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Robert Chr. van Ooyen Politik und Verfassung

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Robert Chr. van Ooyen

Politik und Verfassung

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Robert Chr. van Ooyen

Politik und Verfassung Beitrage zu einer politikwissenschaftlichen Verfassunsslehre

III VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothel< verzeichnet diese Publil<ation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail-lierte bibliografische Daten sind im Internet iJber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

I.Auflage April 2006

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Frank Schindler

Der VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fiJr Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften.

Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips bv, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Phnted in the Netherlands

ISBN-10 3-531-15075-8 ISBN-13 978-3-531-15075-8

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Politik ist weder eine rein soziologische Angelegenheit noch ausschliefilich eine Herrschaftsbeziehung von Menschen im Rahmen rechtlich geordneter Institutionen;

man wirdihr nicht volliggerecht durch die Freilegung der historischen Kausalitdten... und verfehlt ihre Komplexitdt, wenn man nur ihre geistigen und moralischen Elemente ins Augefafit. Es kannfur die Bestimmung einespolitischen Phdnomens notwendig sein, dies

alles gleichzeitig zu tun '\

Kurt Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staaatsrechtslehre

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Vorbemerkung

Die hier bearbeiteten Aspekte von Sollen und Sein, Macht und Demokratie, Staat und Recht, Verfassung und Gesellschaft bilden keine Abhandlung im Sinne eines geschlossenen dogmatischen Systems oder einer vollstandigen Darstellung der in einer Verfassungslehre zu verarbeitenden Materien^ Als eine Sammlung von Beitragen der Jahre 2000 - 2006 handelt es sich vielmehr um ein „Patchwork", das die Leistungsfahigkeit einer Forschungs-ansatzes demonstrieren soil, den die zeitgenossische deutsche Politikwissenschaft ange-sichts der Dominanz von systemtheoretischen Ansatzen und policy-orientierten „Binde-strich-Politologien" schon lange aus den Augen verloren hat^. Ausgerechnet die Kemtradi-tion des Faches, namlich die - zweifellos seit Aristoteles „realistisch" zu sattigende - Frage nach der „guten Ordnung" ist unter den Bedingungen moderner, „wertfreier" Wissen-schaftsparadigmata aufgegeben worden - mit der Folge, dass man dieses Terrain fast voll-standig an die juristische Staatslehre verloren hat. So wird in der Politikwissenschaft inzwi-schen fast alles untersucht, was in irgendeiner Hinsicht „politisch" sein konnte - eher selten hingegen aber z. B. das Bundesverfassungsgericht^ das infolge seiner besonderen Kompe-tenzfulle und angesichts der wirkmachtigen Tradition einer stark juristisch formalisierten politischen Kultur gerade im deutschen Regierungssystem ein machtiger politischer Akteur ist. Eine vermeintlich kritische Politikwissenschaft uberlasst daher alles, was irgendwie mit (Verfassungs-)Recht zu tun hat, den Juristen, die in ihrer Betrachtung normativer Fragen von „Staat", „Verfassung" und „Demokratie" zumeist liber eine ganz spezifische Sicht der Dinge verfugen - und reproduziert mit diesem „blinden Fleck" gerade die obrigkeitsstaatli-che Attitude der Trennung von Politik und „unpolitischem" Recht. Inzwischen wird das Befremden iiber diesen Ruckzug und Reflexionsverlust immerhin deutlicher artikuliert" . Es soil daher hier gezeigt werden, wie die politikwissenschaftliche Betrachtung von Recht und Verfassung wieder aufgenommen werden und zu welchen Fragestellungen sie Uber den juristischen Diskurs hinaus gelangen kann. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass gera­de die groBen Staats- und Verfassungslehren der Weimarer Zeit nicht zuletzt deshalb so bahnbrechend und einflussreich waren, weil sie sich allenfalls zur Halfte auf dem juristi­schen Gebiet des Staats- und Verfassungsrechts bewegten, in weiten Teilen jedoch der politischen Theorie bzw. Ideengeschichte und / oder einem „staatssoziologischen", „realis-tischen" Zugang der Regierungslehre verpflichtet waren^ Das gilt sogar fiir die am Ideal einer „reinen" Rechtslehre konzipierte normative Staatstheorie Kelsens^. Vor diesem Hin-tergrund - und in Anlehnung an eine wenn auch mit etwas anderer Zielrichtung gepragte

' Zuletzt vgl. insb. Loewenstein, Verfassungslehre; Hdberle, Europaische Verfassungslehre. ^ Vgl. dagegen aber Habermas, Faktizitat und Geltung. ^ Vgl. m. w. N. van Ooyen Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts. "* Seibel, Suchen wir immer an der richtigen Stelle?, S. 217 ff; vo« Beyme - Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, S. 493 ff. ^ Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900); Kelsen, Allgemeine Staatslehre (1925); Schmitt, Verfassungslehre (1928); Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928); Heller, Allgemeine Staatslehre (posthum 1934). ^ Vgl. van Ooyen, Der Staat der Modeme.

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8 Vorbemerkung

Begriffsbildung^ - nenne ich diesen Ansatz einer politikwissenschaftlich ausgerichteten Verfassungsanalyse „Verfassungspolitologie". Die vorliegenden Aufsatze konnen dabei allenfalls einen Rahmen abstecken, der durch vier klassische Bereiche der Staats- und Ver-assungslehre schon zu einem groBen Teil vorgegeben ist. Es sind dies:

die ideengeschichtlichen Grundlagen und verfassungstheoretischen Kontroversen, die Menschen- und Biirgerrechte, das Regierungssystem i. e. S. von Institutionen sowie der Vergleich.

Angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte kommen (mindestens) zwei weitere Gebiete hinzu, die m. E. fur eine Verfassungspolitologie unverzichtbar sind: • die „vorpolitischen", kulturellen Grundlagen^, hier in der Form der „Ruckkehr" der

Religion und • das „dialektische" Verhaltnis von Verfassung und Europa- / Volkerrecht. Anhand der ausgewahlten Beitrage, die das Gebiet der Verfassungspolitologie exempla-risch erhellen sollen, ergibt sich daher die folgende Gliederung:

I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft, II. Verfassung und Religion, III. Verfassung und Menschenrechte, IV. Verfassung und Regierungssystem, V. Verfassungsvergleich, VI. Internationalisierung der Verfassung und Konstitutionalisierung des intemationalen

Rechts.

RvO Berlin / Lubeck im September 2005

^ Vgl. hierzu den von Gorlitz I Voigt schon in den 80er Jahren gepragten Begriff der „Rechtspolitologie" (Jahres-schrift, Bde. 2 und 3); aktuell Voigt, Das Bundesverfassungsgericht aus Sicht der Rechtspolitologie; i. E. ^ Vgl. hierzu allgemein Haberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft.

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Inhaltsiibersicht

Vorbemerkung 7

I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft 15

A Normative Staatslehre in pluralismustheoretischer Absicht: Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 17

B Neo-Pluralismus als Kritik an Kelsen und Schmitt: Ernst Fraenkel 33 C Ein modemer Klassiker der Verfassungstheorie: Karl Loewenstein 43 D Kritik der Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz 56 E „Staatliche Volksdemokratie": Implikationen der Schmitt-Rezeption bei

Ernst-Wolfgang Bockenforde 64 F Der Staat - und kein Ende? 77

II. Verfassung und Religion 91

A Totalitarismustheorie gegen Kelsen und Schmitt: Eric Voegelins „politische Religionen" als Kritik an Rechtspositivismus und politischer Theologie 93

B Staat, Beamte und Religion - zum Kopftuchstreit 113

III. Verfassung und Menschenrechte 117

A Demokratische Partizipation statt „Integration": Begriindung eines generellen Auslanderwahlrechts 119

B Staatliche, quasi-staatliche und nichtstaatliche Verfolgung? Hegels und Hobbes' Begriff des Politischen in den Asylentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 139

IV. Verfassung und Regierungssystem 151

A In neuer Verfassung? Der Wandel des Grundgesetzes seit 1992 153 B Parlamentsbeschluss gegen Volksentscheid: Die demokratische Legitimation

der Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 169 C Parlamentsauflosung und „unechte Vertrauensfrage" 177 D Prasidialsystem und Honoratiorenpolitiker statt Parteiendemokratie? 182 E Kritik der Integrationsfunktion des Bundesprasidenten bei Roman Herzog 189 F Wettbewerbsfoderalismus. Zur Entstehung eines staatstheoretischen Begriffs 197 G Verfassungsgerichtsbarkeit: zwei Modelle des Huters der Verfassung 208

V. Verfassungsvergleich 221

A Misstrauensvotum und Parlamentsauflosung: Regierungssysteme der MOE-Staaten im Vergleich 223

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10 Inhaltsubersicht

VI. Internationalisierung der Verfassung und Konstitutionalisierung des internationalen Rechts 235

A Die neue Welt des Krieges und das Recht: Out of Area-Einsatze der Bundeswehr im verfassungsfreien Raum 237

B Kritik der Staatsrenaissance in der Maastricht-Entscheidung 251 C Eine neuer „Verfassungsgerichtshof': EGMR 256 D Volkerrechtlicher Paradigmenwechsel und staatliche Souveranitat: Wie

verbindlich sind die Entscheidungen des EGMR? 262 E Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Normativitat, Machtpolitik und

Symbolik 270

Literaturverzeichnis 279

Abkiirzungsverzeichnis 310

Textnachweise 312

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Inhalt

Vorbemerkung 7

I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft 15

A Normative Staatslehre in pluralismustheoretischer Absicht: Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 17 1 Kritik am Naturrecht und Entzauberung des Staates 20

a) Vordemokratische Herrschaftsreservate: Naturrecht 20 b) Staatstheologie: Souveranitat 21

aa) Gierke und Laski 21 bb) Hegel und Jellinek 22

2 Reduktion des Staates auf die positive Verfassung 24 3 Modemes Menschenbild: Politik als „Kampf' 26 4 Pluralistisches Verstandnis von BUrger, Verfassung und Gesellschaft 27

B Neo-Pluralismus als Kritik an Kelsen und Schmitt: Ernst Fraenkel 33 C Ein modemer Klassiker der Verfassungstheorie: Karl Loewenstein 43

1 Politikwissenschaft und Verfassungslehre 43 2 Staatsrechtler im Weimarer Schulenstreit und Verfolgung durch den

Nationalsozialismus 45 3 Wissenschaftler im Dienst der US-Regierung 47 4 Verfassungslehre, nicht Staatslehre 49 5 Thesen zur Bedeutung Loewensteins ftir das Verfassungsverstandnis 54

D Kritik der Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz 56 E „Staatliche Volksdemokratie": Implikationen der Schmitt-Rezeption bei

Ernst-Wolfgang Bockenforde 64 1 Staatlich vermittelte Demokratie der politischen Einheit „Volk" 64 2 Konsequenzen des Demokratiebegriffs von Bockenforde 70

a) Burger, Deutscher und Auslander 70 b) Staat, Europa und Modeme 71 c) Demokratie, Verwaltung und Mitbestimmung 73

F Der Staat - und kein Ende? 77 1 Genealogie des Staates 77 2 Staatswissenschaft 79 3 Neutralitat des Staates 81 4 Postetatistische Staatslehre 82 5 Sicherheitsstaat 83 6 Weimarer Staatslehre 84 7 Schmitt- und Smend-Schulen in der Staatslehre von 1949-1970 86 8 Franzosisches Staatsdenken 88 9 Europaische Verfassungslehre 89

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_12 Inhalt

II. Verfassung und Religion 91

A Totalitarismustheorie gegen Kelsen und Schmitt: Eric Yoegelins „politische Religionen" als Kritik an Rechtspositivismus und politischer Theologie 93 1 Voegelin im Kontext der Totalitarismusforschung 93

a) Schwierige Rezeption 93 b) Voegelin - Arendt - Popper: Politische Philosophic am Rande der

Totalitarismusforschung 94 2 Die „politischen Religionen" im Spannungsfeld von Kelsen und Schmitt 97

a) Kelsens Rechtspositivismus 99 b) Schmitts politische Theologie 102 c) Voegelins Kritik an Kelsen und Schmitt 104

B Staat, Beamte und Religion - zum Kopftuchstreit 113

III. Verfassung und Menschenrechte 117

A Demokratische Partizipation statt „Integration": Begrtindung eines generellen Auslanderwahlrechts 119 1 „Staatsvolk"? 119 2 Antipluralismus und Antiparlamentarismus in der Integrationslehre von

Smend 121 3 „Politische Einheit" und „Integration" als Konzept von

Fremdenfeindlichkeit 126 4 Wahlrecht fiir Auslander - oder: Wer ist Biirger? 130

a) Die Verfassung stiftet die „Einheit" in einer pluralistischen Gesellschaft 130 b) Auslanderwahlrecht, Verfassungsrechtsprechung und pluralistische

Demokratie 132 B Staatliche, quasi-staatliche und nichtstaatliche Verfolgung? Kegels und

Hobbes' Begriff des Politischen in den Asylentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 139 1 Politische Verfolgung - nicht staatliche Verfolgung 139 2 Politische ist staatliche Verfolgung: Die „Tamilen-Entscheidung" 139 3 Rezeption der Staatstheologie von Hegel und Hobbes 141 4 Staat als „ursprungliche Herrschermacht" bei Jellinek 144 5 Quasi-staatliche Verfolgung? Der „Afghanistan-Kammerbeschluss" 146

IV. Verfassung und Regierungssystem 151

A In neuer Verfassung? Der Wandel des Grundgesetzes seit 1992 153 1 Foderale Dialektik? Bundesstaatlichkeit zwischen Politikverflechtung und

Wettbewerb 153 2 Weniger „Staat": die Privatisierung von Flugsicherung, Post und Bahn 155 3 Neues „Staatsziel": Umweltschutz 157 4 Ende eines Menschenrechts: das Urteil des Verfassungsgerichts zu Art. 16a 159 5 „GroBer Lauschangriff: Einschrankung eines Grundrechts 161 6 „Frieden" im GG - und „Krieg" im Kosovo 162 7 Wer ist Burger? „Staatsvolk", Auslander und die Demokratie 164 8 Spater Sieg der Aufklarung: der Gleichheitssatz in den 90er Jahren 166

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Inhalt 13

B Parlamentsbeschluss gegen Volksentscheid: Die demokratische Legitimation der Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 169 1 Die Rechtschreibreform in Deutschland 169 2 Die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein 170

a) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 170 b) Volksentscheid und Parlamentsbeschluss 171 c) VerfassungsrechtlicheUberlegungen 172

3 Volkssouveranitat oder Parlamentssouveranitat? Aus verfassungs-theoretischer Sicht eine falsche Frage 174

C Parlamentsauflosung und „unechte Vertrauensfrage" 177 D Prasidialsystem und Honoratiorenpolitiker statt Parteiendemokratie? 182

1 Voxpopuli? 182 2 Prasidialsystem, Gewaltenteilung und Honoratiorenparlament 185

E Kritik der Integrationsfunktion des Bundesprasidenten bei Roman Herzog 189 F Wettbewerbsfbderalismus. Zur Entstehung eines staatstheoretischen Begriffs 197

1 Zur Geschichte des Begriffs „Wettbewerbsfbderalismus" 197 a) Der Kontext der Begriffsbildung zu Beginn der 80er Jahre 197 b) Der Kontext von „Wettbewerbsfoderalismus" und Finanzausgleich 198

2 „Wettbewerbsfoderalismus" und Finanzausgleich im Kontext fmanzieller und politischer Interessen 202 a) Finanzielle Interessen der klagefuhrenden Lander 203 b) Politische Interessen auf Bundes- und Landesebene 204

G Verfassungsgerichtsbarkeit: zwei Modelle des Hiiters der Verfassung 208 1 Verfassungsgerichtsbarkeit als Element pluralistischer Demokratie: Kelsen 209 2 Verfassungsgericht oder Prasident: Kelsen gegen Schmitts souverane

Einheit 214

V. Verfassungsvergleich 221

A Misstrauensvotum und Parlamentsauflosung: Regierungssysteme der MOE-Staaten im Vergleich 223 1 Russland: entmachteter Parlamentarismus 224 2 WeiBrussland: von der Ambivalenz der Verfassung zur Diktatur 225 3 Tschechien: Parlamentsdominanz 227 4 Polen: konstruktives Misstrauen und Prasidialmacht 228 5 Ungam: konstrukives Misstrauen und kontrollierter Parlamentarismus 230 6 Zusammenfassung 232

VL Internationalisierung der Verfassung und Konstitutionalisierung des internationalen Rechts 235

A Die neue Welt des Krieges und das Recht: Out of Area-Einsatze der Bundeswehr im verfassungsfreien Raum 237 1 Krieg und Frieden 237

a) Krieg als zwischenstaatlicher Konflikt im Volkerrecht 237 b) Regelungen im Grundgesetz 238

2 „Humanitare Intervention" und „Out-of-area-Urteil" 240

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J[4 Inhalt

3 „Not kennt kein Gebot"? 243 a) „Tirana-Einsatz" zur Evakuierung von Staatsburgem 243 b) Kampfeinsatz im „Kosovo-Krieg" 244

4 Einsatz der Bundeswehr gegen den intemationalen Terrorismus? 246 5 Zusammenfassende Bewertung 248

B Kritik der Staatsrenaissance in der Maastricht-Entscheidung 251 1 Souveraner Staat aus eigenem Recht 252 2 Staatsvolk als homogene politische Einheit 253

C Eine neuer „Verfassungsgerichtshof': EGMR 256 1 „Neuer" Gerichtshof 256 2 Individualbeschwerde - wichtigste Anderung des 11. Protokolls 256 3 Bedeutung der Urteile - Beispiele aus deutscher Sicht 258 4 Effektiver Rechtsschutz zwischen Anspruch und Wirklichkeit 260

D Volkerrechtlicher Paradigmenwechsel und staatliche Souveranitat: Wie verbindlich sind die Entscheidungen des EGMR? 262 1 Volkerrecht und Landesrecht 262 2 Volkerrecht und Grundgesetz 264 3 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 264 4 Volkerrechtlicher Paradigmenwechsel im Bereich des „neuen" EGMR 266 5 Etatistischer Souveranitatsvorbehalt des Bundesverfassungsgerichts 268

E Der Internationale Strafgerichtshof zwischen Normativitat, Machtpolitik und Symbolik 270 1 Streit um den Strafgerichtshof 270 2 Machtpolitische Bedingungen internationaler Strafgerichtsbarkeit 271

a) Riickblick: von Versailles uber Numberg zu den Ad-hoc-Gerichten der UN 271

b) Die Kompetenzen des IStGH 273 3 Der Beschluss des Sicherheitsrats - ein fauler Kompromiss? 275

Literaturverzeichnis 279

Abkiirzungsverzeichnis 310

Textnachweise 312

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I. Verfasswngstheorie und pluralistische Gesellschaft

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 17

A Normative Staatslehre in pluralismustheoretischer Absicht: Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft

In einer „globalisierten" Welt von „Zuwanderungsgesellschaften" wird die gesellschaftliche Vielheit zunehmend bewusster wahrgenommen. Auf der anderen Seite wird zugleich der Ruf nach dem „Staat" in eben dieser „globalisierten" Welt lauter - sei es als Fixpunkt „sou-veraner" politischer „Steuerung" oder gar als „homogene Gemeinschaft". In politikwissen-schaftlicher Hinsicht geht mit der Frage nach dem Dualismus von gesellschaftlicher Viel­heit und Einheit eine neuerliche Rezeption der Pluralismustheorie einher. Ernst Fraenkel gilt allgemein als „Vater" der deutschen Pluralismustheorie, die dann schon in Abkehr von radikaleren Konzepten der 20er Jahre von ihm als „Neo-Pluralismus" formuliert worden ist . Demgegentiber ist festzuhalten, dass der „Staatstheoretiker" der Modeme - oder besser:

„Anti-Staatstheoretiker" - Hans Kelsen, Begriinder der sog. „Wiener Schule" des Rechts, zu dieser Zeit langst eine bahnbrechende und - im Unterschied zu Fraenkel - theoretisch voll ausformulierte Demokratietheorie in pluralismustheoretischer Absicht vorgelegt hat^. Schon in seiner Arbeit „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" fiihrt Kelsen gegen das tra-dierte Verstandnis vom Gemeinwohl, das sich im Staat verkorpem soil, aus:

„Es gibt eben iiberhaupt kein ,Gesamtinteresse', sondem immer nur Gruppeninteressen, die auf irgendeine Weise die staatliche Macht, den Staatswillen flir sich gewinnen... und erst die Resul-tante all dieser zusammenwirkenden Krafte findet im Staatswillen ihren Ausdruck" .

Daher: „Die Vorstellung eines einheitlichen Staatswillens oder einheitlichen Staatsperson ist nur Aus-druck fur die Einheitlichkeit der Organisation, fur die Einheitlichkeit der Rechtsordnung... Das ist das Wesen des Staatswillens: Eine zum Zwecke der Zurechnung vollzogene normative Kon-struktion - nichts was mit einem sozialpsychologischen Gesamtwillen auch nur das geringste zu tun hatte"^

Das nimmt schon im Jahre 1911 die Fraenkelsche Formulierung vom „a posteriori-Gemeinwohl"^ einer pluralistischen Demokratietheorie vorweg und steht im radikalen Ge-gensatz zur seinerzeit herrschenden Staatslehre - und zwar selbst wenn sie dann spater in

' Vgl. hierzu Kap. IB. ^ Um Missverstandnissen vorzubeugen: Dies soil das Verdienst Fraenkels fiir eine offene Gesellschaft uberhaupt nicht schmalern; im Gegenteil, nach meiner Auffassung zahlte Fraenkel zu den Politologen, die uber den Teller-rand blickend, philosophisch-ideengeschichtliche, juristische und machtanalytische Zusammenhange souveran beherrschten. ^ Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 479, unter der Kapiteliiberschrift „'Gesamtinteresse' und soziale Gruppeninteressen". Diese Formulierung wird von Kelsen immer wieder bemiiht: „Bei der nun einmal in der Erfahrung gegebenen und hier unvermeidlichen Interessengegensatzlichkeit kann der Gemeinschaftswille, wenn er nicht einseitig das Interesse nur einer Gruppe ausdrucken soil, nichts anderes als die Resultante, das KompromiB zwischen entgegengesetzten Interessen sein"; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 22; ahnliche FormuHerungen auch Kelsen, Uber die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 28 f. ^ Kelsen, Uber die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 56; vgl. auch Kelsen, Haupt­probleme der Staatsrechtslehre, S. 163 ff. ^ Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297 ff.

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18 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

der Zeit der Weimarer Republik wie etwa bei Hermann Heller demokratisch ausgerichtet war. Denn Kelsen stellte schon zu dieser Zeit etwas radikal infrage, was gerade in der Tra­dition der deutschen Staatslehre undenkbar schien zu hinterfragen: namlich den „Staat" als existierend vorausgesetzte, als eine tiberindividuelle „apriori vorhandene Wesensheit"^. Und er benannte hier die Grundsatze der Pluralismustheorie, wie sie in der Demokratietheo-rie in Deutschland erst durch Ernst Fraenkel dann wieder aufgenommen werden sollten^. Diese Grundsatze sind: 1. Der politische Prozess ist ein Gruppenprozess. 2. Ein iiber den Partikularinteressen stehendes Gemeinwohl („Staat") ist ein obrigkeits-

staatlicher Mythos. Das gilt auch fur die Vorstellung eines vermeintlich „homogenen Volkswillens", die zu dieser Zeit durch die Rezeption der Demokratietheorie Rous-seaus vorherrschte.

3. Das Gemeinwohl - oder auch der „Volkswille" - ist also lediglich das, was sich aus dem Kraftespiel der Gruppeninteressen im nachhinein ergibt.

Angesicht der Bedeutung der Pluralismustheorie muss es dabei befremden, dass man sich in der politikwissenschaftlichen Forschung einfach mit der riesigen ideengeschichtlichen LUcke begniigt hat, die zwischen Ernst Fraenkel und den eher zaghaften, wenn auch fur die englische Rezeption bedeutsamen Ansatzen der organischen Staatslehre Otto von Gierkes^ klafft . Und zwar dies umso mehr, wenn man sich vor Augen flihrt, dass Kelsens Antago-

^ Roehrssen, Die Kelsensche Auffassung vom Recht als ein Ausdruck der modernen sozio-politischen Struktur, S. 232. ^ Zur Rezeption Kelsens durch Fraenkel vgl. hier Kap. I B sowie ausfuhrlich van Ooyen, Der Staat der Modeme, S. 223 ff, Abschnitt G: „Linke Rezeption: Von Kelsen zu Fraenkel"; kurzer Hinweis iiber die auffallenden Uber-einstimmungen zwischen Kelsen und Fraenkel schon bei Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf urn die Weimarer Demokratie, S. 124; Luthard, Politiktheoretische Aspekte im „Werk" von Hans Kelsen, S. 166 (nur in der Fn 66); auch bei Boldt: „neopluralistisch" (Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schum-peter, S. 222), ohne explizite Nennung Fraenkels. ^ Mit Ausnahme des jungst von Lehnert, Verfassungsdemokratie als Biirgergenossenschaft (1998), wiederentdeck-ten Hugo PreuB als Vordenker pluralistischer Demokratie. Dabei fmdet sich bei Kelsen mustergiiltig, was z. B. nach Schmidt allgemein typisch fur diese Demokratietheorie ist: „In der fruhen Pluralismustheorie gilt der Stachel der Kritik vor allem den Souveranitatsanspruchen des Staates, insbesondere eines nichtdemokratischen Staates. Zum Antiliberalismus und Anti-Etatismus kommt die Frontstellung gegen den autoritaren Staat und den Totalita-rismus kommunistischer und nationalsozialistischer Pragung"; Demokratietheorien, S. 152 f. ^ Vgl. m. w. N. van Ooyen, Der Staat der Modeme. Diese Forschungsliicke hat nur zum Teil damit zu tun, dass Kelsen aus seiner Emigration nicht mehr zuruckkehrte, sodass in der deutschen Staatslehre die Schulen der -antipluralistischen - Staatsrechtslehrer Schmitt und Smend bis heute weitaus wirkmachtiger geblieben sind (vgl. hierzu z. B. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts). Sie ist auch Folge der zu-nehmenden „Scheuklappen" der Disziplinen: Die juristischen Lesarten interessierten sich wenig fur den politischen Gehalt der Kelsenschen Theorie. Hier war Kelsen ein bis zur „Wei6glut" provozierender radikal-positivistischer Rechtstheoretiker und allenfalls am Rande nahm man zur Kenntnis, dass er sich auch mit Demokratie beschaftigt hat. Richtig fuhrte daher nach Boldt, Demo­kratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 217 ff jungst Lehnert aus, „dass die Studien Kelsens zur Demokratie... beharrlich unterschatzt worden (sind): als ob sie bloBe Gelegenheitsschriften neben seinen Haupt-werken geblieben seien"; Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo PreuB zum modernen Demokratieverstandnis, S. 224. Selbst ein Autor wie Hdberle, der sich als Jurist mit der Verfassungstheorie des Pluralismus profund beschaf­tigt hat, nennt hinsichtlich pluralistischer Vorarbeiten „nur" u. a. Fraenkel, Loewenstein, Popper, nicht aber Kel­sen; vgl. Verfassung als offentlicher ProzeB, S. 143 ff Umgekehrt musste den Politikwissenschaftlem Kelsen ohnehin als „zu juristisch" erscheinen. Zu Recht beklagte jungst \on Beyme, dass es „Politikwissenschaftler... verlemt haben, sich in juristische Materien einzuarbeiten"; Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, S. 494; ahnlich auch Seibel: „Verfassungsfragen gelten in Deutschland allerdings als Juristenfragen, in der Politikwissenschaft wird dies in der Form partieller Selbstentmiindigung weitgehend hingenommen"; Suchen wir immer an der richtigen

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 19

nist Carl Schmitt, der seine „politische Theorie" iiberhaupt in Gegnerschaft zu Kelsen ent-wickelt hat, zu Recht als Inbegriff rechter Pluralismuskritik gilt . - So gesehen lasst sich die zwischen Kelsen und Schmitt geftihrte staatstheoretische Kontroverse iiberhaupt als paradigmatisch geflihrter „Kampf' auffassen, namlich zwischen modemer, pluralistischer Demokratietheorie und antimodemer, antipluralistischer „Resakralisierung" von Politik in der Form der „politischen Theologie"^\ - Fraenkel selbst hat ja seine Pluralismus-Konzeption als „Negation" der Schmittschen Pluralismuskritik gewonnen^^, die ihrerseits als „Anti-Kelsen" konzipiert war. Und schon Franz Neumann, der noch einmal, namlich 1936 bei Harold Laski promovierte und wie Fraenkel friiher Assistent bei Hugo Sinzheimer gewesen war, war dartiber „...verblufft, den seinerseits fiihrenden englischen Theoretiker des Pluralismus, Harold Laski in deutlicher Nahe zur Identitatsthese des Rechtsstaats bei Kelsen zu sehen" ^

Stelle?, S. 221. So setzte man sich dann hier doch „lieber" mit den „politischeren" Juristen der Weimarer Zeit wie Hermann Heller und Carl Schmitt auseinander - uberhaupt vergessend, dass deren Werke als Reflex hierauf ohne Kelsens Staatstheorie kaum entstanden waren. Daher ist mit Hefler im Gegensatz zur Rezeption von Schmitt festzustellen: „wer nicht an seinen juristischen Arbeiten interessiert ist, nimmt (bis heute) von Kelsen keine No-tiz"; Wissenschaftlichkeit als Einsatz, S. 280. Und: Kelsens „normative Staatslehre", die in ihrem Impetus der Freiheit eigentlich als in der Tradition der politi-schen Philosophic stehend zu begreifen ist, musste angesichts der bald herrschenden politikwissenschaftlichen Ansatze - ob nun marxistischer, systemtheoretischer oder empirisch-analytischer Art - sowieso als „obskur" erscheinen. '° Auch die aus der „Fraenkel-Schule" stammende Arbeit von Detjen sieht diesen Zusammenhang und die Anlei-hen Fraenkels bei Kelsen nicht, obwohl sic ein kleines Kapitel iiber Kelsen enthalt: „Die neukantische Position Kelsens"; Neopluralismus und Naturrecht, S. 360-368, und Kap. „Emst Fraenkels Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus", S. 377-379. '' Vgl. hierzu van Ooyen, Der Staat der Moderne; sowie hier Kap. II. A. Hervorzuheben bleiben die beiden Sam-melbande aus den 80iger Jahren, die Kelsens ideologiekritische und demokratietheoretische Leistungen endlich breiter analysierten: Krawietz / Topitsch / Koller, Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen; Km-wietz / Schelsky, Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, sowie die - eher juristisch orientierte -Monografie von Dreier, Horst, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. In einigen, zumeist kiirzeren Beitragen blitzt der Zusammenhang, dass Kelsen cine Demokratietheorie vorgelegt hat, die mit der modernen Pluralismustheorie im direktem Kontext steht, zudem immer mal auf; vgl. soweit nicht schon genannt, z. B.: Flechtheim, Recht und Gesellschaft, S. 42 ff.; Achterberg, Rechtsnorm und Rechtsverhaltnis in demokratietheoretischer Sicht, S. 133 ff.; Roehrssen, Die Kelsensche Auffassung vom Recht als ein Ausdruck der modernen soziopolitischen Struktur; Somek, Politischer Monismus versus formalistische Aufklarung; S. 109 ff.; Gunther, Klaus, Hans Kelsen (18881-1973), S. 367 ff; Phsching, Hans Kelsen und Carl Schmitt, S. 77 ff Lenk, Freiheit und Kompromissbildung, S. 114 ff; Schneider, Wilfi-ied, Wissenschaftliche Askese und latente Wertpraferenz bei Hans Kelsen; Dyzenhaus, Legality and Legitimacy; Walter / Jabloner, Hans Kelsens Wege sozialphoilosophischer Forschung; Romer, Hans Kelsen, S. 261 ff; Baldus, Hapsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State", S. 13 ff; Llanque, Die politische Differenz zwischen absoluter Gerechtigkeit und relativem Rechtsstaat bei Hans Kelsen, S. 219 ff; Fenske, Hans Kelsen, S. 712 ff; Lehnert; Staatslehre ohne Staat?; Kick, Politik als KompromiC auf einer mittleren Linie, S. 63 ff Eine Reihe weiterer Beitrage stellt bis zur aktuellen Rezeption heraus, Kelsen uberhaupt als bahnbrechenden politischen Denken der Moderne des 20. Jahrhunderts zu begreifen, so z. B. schon Horneffer, Hans Kelsens Lehre von der Demokratie (1926); Carrino, Die Normenordnung. Staat und Recht in der Lehre Kelsens, 2. Aufl.; mit Blick auf die Gemeinsamkeiten von Kelsen und Derridas Dekonstruktivismus: Winkler, Die Reine Rechtslehre als Dekonstruktionismus?, S. 115 ff; mit Blick auf Gemeinsamkeiten bei Kelsen und Luhmann: Pauly, Die Identifi-zierbarkeit des Staates in den Sozialwissenschaften, S. 112 ff '^Vgl. hierzu Kap. IB. ' Hinweis bei Llanque, Die politische Differenz zwischen absoluter Gerechtigkeit und relativem Rechtsstaat bei Hans Kelsen, S. 221. Die Stelle findet sich bei Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes (engl. 1936), S. 203; er stellt hier heraus, dass Harold Laski den Begriff des Rechtsstaats ganz im Sinne von Kelsen, namlich als Identitat von Staat und Recht interpretiert, die als abstrakter Begriff und nicht als Seinskategorie zu begreifen sei. Immerhin hat Laski von einigen Arbeiten Kelsens Kenntnis genommen; auf der anderen Seite hat der „Kelsen-Schuler" Eric

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20 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

1 Kritik am Naturrecht und Entzauberung des Staates

Kelsen stoBt zu seiner Zeit auf zwei antidemokratische Implikationen der deutschen Staats-lehre, die er mit seinen wissenschaftlichen Methoden ideologiekritisch bekampft. Das ist der Hintergrund seiner „reinen" Rechtslehre, die alle Ideologie beseitigen und so zu der „Rechtsleere" einer „Staatslehre ohne Staat" fuhren will. Sie machen sich fest am Dualis-mus von Staat und Recht, namlich an der Frage: Was ist der Geltungsgrund des staatlichen Gesetzes? Gilt das Gesetz, weil • dem Staat vorstaatliche Rechte des Individuum vorausgesetzt sind, die den Staat iiber-

haupt erst begriinden oder • weil der Staat „souveran" ist und so das Recht tiberhaupt erst erschafft? Aus der Sicht einer Staatslehre als „reiner" Rechtslehre in pluralismustheoretischer Absicht ist diese alte Frage von Macht und Recht, Faktizitat und Geltung fiir Kelsen neu zu beant-worten.

a) Vordemokratische Herrschaftsreservate: Naturrecht

Die erste, naturrechtliche Begrtindung des Staats aufgrund vorstaatlicher Individualrechte per Vertrag („Vertragstheorie") gait zu dieser Zeit zwar ohnehin langst als veraltet " . Kel-sens Kritik an der Naturrechtslehre^^ ist jedoch nicht allein aus seinem dogmatischen Inte-resse heraus motiviert. Als ein Beispiel fur seine lebenslangliche Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitskonzepten, die mit absolutem Geltungsanspruch auftreten, begreift er die Konstruktion naturrechtlicher Rechtspositionen vor allem als Herrschaftsreservate, die der staatlich-demokratischen Verfxigungsgewalt entzogen sind^ . Ihm ist bewusst, dass mit naturrechtlichen Argumentationen von der Sklaverei bis zum ungleichen Besitz immer schon Verhaltnisse von Ungleichheit und Herrschaft gerechtfertigt worden sind. Das heiBt nicht, dass Kelsen positivrechtlich verankerte Grundrechte ablehnte - im Gegenteil. Ihre naturrechtliche Begrtindung hingegen ist ihm eine „durch Generationen durchaus konserva-tiv als StUtze von Thron und Altar bewahrte Lehre"^^. Im „Naturrecht" von Privateigentum und unternehmerischer Freiheit sieht Kelsen daher zu seiner Zeit die grundsatzliche Ver-

Voegelin noch 1930 die Ubersetzung eines Aufsatzes von Laski in der ZoR besorgt. In diesem bezieht sich Laski auf die von Kelsen herausgearbeitete Volkerrechtstheorie {Kelsen, Das Problem der Souveranitat und die Theorie des Volkerrechts), die den Primat des Volkerrechts gegen den „souveranen" Staat postuliert; vgl. Laski, Das Recht und der Staat (ubersetzt von E. Voegelin); in: ZoR, Bd. X, 1930, S. 22 f. Ein Vergleich der Pluralismus-Konzepte von Laski und Kelsen steht noch aus. Es sei aber kurz bemerkt, dass Eisfeld, zu Recht hervorhebt: „Laskis Festhalten an der These von der realen Verbandspersonlichkeit hatte... eine unhaltbare Ontologisierung des Verbandes zu Folge"; Pluralismus, S. 428. Schon insoweit ist Kelsens Pluralis-muskonzept wohl das radikalere, da er nicht Gierkes organische Staatstheorie rezipiert, die bei Laski immer wie-der durchschlagt. ^^ Hier hatte der Positivismus von Karl F. W. Gerber (1823-1891) und Paul Laband (1838-1918) entsprechende Vorarbeit geleistet. ' Vgl. insgesamt Preiss, Hans Kelsens Kritik am Naturrecht. ' Hieraus resultiert auch seine langjahrige Auseinandersetzung mit der griechischen Antike, insb. in der Kritik an Platon, den er - wie spater Karl Popper - als den Begriinder und wichtigsten Denker des aus seiner Sicht fatalen Verstandnisses von Gerechtigkeit sieht; vgl. hierzu: Kelsen, Die platonische Gerechtigkeit (1933), S. 198 ff.; Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit bzw. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1. ' Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 40; vgl. auch Kelsen, Staat und Naturrecht.

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 21

schleierung von politischen Herrschaftsverhaltnissen infolge von Besitz^^; insofem beriihrt sich seine Kritik am biirgerlichen Eigentumsbegriff durchaus mit der materialistischen Rechtstheorie des Marxismus, wenngleich - wie Norbert Leser zuzustimmen ist - Kelsens Rechtstheorie vom Marxismus durch „einen Abgrund getrennt ist und bleibt"^^. Denn zu einer Zeit, in der ein groBer Teil der Sozialdemokratie in der Theorie noch marxistisch fundiert ist, hat es wohl kaum einen anderen, so atzenden, „linksliberalen" Kritiker des Marxismus gegeben^°.

b) Staatstheologie: Souverdnitdt

Die zweite Richtung seiner ideologiekritischen Auseinandersetzung ist die Kritik am tra-dierten Verstandnis des Staates; sie ist vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Wirkmachtigkeit infolge der „Staatstheologie" Hegels in ihrer pluralismustheoretischen Bedeutung bis heute bahnbrechend. Denn: Hauptgegenstand einer pluralistischen „Staats-theorie" ist die Kritik an der Souveranitat des Staates.

aa) Gierke und Laski

Otto von Gierke beschrankte die Souveranitat des Staates iiber die Figur der „realen Ver-bandspersonlichkeit", indem er die gesellschaftlichen Gruppen als unabhangig vom Staat existierende „reale" GroBen begriff. In diesem Verstandnis sind die Verbande nicht langer Geschopfe des Staates, ihre Rechtspersonlichkeit ist nicht eine vom „Souveran" bloB ver-liehene. Als „reale" Einheiten sind ihre Rechtspersonlichkeiten nicht mehr abgeleitet, son-dern vielmehr so originar wie die des Staates selbst und von diesem nur noch anerkennend

' Nicht umsonst gilt ja John Locke - „Leben, Freiheit und Eigentum" - auch als Philosoph des Besitzbiirgertums. ^ Leser, Kelsens Verhaltnis zum Sozialismus und Marxismus, S. 433; vgl. auch Dreier, Ralf, Reine Rechtslehre und marxistische Rechtstheorie, S, 121 ff.; Miiller, Christoph, Hans Kelsens Staatslehre und die marxistische Staatstheorie in organisationslogischer Sicht, S. 167 ff. ^ Kelsen hat den Marxismus in Zeitungsessays, Fachaufsatzen und umfangreichen Monografien immer wieder kritisiert, vgl. z. B.: Kelsen, Sozialismus und Staat (1923). In politisch-praktischer Hinsicht versuchte er dabei auf die Theoriediskussion der politisch langst nicht homogenen, zwischen marxistischer Orthodoxie und pragmati-scher Regierungsbeteiligung schwankenden Sozialdemokratie Osterreichs Einfluss zu nehmen. Theoretisch schlieBlich musste ihn die marxistische „Rechts- und Staatstheorie" aber in besonderer Weise reizen - nicht nur, weil die Vision einer staatsfreien Gesellschaft, schon die These vom „Absterben des Staates" einen Staatsrechtler provozieren muss, der sich zugleich die „Zerstorung" des „Staats" auf seine eigene Fahne geschrieben hat - wenn auch natiirlich auf ganz andere Weise, namlich durch die Zerstorung des ontologischen Staatsbegriffs im Sinne einer souveranen politischen Einheit von eigener Substanz. Es ist dariiber hinaus der - wie mit der Reinen Rechts­lehre erhobene - ideologiekritische, antimetaphysische Anspruch der marxistischen Theorie, den Kelsen zuriick-weisen will. So gesehen ist seine Kritik am Marxismus (auch) vom Streit um die „wahre" Ideologiekritik moti-viert. Kelsens Kritik zielt daher auf die marxistische Utopie der klassenlosen Gesellschaft. Diese entpuppt sich fiir ihn als eine Variante der Ideologic von der konfliktfreien, homogenen politischen Gemeinschaft, als „politische Theologie", die mit der „Staatstheologie" und der politischen Theologie der „Volksgemeinschaft" das Strickmus-ter und daher auch die Folgen hinsichtlich der Ablehnung pluralistischer und parlamentarischer Demokratie ge-meinsam hat; vgl. van Ooyen, Der Staat der Modeme, S. 146 ff; Somek, Politischer Monismus versus formalisti-scher Aufklarung; Flechtheim, Kelsens Kritik am Sozialismus, S. 309 ff; Mozetic, Hans Kelsen als Kritiker des Austromarxismus, S. 445 ff; Pfabigan, Hans Kelsens und Max Adlers Auseinandersetzung um die marxistische Staatstheorie, S. 63 ff; Leser, Hans Kelsen und Karl Renner, S. 41 ff; ders., Sozialismus zwischen Relativismus und Dogmatismus.

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22 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

zu bestatigen^\ Harold Laski bestritt radikal die Souveranitat des Staates, indem er vor dem Hintergrund der philosophischen Konzeption von William James^^ der monistischen Ein-heit „Staat", den Pluralismus der Verbande gegenuberstellte^^ Der Staat sei demnach nicht mehr eine kollektive Einheit, die als „Ganzes" alles in einer Totalitat umfasst, sondem nur noch ein Verband unter vielen. Das Individuum, als Mitglied einer Gewerkschaft, Kirche, usw. in verschiedene Loyalitaten eingebunden, ist eben auch Mitglied des Verbands „Staat". In diesem pluralistischen Beziehungsgeflecht von „Souveranitaten" konne der „Staat" wie alle anderen Verbande Loyalitat nur erwarten, soweit er sich durch Leistungs-erbringung Zustimmung zu verschaffen vermag. Die groBe Leistung dieses Verstandnisses von Politik ist es, in der Kritik des Begriffs der „Souveranitat" den „Staat" zu „entontologi-sieren" und damit die zentrale Perspektive des Politischen - das Individuum - (wie-der)zugewinnen. Kelsens Konzept erweist sich hierzu im Vergleich als weitaus radikaler. Dabei ist sein Verdienst um so hoher zu bewerten, als dass gerade in der deutschen Staats-lehre infolge der hegelianischen Tradition der Staat nahezu vergottlicht wurde " . Sein An-satz ist es, iiber eine normative Begrtindung des „Staats" diesen als substanzhaftes, souve-ranes Subjekt - als reales „Lebewesen" eines Kollektivums - iiberhaupt zu zerstoren^^

bb) Hegel und Jellinek

In der deutschen Staatslehre war Hegel nach wie vor wirkmachtig. Uber den Staat heifit es in seiner Rechtsphilosophie in der fiir ihn eigentiimlichen Diktion:

„Der Staat ist... das an fiir sich Vemunftige. Diese absolute Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck,... so wie dieser Endzweck das hochste Recht gegen die Einzelnen hat, deren hoch-ste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein" .

Und: „Der Staat ist gottlicher Wille als gegenwartiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Weh entfaltender Geist" .

Hegels „politische Theologie" vergottlichte den Staat als „Gang Gottes in der Welt"^^ und loste ihn damit von der Gesellschaft - also von den Menschen - als Subjekt von eigener Substanz ab; in ihm verwirklichte sich gemaB seiner „Identitatsthese" in einem Fort-schrittsprozess die Vernunft. Uber diesen Etatismus heiBt es daher zu Recht:

' Soweit man hier iiberhaupt schon von Pluralismustheorie sprechen kann, well Gierke als Vertreter der organi-schen Staatslehre schlieBlich am Konzept der staatlichen Souveranitat festhielt; seine Arbeiten waren jedoch in der Rezeption von Frederic W. Maitland bahnbrechend fiir die Entwicklung der englischen Pluralismustheorie; vgl. von Gierke, das Wesen der menschlichen Verbande (1902); Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 33; zum ideen-geschichtlichen Hintergrund der englischen Pluralismustheorie insgesamt Birke, Pluralismus und Gewerkschafts-autonomie in England. ^ Vgl. James, Das pluralistische Universum (1914). Die 1907 am Manchester College in Oxford gehaltenen Vorlesungen sind vor allem eine Auseinandersetzung mit dem von James so bezeichneten „Monismus" insb. Hegels, dem James den „Pluralismus" als philosophisches Konzept entgegensetzt; vgl. insgesamt Schubert /Diaz-Bone, William James zur Einftihrung. ^ Vgl. Laski, Studies in the Problem of Sovereignty (1917). ^' Vgl. Kelsen: Gott und Staat (1923). ^ So war fur Kelsen auch Gierkes Beschreibung der menschlichen Verbande als „reale Personlichkeiten", die immerhin ansatzweise den Allmachtsanspruch des Staates in Frage stellen konnte, das falsche Konzept. Denn Gierke hielt in der Tradition der organischen Staatslehre stehend an der Vorstellung des Verbands als „Lebewe-sen" fest; vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 376. ^ Hegel, Grundlinien der Philosophic des Rechts, S. 208 (§ 258). ^^Ebd., S.222(§270). ' ' § 258 (Zusatz).

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 2^

„Unter den aus der Vergangenheit nachwirkenden Faktoren ist als erster die Tradition der Staatsglaubigkeit zu nennen... In Deutschland gait der Staat immer besonders viel. Georg Wil-helm Friedrich Hegel hat ihn zur Wirklichkeit der sittlichen Idee erhoben; seine zahlreichen E-pigonen sahen im Staat den Zuchtmeister der sonst ungeordneten Gesellschaft. Der Staat war die Inkamation des Gemeinwohls... Aus dieser Einstellung erwuchs... die Schwierigkeit, Parteien und Interessenverbande anders zu begreifen derin als Manifestationen partikularer Interessen, die sich gegen den Staat als Verkorperung des Allgemeininteresses richteten. Die konservative Kritik am Pluralismus wird im Gefolge des umstrittenen Staatsrechtslehrers Carl Schmitt (1888-1985) immer noch durch diese deutsche Staatsideologie bestimmt" .

In der herrschenden Staatslehre fand sich diese „Staatstheologie" selbst beim liberalen Georg Jellinek wieder, zur Jahrhundertwende der maBgebliche Staatsrechtslehrer. Dieser definierte den Staat im Sinne Hegels als „souveran":

„Der Staat ist die mit urspriinglicher Herrschermacht ausgerustete Verbandseinheit sefihafter Menschen" .

Dabei bestand der Staat bei Jellinek - in Anlehnung an den Dualismus von Staat und Ge­sellschaft bei Hegel - aus zwei Seiten, einer soziologischen (Staat als Verband) und einer rechtlichen (Staat als Anstalt)^\ Beide Seiten war uber die sog. „normative Kraft des Fakti-schen" verbunden; im Fortschrittsglauben Hegels gefangen konnte Jellinek noch glauben, dass sich gemafi der „Identitatsthese" uber diese „Kraft" die Vernunft im Laufe der Zeit durchsetzte. „Ursprungliche Herrschermacht", d. h. also schopferisch und sich selbst er-schaffend - mit diesem zentralen „politisch-theologischen" Defmitionselement ist der Staat bei Jellinek aber nicht nur Schopfer des Rechts im Ausnahmezustand, sondem ihm kommt die ontische Qualitat einer prima causa zu^ . Kelsens kritisiert zu Recht die mit der Staats­lehre Jellineks verbundenen antidemokratischen Implikationen^^ namlich: • die Ableitung des Rechts, also des normativen Bereichs des Sollens, aus der Macht,

dem gesellschaftlichen Sein; denn so waren die jeweils herrschenden Verhaltnisse auch immer zugleich „gute" Verhaltnisse^" ,

• die Moglichkeit des „Ausnahmezustands" wie er dann ja auch fur den „Ausnahmezu-stand" des Souveranitatsbegriffs bei Carl Schmitt typisch gewesen ist ^ und

Sontheimer /Bleek, Grundzuge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S. 184 f. 29

^ Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180 f. (sog. „Drei-Elementen-Lehre" - Gebiet, Volk, und Gewalt - , die bis heute noch zu den Standarddefinitionen des Staatsbegrifts zahlt. Jellineks hegelianisch aufgeladene Staatslehre ist bis heute wirkmachtig geblieben, vgl. hier Kap. Ill B; m. w. N. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bun-desverfassungsgerichts. Generationen von Staatsrechtlem sind an seinem Staatsbegriff- und seiner Grundrechts-systematik - geschult worden einfuhrend zu Jellinek; Henvig, Georg Jellinek, S. 72 ff.; Sattler, Georg Jellinek (1851-1911), S. 356 ff.; Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, S. 503 ff ' In Erganzung der oben zitierten Definition des Staats als Verband definierte daher Jellinek analog: „Als Rechts-

begriff ist der Staat demnach die mit ursprunglicher Herrschermacht ausgerustete Korperschaft eines seBhaften Volkes Oder... die mit ursprunglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskorperschaft"; ebd., S. 183). ^ Jellinek, als Liberaler offensichtlich iiber diese Allmacht erschrocken, versucht diesen „Leviathan" dann in seiner sog. „Selbstverpflichtungslehre" wieder zu bandigen. " Vgl. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff " Hieraus resultiert auch Kelsens Ablehnung der Rechtssoziologie: „Seit dem 19. Jahrhundert habe aber die Soziologie versucht, mit den Methoden der Naturwissenschaften das Problem einer allgemeinen Werturteilsfm-dung in den Griff zu bekommen. Kelsen halt das fur eine Fehlentwicklung... Kelsen kritisiert damit... die biologis-tischen oder rassistischen Pseudo-Soziologien seiner Zeit...: Gesellschaft ist nicht, sondem soil sein; und (kann) deshalb... nur sollens-mafiig oder normativ, nicht aber naturgesetzlich oder kausallogisch erfafit werden"; Kick, Politik als KompromiB auf einer mittleren Linie, S. 75; vgl. auch: Rottleuthner, Rechtstheoretische Probleme der Soziologie des Rechts, S. 521 ff; Rein, Rechtssoziologie gegen Rechtspositivismus, S. 91 ff Die Kontroverse mit Hermann Kantorowicz, Eugen Ehrlich und Max Weber ist neuerlich ediert bei Paulson, Hans Kelsen und die Rechtssoziologie.

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24 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

• die Uberhohung des Staates, der von den Biirgem losgelost uberhaupt demokratischer Partizipation entzogen wird („Staatsrason"; „Staatswille")

2 Reduktion des Staates auf die positive Verfassung

Beide Lehren, die altere Naturrechtslehre und die herrschende Staatslehre Jellineks, errich-ten also einen Bereich von Herrschaft, der der demokratischen Verfiigungsmacht entzogen ist: einmal in der Berufung auf „hoheres, naturgegebenes Recht", das sich dem Zugriff des demokratiscii legitimierten, parlamentarischen Gesetzgebers entzieht, und das andere Mai in der Instanz einer „hoheren Gewalt", die ebenfalls demokratischer Partizipation gar nicht zuganglich ist und sich im „ErnstfaH" als „Souveran" einfach uber die demokratischen Verfahren und Entscheidungen des Gesetzgebers hinwegsetzt. Denn, so formuliert es dann auch Carl Schmitt in Anlehnung an Hobbes: „... die Autoritat beweist, dal3 sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht"^^. Und um das zu verhindern - ohne Zweifel wirkt hier das Trauma der historischen Erfahrung des preuBischen Verfassungskonflikt von 1862 nach - zieht Kelsen zur Losung des Dualismus von Staat und Recht nun seine radikale Kon-sequenz der „reinen" Rechtslehre. Weder erzeuge das Recht den Staat noch der Staat das Recht, vielmehr seien Staat und Recht identisch:

„Und so ergibt sich... die einfache... Erkenntnis: daB der Staat... Rechtspflichten hat... nicht, ob-gleich er die Rechtsordnung, sondern weil er die Rechtsordnung nicht etwa ,erzeugt' oder ,tragt', sondern ist" .

So ergibt sich ein „Stufenbau" der Rechtsordnung: Die Verfassung ist die Norm der Nor-men, weil sie die Normerzeugung durch Gesetze regelt, das Gesetz wiederum ist Rechtser-zeugungsnorm fur die Verordnungen. Das Problem des Geltungsgrunds des Rechts, das Kelsen immanent losen will ^ - bzw. aus seinem demokratischen Impetus heraus immanent losen muss - wird damit jedoch nur verschoben. Denn dieser „Stufenbau" der positiven Rechtsordnung erweist sich ja nur insoweit zwingend, wie sich etwa die Geltung einer Rechtsverordnung aus dem Gesetz, dessen Geltung wiederum aus der Verfassungsordnung, jene wiederum vielleicht noch aus dem Volkerrecht ableiten liefie. Bei einer streng positi-vistischen Vorgehensweise ergibt sich also ein infmiter Regress, da die Legalitat einer Rechtsnorm ad infinitum aus der Legalitat der nachsthoheren - oder auch zeitlich vorange-gangenen - begriindet werden muss. Dem sozialwissenschaftlichen Leser ist diese Schwie-rigkeit bekannt aus dem spateren sog. „Basissatzproblem" der Falsifikationstheorie des sich vom Neo-Positivismus gerade bzgl. des Wahrheitsbegriffs absetzenden Kritischen Rationa-lismus von Karl Popper. Diese Schwierigkeit kann schlieBlich nur axiomatisch gelost wer-

^ Vgl. Schmitt, Politische Theologie; hierzu auch Hebeisen, Souveranitat in Frage gestellt. ^^ Schmitt, Qbd.,S. 19. ^ Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 135. Schon zuvor hatte der hollandische Staats-theoretiker Hugo Krabbe in zwei Arbeiten gegen die Souveranitat des Staates die des Rechts gesetzt (vgl. Krabbe, Die Lehre der Rechtssouveranitat (1906), ders.. Die modeme Staatsidee (2. Ausgabe 1919). Das Buch uber die moderne Staatsidee gehort ohne Zweifel zu den fruhen pluralismustheoretischen Arbeiten - hierauf verweist auch schon Steffani, Pluralismus, S. 808. Kelsen wiirdigt Krabbes Leistung, halt ihm aber vor, die Identitat von Staat und Recht nicht radikal genug zu entwickeln, weil er sie auf das Zeitalter des Konstitutionalismus, also „auf eine spezielle historische Situation (beschrankt)... und sich nicht bewufit ist, einer allgemein giiltigen Erkenntnis auf der Spur zu sein..."; Kelsen, Das Problem der Souveranitat und die Theorie des Volkerrechts, S. 30; vgl. auch Hebei­sen, Souveranitat in Frage gestellt, S. 224 ff. ^ Vgl. Dreier, Horst, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei bans Kelsen, S. 129 f

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 25

den. Kelsen fiihrt daher die sogenannte Grundnorm ein, der als bloB hypothetischer Norm genau dieser axiomatische Charakter zukommt. Wenn einerseits der Geltungsgrund des positiven Gesetzes nicht ontologisch begrundet werden kann, andererseits ein infiniter Re­gress droht, ergibt sich namlich: Die positive Rechtsordnung gilt, weil die Grundnorm ihre Geltung bloB postuliert - andemfalls mtisse man sich nach Kelsen in Ermangelung einer erkenntnistheoretisch „sauberen", d. h. Sein und SoUen nicht vermischenden Begriindung des Rechts, Uberhaupt von der Vorstellung verabschieden, dass es Recht geben konne. Pop­per wird dann ein ahnliches Begriindungsmuster verwenden, indem er angesichts des Prob­lems, den Rationalismus schliefilich nicht rational begriinden zu konnen, axiomatisch auf die „bewahrte" kritische Tradition, also auf den „irrationalen Glauben an die Vemunft" zuriickgreift, andemfalls man Wissenschaft sonst aufgeben und „Theologie" betreiben miisse^^. Kelsen nimmt daher vorweg, was „Popper nach dem Zweiten Weltkrieg populari-sierte" - mit genau diesem vom kritischen Rationalismus formulierten Problem, dass auf der „Basis des Prinzips der Wertfreiheit... sich nicht entscheiden (lal3t), ob Skepsis und Toleranz dem blinden und intoleranten Glauben vorzuziehen sind"' . „So gelangte er friih zu einer Poppers These ahnelnden These liber den Zusammenhang modemer Wissenschaft und ,offener Gesellschaft' "^\

So gih nach Kelsen: Staat ist Recht ist Verfassung. Reduziert auf das Recht ist der substanzhafte Staatsbegriff uberwunden"^ . Staatslehre ist daher Rechtslehre und als solche Verfassungslehre, also Lehre von der konkreten, jeweils geltenden positiven Verfassung -und insoweit also „reine Rechtslehre"'^^:

„Eben darum muB man sich von der iiblichen Vorstellung emanzipieren, derzufolge der Staat ein raumliches Zusammensein, ein seelisch-korperliches Konglomerat und als solches eine un-abhangig von aller Rechtsordnung existente Einheit einer Vielheit von Menschen ist"" " .

Vielmehr „... ist die Einheit des Volkes nur durch die Einheit der Rechtsordnung begrundet. Nur insofern ein und dieselbe Rechtsordnung fur eine Vielheit von Menschen gilt, bilden diese eine Einheit... Die Theorie des Staatsvolks ist eine Rechtstheorie"'*^

Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund ist diese normative Staatstheorie fiir Kelsen nahe-liegend. Es ist der „Vielvolkerstaat" der habsburgischen Donaumonarchie, der Kelsen zu Recht radikal fragen lasst, was denn in allgemein formulierter Weise die Menschen in einer „multikulturellen" Gesellschaft im politischen Sinne uberhaupt miteinander verbindet"^ . Riickblickend hielt er zu dieser „Staatstheorie" als Verfassungstheorie der pluralistischen, offenen Gesellschaft selber fest:

,,'Angesichts des osterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Ein­heit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammen­hang der juristisch zum Staat gehorigen Menschen zu griinden versuchten, ganz offenbar als

^ Vgl. Kondylis, Jurisprudenz, Ausnahmezustand und Entscheidung, S. 343. ' ^Ebd. '*' Schneider, Wilfried, Wissenschaftliche Askese und latente Wertpraferenz bei Hans Kelsen, S. 154; vgl. auch S. 138 ff. sowie van Ooyen, Der Staat der Modeme, S. 55 ff. ^^ Hinsichtlich des Substanzbegriffs wurde Kelsen durch Ernst Cassirer beeinflusst, der hiergegen den der Funkti-on gesetzt hatte; Cassirers Arbeit „Substanzbegriff und Funktionsbegriff erschien 1910 in Berlin. '* Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 45. '^^ Ebd., S. 150; vgl. auch Kelsen, Uber die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 27 ff. ^^ Kelsen Allgemeine Staatslehre, S. 149. ^ Vgl. Baldus, Habsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State", S. 13 ff.

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26 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

Fiktionen. Insofem diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine spezifisch osterreichische Theorie gelten' "' .

In biografischer Hinsicht bleibt zu erganzen, dass Kelsen dabei nicht einfach in allgemein-theoretischer Weise den osterreichischen „Vielvolkerstaat" vor Augen hatte. Wie spater fur Fraenkel war der Begriff der Minderheit fiir ihn kein blofies Abstraktum"^ . Als Staatsrecht-ler greift Kelsen mit der normativen Begriindung des Staats zudem eine uralte Konzeption auf: Den Begriff des „Staatsvolks" als Rechtsgemeinschafl der Burger fmden wir schon in der Antike: in der Formulierung des Aristoteles als die gemeinsame Teilhabe an der Verfas-sung" ^ Oder auch in der Republik Ciceros:

„Quid est enim civitas nisi iuris societas civium?" . Selbst Kant definierte noch:

„Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"^\ Richtig bemerkte daher schon friih Marcic:

„Kelsens Staatskonzept ist eine originelle und feinsinnige Erneuerung der ureuropaischen Staatsauffassung als Rechtsauffassung, die bei... Aristoteteles, Cicero... ausgebildet wird, um bei Kant, gleichsam im Nachschein, unterzugehen"^ .

3 Modernes Menschenbild: Politik als „Kampf'

Kelsens zahlt fiir seine Wiederentdeckung des Staats als Rechtsgemeinschaft allerdings einen hohen Preis. Sein Begriff des Politischen ist nicht identisch mit dem in der Antike, vielleicht auch noch bis zu Kant geltenden Verstandnis normativer Staatstheorie. Kelsen ist ein typischer Vertreter eines modemen Politikverstandnisses in liberaler Pragung: Politik wird in seinem Bild vom Menschen als „realistisch", d. h. ausschliefilich als Kampf um Macht begriffen, der sich wissenschaftlich erfassen lasst; politisch-ethische Fragen hinge-gen werden als Ausdruck relativer Beliebigkeit von Glauben und Meinen in den Bereich der sittlichen Autonomic des - atomistisch gedachten - Individuums verwiesen. Mit Marx, Nietzsche, Freud und Weber stimmt Kelsen darin iiberein,

„daB der Mensch und sein Handeln aus der Perspektive der Macht, des Kampfes und des Trieb-lebens zu verstehen sind... Ihnen alien ist das Bemiihen gemeinsam, die Werte als Masken fur Interessen, Kampf und Triebleben zu enthtillen"^ .

Diese politische Anthropologic ist der tiefere Hintergrund, warum Kelsen mit der Ableh-nung aller vorstaatlichen, etwa naturrechtlichen Geltungsgriinde des Rechts zugleich alle Legitimitatsfragen abschneiden muss und auf Legalitatsfragen reduziert. So lasst sich vom Charakter des Rechts bei Kelsen nichts mehr aus seinem Zweck herleiten, sondem dieser bestimmt sich vielmehr allein durch die Beschreibung seiner Mittel - namlich durch den

^'' Zitiert nach Metall, Hans Kelsen, S. 42. ^^ Benzler bemerkt daher mit Blick auf Fraenkel richtig, dass „der Klassengegensatz nicht die einzige Entfrem-dungs- und Differenzerfahrung" sei, die den „Weg fiir die Erweiterung seiner Uberlegungen... bin zur Theorie des (Neo-) Pluralismus" bereitete; Aufgeklartes Staatsrecht - Ernst Fraenkel, S. 334. ''' Vgl. Aristoteles, Politik, Drittes Buch, S. 154 ff. (1274b-1276b). ° Cicero, De re publica, S. 66 (Erstes Buch); „Was ist denn die Biirgerschaft, wenn nicht die Rechtsgemeinschaft

der Burger?". ' Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 169 (§ 45).

^ Marcic, Die Reine Staatslehre, S. 206. " Voegelin, Die GroBe Max Webers, S. 86

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 27

Zwang " . So fallen „Rechtsstaat" und „Machtstaat" zusammen. Kelsen hat diese rechtsposi-tivistische Konsequenz in radikaler Weise selbst formuliert:

„Dabei ist unter ,Rechts'-Staat nicht eine Staatsordnung spezifischen Inhalts, nicht also ein Staat mit ganz bestimmten Rechtsinstitutionen wie demokratische Gesetzgebung... Freiheitsrechte der Untertanen... usw. ... zu verstehen, sondem ein Staat, dessen samtliche Akte auf Grund der Rechtsordnung gesetzt werden... Von einem streng positivistischen, jedes Naturrecht ausschlie-Benden Standpunkte aus muB... jeder Staat Rechtsstaat... sein, sofeme eben jeder Staat irgendei-ne Ordnung, eine Zwangsordnung menschlichen Verhaltens... (hat)... Das ist der Begriff des Rechtsstaates, der mit dem des Staates ebenso wie dem des Rechtes identisch ist"^^

D. h.: Jeder Staat ist Rechtsstaat und insoweit auch zu Recht ein Staat. FUr die Moglichkeit der vollstandigen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft muss Kelsen in seiner posi­tivistischen Theorie in Kauf nehmen, dass alles, eben weil es von Menschen gemacht ist, machbar ist - allerdings eben auch die Diktatur. Zu Recht aber wird spater Ernst Fraenkel riickblickend beklagen, dass gerade in Deutschland dieser selbstverstandliche „Zusammen-hang zwischen demokratischer Selbstregierung und politischem Machtkampf nicht aner-kannt" wurde^^.

4 Pluralistisches Verstandnis von Burger, Verfassung und Gesellschaft

Kelsens positivistisches Postulat der Identitat von Staat und Recht erscheint uns nach den Diktaturen des 20. Jahrhunderts heute als problematisch; seine Staatstheorie stlitzte jedoch nicht nur vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund die neuen jungen parlamentarischen Demokratien - ob nun in Weimar oder in der osterreichischen Republik. Im Gegensatz zu der gerade von Carl Schmitt bestrittenen Legitimitat der Weimarer Legalitat^^ waren nach Kelsens Theorie diese demokratischen Republiken als Rechtsstaaten genauso legitim wie jedes andere politische System zuvor. Die bahnbrechende demokratietheoretische Bedeu-tung aber liegt tiber diesen zeitgeschichtlichen Kontext hinaus in ihrem pluralistischen Verstandnis von Gesellschaft, die sich allein durch die Verfassung als „gemeinsamen Band" politisch konstituiert:

Denn demokratietheoretisch betrachtet verbirgt sich hinter Kelsens Identitat von Staat, Recht und positiver Verfassung die Absicht, die Geltung des „staatlichen" Gesetzes aus-schlieBlich auf den Menschen zurlickzuftihren. Ohne Begrundung des positiven Rechts durch „hohere" Werte (gottliche Ordnung, Naturrecht) oder „souverane" Macht („Staatsra-son", „normative Kraft des Faktischen", aber auch „Yo\kssouverdnitdf) gibt es namlich auch keinen Herrschaftsanspruch von absoluter Geltung. Wenn das Gesetz etwas von Men­schen „Gemachtes" ist, dann gilt das Gesetz nur, weil es von Menschen gemacht wurde -und zwar von konkreten Menschen einer konkreten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit: Diese Lehre

„... geht von der Annahme aus, daB die Menschen den Staat bilden, daB der Staat als spezifische Ordnung menschlichen Verhaltens nicht auBerhalb oder iiberhalb der Menschen, sondem in ih-nen und durch sie existiert. Die Staatstheorie dieses Typus laBt sich in die Worte fassen: Der

^^ Insoweit ist dieses Verstandnis wohl typisch fiir den Positivismus uberhaupt. Einschlagige Be-griffsbestimmungen des Staats als „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit" fmden sich ja vor allem bei Max Weber, vgl. z. B. Politik als Beruf, S. 506. ^ Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 9; vgl. auch Kelsen, Reine Rechtslehre. ^ Fraenkel, Akademische Erziehung und politische Berufe, S. 321. ^ Vgl. Schmitt, Legalitat und Legitimitat.

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28 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

Staat, das sind wir. Die Tendenz dieser Erkenntnis ist nicht auf Verabsolutierung, sondem um-gekehrt auf Relativierung des Staates gerichtet. Sie lost den Begriff der Souveranitat als Ideolo-gie bestimmter Herrschaftsanspriiche auf..." .

Genau in diesem Punkt liegt fiir Walter denn auch eine zentrale Fehldeutung der Lehre Kelsens begriindet:

„In der Verkennung dieser Funktion der Grundnorm liegen die meisten MiBverstandnisse um die Reine Rechtslehre, der vorgeworfen wird, sie fordere Gehorsam gegentiber jeder effektiven sozialen Macht. In Wahrheit laBt die Reine Rechtslehre die Frage, ob man einem Normensystem gehorchen soil, bewuBt offen. Denn diese Frage kann keine wissenschaftliche Lehre beantwor-ten, sie muB menschliche Gewissensentscheidung bleiben" .

Damit sind zwei fundamentale Positionen gewonnen, die gerade vor dem entstehungsge-schichtlichen Hintergrund der Kelsenschen Lehre „revolutionar" gewesen sind und zu die­ser Zeit angesichts des Traditionsbestands in der deutschen Staatslehre verloren schienen: 4. Mit dem Ende des Begriffs von der Souveranitat des Staats gelangt der Blickwinkel

dahin zuriick, wo er aus Sicht einer politischen Theorie hingehort - namlich vom „Staat" weg und zum Menschen hin. Kelsen schafft somit die Voraussetzung fiir eine Verfassungstheorie der pluralistischen Demokratie. Denn: Nur wenn Herrschaft voll-standig auf das menschliche MaB zuriickgefuhrt worden ist, kann im nachsten Schritt die umfassende demokratische Teilhabe der Burger hieran erortert werden.

5. Und von hieraus beantwortet Kelsen dann die zentrale Frage nach dem Kriterium, was denn die Menschen in der Gesellschaft politisch miteinander verbindet, in geradezu klassischer Weise. Es sind eben nicht antipluralistische politische Einheiten wie „Staat", „Nation", „Volk", „Klasse" - und wie neuerlich bei Huntington die „Kultur" -Oder wie immer auch die mit Substanz versehenen Gemeinschaften, Kollektiva heiBen mogen, die die Menschen miteinander verbinden. Sondern im Machtkampf der Viel-heit der Interessen ist es nur das von den Menschen selbst gemachte Gesetzt, das die res publica konstituiert.

In der normativen Staatstheorie Kelsens existiert der Staat als „realer Verband" also uber-haupt gar nicht mehr bzw. nur noch soweit man sich hierunter die Einheit der Rechtsord-nung (= Verfassung) vorstellt. Diese wiederum ist identisch mit der Summe positiv gege-bener Verfassungsgesetze und als etwas von Menschen „Gemachtes" keinesfalls „souve-ran". Pluralismustheoretisch interpretiert heiBt das: Der Staat ist nicht mehr wie selbst noch bei Laski ein Verband unter vielen, sondem uberhaupt nur noch die als Satzung verstande-ne Rechtsordnung, die im Falle einer demokratischen Ordnung die Interessenkonflikte der pluralistischen Gruppen in der Gesellschaft verfahrensmaBig regelt. Eine starkere „Entzau-berung" des der Gesellschaft entriickten und zum Mythos verklarten „Staat" als diese von Kelsen selbst so bezeichnete „Staatslehre ohne Staat"^° lasst sich kaum vorstellen.

Und hieraus ergibt sich - im wesentlichen Unterschied zum normativ-ontologischen Rechts- und Politikverstandnis der Antike, das ja von einem bonum commune im Sinne eines hochsten Guts ausgeht - fiir Kelsen die Pluralitat nicht nur hinsichtlich der Faktoren „Kultur", „Sprache", „Nationalitat", „Religion" usw. sondem vor allem auch hinsichtlich des Rechts selbst. Die Vielheit und Relativitat der politischen Weltanschauungen und

^ Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, S. 23; vgl. hierzu Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 231 ff; Hebeisen, Souveranitat in Frage gestellt, S. 316; Lehnert, „Staats-lehre ohne Staat"?; ausfiihrlich van Ooyen, Der Staat der Modeme. ^ Walter, Diskussionsbeitrag, Weltanschauung in der Staatsform, S. 56 f ^ Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 208

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 29

Wertorientierungen zeigt gerade, dass die Begriindung der „Gemeinschaft" als politische Einheit „Staat" auch nicht aus der ethischen Qualitat des Rechts heraus mehr moglich ist, die auf ein eindeutig bestimmbares hochstes Gut der Gerechtigkeit und des hierauf bezoge-nen tugendhaften Lebens zielt. Sie lasst sich in einer modemen Gesellschaft nur noch auf das griinden, was die Gruppen als Regeln miteinander vereinbaren. Marcic hat dieses zent-rale pluralismustheoretische Anliegen der Kelsenschen Lehre unmittelbar und klar erfasst:

„Die Form des Rechts erfiillt... deshalb eine spezifische Aufgabe, weil die Gesellschaft der Ge-genwart ausgesprochen pluralistisch, in jeder Hinsicht buntscheckig geftigt ist, so daB Ethik und Moral ihre universale und globale Integrationskraft verlieren und dem Recht die Funktion der unteren Grenze der Sittlichkeit uberantworten"^^

Daher wird ftir Kelsen die Einheit des „Staats" zwar durch die Rechtsgemeinschaft - also normativ - begriindet, aber im Gegensatz zum antiken metaphysischen Verstandnis viel enger formuliert, namlich reduziert auf den modemen Politikbegriff der Macht. Rechtsge­meinschaft ist so „nur" noch die bloBe Gemeinschaft des Gesetzes^^. Und da sich schlieB-lich alle Gesetze und sonstigen Rechtsquellen von der Verfassung als hochster positiver Rechtsquelle ableiten, folgt hieraus: Staatstheorie ist Rechtstheorie ist Verfassungstheorie:

„Ist der Staat die Rechtsordnung, dann muB... die Staatslehre mit der Rechtslehre zusammenfal-len".

Und: Die Probleme der Erzeugung der staatlichen Ordnung werden auch unter dem Begriffe der , Ver­fassung' zusammengefaBt. Und so wie in dem traditionellen Begriff des , Staats'-Rechts, das mit Verfassungsrecht identisch ist, der Begriff des Staates in der Bedeutung von , Verfassung'... auf-tritt, so bedeutet ,Allgemeine' Staatslehre auch eine allgemeine Verfassungslehre"^ .

Die der modemen pluralistischen Gesellschaft adaquate „Staatstheorie" ist also: 1. in diesem Sinne gar keine Staatstheorie, sondem „nur" eine Verfassungstheorie^"^ und 2. als solche keine Theorie uber die gute und gerechte Ordnung, sondem nur noch eine

Theorie des positiven Rechts - d. h. aber im Ergebnis eine Theorie des Verfahrens, weil der Inhah des positiven Rechts dem demokratischen Verhandlungsprozess vollig offen steht und daher beliebig ist .

Denn das ist der emanzipatorisch-demokratische Zweck des Kelsenschen Formalismus des Rechts - seiner „Staatslehre ohne Staat", die zugleich eine „Rechtsleere" postuliert, in dem Sinne, dass es keine Lehre vom „richtigen" Recht bzw. Staat im Verstandnis einer sittlichen Qualitat oder Legitimation von Herrschaft geben kann: Weil der Begriff des Rechts vom Begriff der Gerechtigkeit abgelost ist, Recht und Gesetz identisch zusammenfallen, ist das Recht relativ. Als Gesetz steht es den Menschen vollig frei zur Disposition. Es kann daher jeden beliebigen Inhalt annehmen, es entzieht sich dem MaBstab einer als hoherwertig re-klamierten sittlichen Qualitat von Herrschaft und in seine Form kann nun alles an politi-schen Konzepten und Wertvorstellungen mit gleicher Berechtigung - also Legitimitat -„hineingegossen" werden, ohne sich tradierten Autoritaten, ohne sich iiberhaupt „nicht-menschlichen" Machten noch langer beugen zu miissen. Insoweit zeigt sich der Rechtsposi-

' Marcic, Die Reine Staatslehre, S. 202. " Vgl. Barsch, Lex vinculum societatis, S. 435 ff. ^ Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 45 ^^ Es ist genau das, was der Gegenspieler Kelsens, Carl Schmitt, ebenfalls gesehen hat, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen und Schlussfolgerungen: Ganz bewusst schreibt Schmitt ja 1928 keine Staats-, sondem eine von der politischen Einheit „Volk" als „Begriff des Politischen" ausgehende „Verfassungslehre". ^ So ist Luhmann zuzustimmen, dass ohne Zweifel die „Reine Rechtslehre" hier am „weitesten und konsequentes-ten" vorgedrungen ist. Legitimation durch Verfahren zu erzeugen; Legitimation durch Verfahren, S. 11.

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30 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

tivismus der „Reinen Rechtslehre" bei Kelsen als bloBe Folge seiner pluralistischen Sicht von Gesellschaft, die mit einem radikalen Wertepluralismus einhergeht: Wenn die Gesell­schaft als „politische Einheit" sich allein tiber das von den Individuen bzw. von den politi-schen Gruppen „gemachte" Gesetz konstituiert, dann lost sich der antipluralistische Dua-lismus von Staat und Gesellschaft auf. Kein „Staat" - und auch kein „Volk" - kann dann mehr mit eigener Substanz als Htiter einer vermeintlichen politischen Einheit der pluralisti­schen Gesellschaft gegenubertreten und das Gemeinwohl - das ,/wahre' Volksinteresse", die „Gerechtigkeit" usw. gegeniiber den egoistischen Partikularinteressen vermeintlich schijtzen^^. Denn eine „politische Einheit" in der Vielheit wirtschaftlicher, politischer, reli-gioser, kultureller und sonstiger Interessen jenseits des Gesetzes ist ein Mythos, ist hiemach Ideologic:

„... und doch ist... nichts problematischer als gerade jene Einheit, die unter dem Namen des Vol-kes auftritt. Von nationalen, religiosen und wirtschaftlichen Gegensatzen gespalten, stellt es -seinem soziologischen Beftinde nach - eher ein Bundel von Gruppen als eine zusammenhan-gende Masse eines und desselben Aggregatzustandes dar" .

Der Begriff des „Gemeinwohls", um den Bogen zu der eingangs zitierten Stelle aus Kelsens „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" zurtickzuschlagen, reduziert sich damit auf die Resultierende, die sich aus dem Kraftespiel der einzelnen Gruppen ergibt. Kelsens „Staats-theorie" ist daher eine Demokratietheorie und als solche eine Theorie des Verfahrens des Wettbewerbs pluralistischer Gruppen, die miteinander um die Durchsetzungsmacht ihrer Interessen konkurrieren^^ - eine Konzeption, die sich radikal gegen die Identitat von Regie-renden und Regierten richtet, welche zu dieser Zeit mit dem klassischen Dogma der „Volkssouveranitat" in der Rezeption von Rousseau noch das herrschende demokratietheo-retische Paradigma bildet. Erst Jahre spater sollte Joseph Schumpeter, in Wien mit Kelsen bekannt, in seiner „anderen Theorie der Demokratie" zu ahnlichen Formulierungen tiber die Demokratie als Wettbewerbsverfahren durchdringen, die Kelsen in seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie" als einer der „gro6en Demokratiebegriindungsschriften uberhaupt"^^ vorwegnahm:

^ Vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 79 f. " Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 15; vgl. auch schon Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 482 ff. ^ Ideengeschichtlich findet diese Konzeption in der Modeme zweifellos eine urliberale Vorlage bei Adam Smith, wonach sich - wie von „unsichtbarer Hand - Wohlstand am besten realisiert, wenn nur jeder seine eigenen Interes­sen verfolgt (vgl. Der Wohlstand der Nationen). Bei Smith fmdet sich auch schon die Vorstellung einer fortschrei-tenden friedlichen Zivilisierung der arbeitsteilig differenzierten, biirgerlichen Gesellschaft; vgl. hierzu Prisching, Adam Smith und die Soziologie, S. 64 ff.; zur Fortschrittsidee und Zivilisierung bei Kelsen vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, S. 79 ff.; zutreffend daher der kurze Verweis bei Marcic, dass auch Kelsen (und Radbruch) den „anthropologischen Kulturoptimismus" voraussetzen (Gustav Radbruch und Hans Kelsen, S. 92); vgl. auch Jablo-ner, Menschenbild und Friedenssicherung, S. 57 ff sowie ders.. Legal Techniques and Theory of Civilization, S. 51 ff Parallelen finden sich daher ebenso zwischen Kelsen und John Stuart Mill (vgl. auch Luthard, Politiktheore-tische Aspekte im „Werk" von Hans Kelsen, S. 159), dessen Menschenbild als vielleicht wichtigster Vertreter des englischen Liberalismus im 19. Jahrhundert genauso von diesen Pramissen ausging: Machttrieb des Menschen im Sinne von Gewaltsamkeit einerseits und zugleich die Sicherung der Freiheit des Individuums von Macht als dem zentralen Punkt seiner politischen Theorie andererseits. Auch Mill ist dem Linksliberalismus zuzuordnen und Positivist; auch far sein Verstandnis von Freiheit und Demokratie sind Durchsetzung von egoistischen Interessen und Nutzlichkeitserwagungen zentral. Mills politische Theorie ist jedoch noch viel starker vom Fortschrittsglau-ben des 19. Jahrhunderts durchdrungen, vom Glauben an fortschreitende Entwicklung der „Zivilisation" durch Rational itat. ^ Boldt, Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 217 ff

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Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft 31

„Demokratie schatzt den politischen Willen jedermanns gleich ein... Darum gibt sie jeder politi-schen Ueberzeugung die gleiche Moglichkeit, sich zu auBem und im freien Wettbewerb um die Gemtiter der Menschen sich geltend zu machen... Die fiir die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majoritat unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daB sie eine Opposition - die Minoritat - ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, son-dern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proporti-onalitat schutzt"^°.

Der Wettbewerb der politischen Gruppen hat zugleich also iiberhaupt erst einmal die Exis-tenz, den Schutz und die Chancengleichheit der Minderheiten zwingend zur Voraussetzung. Kelsens Demokratietheorie ist daher eine Theorie, die - wie sollte es auch in einer Theorie pluralistischer Demokratie anders sein - von der Freiheit der Opposition, von der Vielheit der Minderheiten her gedacht werden muss.

Vielheit der gesellschaftlichen Gruppen, Politik als Kampf um Macht, Reduktion des „Staates" auf das - in demokratischen Wettbewerbsverfahren - beschlossene Gesetz, das so die politische „Einheit" der Gesellschaft stiftet - Kelsens normative „Staatstheorie" ist of-fensichtlich das modernste, was die deutschsprachige Staatslehre bis dato hervorgebracht hat: Sie zielt auf die machtrealistische „Entzauberung" des Staates und infolge dessen auf die „Zivilisierung" und „Rationalisierung" des Machtkampfs der politischen Gruppen durch die in der Verfassung niedergelegten (demokratischen) Spielregeln und Verfahren. Insoweit ist der „Staat" nichts anderes mehr als ein durch Satzung geregelter biirgerlicher Verein, dessen Mitglieder sich selbst „verwalten".

Die schon mit Hermann Heller seit 1926 polemisch geauBerte Kritik an der „Reinen Rechtslehre" als der Lehre von den „ausgeblasenen Eiem reiner Rechtsformen"^^ zeigt aber, dass offenbar diese bahnbrechenden demokratietheoretischen Implikationen der Lehre Kelsens selbst im demokratischen Lager seinerzeit gar nicht richtig begriffen wurden^^. Kelsen blieb daher auch hier eher ein „AuBenseiter", dessen Lehre in ihrer Radikalitat zwar zum Widerspruch von alien Seiten provozierte - schlieBlich sind die heute als klassisch bezeichneten Staats- und Verfassungslehren von Schmitt, Smend und Heller Iiberhaupt erst in Reflex auf Kelsen entstanden. Sein politisches Anliegen einer Verfassungstheorie der modemen, pluralistischen und offenen Gesellschaft aber lieB sich vor dem tradierten Dis-kussionshintergrund der deutschen Staatslehre, die es gewohnt war, in Konzepten politi-scher Einheit wie „Staat" (Hegel), „Volk" (Rousseau) oder auch „Klasse" (Marx) zu den-ken, nicht erfassen. Schade, dass ihn zu seiner Zeit nur sein argster „Feind" so klar verstan-den hat, wie sonst keiner: Carl Schmitt. Denn er liefert - explizit gegen Kelsen gerichtet -den radikalsten antipluralistischen Gegenentwurf; in alien Punkten negiert er ihn:

nicht Kompromiss, sondem „Freund-Feind", nicht Individuum und Gesellschaft, sondem Gemeinschaft, nicht polykratische Herrschaftsstruktur, sondem Souveranitat,

° Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 101. Die klassische Stelle bei Schumpeter im Kap. „Eine andere Theorie der Demokratie" lautet: „Und wir definieren: Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben"; Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 427 f. ' Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 301.

^ So heiBt es z. B. auch bei Richard Thoma, der Kelsens Kritik am tradierten Staatsbegriff ja teilweise zustimmt: „Und jedenfalls habe ich vorerst noch nicht begriffen, wieso der Staat und die Rechtsordnung, wie Kelsen lehrt, identisch sein sollen"; Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhaltnis zum Staatsbegriff, S. 56.

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32 I. Verfassungstheorie und pluralistische Gesellschaft

nicht „Normalfall", sondern „Ausnahmezustand", nicht Verfassungsgericht, sondern President als Htiter der Verfassung, nicht „Frieden" durch rationale Verfahren, sondern irrationaler „Kampf', nicht pluralistische Gesellschaft, sondern totale politische Einheit „Volk" usw. -Carl Schmitts „politische Theologie" ist „Anti-Kelsen".

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Neo-Pluralismus als Kritik an Kelsen und Schmitt: Ernst Fraenkel 33

B Neo-Pluralismus als Kritik an Kelsen und Schmitt: Ernst Fraenkel

Fiir Fraenkel ist die Kritik an Schmitt und der Riickgriff auf Kelsen bei der Entwicklung seiner Pluralismustheorie bestimmend. Aufgrund des zur Weimarer Zeit noch dominanten Analyserasters der Klassenspaltung^^ gelingt es ihm jedoch zunachst einmal nicht, die Kri­tik an der „relativistischen Demokratie" Kelsens gegeniiber Schmitts „Freund-Feind-Konzept" der Volkseinheit argumentativ zu nutzen. Er erkennt zwar von diesem Stand-punkt aus, dass der Kelsensche Formalismus und Relativismus Ausdruck pluralistischer Demokratie ist, Kelsens Reduktion des „Staats" auf die positive Rechtsordnung also die Voraussetzung darstellt, um das „Gemeinwohl" uberhaupt im Sinne einer „Resultierenden" des politischen Machtkampfes autonomer Gruppen begreifen zu konnen. Schon 1927 fiihrt er in seinem Aufsatz zur „Klassenjustiz" daher hinsichtlich des Wechsels vom „uberpartei-lichen" Obrigkeitsstaat zur parteienpluralistischen Weimarer Republik in direktem Bezug zu Kelsen aus:

„Mit Fortfall der monarchischen Staatsspitze, die in der Vorstellung des Richtertums durch die Sanktion den Gesetzentwurf aus dem Interessenkampf und Parteienhader in eine parteilose, klassenfreie Sphare erhoben hatte, sieht der Richter das Recht als Spielball der gesellschaftli-chen Krafte... das Recht, das ihm als absolute GroBe erschienen war, offenbart sich ihm jetzt in seiner ganzen Relativitat. Relativismus ist aber auch das Kennzeichen einer Demokratie, die ih-rem Wesen nach die Berechtigung einer Vielheit von Ansichten zugibt, der jeder Gesetzge-bungsakt sich als Sieg einer parteipolitischen Majoritat iiber die Minoritat darstellt mit der Mog-lichkeit, daB sich die Minoritat von heute zur Majoritat von morgen auswachst" "*.

Doch im weiteren Verlauf seiner Auseinandersetzung mit Kelsen bewertet er in Anlehnung an Hellers Kritik zu den „ausgeblasenen Eiem reiner Rechtsformen"^^ den Relativismus dann doch als Nihilismus, den er in einem Atemzug mit dem existentialistisch aufgeladenen Dezisionismus von Schmitt nennt:

„Es ist das Verdienst Hermann Hellers in der Polemik gegen Hans Kelsen darauf hingewiesen zu haben, daB die Auffassung, jede vom Staat gesetzte Ordnung sei, unabhangig vom ihrem In-halt, Rechtsordnung, eine Auflosung rechtsstaatlichen Denkens zur Folge habe, sofern man... unter rechtsstaatlichem Denken nicht nur ein formalrechtliches Erfordemis, sondem eine mate-riell-rechtliche inhahliche Bestimmung versteht. Aber nicht nur die reine Rechtslehre Kelsens schlieBt die Gefahr des ethischen Nihilismus bei der Behandlung von Rechtsproblemen in sich; das gleiche gih im verstarkten MaBe fur die Lehre, deren hervorragendster Reprasentant heute Carl Schmitt ist"' ^

Auf der anderen Seite sieht er wie Kelsen in der Schmittschen Konzeption der „politischen Einheit" als „Freund-Feind-Entscheidung" den (totalitaren) Widerpart. Noch 1932 verweist Fraenkel auf die mit dem „Begriff des Politischen" - als der in Fraenkels Einschatzung

^ Vgl. hierzu van Ooyen, Der Staat der Modeme, Kap. „Klassenkampf nicht Pluralismus: Fraenkels Weimarer Schriften", S. 245 ff. ^ Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, S. 183; hier Bezug nehmend mf Kelsen, Das Problem des Parlamen-tarismus. ^ Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 301. ' ^ Fraenkel, Chronik (April 1932), S. 572; die „Chronik" verfasste Fraenkel im Rahmen seiner Tatigkeit bei „Die Justiz", der Zeitschrift des Republikanischen Richterbunds.