verdienen meine Hand nicht.“ Er war leider auchselbstzerstörerisch. Ich war 23, er 18, als wir kurz nach seinerFreilassung heirateten. Wir hatten uns unser Leben sehr an-ders vorgestellt. Aber nach der Entführung war unser un-schuldiger Sommer der Liebe vorbei.JUTTA WINKELMANN: Paul war schwerst traumatisiert.Es war ja schlimm, er hat ja ganz anders gelitten als ich.GISELA GETTY: Er fühlte sich verfolgt, hatte Angst, schla-fen zu gehen, der Fernseher musste immer laufen. Er warungeduldig, alles musste sofort sein. Hunger – sofort. Je-manden treffen – sofort. Oder wenn jemand nur beiläufig er-wähnte: „Wir könnten doch mal nach New Mexico fahren“ –„let’s do it now“! Paul hat nicht mal gepackt und ist dann bisNew Mexico durchgerast. Dieses Extreme war natürlichauch eine Begleiterscheinung der Drogen. Er war ja richtigsüchtig dann. Es war schwer, auch für mich, mit zwei klei-nen Kindern, kaum Geld. Der Großvater hielt uns knapp, al-les ging in die Sucht. Die Familie hat Paul zwar einen Psy-chologen besorgt, aber nach einer Sitzung war es aus: „Derhat zwar die beste Kunstsammlung, aber was weiß derschon, wie es in mir aussieht“, war Pauls Kommentar nur.JUTTA WINKELMANN: Nicht leicht, sich zu öffnen. Da-mals gab es auch noch keine Traumatherapie in dem Sinne.GISELA GETTY: Es war das Trauma, aber schon auchSelbsthinrichtung. „Ich schaue meiner eigenen Zerstörungzu und kann nichts dagegen machen“, hat er mir einmal ge-standen, das war kurz vor seinem tragischen Zusammen-bruch. Eigentlich stand immer die eine Frage im Raum, zer-stört er sich allein oder nimmt er noch Leute mit, bei einemUnfall.

John Paul Getty hat sich mit 26 Jahren und einemCocktail aus Methadon, Valium und Alkohol schließlichins Koma geschossen.JUTTA WINKELMANN: Als er aufwachte, war er blind, erkonnte nur noch Laute ausstoßen. Wer es nicht gewohntwar, konnte ihn praktisch nicht verstehen. Er war faktischvom Hals an gelähmt, eingesperrt in seinem eigenen Körper,

wie in einem Sarg. Wahnsinn. 30Jahre im Rollstuhl.GISELA GETTY: Eigentlich wäreer gestorben, hätte man ihn nichtmit einem irren Aufwand am Le-ben erhalten. Die Ärzte sind da-mals weit über das normale medi-zinische Ziel hinausgegangen undhaben mit noch nicht erprobtenBehandlungsmethoden gearbeitet.Das war auch eine Entscheidungder Mutter, Paul war der Erstgebo-rene, aber ich versteh’ das schon.

Es wird weltweit über aktiveSterbehilfe diskutiert.JUTTA WINKELMANN: Es gibtbestimmt Leidende, denen eine

Verlängerung des Lebens nicht sinnvoll erscheint. GunterSachs hat den Suizid gewählt, er wollte mit seiner Krankheitdie Familie nicht belästigen. Ich bin gegen Selbstmord. Wirmüssen das Leben schon leben, da ist auch etwas zu erfül-len. Das habe ich an Paul so bewundert, er hat nie gejam-mert. Im Gegenteil, er ging aus, in Restaurants, aufRockkonzerte. Seine Angestellten haben dann einen Ski-Bobfür ihn konstruiert, in dem er die Berge runtergerast ist. Gut,Paul hat natürlich auch jeden Wunsch erfüllt bekommen.Erste Reihe Mick Jagger – zack, saß er da.

Wenn man so krank ist, was bedeutet es einem dannnoch – erste Reihe Mick Jagger?

„Es ist meineKrankheit.Darauf legeich Wert, sopervers esklingt“

Fortsetzung von Seite 15

JuttaWinkelmannmit HelgeSchneider imKrankenhaus;Rainer Lang-hans, Predigerder offenenLiebe und ihrlebenslangerBegleiter; 1974in BrummbärsKommune inMünchen;die Zwillingemit John PaulGetty (imUhrzeigersinn)

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JUTTA WINKELMANN: Ich weiß es von mir selbst, esgeht darum, am Leben teilzunehmen, und je näher du dransitzt, desto lebendiger fühlst du dich. Du hast Programm,ein Ziel, es geht weiter. Man will auf gar keinen Fall in sei-nem Schlafanzug verkümmern.GISELA GETTY: Die letzten zwei Jahre, als ich bei ihmwar, waren dann schon schwierig. Ich hab’ Paul vorgelesen,von früher erzählt. An vieles konnte er sich nicht mehr erin-nern, dann guckte er hoch und sagte: „More, more, more.“Einmal gingen wir durch den Hydepark, er liebte Spazier-gänge, er wollte immer raus. Da habe ich ihn gefragt: „Dukannst nicht laufen, Paul, vermisst du nicht das Laufen?“Und er antwortete: „Why, why, why?“Vielleicht wusste er gar nicht mehr, wasLaufen ist. Am Ende war es dann nur nochIntensivstation, künstliche Ernährung, biser im Februar 2011 starb.JUTTA WINKELMANN: Wir waren alleda, draußen auf dem englischen Landsitzund konnten alle Abschied nehmen, daswar schmerzhaft und sehr berührend.GISELA GETTY: Ich habe ihn im Armgehabt. Sein Atem ist immer leichter ge-worden, immer ruhiger. Es war ganz still,sein Schlafzimmer hell und groß, mit Tü-ren zum Garten hin. Die ganze Familiewar da, die Mutter, die Kinder, Jutta. ZweiWochen waren wir alle zusammen. Daswar alles sehr, sehr schön, sehr liebevoll.

Lügt unsere Gesellschaft über denTod?JUTTAWINKELMANN: Ganz eindeutig, allein schon beimThema Schmerzen. Nie wird etwa über Geburtsschmerzengesprochen und all die Nebeneffekte beim Kinderkriegen.Genauso gibt es keine Todeskultur bei uns. Im ganzen Ster-beprozess sind wir unheimlich einsam. Tod ist kein Thema.

Der Tod gehört zum Leben, er beendet es nicht. Ein Le-ben beinhaltet den Tod: Die Zelle wird befruchtet, teiltsich, entsteht und am Schluss vergeht sie.Ich habe sogar mal von meinem eigenen Tod geträumt, vorder Krankheit: Da war ich auf meiner eigenen Beerdigung.

Wie Axl Rose.Riesenkirche, alle Freunde da. Vorne der Sarg, in dem ichlag, wunderschön. Und von der Kanzel sang Bob Dylan: „Li-ke a Rolling Stone“. Das war ja mein Erweckungslied, dieHymne. Ein schöner Traum, der natürlich sehr viel mit Ro-

mantik zu tun hat und der Bestimmung des Selbstwertes. Inihm steckt ja auch ein Suizid-Gedanke: Wenn alle so gemeinzu mir sind, passiert mir eben was, dann tu ich mir etwas an,und alle sollen an meinem Grab weinen. Warten Sie, ichmuss Ihnen was zeigen. Ich müsste es hier im Küchen-schrank haben ...

Was ist das denn, eine Plastiktüte mit Sand drin?Das ist die Asche von Timothy Leary. Ein paar kleine Kno-chen sind auch dabei.

Sie bewahren Timothy Learys Asche auf, in einer Kü-chenschublade?Tim war ein richtiger Freundvon uns, Harvard-Professor, einRevoluzzer im Geist. Er hat im-mer tolle Leute in seinem Hausin Los Angeles zusammenge-bracht, das liebte er: Wenn derGeist Funken schlägt! Die Weltist wirklich leerer geworden oh-ne ihn. Wir waren auf seinerWeltraumbestattung, auf dieserRaketenbasis in Virginia, woseine Asche ins All geschossenwurde. Einen Teil haben wir un-ter uns Freunden aufgeteilt.Mein Beutel ist leider etwas re-duziert, weil ich schon einigesverschenkt habe. Wir hattenmal überlegt, seine Asche in

eine Urne umzufüllen. Aber so passt es besser zu Tim, imBeutel, wie früher das Gras. Nun, für mich wäre das wahr-scheinlich nichts, in so einer Plastiktüte zu enden.

Sie würden es ja nicht mehr mitkriegen.Es muss ein Ende geben. Ich möchte zwar auch verbranntwerden, aber es muss einen Bestimmungsort geben. In Kas-sel gibt’s den Reinhardswald, da kann man sich einen Baumkaufen, unter dem dann die Asche verstreut wird. Das wäreeine Idee, wobei ich mich mit dem Thema noch überhauptnicht beschäftigt habe. Ich habe nicht mal ein Testament ge-macht. Lustig oder, da hatte ich so ein crazy Leben und amEnde verstaube ich dann in Kassel. Ich könnte mir auch vor-stellen, nach Indien zu gehen. Irgendwo an einen Shiva-Tempel, in dem das gleiche Feuer seit 2500 Jahren brennt.Alles leuchtet und die Reste werden dem Ganges übergeben.

Die Zukunft ist: Auf Facebook leben wir unser virtuelles

Leben und wenn wir sterben, gibt es Friedhöfe, auf de-nen man via Life-Recorder das ganze Leben eines Ver-storbenen verfolgen kann: erster Kuss, Hochzeit, Tod.Ist doch nett. Nicht wie bei unseren Großeltern, an die unsnur noch ein paar zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos oderverwackelte V8-Filme erinnern.

Die Frage ist: Was bleibt denn wirklich von einem?Bleibt was?Es bleibt immer, immer mehr. Formal zumindest. Bis hin zurFacebookseite, die noch über den Tod hinaus besteht.

In Ihrem Blog schreiben Sie: „Am Ende ist Nichts. Esgibt nichts, außer dem Nichts“.Ja.

Ist das nicht eine sehr materialistische Anschauung?Wo ist Ihre spirituelle Antwort?Die suche ich eben noch. Neulich habe ich mal ein TröpfleinCannabis-Öl genommen, das hatte ich irgendwie noch. Inden USA verschreibt man es als Schmerzmittel. Die Größeeines Reiskorns reicht schon. Es war ein achtstündiger Höl-lentrip, heftig! Ich habe schon Jahre nichts mehr genom-men.

Haben Sie an der falschen Stelle gesucht?Immerhin habe ich gesucht. Ich habe mein Leben lang ge-sucht. Rainer sagt, du musst deine Krankheit lieben. Ich fin-de das sehr viel verlangt. Aber ich will sie nutzen. Rückbli-ckend kann man natürlich immer sagen, warum habe ichdies oder jenes getan oder nicht getan? Weil man den Preiskennt. Wir hatten Spaß, Mordsspaß. Wir haben uns Sachengetraut, die würde heute kein Mensch mehr machen. Undletztlich ist uns nichts passiert. Unschuld schützt auch. Ichhabe mich viel in der Welt ausprobiert, das brauch ich nichtmehr. Jetzt geht es darum, mehr nach innen zu schauen. Zulernen, dass Nichts alles ist. Heute kann ich ungeniert sagen,ich suche Gott.

Manche gehen dazu in die Kirche, Sie erlebten IhrenGottesdienst im Rausch. Welche Erleuchtung haben Siedenn da erfahren? Was gaben Ihnen die Drogen?Wir waren jung, wir wollten die Welt unter einem Vergröße-rungsglas verstehen. Wenn man wirklich mal höhere geistigeZustände erreicht, erfährt man schon, dass man nicht derKörper ist. Ich war mal auf einem Ahayuasca-Trip, saß auf ei-nem Berg und hörte die Ameisen trampeln. Man wird zumIndianer, so trittfest. Die Angst geht, du fliegst praktisch undnimmst diese Stille wahr, die hinter allem ist. Alles geht aus

der Materie, alles wird geistig. Du hörst sogar Sternschnup-pen. Du siehst, dass alles Schöpfung ist. Wir waren in derGruppe, herrlich in der Natur ...

Schon klar, der alte Hippie-Trail, Kathmandu, Indien,Afghanistan. Warum finden wir die Schöpfung immernur im Fernen Osten? Woran liegt es, dass wir sie nichtin München-Schwabing sehen?Es fällt uns schwer, sie im Kapitalismus zu entdecken.

Lesen Sie die Bibel?Nein. Jesus hat das Leiden produktiv gemacht. Hat Chris-toph Schlingensief gesagt. Das gefällt mir.

Woran denken Sie jetzt gerade?Das Bild eines alten Klosters in China kommt mir in denSinn. Altes Holz, Zeit, Stille. Wasser selber holen, wenig Es-sen. Die kühle und frische Luft am Morgen, das leise Ra-scheln der rot gefärbten Ahornblätter. Bisschen die Terrassefegen. Tee aufsetzen, nichts mehr müssen oder darstellen.Pures Sein. Hier aus meinem Fenster fliegen die schönenPläne. Gestern bin ich zum ersten Mal Essen gegangen. Eswar ein so schöner Abend. Platz zu nehmen im Leben. Ichwar mal kurz weg, und jetzt guck ich mal wieder, hallo Welt.

Und nach der Reha fliegen Sie nach Sardinien.Ich freue mich auf den Strand, an dem wir jedes Jahr sind,schlichtes Landleben. Alles abstreifen vom Körper und insWasser tauchen. Aber erst mal noch die Reha am Chiemsee.Ich hoffe, dass sich dieses Tier in mir beruhigen wird. Im-merhin, mein Kopf ist schon sehr viel weiter. Ich habe in et-wa kapiert, wie das Ego funktioniert mit seinen ganzen Lieb-losigkeiten und die Jutta, wie sie auch ist. Da passiert geradeein ganz wichtiger Emanzipationsprozess, auch von meinerSchwester, obwohl ich sie so sehr liebe. Und von meinerKindheit auch. Unsere Generation hat ja sehr viel unbewuss-te Schuld abbekommen von den Eltern, diese Kollektivlastund Verdrängung nach dem Dritten Reich. Gleichzeitig warda diese würgende Enge des Kleinbürgertums. Ich wusstedas alles von mir, plötzlich kann ich vieles verzeihen. Nur

noch Liebesgefühle für alles, fürmich – zumindest für einen Tag.Platz für morgen. Ich will durchdieses Nadelöhr, ich will leben.

„Ich habe kapiert,wie das Ego mitall seinenLieblosigkeitenfunktioniert“

Jutta Winkelmann (rechts)bloggt auf merahshiva.com.Das Foto zeigt sie mit ihrerZwillingsschwester Gisela Getty.

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