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Computer Games, Narration, Narratives, Adventure Games, Sven Millischer
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Sven Millischer Eichenstrasse 3 4118 Rodersdorf 079 645 43 89 [email protected]
LIZENTIATSARBEIT
* „Story as Play Space“
Adventure Spiele zwischen widerständiger
Chronologie und narrativer Architektur
UNIVERSITÄT BASEL
DEUTSCHES SEMINAR
SOMMERSEMESTER 2006
Eingereicht am: 28. Juni 2006
Prof. Dr. Eva Horn, Referentin
Prof. Dr. Georg Christoph Tholen, Korreferent
0. Einleitung................................................ 3
1. Diachrone Analyse......................................... 6
1.1. Textadventures..................................................... 6
1.2. Grafikadventures.................................................. 10
1.3. Point-And-Click-Adventures........................................ 12
1.4. Transformation.................................................... 15
1.5. Zusammenfassung................................................... 18
2. Definitionen............................................. 19
2.1. Medium............................................................ 19
2.2. Hybridität und Simulation......................................... 20
2.3. Interaktivität.................................................... 24 2.3.1. Agency ................................................................25 2.3.2. Ergodizität ...........................................................27 2.3.3. Typologie .............................................................29
2.4. Immersion......................................................... 37 2.4.1. Benutzer ..............................................................38 2.4.2. Medium ................................................................40 2.4.3. Typologie .............................................................42 2.4.4. Flow ..................................................................46
2.5. ergodic intrigue.................................................. 48
2.6. Genres............................................................ 54
3. Narration................................................ 61
3.1. Erzählbegriff..................................................... 61
3.2. Genette – Die Erzählung........................................... 63 3.2.1. Ordnung ...............................................................63 3.2.2. Narrative Tempi .......................................................65 3.2.3. Frequenz ..............................................................67 3.2.4. Modus .................................................................70 3.2.5. Stimme ................................................................74
3.3. Spatial Stories................................................... 75
3.4. Interaktive Erzählstrukturen...................................... 80 3.4.1. Irrgarten, Labyrinth ..................................................80 3.4.2. Flussdiagramm .........................................................80 3.4.3. Hidden Story ..........................................................81 3.4.4. Beurteilung der Modelle ...............................................82 3.4.5. Story-World ...........................................................84
3.5. Zusammenfassung................................................... 86
4. Spiele................................................... 88
4.1. Definitionen...................................................... 88
4.2. Klassifikation.................................................... 89
4.3. Spielweisen....................................................... 91
4.4. Wahlmöglichkeit................................................... 92
5. Schluss.................................................. 94
6. Bibliographie............................................ 96
7. Ludographie............................................. 101
8. Schaubilder............................................. 102
3
0. Einleitung
Die vorliegende Lizentiatsarbeit hat Adventure Spiele zum Ge-
genstand. Als phänomenologische Basis dient hierbei eine
ausgewählte Ludographie, welche sowohl historisch relevante
Spieletitel wie Adventure oder Maniac Mansion berücksichtigt
als auch zeitgenössische Veröffentlichungen wie Fahrenheit o-
der Syberia II. Aufgrund der grossen Anzahl verfügbarer Spiele
kann die vorliegende Ludographie jedoch nur als Stichprobe
gelten. Diese soll indes unter Zuhilfenahme text- und medien-
theoretischer Schriften eingegrenzt, beschrieben und
typologisiert werden.
Das narratives Potential von Adventure Spielen steht dabei im
Zentrum der Analyse, welche einen konsequenten Methodenplura-
lismus verfolgt: Aufgrund ihrer hybriden Struktur sowie ihrer
multimedialen Verfasstheit lassen sich Adventure Spiele einzig
transdisziplinär adäquat erfassen. Im Sinne einer gegenstands-
bezogenen Untersuchung soll die narratologische
Herangehensweise deshalb situativ ergänzt werden.
Insbesondere ludologische Ansätze gilt es hierbei zu berück-
sichtigen. Deren Exponenten wie Espen Aarseth1 oder Jesper
Juul2 haben entscheidend dazu beigetragen, Computerspiele als
eigenständigen Forschungsgegenstand zu emanzipieren und damit
die game studies3 als genuinen Fachbereich zu etablieren.
Diese Bemühungen führen seit Ende der Neunziger Jahre zu teil-
weise hitzigen Kontroversen4. So kritisieren einzelne
Ludologen, dass die Narratologie, durch die Optik ihrer Ur-
sprungsdisziplinen wie den Film- oder Literaturwissenschaften,
Computerspiele theoretisch kolonisiere. Beispielsweise, indem
1 Vgl. Aarseth, Espen: Computer Game Studies, Year One. In: Game Studies, Volume 1, Issue 1, July 2001. http://www.gamestudies.org/0101/editorial.html (12.6.06) 2 Vgl. Juul, Jesper: A clash between Game and Narrative. Conference Paper, 1998: http://www.jesperjuul.net/text/clash_between_game_and_narrative.html (12.6.06) 3 Als eigentliches Gründungsorgan gilt hierbei das elektronische Journal Game Studies. Dessen Beiträge bieten einen guten Überblick über gegenwärtige Forschungspositionen. Vgl. http://www.gamestudies.org/ (12.6.06) 4 Vgl. Baumgärtel, Tilman: Narratologen und die Ludologen, 14.08.2005. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20637/1.html (12.6.06)
4
Computerspiele als Literatur oder Filme gelesen werden, ohne
deren ludische Seite zu berücksichtigen. Nicht selten gipfelt
diese lähmende Debatte in reiner Polemik, wie folgendes Zitat
von Eskelinen veranschaulicht:
If I throw a ball at you I don't expect you to drop it and wait until it
starts telling stories.5
Solch ideologisch gefärbter game essentialism6, als den ihn
Murray ausweist, unterschlägt indes den Umstand, dass gegen-
wärtige Positionen der Narratologie wie jene von Neitzel7 oder
Kücklich8 eine pragmatische Herangehensweise verfolgen. Von
vermeintlich theoretischem Imperialismus9 kann keine Rede sein:
[…] games are not a subset of stories; objects exist that have qualities of
both games and stories.10
Genau diese originäre Beschaffenheit von Adventure Games mit
ihren Spiel- und Erzählanteilen bildet denn auch den Ausgangs-
punkt für die vorliegende Arbeit, welche sich in vier Kapitel
gliedert.
Das erste Kapitel Diachrone Analyse rollt die Geschichte der
Adventure Spiele auf, wobei gewisse formale Tendenzen bereits
festgemacht werden. Das zweite Kapitel Definitionen soll Ad-
venture Spiele als Medienphänomene und Computerspiele
kontextualisieren sowie begriffliche Grundlagen schaffen. Das
dritte Kapitel Narration bedient sich zunächst einem Klassiker
der Erzählforschung, Genettes Die Erzählung. In einem zweiten
Schritt sollen gegenwärtige Forschungsansätze wie Jenkins nar-
rative architecture11 oder de Certeaus Konzept räumlicher
5 Eskelinen, Markku: The Gaming Situation. In: Game Studies, Volume 1, Issue 1, July 2001. http://www.gamestudies.org/0101/eskelinen/ (12.6.06) 6 Darunter versteht Murray eine dogmatische Variante der Ludologie, der zufolge sich Spiele nur aus sich selbst erklären lassen, und zwar unter Anwendung abstrakter, formaler Kriterien. Externe Faktoren wie Benutzer oder kulturelles Umfeld werden zurückgewiesen. Vgl. Murray 2005: 2. 7 Vgl. Neitzel 2005a 8 Vgl. Kücklich 2002. 9 Vgl. Aarseth 1997: 14. 10 In: Murray 2005: 3. 11 Vgl. Jenkins 2004.
5
Erzählungen12 auf Adventure Spiele adaptiert werden. Mit dem
vierten Kapitel soll abschliessend nochmals dezidiert das We-
sen von Spielen veranschaulicht werden. Dies, um allfällige
Asymmetrien in der Gesamtuntersuchung von Erzähl- und Spielan-
teilen zugunsten ludischer Elemente zu kompensieren.
12 Vgl. Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press, 1984.
6
1. Diachrone Analyse
Zunächst soll das Adventure Spiel historisch verortet sowie
dessen formale Entwicklung dokumentiert werden: Der Begriff
Spiel ist hierbei vorerst als ein Programm zu verstehen, das
von einem Digitalcomputer berechnet und ausgelesen wird. Des-
sen bis heute gültige technische Architektur bildet das
Schaltungskonzept13, wie es John von Neumann 1945 für univer-
selle und frei programmierbare Rechner formuliert hat.
1.1. Textadventures
Als erstes Adventure Spiel14 überhaupt gilt Adventure15, entwi-
ckelt vom MIT16-Absolventen William Crowther im Jahre 1973. Die
Entstehungsgeschichte dieses Computerspiels ist insofern rele-
vant, als sich darin Strukturelemente finden, die bis heute
wirkungsmächtig sind.
Crowther arbeitete Anfang der Siebziger Jahre für das Techno-
logieunternehmen Bolt, Beranek and Newman (BBN) als
Programmierer. Dieses zeichnete sich seit 1968 für die Fehler-
prüfung im ARPAnet verantwortlich, einem militärisch-
wissenschaftlichen Netzwerk-Vorläufer des heutigen Internets.
In seiner Freizeit spielte er Rollenspiele17. Dabei fungiert
ein Spielleiter als Schnittstelle zur Spielwelt. Dieser be-
schreibt Räume, durch die sich die übrigen Spieler
beziehungsweise ihre fiktionalen Stellvertreter bewegen sowie
13 Die folgenden fünf Bestandteile sind fundamental für einen frei programmierbaren Rechner. Das Rechenwerk (ALUs), das Steuerwerk (Control Unit), der Speicher (Memory), die Ein- und Ausgabe (I/O Unit) sowie das Verbindungssystem, welches alle Komponenten untereinander verbindet (Bus). Vgl. Neitzel 2005: 492, 493. u. http://de.wikipedia.org/wiki/Von-Neumann-Architektur (12.6.06) 14 Zwar entwickelte Gregory Yob an der University of Massachusetts bereits 1972 mit Hunt the Wumpus ein Spiel für Grossrechner, das auf einem Höhlensystem basierte. Allerdings muss dieses als action-orientiert gelten, indem es lediglich die Eingabeparameter „shoot“ oder „move“ kennt. Hunt the Wumpus ist auch im Internet spielbar unter http://www.taylor.org/~patrick/wumpus/ (12.6.06) 15 Adventure lässt sich auch im Internet spielen. Dabei handelt es sich um eine Rekonstruktion des Originalspiels durch Donald Ekman, David M. Bagget (1993) sowie Graham Nelson (1994). Abrufbar ist das Spiel unter http://jerz.setonhill.edu/if/gallery/adventure/index.html (12.6.06) 16 Massachusetts Institute Of Technology (MIT): http://web.mit.edu/ (12.6.06) 17 Vgl. Lischka 2002: 31 – 33.
7
Gegenstände und Figurenpersonal, welche die jeweiligen Räume
bevölkern. Raumeindrücke werden im klassischen Rollenspiel al-
so vollständig durch die mündlichen Schilderungen des
Spielleiters erzeugt.
Physische Raumerfahrungen sind dagegen bei Crowthers zweiter
Freizeitbeschäftigung zentral, der Speläologie18. Seine Erkun-
dung von Mammoth Cave, der mit über 560 Kilometer Ausdehnung
grössten Höhle der Welt, bildet die lebensweltliche Vorlage
für Adventure. In den Mittagspausen bei BBN nutzte Crowther
den betriebseigenen Grossrechner PDP-1019, um die von ihm und
seiner Frau Particia erkundeten Höhlen zu kartografieren. Eine
davon, die Bedquilt Cave, diente dem Programmierer schliess-
lich als vier Ebenen tiefes Raummodell für seine textbasierte
Rekonstruktion am Rechner. Diese trieb Crowther soweit, dass
er in seiner ersten Adventure-Version, auch unter dem Namen
Colossal Cave bekannt, die realen Höhlenbezeichnungen wie O-
range River Rock Room übernahm. Das Programm Colossal Cave
verfügte dabei über einen Parser20 mit einem eng begrenzten
Wortschatz für Befehlseingaben wie „go + Himmelsrichtung“.
Solch ein Parser machte den Textraum für den Benutzer über-
haupt erst steuerbar.
Crowther beliess es zunächst bei dieser ersten Adventure-
Version und gab sie auf dem ARPAnet frei zum Download. Don
Woods vom Stanford Artificial Intelligence Lab wurde 1976 auf
das Programm aufmerksam. Gemeinsam semantisierten die Entwick-
ler in der Folge das kartographische Setting: „In Form von
aufzufindenden Schätzen und Objekten gab es nun eine Geschich-
te mit einem Ende namens maximale Punktzahl“21.
18 Vgl. Pias 2002: 120ff. 19 http://de.wikipedia.org/wiki/PDP-10 (12.6.06) 20 Der Ausdruck Parser stammt aus der Informatik und bezeichnet, vereinfacht dargestellt, ein Verfahren zur Übersetzung der Eingaben des Spielers: „[…] in diesem Sinne bedeutet Anweisungen an den Parser weiterzulei-ten, sich der beschriebenen Situation oder dem Gesamtkonzept unterzuordnen – den Regeln eines relativ starr und eindimensional angelegten Spiels zu folgen.“ In: Furtwängler 2001: 374. 21 Vgl. Pias 2002: 121.
8
Als Vorbild diente Woods und Crowther das würfelbasierte Rol-
lenspiel Dungeons and Dragons (D&D)22, dessen Regelwerk
unzählige Völker, Charakterklassen, Rätsel und Gegenstände
kennt. In seinem Bemühen um räumliche Weltgestaltung lehnt
sich D&D an literarische Vorlagen wie J.R.R. Tolkiens epischen
Fantasy-Roman Herr der Ringe oder die Artus-Romane der höfi-
schen Literatur im Mittelalter23 an – warum sich gerade solch
episodenhafte Werke als literarische Vorlagen für Adventure
Spiele eignen, wird die weitere Analyse weisen.
In dieser motivischen Traditionslinie steht auch Adventure,
wenngleich in einem bescheidenen Rahmen: Handelt es sich doch
um ein Amalgam von Bewegung im Textraum und einfachen, narra-
tiven Grundmustern wie einen Weg wählen, einen Gegenstand
benutzen, einen Feind töten. Die einzelnen Handlungen unter-
liegen stets dem Ziel maximaler Punktzahl. Nichtsdestotrotz
verfügt Adventure über jene drei Grundelemente, die bis heute
für Adventure Spiele konstitutiv sind: Spiel, Erzählung und
Raumerfahrung. Letztere ist jedoch gänzlich auf die Imaginati-
onsfähigkeit des Spielers beziehungsweise Lesers angewiesen.
Ihm stehen einzig Beschreibungen der Höhlensegmente zur Verfü-
gung.24
Auch die semantisierte Koproduktion von Crowther und Woods
fand im ARPAnet seinen Distributionskanal. So hatten Mitarbei-
ter der Informatikabteilung des MIT 1977 Adventure
heruntergeladen, gelöst und beschlossen, ein eigenes Textad-
venture zu entwickeln. Mit Zork (Schaubild 1) setzten die
Entwickler Mark Blank und Brian Moriaty den von Adventure ein-
geschlagenen Weg sowohl technisch als auch motivisch fort.
Erneut musste der Spieler ein Labyrinth durchstreifen, das be-
22 Das Brettspiel wird heute von der Firma Wizards of the Coast vertrieben und erfreut sich nach wie vor grosser Beliebtheit. Vgl. http://www.wizards.com/ (12.6.06) 23 Vgl. Kapitel zur „Grossepik“ in der höfischen Literatur. In: Brunner, Horst: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart: Philipp Reclam, 1997. S. 193 - 231. 24 Vgl. Kapitel „Spatial structures in Video Games“ In: Wolf 2001: 53ff.
9
völkert war mit Dieben, Trollen und Zyklopen. Allerdings er-
weiterten sie die Textwelt und vergrösserten die Anzahl
Eingaberoutinen. So umfasst Zork 191 Räume gegenüber 130 in
Adventure und weist ein Vokabular von 908 Worten auf, mit de-
nen sich 71 verschiedene Befehle realisieren lassen.25
Vergleicht man den Aktionsumfang mit heutigen Adventure Spie-
len, muten diese geradezu unterkomplex an. Deren Anzahl
Steuerbefehle bewegt sich zumeist im einstelligen Bereich.
Mit Zork beginnt auch die Phase der kommerziellen Verwertung
von Adventure Spielen. Moriaty und Blank gründeten 1979, nach
ihrem Studienabschluss, die Software-Entwicklungsfirma Info-
com26 und mangels anderer ausgereifter Produkte diente ihnen
Zork als erste Veröffentlichung. Dazu musste es lediglich vom
universitären Grossrechner auf die damals gängigen Heimcompu-
ter-Systeme wie Apple II27 portiert werden. Hierin zeigt sich
ein weiteres Merkmal von Adventure Spielen. Im Gegensatz zu
anderen Genres wie Action- oder Sportspiele wurden diese nie
in Spielhallen (arcade games28) gespielt, was wiederum direkten
Einfluss auf die Spielgeschwindigkeit sowie die Spieldauer29
hatte. Erstere wird verlangsamt, während letztere sich erhöht
gegenüber dem kurzweiligen und kostenpflichtigen Vergnügen in
der Spielhalle: Anstatt möglichst viele Spielrunden zu über-
stehen und so den Einsatz zu amortisieren, gilt es, über
Stunden Welten zu erkunden, deren Spielstände überdies spei-
cherbar sind (save games).
Die Fokussierung auf den Markt für Heimcomputer erwies sich
für Infocom als wegweisend und gewinnbringend zugleich. So
brachte es Zork I auf über 1 Million verkaufte Kopien – und
25 Vgl. Neitzel, Britta: Gespielte Geschichten. Struktur- und prozessanalytische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen. Univ. Diss., Weimar: 2000. S. 107. 26 Für weiterführende Informationen zur Firmengeschichte von Infocom sei auf folgende Website verwiesen: http://www.csd.uwo.ca/Infocom/ (12.6.06) 27 http://de.wikipedia.org/wiki/Apple_II (12.6.06) 28 Burnham, Van: Supercade: A Visual History of the Videogame Age 1971 – 1984. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2001. 29 Juul 2004: 139ff.
10
Infocom selbst entwickelte in den folgenden zehn Jahren bis
zum Konkurs der Firma weitere 35 Spiele, zumeist reine Textad-
ventures.30
Infocoms Entscheid, auf textbasierte Adventure Spiele zu set-
zen, erwies sich als kapitaler Fehler. Denn die
Rechenkapazität der erschwinglich gewordenen Heimcomputer nahm
im Laufe der Achtziger Jahre nach den Regeln des Mooreschen
Gesetzes31 exponentiell zu. Die grafische Aufbereitung von Da-
ten wurde realisierbar und von den Konsumenten auch
eingefordert.
1.2. Grafikadventures
So entwickelte das Ehepaar Ken und Roberta Williams bereits
1980 mit Mystery House32 (Schaubild 2) für den Apple II33 – Compu-
ter das erste Adventure Spiel, das Text und Grafik
kombinierte. Letzteres basierte auf rund 70 schwarzweissen
Zeichnungen von Roberta Williams, deren Objektkonturen ihr
Mann als Linien auf den Bildschirm übertrug. Motivisch stellte
Mystery House eine Abkehr vom gängigen Fantasy-Muster dar, in
dem das Spiel statt in einer Höhle in einem viktorianischen
Haus angesiedelt war. Das Spielziel lag darin, das Haus nach
Schätzen zu durchsuchen, ohne dabei getötet zu werden. Gemäss
Rahmengeschichte hatte der Spieler zugleich die Aufgabe, die
bisherige Mordserie im Haus zu stoppen.
Unter ästhetischen Gesichtspunkten ist Mystery House für die
Entwicklung des Adventure Spiels ebenfalls relevant, stellt es
doch eine Zwischenstufe vom Text- zum Grafikadventure dar.
Grafiken dienen hier lediglich illustrativen Zwecken. Sie
sind, für sich genommen, funktionslos. Die Textwelt von Myste- 30 Walter 2002: 23, 24. 31 Auf Basis von Aussagen, die Gorden Moore, Mitbegründer des Chipherstellers Intel, in den Sechziger Jahren traf, bildete sich in der Folgezeit das Mooresche Gesetz heraus, wonach sich die Komplexität von integrierten Schaltkreisen etwa alle 2 Jahre verdoppelt. Vgl. http://www.ti.cs.uni-frankfurt.de/lehre/ss04_wissenschaftliche_dokumentation/book/node15.html (12.6.06) 32 Mystery House lässt sich im Internet kostenlos herunterladen: http://wurb.com/if/game/150 (12.6.06) 33 Emulator des Apple IIe für Windows-basierte PCs: http://www.tomcharlesworth.pwp.blueyonder.co.uk/ (12.6.06)
11
ry House wäre ganz ohne visuelle Repräsentation spielbar und
in sich stimmig. Dies bemängelte denn auch der Infocom-
Mitbegründer Marc Blank:
Es gibt sehr wenige Grafikadventures, in denen die Grafik eine bedeutende
Rolle für die Geschichte spielt oder irgendwelche Informationen vermittelt,
die anders nicht zu fassen wären34.
Dennoch war den grafischen Adventure Spielen rasch ökonomi-
scher Erfolg beschieden. Schon 1984 setzte Sierra On-Line35
rund 2,7 Millionen Kopien vom Spiel King’s Quest I36 (Schaubild
3) ab. Es handelte sich dabei um das erste Adventure Spiel, bei
dem der Spieler seine Spielfigur auf dem Bildschirm visuali-
siert sah.37 Zugleich wusste King’s Quest I die Käuferschaft
mit 4-Bit-Farbtiefe und einer Pseudo-3D-Darstellung zu begeis-
tern – ein Ergebnis der Zusammenarbeit von Sierra On-Line mit
IBM.38 Wolf bezeichnet jene Darstellungsform, die bis heute in
sublimierter Form Verwendung findet, als benachbarte Räume
(adjacent spaces).39 Dabei kann die Spielfigur, aus einer fixen
Kameraposition heraus, einen Bildausschnitt in alle Himmels-
richtungen erkunden. Überschreitet die Figur jedoch den
onscreen space40, wechselt das Bild unverzüglich, und ein neuer
Bildausschnitt erscheint. Solche benachbarten Räume sind tech-
nisch einfacher zu realisieren als ein dreidimensionales
Bildkontinuum (scrolling space), das es in Echtzeit zu berech-
nen gilt. Gleichzeitig lassen sich die harten Schnitte
zwischen den einzelnen Bildern als dramatische Effekte nutzen,
34 Zit. nach Lischka 2002: 79. 35 Sierra On-Line wurde 1980 unter dem Namen On-Line Systems von Ken und Roberta Williams gegründet. Die Entwicklung und der Vertrieb von Mystery House erfolgten noch in ihren Privaträumen. 1982 kam es zur Namensänderung in Sierra On-Line. Die Firma zeichnete sich in der Folge für äusserst erfolgreiche Spiele-Serien wie Leisure Suit Larry, Space Quest oder Quest for Glory verantwortlich. Vgl. Kücklich 2002: 42ff. 36 http://en.wikipedia.org/wiki/King%27s_Quest_I (12.6.06) 37 Vgl. Wirsig, Christian: Das Grosse Lexikon der Computerspiele. Spiele, Firmen, Technik, Macher. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2003. S. 254 – 256. 38 Vgl. Walter 2002: 24. 39 Vgl. Wolf 2001: 59, 60. 40 Der Begriff des onscreen space entstammt den Filmwissenschaften: „Das Filmbild ist immer endlich, es unter-teilt den Raum in onscreen und offscreen space, also in den Raum, der sich im Bild befindet, und in den Raum, der sich ausserhalb des Bildes befindet.“ In: Süss 2003: 42.
12
indem ein Bildwechsel stets für „die Unsicherheit des Raumes“41
sorgt.
Bereits in der Frühphase des Grafikadventures stellt das Bemü-
hen um eine möglichst überzeugende Visualisierung eine
technische Herausforderung dar, die dramaturgische Implikatio-
nen besitzt. Das Hauptaugenmerk gilt dabei der Raumerfahrung.
Als inhärentes Merkmal von Adventure Games lässt diese den Ü-
bergang von der text- zur grafikbasierten Darstellung als
logische Konsequenz erscheinen, wie Aarseth ausführt:
Images, especially moving images, are more powerful representations of spa-
tial relations than texts, and therefore this migration from text to
graphics is natural and inevitable.42
Sowohl bei Mystery House als auch bei King’s Quest I erfolgte
die Eingabe von Befehlen über die Tastatur. Zumindest hypothe-
tisch wären somit komplexe Satz- beziehungsweise
Befehlsgebilde möglich gewesen – stets unter der Prämisse,
dass der Parser über einen entsprechend umfangreichen Wort-
schatz verfügt.
1.3. Point-And-Click-Adventures
Mit der Veröffentlichung von Maniac Mansion43 (Schaubild 4) durch
Lucasfilm 1987 verkleinerte sich der Wortschatz drastisch. Das
Befehlsset war nun auf wenige „Wortartefakte“44 wie „Nimm“ „Ge-
he zu“ oder „Was ist“ geschrumpft. Diese Komplexitätsreduktion
führte gleichsam dazu, dass redundante Antworten des Parsers
wie I don’t know the word xy vermieden werden konnten. Das
faktisch verfügbare Befehlsset wurde transparent gemacht und
konnte im grafischen Aktionsfeld45 erprobt werden. Dabei wurde
ein Befehl ausgewählt und mit einem ikonisch repräsentierten
41 Süss 2003: 45. 42 Aarseth 1997: 101, 102. 43 http://www.tentakelvilla.de/mm/mm.html (12.6.06) 44 Lischka 2002: 82. 45 Walter 2002: 200ff.
13
Objekt im Aktionsfeld verknüpft, wobei eine Befehlszeile die
jeweilig aktivierten Objekte benennt. Dies, weil nur eine be-
grenzte Anzahl an Objekten oder Figuren überhaupt
spielrelevant ist. Die grafische Oberfläche dient also zum ei-
nen als Aktionsfeld, dessen Objekte durch Selektionshandlungen
des Spielers manipulierbar sind. Zum anderen fungiert die gra-
fische Oberfläche aber auch als Ebene der Präsentation. Dem
Spieler werden die direkten oder indirekten Folgen seiner Ent-
scheidungen, seine Eingriffe in die Spielwelt, durch animierte
Sequenzen visualisiert. Hier zeigt sich bereits, dass die gra-
fische Repräsentation keineswegs mehr nur illustrativen
Charakter besitzt wie bei Mystery House, sondern konstitutiv
ist für das Spielgeschehen.
Nebst dem Befehlsset und dem grafischen Aktionsfeld verfügt
Maniac Mansion noch über zwei weitere Gestaltungsebenen: das
Inventar und das Kommunikationsfeld. Im Inventar werden die im
Verlaufe des Spiels gesammelten Gegenstände archiviert. Bei
Maniac Mansion erfolgt die Repräsentation der Gegenstände in
Worten: Wird im Aktionsfeld beispielsweise das Ikon eines
Schlüssels aufgenommen, erscheint dieser als Schlüssel unter-
halb des Befehlssets. Der Gegenstand steht nun für weitere
Befehlskombinationen zur Verfügung. Bereits Textadventures wie
Zork verfügten über ein Inventar. Dieses wurde durch den Be-
fehl inventory aktiviert.
Im Kommunikationsfeld werden Ereignisse schriftlich wiederge-
geben. Diese Vermittlungsform erinnert an Textadventures. Was
der Avatar46 beziehungsweise die NPCs47 verlautbaren, wird je-
46 Avatar stammt aus dem Hinduismus und bezeichnet dort die Inkarnation des Gottes Vishnu auf Erden. Der Begriff wird in den game studies dazu verwendet, den „Stellvertreter“ des realen Spielers im Computerspiel zu bezeichnen. Die Metapher ist insofern stimmig, als dass der Gott Vishnu, aufgrund seiner lediglich geistigen Substanz, nicht auf der Erdenwelt agieren kann und deshalb einen Stellvertreter entsendet, von dessen körperli-chem Können er abhängig ist. Spieler und digitaler Avatar gehen eine vergleichbare Schicksalsgemeinschaft ein: „So wie die Spielerin die Möglichkeit hat, als virtuelle Figur im Spiel zu erscheinen und diese Figur über den Controller zu steuern, so ist sie auch von der Figur gesteuert, denn was der Figur passiert, passiert auch der Spie-lerin“. In: Neitzel 2005: 126.
14
doch in Echtzeit ausgegeben. Das Beispiel zeigt noch einen
weiteren Aspekt der Transformation vom Text- zum Grafikadven-
ture auf: die Ausdifferenzierung in Spieler- und Avatar-
Perspektive.
„Du stehst auf einem freien Feld westlich von einem weissen
Haus, dessen Haustür mit Brettern vernagelt ist“48 – so lautet
die Exposition von Zork. Geprägt durch die Erfahrung mit
nicht-elektronischer Literatur, fällt sofort die ungewöhnliche
Erzählperspektive in der 2. Person auf, derer sich Autoren
sonst nur selten bedienen.49 Nichtsdestotrotz ist der Spieler
in der Lage, die Textwelt durch Befehlsformen wie „open door“
offenkundig zu manipulieren. Von einer Fremdbestimmtheit als
Folge der Erzählperspektive ist nichts zu spüren. Neitzel
spricht deshalb auch von einer „schizophrenen Situation der
Text-Adventures“50.
Beispielhaft hierfür ist die Interaktion zwischen Spieler und
Parser: So kann sich der perlokutionäre Akt auf den Befehl
„attack a Troll with a newspaper“ je nach Ausgabe des Parsers
verändern51. Gibt dieser eine Fehlermeldung wie „You can’t at-
tack a Troll with a newspaper“ aus, erscheint im Sinne von
Searles Sprechakt-Theorie52 der Befehl (Direktiva) rückwirkend
als ein performativer Sprechakt (Deklarativa) des Spielers.
Im Grafikadventure wird das „Du“, der imaginierte Avatar,
durch einen ikonischen ersetzt, dessen Aussagen wie auch jene
der NPCs von den Handlungen des Spielers sprechakttheoretisch
differenziert werden können. Fortan sind Zeigehandlungen die
47 NPC steht für Non-player-character – eine Figur, die sich der Steuerung durch den realen Spieler entzieht. Dennoch kann der Spieler mit NPCs interagieren. Deren Verhaltensweisen sind dabei vorprogrammiert. Vgl. Wirsig, Christian: Das Grosse Lexikon der Computerspiele. Spiele, Firmen, Technik, Macher. Berlin: Schwarz-kopf & Schwarzkopf, 2003. S. 335, 336. 48 Zork I: The Great Underground Empire, Infocom, 1981. Zit. nach Lischka 2002: 76. 49 Vor allem die Werke des französischen Nouveau Roman wie Michel Butors La modification (1957) oder deren Vorläufer wie Nathalie Sarrautes Tropismes (1938) haben sich dieser Erzählperspektive verschrieben. 50 Neitzel 2005: 129. 51 Vgl. Pias 2002: 138. 52 Searle, John Rogers: Speech acts: an essay in the philosophy of language. Cambridge: Cambridge University Press, 1970.
15
bestimmende Form der Befehlseingabe. Das hat zur Konsequenz,
dass die Anzahl und Komplexität der Befehle stark abnimmt, da
jede Handlungsoption visualisiert werden muss:
Der Gewinn grafischer gegenüber textueller, weniger speicherintensiver Rep-
räsentation war demnach durch eine schwindende Vielfalt an Möglichkeiten
teuer erkauft und führte in logischer Konsequenz automatisch zu einer zu-
nehmend narrativen Organisation.53
Wie diese narrative Organisation en détail strukturiert ist,
aber auch die Frage nach dem interaktiven Eingreifen des Spie-
lers, sollen Gegenstand nachfolgender Kapitel sein.
Im Rahmen einer diachronen Untersuchung des Adventure Spiels
ist festzuhalten, dass Maniac Mansion als Urform so genannter
Point-and-Click-Adventures54 gilt. Deren Systemvermittlung er-
folgt überwiegend grafisch, während die Befehlsform eine
deiktische ist. Der Bruch mit der Textadventure-Tradition
zeigt sich auch im bevorzugten Eingabewerkzeug. Es sind dies
die Maus55 beziehungsweise das Gamepad56 an Stelle der Tastatur.
Hierin wird die Komplexitätsreduktion gewissermassen auch tak-
til erfahrbar. Oder wie Lischka es formuliert: „Der Mausklick
wird zum universellen Ausdrucksmittel, um mit der Spielwelt zu
interagieren.“57
1.4. Transformation
Mit Maniac Mansion ist der formale Transformationsprozess hin
zur geschlossenen visuellen Repräsentation keineswegs abge-
schlossen. Während im Textadventure die vier genannten
Gestaltungsbereiche (Aktionsfeld, Befehlsset, Inventar, Kommu-
nikationsfeld) in einer medialen Ebene zusammenfallen, 53 In: Furtwängler 2000: 389. 54 Der Begriff verweist eigentlich auf eine Spielstrategie, die darin liegt, das Aktionsfeld zu sondieren, um schliesslich das gewünschte Objekt zu aktivieren. Walter spricht in diesem Zusammenhang auch vom Spielprin-zip „Suchen-Finden-Sammeln“. Vgl. Walter 2002: 277. 55 Zur Geschichte der Maus als Eingabewerkzeug: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/2/2440/1.html (12.6.06) 56 Vgl. Joysticks. Eine illustrierte Geschichte der Game-Controller 1972 – 2004. Hrsg. von Winnie Forster. Ut-ting: TAKE2interactive, 2004. 57 Lischka 2002: 82.
16
differenzieren sich diese im frühen Point-and-Click-Adventure
aus, um letztlich in ein einziges, immersives Aktionsfeld ü-
berführt zu werden.
Exemplarisch hierfür ist Monkey Island58 von Spielentwickler
Ron Gilbert59, der bereits bei Maniac Mansion mitwirkte. Die
Tetralogie unterwirft sich im Titel einer räumlichen Nomenkla-
tur: Island. Die insulare Raumkonstitution ist ungemein
beliebt bei Adventure Spielen. Deren wohl bekannteste Insel
ist Myst. Der gleichnamigen Titel aus dem Jahre 1993 gehört
mit 9 Millionen verkauften Kopien zu den erfolgreichsten Com-
puterspielen überhaupt.60 Dass Entwickler auf die Insel als
Raummodell zurückgreifen, leuchtet ein:
Da durch die Abgeschlossenheit und Übersichtlichkeit Komplexität reduziert
wird, kommt dies einem Ordnungsprinzip gleich.61
Rein funktional betrachtet besteht denn auch kein Unterschied
zwischen dem Bedquilt Cave von Adventure und Monkey Island. Die
Spielserie um den Möchtegern-Piraten Guybrush Threepwood und
dessen Gegenspieler, den Piratengeist Le Chuck, erstreckt sich
über einen Veröffentlichungszeitraum von insgesamt 10 Jahren.
So erschien 1990 Monkey Island I: The Secret of Monkey Island.
Der vorerst letzte Teil, Monkey Island IV: Flucht von Monkey
Island, kam im Jahre 2000 auf den Markt. Vergleicht man den
Gestaltungsbereich der beiden Spiele lassen sich markante Ver-
änderung ausmachen.
Zunächst fallen die audiovisuellen Umwälzungen ins Gewicht. So
ist die Textausgabe im Kommunikationsfeld einer Sprachausgabe
gewichen, bei der menschliche Schauspieler dem Avatar sowie
den NPCs ihre Stimme leihen. Grafisch ist die Pseudo-3D-
58 Vgl. http://www.worldofmi.com/ (12.6.06) 59 Vgl. Wirsig, Christian: Das Grosse Lexikon der Computerspiele. Spiele, Firmen, Technik, Macher. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2003. S. 191. 60 Vgl. Kocher 1999: 41ff. u. http://de.wikipedia.org/wiki/Myst (12.6.06) 61 In: Süss 2003: 43.
17
Darstellung einer in Echtzeit berechneten gewichen. Diese Un-
terscheidung ist insofern relevant, als sich darin das Bemühen
um Räumlichkeit veranschaulichen lässt. Seit King’s Quest I
finden sich in Adventure Spielen nämlich „methods of 3D-
faking“62. Die wohl einfachste Methode liegt darin, die Grösse
der Gegenstände und Figuren ihrer vermeintlichen Distanz anzu-
passen: Kleine Objekte liegen in der Ferne, grosse sind nah –
so die simple Formel. Eine weitere Möglichkeit sind perspekti-
vische Hintergrundbilder, die dem Figurenpersonal als Bühne
dienen – vergleichbar mit einer Comiczeichnung: Dadurch wird
räumliche Tiefe erzeugt, ohne dass die 3D-Bilder in Echtzeit
berechnet werden müssen.
Daneben ist eine bildästhetische Angleichung und Auflösung des
sichtbaren Interface zu erkennen. So wurde die Benutzerführung
transparent gemacht. Sowohl das Befehlsset mit seinen „Wortar-
tefakten“ als auch das permanent sichtbare Inventar sind
verschwunden: Waren die gesammelten Gegenstände in Maniac Man-
sion noch als Worte abgelegt, sind sie in Monkey I bereits
ikonisch repräsentiert. In Monkey Island IV schliesslich ist
der Zugriff auf das grafische Inventar nur noch mittels Tas-
tenkombination möglich. Dies gilt ebenso für das Befehlsset,
das auf Benutze, Aufnehmen und Anwenden geschrumpft ist. Auch
das Kommunikationsfeld ist ob der Sprachausgabe hinfällig ge-
worden. Die Textausgabe steht lediglich optional zur
Verfügung.
Die ist diese Transformation der Ausgabefläche innerhalb von
nur zehn Jahren zu deuten? Zum einen führt der Schwund der Be-
fehlsstruktur zu einer vereinfachten Bedienung. Die
Entscheidungskomplexität nahm ab und Fehlmanipulationen im Ak-
tionsfeld, welche der Parser mit Antworten wie „Ich glaube,
das sollte ich nicht tun“ quittierte, konnten vermindert wer-
den. Dies reduzierte insgesamt das Frustrationspotential beim
62 In: Wolf 2001: 72ff.
18
Spielen. Damit wird der Zugang zum Computerspiel niederschwel-
liger und die Akzeptanz breitenwirksam erhöht.
Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Balance von Erzählung
und Spiel: So werden die ludischen Gestaltungsebenen wie In-
ventar oder Befehlsset zurückgebunden. In den „grafisch
zweidimensionalen Computerspielen“ war das Interface „mit sei-
ner Verbenliste und seinem Inventar ein stets präsenter und
doch unerwünschter Teil der Bildgestaltung“63. Demgegenüber
werden nun die „narrativen Konsequenzen der Selektionshand-
lung, die im Aktionsfeld dargestellt werden“64 dominant. Das
spielerische Element tritt zugunsten narrativer Darstellungs-
muster zurück.
1.5. Zusammenfassung
Der Versuch einer historischen Verortung hat zum einen deut-
lich gemacht, wie stark technische Veränderungen Adventure
Spiele in ihrem formalen Äusseren beeinflusst haben. Gleich-
zeitig muss der Wandel der Informationsausgabe stets auch als
Widerstreit strukturell konstanter Elemente verstanden werden:
Zum einen erzählen Adventure Spiele Geschichten, seien dies
nun basale narrative Muster wie Rätsel lösen, Feinde besiegen
oder kohärente dramatische Handlungsstränge. Zum anderen er-
lauben sie eine aktive Beteiligung des Spielers. Dieser
steuert mit seinen Befehlen den Textraum oder bewegt mit sei-
nen Mausklicks den Avatar durch die Grafikwelt. Die Eigenart
von Adventure Spielen liegt also in der Verbindung von Spiel
und Narration als Raumerfahrung.
63 In: Furtwängler 2001: 391. 64 In: Walter 2002: 204.
19
2. Definitionen
Bevor Adventure Spiele in Abgrenzung zu anderen Genres typolo-
gisiert werden können, sind tragfähige Begriffsbestimmungen zu
bilden.
2.1. Medium
Wie bereits angeführt, stellen Adventure Spiele Programme dar,
die auf einem digitalen Rechner ausgegeben werden. Computer-
spiele unterscheiden sich demzufolge in ihrer Materialität
nicht von anderen softwarebasierten Anwendungen wie Tabellen-
kalkulationen, Textverarbeitung und dergleichen. Die
Produktionsverfahren sind identisch: Struktur und Ablauf wer-
den durch eine Programmiersprache vorgegeben. Dabei wird das
Programm in einen binären Code kompiliert und als Stromimpuls
im Prozessor verarbeitet.
Diese Sichtweise führt dazu, „[…] nicht die Computerspiele als
Medium zu betrachten, sondern den Computer, analog etwa dem
Fernsehen, das unterschiedliche Programme (also Medienangebo-
te) beinhaltet, die jedoch für sich genommen nicht das Medium
Fernsehen ausmachen.“65
Ohne an dieser Stelle einen umfassenden Medienbegriff herzu-
leiten, sei darauf hingewiesen, dass Medien eben nicht nur
Verfahren zur Speicherung und Verarbeitung von Informationen,
zur räumlichen und zeitlichen Übertragung von Daten sind.
Vielmehr gewinnen sie „[…] ihren Status gerade dadurch, dass
sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, je-
weils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und
sind.“66 Dies gilt insbesondere für das Medium Computer, wel-
ches Repräsentationsformen (Theater, Film), Techniken
(Buchdruck, Fernmeldewesen) und Symboliken (Schrift, Bild) in-
65 Neitzel 2004: 495. 66 In: Engel, Lorenz u. Vogl, Joseph: „Vorwort“. In: Kursbuch Medienkultur: Die massgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Hrsg. von Claus Pias [et al.] Stuttgart: DVA, 1999. S. 10.
20
korporiert und remediatisiert67, um einen Begriff der Medien-
theoretiker Jay Bolter und Richard Grusin zu gebrauchen.
Die Remediatisierung deformiert (nicht in einem pejorativen
Sinne verstanden) die inkorporierten Medien, in dem sie diese
unter die Bedingungen des Trägermediums stellt. Dabei handelt
es sich nicht um eine blosse Transposition medialer Formen in
ein anderes Medium. Vielmehr kommt es zu komplexen Prozessen
der gegenseitigen Assimilation und Dissimilation68.
So haben elektronische Editionen mit ihrer Möglichkeit zur
Volltext-Suche den Umgang mit literarischen Werken nachhaltig
verändert: Die Datenbeschaffung, beispielsweise für grammati-
sche Studien oder motivische Analysen, wurde vereinfacht und
beschleunigt. Gleichzeitig präformiert die Verfügbarkeit einer
Datenbank auch den Leseprozess der gedruckten Ausgabe – mnemo-
technische Exerzitien erübrigen sich. Wie die Beispiele
zeigen, konstituiert sich der hybride Status69 des Computers in
seinen Anwendungen, seien dies nun Goethes Gesammelte Werke
als CD-ROM Ausgabe der Digitalen Bibliothek70 oder der First-
Person-Shooter Half Life 271 auf DVD.
2.2. Hybridität und Simulation
In Bezug auf Computerspiele sind hybride Phänomene gleich un-
ter mehreren Aspekten auszumachen: Zunächst stellen
Computerspiele eine Fundgrube für Medienzitate72 dar. Ohne die-
sen Aspekt vertieft zu analysieren, fördert bereits die
67Definition der Remediatisierung: „We call the representation of one medium in another remediation.” In: Bolter, Jay u. Grusin, Richard: Remediation: understanding new media. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1998. S. 45. 68 Kücklich 2002: 95ff. 69 “[…] the computer is a hybrid medium that integrates various forms and other media and in so doing dissolves distinctions between them. Digital memory and processing mechanisms allow the computer to adapt almost unlimited surfaces for equally innumerable functions, as well as to integrate and chance the structures of other medias.” In: Neitzel 2005: 227, 228. 70 http://www.digitale-bibliothek.de/ (12.6.06) 71 http://half-life2.com/ (12.6.06) 72 Vgl. Abschnitt „Computerspiele als ein Beispiel für hybride Medien“ In: Wenz, Karin: Computerspiele und Kulturwissenschaft. http://parapluie.de/archiv/cyberkultur/computerspiele/ (12.6.2006)
21
Stichprobe von wenigen, ausgewählten Spielen [Fahrenheit,
Grand Theft Auto: San Andreas (GTA), Project Zero II] eine
Fülle von Referenzen zutage: So werden Medientechniken (Tele-
fonieren - GTA, Zeitung lesen - Fahrenheit, Fotografieren -
Project Zero) spielerisch adaptiert. Zugleich werden ausge-
wählte Repräsentationsformen simuliert: Sowohl in ihrer
Materialität (analoger Fotoapparat mit Magnesiumpulver-Blitz -
Projekt Zero73) als auch in ihrer medialen Ästhetik (cineasti-
sches Split-Screen-Verfahren - Fahrenheit74).
Die Lust am Zitieren gipfelt in der Remediatisierung des Com-
puters (computergestützte Datenbank-Recherchen, Internet und
E-Mail-Nutzung: Fahrenheit75) sowie jener von Computerspielen
(Besuch einer Spielhalle und Spielen von klassischen arcade
games - GTA). Selbstreferentialität fungiert hier sozusagen
als letzte Stufe medialer Inkorporierung.
Die auffallende Affinität, Medien zu zitieren, lässt sich mit
der Zeichenstruktur von Computerspielen erklären. Während Lit-
eratur und darstellende Künste wie Film oder Theater die
Wirklichkeit mimetisch interpretieren, simulieren Computer-
spiele diese:
To simulate is to model a (source) system through a different system which
maintains (for somebody) some of the behaviours of the original system.76
Im Prozess der Remediatisierung bilden Computerspiele inkorpo-
rierte Medien nicht bloss audiovisuell ab, sondern sie
implementieren auch deren Verhaltensmodelle in stark verein-
fachter Weise: Klingelt im Film ein Telefon, ist die
Darstellung für den Zuschauer erschöpfend. Klingelt im Compu-
terspiel das Telefon, wurde diesem Objekt ein Verhaltensmodell
implementiert, das vom Spieler spezifische Handlungen einfor-
dert:
73 Vgl. Schaubild 5 74 Vgl. Schaubild 6 75 Vgl. Schaubild 7 76 In: Frasca 2003: 223.
22
This model reacts to certain stimuli (input data, pushing buttons, joystick
movements), according to a set of conditions.77
Um Simulationen zu generieren, müssen sowohl Interrelationen
zwischen einzelnen Elementen bedacht als auch Aussagen über
künftige Zustandsänderungen getroffen werden78. Dies gilt
selbstverständlich nicht nur für inkorporierte Medien, sondern
für sämtliche manipulierbaren Objekten der Spielwelt. Es ist
jedoch von Vorteil, wenn der Spieler mit dem source system in
irgendeiner Weise vertraut ist – dahingehend scheinen Medien
als Simulationsobjekte prädestiniert zu sein. Der Umgang mit
ihnen ist Allgemeingut.
Computerspiele als Simulationen zu verstehen, darf indes nicht
mit Baudrillard79 gedacht werden: Es soll hier nicht das Theo-
rem vom Verschwinden des Realen, einer Auflösung der
Wirklichkeit zugunsten wahrerer Simulakren insinuiert werden,
die der französische Philosoph als Blendwerke und Trugbilder
geisselt. Im Zentrum stehen vielmehr die konkreten Erfah-
rungswerte beim Spielen selbst:
As the actual experience of reading computer games should remind us, such
terminology [jene von Baudrillard - S.M.] does not always survive its
transportation to the specifics of that experience.”80
Atkins spricht denn auch von einem audiovisuellen Realismus,
den Computerspiele erzeugen, und nicht von einer simulierenden
Halluzination oder gar der Realität. Die Fähigkeit, Realität
und Fiktion voneinander zu unterscheiden, vermindern Computer-
spiele gerade eben nicht. Der Spieler ist kein Opfer einer
baudriallardschen Hyperrealität, sondern ein selbstverantwor-
tetes Wesen:
77 Ebd. 78 Vgl. Kücklich 2002: 64. 79 Vgl. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen; aus dem Franz. übers. von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer. Berlin: Merve, 1978. 80 In: Atkins 2003: 15.
23
The players stay “in” the game-world not because they have confused it with
the real, but because its very “unreality” is attractive.81
Die Hybridität von Computerspielen findet indes nicht nur in
simulativen Medienzitaten ihren Ausdruck. Ohne der nachfolgen-
den Genre-Typologie vorgreifen zu wollen, ist festzuhalten,
dass Vertreter einer einzelnen Spielgattung selten geworden
sind.82 Vielmehr ist eine Multimodalität83 moderner Computer-
spiele zu beobachten, die den Simulationsgedanken bestärkt: So
simuliert beispielsweise Grand Theft Auto: San Andreas eine
fiktive, südkalifornische Grosstadt (Schaubild 8), in deren urba-
ner Architektur Minigames angelegt sind: Nebst dem Beispiel
der arcade games in der Spielhalle besteht in GTA unter ande-
rem die Möglichkeit, Basketball oder Billard zu spielen,
Autorennen zu fahren oder im Kasino zu wetten.
Ist GTA deshalb als Glücks-, Sport- oder Rennspiel zu typolo-
gisieren? Dies gilt es zu verneinen. Trennscharfem Genredenken
erteilen solche Computerspiele eine Abfuhr. Die einzelnen Mi-
nigames sind vielmehr als Bestandteile einer Simulation zu
verstehen, die im wahrsten Sinne des Wortes Spielräume eröff-
net. Zugleich verknüpfen sich mit solch hybriden, multimodalen
Spielen handfeste ökonomische Interessen. Denn internalisieren
Computerspiele mehrere Genres, vermag das Produkt den Kreis
potentieller Käufer zu erweitern, indem gleichzeitig ganz un-
terschiedliche Spielertypen angesprochen werden84.
Der dritte Gesichtspunkt, unter dem Computerspiele als hybride
Phänomene zu betrachten sind, knüpft an den Befund der dia-
chronen Analyse an. Diese besagt, dass Adventure Spiele
Narration und Spiel als Raumerfahrung verbinden. Demzufolge
sind Adventure Spiele auch in einem wörtlichen Sinne hybrid,
81 Ebd. 142. 82 Vgl. Gunzenhäuser 2003a: 60. 83 Vgl. Aarseth 2004: 363, 364. 84 Keitel 2003: 18.
24
nämlich von zweierlei Herkunft85. Beiden Elementen trägt die
vorliegende Arbeit deshalb mit je einem Kapitel Rechnung, wo-
bei sie schwergewichtig mit den Mitteln der Erzählforschung
arbeitet.
2.3. Interaktivität
Vorderhand ist jedoch weitere Begriffsarbeit zu leisten: Folgt
man Furtwänglers Argumentation in seinem luziden Aufsatz A
crossword at war with a narrative86, so repräsentiert Interak-
tivität das konstitutive Prinzip von Computerspielen
schlechthin. Sowohl Frühformen elektronischer Spiele wie Pong87
als auch Klassiker wie Tetris88 sind interaktiv, während beide
Beispiele auf narrative Elemente gänzlich verzichten. Bezogen
auf die Adventure Spiele ist Interaktivität demnach der ludi-
schen Seite, dem eigentlichen Spiel zu zurechnen. Doch was ist
unter dem schillernden Begriff Interaktivität überhaupt zu
verstehen?
Folgt man der neueren Fachliteratur zum Thema, ist eine dezi-
dierte Zurückhaltung gegenüber dem Terminus auszumachen. Die
interactive fiction-Euphorie der frühen Neunziger Jahre um
Theoretiker wie George P. Landow89, die in einfachen Klickhand-
lungen den wreader90 am Werk sahen, scheint verflogen zu sein.
Demgegenüber wird ein vager und um sich greifender Gebrauch
eines Begriffs91 beklagt, der im Kern wenig verstanden sei92. In
Abgrenzung zu den technologieverliebten Hypertext-Apologeten
wird vermehrt der Ursprung von Interaktivität als mündlicher
Dialog betont:
85 http://de.wikipedia.org/wiki/Hybrid (12.6.06) 86 Furtwängler 2000: 372ff. 87 Zur Geschichte von Pong: http://www.pong-story.com/ (12.6.06); Pong als Online-Adaption: http://www.zumzum.net/pong/ (12.6.06) 88 http://de.wikipedia.org/wiki/Tetris (12.6.06) 89 Landow, George P.: Hypertext: The Convergence of Contemporary Literary Theory and Technology. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2002. 90 Ein Begriff, der sich aus den Worten reader und writer zusammensetzt und die Autorschaft des Lesers meint. 91 Murray 1997: 128. 92 Crawford 2003: 262.
25
A good conversation provides the ideal example of rich interactivity93.
Die problematische Begriffsgeschichte hat denn auch einzelne
Forscher dazu bewogen, eigene Terminologien zu entwickeln.
Diese sind insofern relevant, als dass sie die bestehenden In-
teraktivitätskonzepte nicht ersetzen, sondern diese ergänzen.
2.3.1. Agency
Da ist zunächst Janet Murrays Agency-Konzept anzuführen. In
der Tradition von Roland Barthes Die Lust am Text94 postuliert
die Literaturwissenschaftlerin das Vergnügen, elektronisch er-
zeugte Welten beeinflussen zu können:
Agency is the satisfying power to take meaningful action and see the re-
sults of our decisions and choices.95
Diese befriedigende Handlungsmacht grenzt sie vom numerisch-
mechanistischen Interaktivitätsbegriff der Frequenz ab, wel-
cher die Anzahl Eingriffe misst und daraus qualitative
Schlüsse zieht. Demgegenüber bevorzugt Agency Kriterien wie
Bedeutsamkeit (significance) oder Reichweite der Einflussnahme
sowie verfügbare Wahlmöglichkeiten. Murrays Konzept wurzelt in
Brenda Laurels Begriff der interactive significance als Mass-
stab für den Einfluss, den der Benutzer mit seinen Handlungen
und Entscheidungen auf die interaktive Erfahrung im Gesamten
hat – „[…] the result of collaboration between user and sys-
tem.“96 Kocher hat die obigen Interaktivitätskriterien gezielt
auf Adventure Spiele angewandt und attestiert diesen tenden-
ziell eine eher geringe Einflussnahme97. So ist die Frequenz
beziehungsweise die Interaktivitätshäufigkeit minimal. Poten-
tiell bestünde zwar permanent die Möglichkeit zur
Einflussnahme, aber diese ist spielimmanent nicht motiviert,
93 Ebd. 94 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996. 95 Murray 1997: 126. 96 In: Laurel, Brenda: Interface as Mimesis. In: User Centered System Design. New Perspectives on Human-Computer Interaction. Hrsg. von. Stephen W. Draper [et al..]. Hillsdale: Lawrence Erlbaum, 1986. S. 78. 97 Vgl. Kocher 2005.
26
sprich der Spieler sieht keinen Anlass für Klickhandlungen.
Das steht ganz im Gegensatz zu reinen Actionspielen, wo der
Überlebensgedanke die Frequenz erzwingt. Die Reichweite bei
Adventure Spielen ist aufgrund „der Kombinationsmöglichkeiten
von inventarisierten Gegenständen, Befehlen und Spielfiguren“98
zwar relativ hoch, oftmals jedoch restringiert durch Spiel-
strukturen, die nur eine Lösungsmöglichkeit vorsehen. So fällt
die Einflussnahme der Spielerin objektiv letztlich gering aus:
Die Spielerin spürt auf festgelegten Pfaden einer vorgefertigten Geschichte
nach und passiert die fixen Rätselknoten, die an narrativen Schlüsselszenen
angelegt sind.99
Zurück zu Murrays Agency-Konzept, das weiter den Versuch dar-
stellt, die Lust am Spiel zu erfassen – ein Unterfangen, dem
die game studies bis dato wenig Beachtung schenken. Statt den
simulativen Reiz zu ergründen, greift ein Formalismus um sich,
der den Gegenstand aus den Augen zu verlieren droht. Dies, ob-
wohl Computerspiele in ihrem ontologischen Status als
Simulationen eine aktive, partizipierende Analyse einfordern.
Ansonsten drohen kapitale Fehlschlüsse:
To an external observer, the sequence of signs produced by both the film
and the simulation could look exactly the same.100
Daraus zieht Frasca den Schluss: “[…] simulation cannot be un-
derstood just through its output.”101 Die Analyse muss also
eine teilnehmende sein, und kann nicht in der Retrospektion
liegen.
Die Lust am Spiel manifestiert sich für Murray letztlich in
der zweckfreien Raumerkundung:
98 Ebd. 99 Ebd. 100 Frasca 2003: 224. 101 Ebd.
27
The ability to move through virtual landscapes can be pleasurable in it-
self, independent of the content of the spaces.102
Ein Gedanke, den auch Manovich in The Language of New Media
aufgreift und Exploration als selbstgenügsames Ziel und als
Wert an sich deklariert103. Dahinter steht letztlich das Bemü-
hen, die Spielwelt vom binären win-lose-Gedanken zu
emanzipieren und weitere Intentionen zu etablieren.
Neben der zweckfreien Raumerkundung stellt sich Agency auch
dann ein, wenn der Spieler Rätsel lösen muss, die dergestalt
implementiert wurden, dass sie den Eindruck erwecken, die
Handlung voranzubringen beziehungsweise den Raum zu entfal-
ten104. Mit Agency verfolgt Murray also einen Ansatz, der in
erster Linie die Einstellung des Spielers reflektiert.
2.3.2. Ergodizität
Einen textorientierten Weg schlägt dagegen Aarseth mit seinem
ergodic-Konzept ein, einer Entlehnung aus den Naturwissen-
schaften. Ergodizität bezeichnet in der Physik Systeme, deren
Prozesse chaotisch sind. Paradoxerweise macht sie diese Zufäl-
ligkeit mit Hilfe von statistischen Methoden wieder
vorhersagbar. Dieser Umstand trifft indes für Computerspiele
gerade nicht zu, „unterliegen diese doch einer hochgradigen
Lenkung der Aufmerksamkeit des Spielers und bestehen aus
geskripteten Sequenzen und ähnlich unchaotischen Strukturen
ohne erkennbares Gewicht des Zufalls, […].“105 Vielmehr wohnt
Computerspielen eine Regelhaftigkeit inne, die bei ergodischen
Systemen in der Physik erst statistisch ermittelt werden muss.
Aarseths Ergodizitätsbegriff lässt demnach keine naturwissen-
schaftliche Lesart zu, sondern lediglich eine etymologische.
Setzt sich der Terminus ergodisch doch aus den altgriechischen
102 Murray 1997: 127. 103 Vgl. Manovich 2001: 247. 104 Vgl. Abschnitte The Story in the Maze und The Journey Story and the Pleasure of Problem Solving In: Murray 1997: 130ff. u. 137ff. 105 Vgl. Furtwängler 2005: Abschnitt III.
28
Wörtern érgon für Arbeit und ódos für Weg zusammen. Darauf
basiert letztlich seine Definition:
In ergodic literature, nontrivial effort is required to traverse the
text.106
Als Metapher des Durchquerens tritt hier erneut die räumliche
Dimension zu Tage. Allerdings ist ergodische Literatur in Aar-
seths Verständnis keineswegs nur eine elektronische. Vielmehr
reicht diese von den 5000-jährigen Hexagrammen des I Ging107
über Raymond Queneaus kombinatorische Sonetten Cent Mille Mil-
liards de Poèmes108 bis hin zu Textadventures wie Zork.
Was alle Beispiele eint, ist die Hervorbringung ihrer semioti-
schen Sequenzen109. Ihr Erscheinen wird bei jedem Gebrauch neu
ausgehandelt und bestimmt. Dazu wirkt der Leser beziehungswei-
se der Spieler in einem extranoematischen Sinne auf den Text
ein. Mit Aarseths Neologismus extranoematic werden Vorgänge
bezeichnet, die sich ausserhalb des menschlichen Geistes ab-
spielen. Darunter lassen sich Mausklicks, Texteingaben und
weitere nicht-triviale Einflussnahmen subsumieren. Nicht-
ergodische Literatur kennt dagegen nur banale Handlungen, die
sich auf das Bewegen der Augen beziehungsweise auf das Umblät-
tern einer gelesenen Seite beschränken. Ergodische Werke wie
Adventure Spiele fordern demgegenüber vom Benutzer physische
Intervention ein110. Dies verändert die mentalen Prozesse und
gestaltet den Lesevorgang neu.
So instrumentalisiert die konfigurativ-gestalterische Absicht
das interpretative Interesse am Text – im Unterschied zu
nicht-ergodischer Literatur, bei der Interpretation stets als
Selbstzweck fungiert:
106 In: Aarseth 1997: 1. 107 Vgl. I Ging. Jena: Eugen Diederichs, 1924. 108 Vgl Queneau, Raymond: Cent mille milliards de poèmes. Paris: Gallimard, 1993. 109 Vgl. Abschnitt Some Examples of Ergodic Literature In: Aarseth 1997: 1 – 24. 110 Ebd. 4
29
We have to interpret in games, but we do so in order to configure, in order
to proceed from the beginning to the winning or some other situation.111
Interpretation ist in Computerspielen demnach ein Mittel zum
Zweck und der konfigurativen Intervention beziehungsweise der
extranoematischen Klickhandlung vorgeschaltet112.
Vergleicht man nun Furtwänglers Definition von Interaktivität
mit Aarseths Ergodizität zeigen sich, abseits aller terminolo-
gischen Differenzen, auffallende Gemeinsamkeiten:
Letztere [Interaktivität – S.M.] soll im Folgenden verstanden werden als
eine steuernde, manipulierende Aktion des Handelnden (Spielers/Benutzers)
zur Einflussnahme auf ein dynamisches, medial vermitteltes System, inklusi-
ve einer damit verbundenen Rückkopplung.113
Darin findet sich die konfigurative Intervention als manipu-
lierende Aktion des Handelnden ebenso wieder wie der
ergodische Text als dynamisches, medial vermitteltes System,
wobei die Rückkopplung elektronischen Texten oder Computer-
spielen vorbehalten scheint.
Furtwängler tendiert denn auch dazu, die beiden Begriffe syn-
onym zu setzen oder zumindest „eine starke
Verwandschaftsbindung zwischen ergodisch und interaktiv“114 zu
sehen. Letzteres ist vorzuziehen. Folgt man nämlich der Text-
typologie von Marie-Laure Ryan, lassen sich Interaktion und
Ergodizität115 sehr wohl unterscheiden.
2.3.3. Typologie
Vorgängig ist indes der ontologische Status dieses „überstra-
pazierten Begriffs“116 zu klären: Interaktivität wird sowohl
vom Medium erzeugt als wohnt es dem jeweiligen Werk auch inne.
Bezogen auf Adventure Spiele wären dies das Medium Computer
111 In: Eskelinen 2003: 199. 112 Vgl. Juul 2005: 224. 113 In: Furtwängler 2001: 375. 114 Ebd. 377. 115 Vgl. Kapitel Interactivity In: Ryan 2001a: 204ff. 116 In: Furtwängler 2001: 377.
30
sowie das jeweilige Programm, die Software. Auch bildet Inter-
aktivität keine feste Grösse, sondern stellt ein Kontinuum,
auf Grundlage von zwei Parametern, dar: dem Grad der Freiheit
für den Benutzer und dem Grad der Intentionalität seiner In-
terventionen. Daraus leiten sich zwei Formen von
Interaktivität ab, die selektive und die produktive. Beim se-
lektiven Typus kann der Spieler zwar in die Spielwelt
eingreifen und diese beeinflussen, aber er kann die Konsequen-
zen seiner Entscheidungen nicht abschätzen. Der Zweck
selektiver Interaktivität scheint ein eng begrenzter zu sein:
“[…] the purpose of interactivity is to keep the textual ma-
chine running so that the text may unfold its potential and
actualize its virtuality.”117 Die selektive Interaktivität ent-
spricht somit in ihrer Binarität einem ludischen win-lose-
Schema: Die oberste Maxime ist das „Im Spiel Bleiben“ ohne
prospektive Elemente. Als „the fullest type of interactivity“
bezeichnet Ryan dagegen die produktive:
The user’s involvement is a productive action that leaves a durable mark on
the textual world either by adding objects to its landscape or by writing
its history.118
Wendet man die Unterscheidung in selektive und produktive In-
teraktivität auf Computerspiele an, erweist sich diese als
untauglich. Denn was Ryan mit writing its history bezeichnet,
ist nichts anderes als der Versuch des Spielers, im Spiel zu
bleiben und damit die Geschichte seines Avatars fortschreiben
zu können. Dies gilt insbesondere für Adventure Spiele. Wie
Kocher gezeigt hat, ist deren interaktive Reichweite be-
schränkt. Kann der Spieler ein Rätsel nicht lösen, das für den
Fortgang der Geschichte konstitutiv ist, stoppt diese.
Auch der zweite produktive Eingriff in die Spielwelt, adding
objects to its landscape, ist nicht distinktiv: Meint Ryan da-
mit programmiertechnische Eingriffe auf Codeebene oder
117 In: Ryan 2001a: 205. 118 Ebd. 205.
31
Manipulationen von Gegenständen in der Spielwelt? Zumindest
letztere stellen lediglich einen weiteren Versuch dar, das
Spiel fortzusetzen. Ebenso kann die vermeintlich schwache In-
teraktivität der Selektion die Spielwelt ebenso nachhaltig
beeinflussen (durable mark). Denn ob der Spieler eine von zwei
vorgegebenen Spielfiguren selektieren muss (Fahrenheit) oder
sich sozusagen produktiv einen Avatar erschaffen kann (Die
Sims119) entscheidet nicht darüber, wie dauerhaft die Spielwelt
beeinflusst wird – unabhängig davon, ob der Spieler die Konse-
quenzen seiner Entscheidung absehen kann. Produktive wie
selektive Interaktivität stellen keine distinkten Kategorien
dar. Dies zeigt sich letztlich daran, dass es Ryan selbst
nicht gelingt, Computerspiele einer der beiden Interaktivi-
tätsformen abschliessend zu zu ordnen:
[…] and computer games fall halfway between the two categories: the player
does not contribute text, but his shooting, jumping, and riddle-solving mo-
ves require more skills, and therefore involve a more active participation,
than selecting options from a finite menu.120
Im Unterschied dazu erweist sich Ryans Texttypologie als er-
giebig - insbesondere für die Unterscheidung zwischen
ergodisch und interaktiv. So zeichnet interaktive Texte, unter
technischen Gesichtspunkten, ihre reaktive Empfänglichkeit auf
die Einflussnahme des Spielers aus: „[…] the feature of accep-
ting and reacting to user input.“121
Demgegenüber wird das ergodic-Konzept insofern entsubjekti-
viert, als dass die Intervention, der non-trivial effort, vom
ergodischen Text selbst erzeugt werden kann. Hierbei generiert
er die Zeichensequenzen als feedback loops, welche in der
Fachliteratur auch als scripted events122, cut-scenes123 oder
unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten als Micronarrati-
119 Vgl. Die Sims. (Maxis / Electronic Arts, 2000) 120 Ryan 2001a: 210 121 Ebd. 207. 122 Vgl. Kücklich 2002: 170 u. Süss 2003: 42. 123 Vgl. Wenz 2005
32
ves124 bezeichnet werden. Eine konsistente Terminologie ist
nicht auszumachen. Die vorliegende Arbeit differenziert des-
halb zwischen scripted events und cut-scenes folgendermassen:
Letztere suspendieren den Spielvorgang, während erstere Inter-
ventionen des Spielers weiterhin ermöglichen.
Für scripted events finden sich in der vorliegenden Ludogra-
phie zahlreiche Beispiele: In Syberia II etwa bevölkern NPCs
die Strassen der Stadt Romansburg. Deren Erscheinen und die
limitierten Muster ihrer Bewegungen und Handlungen werden bei
jedem Spieldurchgang von neuem erzeugt und zwar ohne Zutun des
Spielers. Dies gilt ebenso für die simulierende Rahmung wie
Schneefall, Vogelgezwitscher und dergleichen, oder den Son-
nenstand und die Mondphasen in Fable, die als temporale
Effekte fungieren. Auch finden sich komplexe Mischformen wie
in GTA. Hier changieren die NPCs zwischen präformierten Abläu-
fen und einfachen actio-reactio-Mustern aufgrund
entsprechender Spieler-Interventionen. Beispielsweise, wenn
der Avatar droht, einen NPC anzurempeln, weicht dieser aus. Im
Normalfall des scripted events geht der NPC jedoch seines vor-
programmierten Weges.
Auf den Kriterien ergodisch, interaktiv sowie der materialen
Unterscheidung (elektronisch, nicht-elektronisch) fusst Ryans
Typologie: Daraus entwickelt sich ein Panoptikum möglicher
Textgattungen, das da reicht von standard literary texts über
multilineare Romane und Internet-Datenbanken bis hin zu Compu-
terspielen, welche alle drei Kriterien erfüllen. Adventure
Spiele lassen sich demzufolge als ergodisch-interaktive Texte
auf elektronischer Basis125 beschreiben.
Diesen Befund differenziert Ryan in ihrem Aufsatz Beyond Myth
and Metaphor126 weiter auf einzelne Spielgenres und Titel aus.
124 Vgl. Jenkins 2004: 125. 125 Vgl. Ryan 2001a: 210. 126 Vgl. Ryan 2001b
33
Die jeweiligen Interaktivitätsformen werden dabei mit Hilfe
von zwei Kriterien gebildet, die Aarseths umfassender Textty-
pologie127 entliehen sind und modifiziert wurden. Zunächst wäre
da die binäre Differenz zwischen explorativ und ontologisch
anzuführen.
Im explorativen Modus kann der Benutzer zwar die virtuelle
Welt erkunden, auf diese aber nicht einwirken: „[…] the user
has no impact on the destiny of the virtual world.“128 Bei-
spielhaft hierfür stehen fiktionale Hypertexte, die „begehbar“
sind; oder gewisse Erzählstrukturen in Adventure Spielen - wie
noch zu sehen sein wird.
Im ontologischen Modus dagegen bestimmt der Spieler den weite-
ren Verlauf der virtuellen Welt, in dem er entsprechende
Entscheidungen trifft:
These decisions are ontological in the sense that they determine which pos-
sible world, and consequently which story will develop from the situation
in which the choice presents itself.129
Das binäre Kriterium explorativ/ontologisch definiert die In-
teraktivitätsformen also hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur
Einflussnahme durch den Spieler.
Wie Neitzel jedoch anmerkt130, verbindet Ryan mit dem ontologi-
schen Modus zwei user functions131, die Aarseth zu
unterscheiden weiss: Da ist zunächst die konfigurative Funkti-
on, welche die Ebene der Ausgabe beeinflusst - in dem der
Spieler Entscheidungen trifft, Rätsel löst, Feinde tötet und
somit die Geschichte fortschreibt. Die textonische Funktion
verweist dagegen auf die textuelle Tiefenstruktur132, die Ebene
127 Vgl. Aarseth 1997: 62 – 65. 128 Vgl. Ryan 2001b 129 Ebd. 130 Vgl. Neitzel 2005: 239, 240. 131 Vgl. Aarseth 1997: 64. 132 Der Begriff Tiefenstruktur darf nicht als ein strukturalistisches Zeichenmodell verstanden werden - im Sinne von Jurij Lotmanns Raumsemantik oder Vladimir Propps Zaubermärchen-Morphologie. Vielmehr soll der Beg-riff auf die duale Materialität kybernetischer Zeichen verweisen, deren Verhältnis arbiträr ist. So kann der intern-kompilierte Code nur in seiner extern-expressiven Ausgabe vollständig erfasst werden und vice versa. Die mate-
34
des Programmcodes, die beim Spielen verborgen bleibt. Sie
lässt sich ebenfalls manipulieren und zwar bis zur Unkennt-
lichkeit der Vorlage:
In the most extreme instance, textonic alterations mean that a new game is
programmed.133
Das Beispiel zeigt, wie wichtig ein umfassendes Kommunikati-
onsmodell für die Analyse von Computerspielen ist – dieses
soll im Nachgang zur Begriffsklärung entwickelt werden.
Die Stellung des Spielers zur virtuellen Welt steht beim Kon-
tinuum intern/extern zur Debatte. So identifiziert sich der
Benutzer im internen Modus entweder mit dem grafisch repräsen-
tierten Avatar oder er nimmt die virtuelle Welt aus einer
first person–Perspektive wahr. Dabei wird der Avatar nicht vi-
sualisiert, sondern lediglich einzelne seiner Körperteile oder
Waffen – im Übrigen ein typisches Merkmal action-orientierter
Shooter-Spiele. Solch eine amputierte Erzählwelt bedarf einer
imaginierten Ergänzung „beyond the monitor“134; sie ist als I-
dentifikationsleistung seitens des Spielers zu verstehen. Beim
externen Modus dagegen situiert sich der Spieler ausserhalb
der virtuellen Welt – es kommt zu keinen Analogiebildungen.
Wendet man nun Furtwänglers Interaktivitätsbegriff als Blau-
pause auf die Modi intern/extern an, verliert das Kontinuum
seine kategoriale Wirkung. Genauer gesagt, es verfehlt seinen
Gegenstand. Die Modi intern/extern tragen nicht dazu bei,
„steuernde, manipulierende Aktionen des Handelnden“135 zu un-
terscheiden. Vielmehr helfen sie, komplexe
Identifikationsprozesse und Abhängigkeiten zwischen realem
Spieler und virtueller Spielwelt zu verstehen. Jene Vorgänge
riale Autorität liegt verständlicherweise beim Code, der die Basis für eine mögliche Ausgabe legt. Vgl. Aarseth 1997: 40. 133 In: Neitzel 2005: 240. 134 In: Neitzel 2005: 238. 135 In: Furtwängler 2001: 375.
35
lassen sich als Immersionseffekte subsumieren. Was darunter zu
verstehen ist, bildet demnach eine weitere definitorische Auf-
gabe, die es nachfolgend zu klären gilt.
Trotz der kategorialen Vermischung von Immersion und Interak-
tivität, bleiben mögliche Kombinationen der oben genannten
Kriterien aufschlussreich. Für Adventure Spiele sind dabei le-
diglich die internen Varianten von Bedeutung, während die
externen entweder Hypertexte (extern/explorativ) oder Simula-
tionsspiele wie Sim City136 (extern/ontologisch) beschreiben.
Dagegen erzeugen Adventure Spiele systeminhärente Identifika-
tionsangebote für Spieler:
[…] the user takes a virtual body with her into the fictional world, but
her role in this world is limited to actions that have no bearing on the
narrative events.137
In der Variante intern/explorativ sind die Aktionen des Ava-
tars für die Erzählung wirkungslos. Dieser Befund entspringt
einer dezidiert narratologischen Sichtweise. Als Beispiel
führt Ryan das Point-and-Click-Adventure Myst138 an. Dessen
explorativen Charakter begründet sie dahingehend, dass dieses
wie ein Kriminalroman strukturiert sei139. Jene Ereignisse,
welche das Geheimnis (Myst-ery) begründeten, hätten bereits
stattgefunden. Sie gehen der eigentlichen Spielhandlung zeit-
lich voraus. Zwar muss der Spieler in Echtzeit Rätsel lösen
und Gegenstände sammeln – aber stets unter der Prämisse, die
eigentliche Geschichte (histoire140) zu rekonstruieren. Ryans
Schlussfolgerung, die Interaktivität solcher Spiele sei eine
rein explorative, ist zwar folgerichtig, blendet andererseits
aber das Spielerlebnis gänzlich aus. Hierzu ein Zitat des re-
136 Sim City (Maxis / Brøderbund, 1989) 137 Vgl. Ryan 2001b 138 http://en.wikipedia.org/wiki/Myst (12.6.06) 139 Das entsprechende Strukturmodell Hidden Story wird im Kapitel 3 näher beschrieben. Siehe auch Schaubild 16. 140 Vgl. Genette 1994: 15ff.
36
nommierten Spielentwicklers Tim Schafer, der unter anderem
Monkey Island I und II mitproduzierte:
The challenge of game design is to lead the player along a predetermined
pathway without making them feel that they are being controlled141.
In der analytischen Retrospektion besitzen Adventure Spiele
wie Myst zwar explorativen Charakter, aber während dem Spielen
wird diese Einsicht vom Benutzer suspendiert zugunsten ver-
meintlich ontologischer Interaktivität: Agency, wie Murray sie
beschreibt, entfaltet sich eben nur, wenn der Spieler die De-
terminiertheit seiner Entscheidungen nicht realisiert
beziehungsweise diese Einsicht für die Spieldauer aufschiebt.
Damit hebt sich auch die Differenz zur Variante in-
tern/ontologisch auf, bei welcher der Spieler, gemäss Ryan,
den Spielverlauf aktiv fortschreibt. Prototypisch hierfür ste-
hen Actionspiele, die dem Spieler ein Gefühl von Autonomie
vermitteln und ihn aufgrund des hohen Feedbacklevels verein-
nahmen. Auf jeden Klick folgt gewissermassen die sofortige
Erfolgskontrolle.
Der Reiz solch unmittelbarer Gratifikation liefert eine mögli-
che Erklärung, weshalb reine Adventure Spiele seit den
Neunziger Jahren zusehends mit Action-Elementen angereichert
werden142. Bei unterkomplexem Simulationsaufwand wird ein hohes
Mass an Interaktivität erzeugt:
Moreover, of all human actions, none is better simulated by clicking on a
control device than pulling a trigger.143
Die viel zitierte Gewaltverherrlichung von Action- beziehungs-
weise Action-Adventure-Spielen scheint unter diesem
141 Zit. nach Jenkins 2002: 69. 142 Walter kommt in seiner diachronen Analyse von Grafikadventures zwischen 1987 und 1999 zum Schluss, dass es immer mehr „adventure-game-ähnliche Produkte“ gibt, die Mischformen darstellen zwischen klassischer Action (Reaktionsgeschwindigkeit, Auge-Hand-Koordination) und Adventure Spielen. „Reine“ Adventure Spie-le würden dagegen immer seltener produziert. Indes geht Walter davon aus, dass solche Mischformen den Niedergang des Genres Adventure Spiele nicht aufhalten können. Vielmehr nähere sich dessen Lebenszyklus seinem Ende. Vgl. Walter 2003: 43, 44. 143 Vgl. Ryan 2001b
37
Gesichtspunkt keine zu sein. Nicht die Lust am Töten steht im
Vordergrund, sondern das Vergnügen permanenter Einflussnahme.
Dabei präformiert auch das Interface mögliche Simulationsfel-
der: Etwas plakativ formuliert, eignen sich Joysticks nun mal
besser zum Manövrieren eines Apache-Kampfhelikopters als zur
zärtlichen Berührung eines geliebten NPCs.
Daraus lässt sich normativ folgern, dass dem Eingabewerkzeug
mehr Beachtung zu schenken ist. Nur dadurch kann die Spann-
breite menschlicher Erfahrungen im Computerspiel erweitert
werden. Dabei finden sich gerade im Videospielbereich einige
interessante Ansätze144, welche jeweilige Spielkonzepte be-
fruchten145.
2.4. Immersion
Wie bereits angeführt, beziehen sich die Modi intern/extern
auf die Stellung des realen Spielers zur virtuellen Welt. Der
entscheidende Begriff in diesem Zusammenhang ist Immersion.
Dieser ist gegenwärtig ähnlich inflationär und undifferenziert
im Gebrauch wie es Interaktivität in den frühen Neunziger Jah-
ren war. Eine Begriffsklärung tut also Not. Dabei zeigt sich,
dass Forscher wie Jesper Juul oder Markku Eskelinen, die einer
ludologischen Schule zu zu ordnen sind, den Begriff katego-
risch meiden146, währenddessen literaturwissenschaftliche
Ansätze wie jene von Marie-Laure Ryan oder Janet Murray der
Immersion gebührend Platz einräumen. Dies lässt sich dahinge-
hend begründen, dass ludologische Theorien wesentlich vom
Strukturalismus beeinflusst sind und daher einen werkzentrier-
ten Ansatz verfolgen, der den realen Spieler und seine
144 Die Eye-Toy–Kamera für die Videokonsole Sony Playstation 2 registriert die Körperbewegungen des realen Spielers und bindet diese in das Geschehen am Bildschirm ein. Vgl. http://www.eyetoy.com (12.6.06); Die por-table Konsole Nintendo DS verfügt über einen berührungsempfindlichen Bildschirm sowie ein Mikrofon zur Spracheingabe. Vgl. http://ds.nintendo.de (12.6.06); Die Konsolen der nächsten Generation, Nintendo Wii sowie Sony Playstation 3, werden Joypads aufweisen, welche die Körperbewegung des Spielers zu registrieren vermö-gen. http://de.wikipedia.org/wiki/Nintendo_Wii (12.6.06) 145 Stellvertretend für Spiele, die innovatives Schnittstellen-Design ausschöpfen, seien hier genannt: Trauma Center - Under the Knife (Chirurgische Eingriffe mit dem Taststift am berührungsempfindlichen Display) oder Nintendogs (Aufzucht von Hundewelpen mit Hilfe von Spracheingabe), beide für Nintendo DS. 146 Vgl. Murray 2005: 1, 2.
38
Erfahrungswelt nicht berücksichtigt. Beide Aspekte sind jedoch
für Immersionseffekte unabdingbar. Demgegenüber stehen narra-
tologische Positionen, die im realistischen Schreiben147 über
einen Bezugspunkt für Immersionseffekte verfügen148. Handelt es
sich doch, metaphorisch gesprochen, um ein Eintauchen149 (Im-
mersion), ein Versenken, das die Konstruiertheit der Medienre-
alität vergessen macht150:
[…] high realism effaced the narrator and the narrative act, penetrated the
mind of characters, transported the reader into a virtual body located on
the scene of the action, and turned her into the direct witness of events,
both mental and physical, that seemed to be telling themselves.151
Wie das Zitat deutlich macht, sind Immersionseffekte also kei-
neswegs elektronischen Medien oder gar Computerspielen
vorbehalten. Vielmehr stehen sie für eine lange kulturge-
schichtliche Tradition152, von Flauberts Madame Bovary über
Fassbinders Lili Marleen bis hin zu Toby Gards153 Lara Croft.
Auch ist die Sprache reich an Metaphern154 wie „sich in ein
Buch vertiefen“, „wie gebannt einen Film schauen“ und derglei-
chen. Dabei wird der immersive Wirkungsgrad, die Versunkenheit
in die fiktionale Welt, in einem komplexen Zusammenspiel von
Benutzer, Medium und Programm gebildet.
2.4.1. Benutzer
Zunächst zum menschlichen Faktor: Je intensiver sich der Spie-
ler seinen Avatar und dessen Handlungen zu Eigen macht, umso
stärker ist „das völlige, distanzlose Aufgehen in einer Compu-
147 Die Bezeichnung ist hier nicht als Epochenbegriff zu verstehen, sondern als literarische Praxis und Stilmerk-mal. Vgl. Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 375 – 377. 148 Vgl. Ryan 2001a: 157ff. 149 Immersion leitet sich vom lateinischen Wort immersio für Eintauchen ab, ist aber in einem metaphorischen Sinne zu verstehen, abgeleitet vom physischen Vorgang: „[…] the sensation of being surrounded by a complete-ly other reality, as different as water is from air, that takes over all our attention, our whole perceptual apparatus.“ In: Murray 1997: 98. 150 Vgl. Süss 2003: 38. 151 In: Ryan 2001b: 4. 152 Vgl. Kücklich 2002: 12. 153 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Toby_Gard (12.6.06) 154 Vgl. Ryan 2001a: 93, 94.
39
terspielwelt“155. Zwar wird häufig von einer Identifikation mit
dem Avatar gesprochen156, dies führt jedoch zu weit reichenden
Fehlschlüssen. Der Begriff impliziert nämlich, dass sich der
Spieler mit dem moralischen oder sozialen Wertesystem, das der
Avatar gleichsam verkörpert, widerspruchslos identifiziert.
Diese Schlussfolgerung ist unhaltbar: Wenn beispielsweise der
Spieler in GTA einen vorbestraften Kleinkriminellen steuert,
dann identifiziert er sich nicht mit dessen gesellschaftlich
prekärer Rolle. Vielmehr macht er sich diese zu Eigen - nicht
im Sinne einer Identifikationsleistung, sondern als Anverwand-
lung einer Handlungsposition:
The blurred term identification can better be understood here according to
George Herbert Mead’s […] definition as the adoption of a specific attitude
and position of action.157
Dieser Aneignung des Avatars geht eine aktive Bereitschaft des
Spielers voraus, sich auf die fiktionale, virtuelle Welt über-
haupt einzulassen. Der Spieler besitzt also einen
konstitutiven Anteil am immersiven Gelingen:
We do not suspend disbelief so much as we actively create belief.158
Dies ist vergleichbar mit den Als-Ob-Spielen von Kindern, die
sich vorgängig unterschiedliche Rollen imaginieren und im
Spiel darin aufgehen. Die Verbindlichkeiten der Rollen sind
indes im Spielverlauf nicht mehr verhandelbar, ansonsten droht
Immersionsverlust.
Dass der Spieler diesen zu vermeiden sucht, zeigt sich auch am
Setting159 sprich wie die räumliche Umgebung gestaltet wird.
Ziel ist die Auslöschung äusserer Sinnesreize. Meist geht dies
mit dem Abdunkeln des Raumes sowie einer frontalen Positionie-
155 In: Gunzenhäuser 2003a: 63. 156 Ebd. 63ff. sowie Ryan 2001b 157 In: Neitzel 2005: 237. 158 In: Murray 1997: 110. 159 Der Begriff stammt eigentlich aus dem Drogenjargon, der das Umfeld und die Umgebung beschreiben soll, in der man psychoaktive Substanzen zu sich nimmt. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Set_und_Setting (4.4.06)
40
rung vor dem Bildschirm einher: Der Benutzer kann ungestört in
die Spielwelt eintauchen.
Kulturgeschichtliche Anleihen hierfür finden sich beim Bühnen-
bild im italienischen Barocktheater160: Das Publikum soll das
Bühnengeschehen als möglichst echt und authentisch wahrnehmen.
Zu diesem Zweck sitzt es in einem abgedunkelten Raum, während
die frontal positionierte Bühne hell erleuchtet ist. Gerade
die scharfe Trennung im Setting befeuert die Immersion. Das
Publikum wird als Zuschauer in eine fiktionale Welt inklu-
diert:
Though spectators cannot step onto the stage, they are, fictionally, part
of the same world, just as the spectator of a perspective painting is in-
cluded in the imaginary extension of the pictorial space.161
2.4.2. Medium
Nebst dem Benutzer und seiner Umwelt ist auch das Medium be-
ziehungsweise das spezifische Werk entscheidend für den
Wirkungsgrad der Immersion. Wie sich am Beispiel literarischer
Praktiken zeigt, ist die Unterscheidung in Medium und Werk be-
deutsam: Realistisches Schreiben bemüht sich, das Interface
der Buchstaben sowie den Erzählakt transparent zu machen zu-
gunsten immersiver Angebote wie einer subjektiven
Erzählhaltung sowie innerer Monologe. Diametral demgegenüber
steht das postmoderne Schreiben, dessen selbstreflexiver Ges-
tus opak wirkt: Die materiale Substanz der Sprachsymbole wird
verhandelt162. Beispielsweise, in dem visuelle (Homographie163)
oder lautlichen Aspekte (Homophonie164) die Arbitrarität der
160 Vgl, Ryan 2001a: 299ff. 161 Ebd. 299. 162 Vgl. Derrida, Jacques: „Die différance“, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philoso-phen der Gegenwart, Stuttgart: Reclam 1990, S. 76 - 113. 163 Homographie ist ein Typus lexikalischer Mehrdeutigkeit: zwei Ausdrücke sind homograph, wenn sie in or-thographischer (und gegebenenfalls auch in phonetischer Hinsicht) übereinstimmen, aber verschiedene Aussprachen und Bedeutungen haben: Tenór vs. Ténor. Vgl. Bussmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissen-schaft. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner, 1990. S. 313. 164 Bei Homophonie handelt es sich um einen Typus lexikalischer Mehrdeutigkeit: Homophone Ausdrücke ver-fügen über identische Aussprache bei unterschiedlicher Orthographie und Bedeutung: mehr / Meer. Vgl. Ebd. S. 314, 315.
41
Sprache zum eigentlichen literarischen Gegenstand der Reflexi-
on machen165.
Die Erkenntnisse lassen sich auch auf Adventure Spiele adap-
tieren. So hat die diachrone Analyse der Spieloberfläche
gezeigt, dass ludische Elemente wie Inventar oder Befehlsset
zugunsten des narrativen Aktionsfeldes zurückgetreten sind,
wodurch die Selbstreflexivität gemindert wird. In den ludi-
schen Elementen gibt sich das Spiel als befehlgeleitetes
Regelwerk preis, stellt sozusagen seine formale Struktur offen
zur Schau. Demgegenüber generiert das narrative Aktionsfeld
Immersionsangebote durch eine audiovisuelle Narration, die
filmische Rezeptionsgewohnheiten bedient166.
Diese These wird durch den Umstand gestützt, dass sich beson-
ders in der Frühphase der Grafikadventures selbstreflexive
Elemente finden. Zu einem Zeitpunkt also, da die immersive
Kraft grafischer Aktionsfelder noch schwach ausgeprägt war.
So unterhalten sich in Sam & Max167 aus dem Jahre 1993 die
gleichnamigen Titelhelden über die Qualität des Vorspanns
(Schaubild 9). In die gleiche zeitliche Phase fällt auch eine
ausgeprägte Vorliebe für humoristische Einlagen, intertextuel-
le Bezüge168 sowie paratextuelle169 Experimente wie jenes von
Loom. So liegt dem Grafikadventure nebst einer Bedienungsan-
leitung auch eine Hörspielkassette170 bei, die dem Spieler die
Vorgeschichte erläutert und ihn so auf subtile Weise auf das
nachfolgende Spielgeschehen einstimmt.
165 Vgl. Ryan 2001c: 339. 166 Vgl. Furtwängler 2000: 391. 167 http://www.samandmax.net/ (12.6.06) 168 Das Schaubild 10 zeigt eine Dialogsequenz aus Monkey Island I, in der ein NPC einen Sticker mit der Auf-schrift „Ask Me About Loom“ an der Jacke trägt. Sobald der Spieler danach fragt, beginnt eine Werbesequenz für das Adventurespiel Loom, das ebenfalls von LucasArts entwickelt wurde und im selben Jahr wie Monkey Island I erschien. Der szenische Humor entspringt dem intertextuellen Bezug, der als krasser Fremdkörper im Geschehen wirkt und an plumpe Schleichwerbung erinnert. 169 Texte, die nicht Bestandteil des Manuskripts sind (z.B. Klappentext, Widmung, Motto, Titel, Vorwort, auch Name des Autors) aber zu diesem ein Bezugssystem bilden, einen „pragmatischen Hof“ (Genette), der die Re-zeption des Werkes wesentlich beeinflusst, ohne dass sich der Leser dessen bewusst ist. Vgl. Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 342. u. Genette, Gérard: Paratexte. Frank-furt a. M. [etc.]: Campus, 1989. 170 Die Hörspielkassette ist auch als MP3-Audiodatei erhältlich: http://www.tentakelvilla.de/download/empedrei.html (12.6.06)
42
Ohne ein ästhetisches Werturteil fällen zu wollen, stellen
diese Beispiele letztlich Kompensationsstrategien dar: Der
strukturell bedingte Mangel an immersiver Kraft und dramati-
scher Präsenz wird durch Textstrategien wie Humor oder
Selbstreflexivität wettgemacht.
Die diachrone Transformation der Oberfläche führt vor Augen,
dass das Verhältnis von ludischer Interaktion und narrativen
Elementen für jeden Titel fein austariert werden muss. Dies
bedingt für die Spielelemente eine durchdachte Steuerung und
Menüführung, die sich im bestmöglichen Fall für den Spieler
vergessen macht:
Gelingt es beispielsweise der Spielearchitektur, das Wechseln von Inventar
reibungslos zu ermöglichen, so wird dies der Immersion im Spiel förderlich
sein. Ist das Wechseln des Inventars jedoch sehr komplex und reisst die
Spielerin aus dem Spielfluss heraus, so wird dies das Gegenteil bewirken,
es sei denn, diese Komplexität wird im Spiel auch thematisiert.171
Neben der Menüführung kann auch die jeweilige raumzeitliche
Perspektive im Spiel die Immersion befördern. Dies wurde be-
reits mit den beiden Modi intern/extern ersichtlich und wird
im Kapitel zur Narration von Adventure Spielen nochmals ver-
tieft.
2.4.3. Typologie
Im Folgenden soll die Begriffsklärung um eine Typologie er-
gänzt werden. Grundlage hierfür bildet Ryans Unterscheidung in
räumliche, zeitliche und emotionale Immersion172, wobei sich
diese auf literarische Texte bezieht. Deren Tauglichkeit für
Adventure Spiele muss sich also erst noch weisen. Die räumli-
che Immersion wird dabei durch Erinnern ausgelöst. Ryan
spricht in Anlehnung an Prousts Auf der Suche nach der verlo-
171 In: Süss 2003: 38. 172 Ryan 2001c: 337ff.
43
renen Zeit von einem Madeleine-Effekt173, der sich beim Leser
einstellt und ihn zum Verweilen in der Textwelt einlädt.
Die Adaption auf Computerspiele gestaltet sich indes schwie-
rig. Ein Anknüpfungspunkt bildet Roland Barthes Begriff des
Wirklichkeitseffekts (L’effet du réel174), auf den Ryan Bezug
nimmt und der das Verweilen in der Textwelt mitbestimmt, in
dem der Erzähler detaillierte Raumbeschreibungen und nicht-
sprachliche Vorgänge schildert. Diese sind unter funktionalen
Gesichtspunkten redundant, bringen die Handlung also nicht
voran, erzeugen aber gerade durch ihre Redundanz einen Ein-
druck von Wirklichkeit.
Bezieht man Barthes L’effet du réel auf Computerspiele, lassen
sich sämtliche audiovisuellen Simulationsbemühungen darunter
subsumieren – auch die bereits aufgeführten scripted events.
Allesamt bilden sie ein immersives Ensemble, das sowohl für
die Spiel- wie auch für die Erzählstrukturen funktionslos
bleibt aber der Raumerfahrung zuträglich ist. Gerade die Bil-
derwelten der Computerspiele erweisen sich dabei als
vorteilhaft für räumliche Immersion: „[…] the spatial variety
evidently has the most to gain from the built-in spatiality of
pictures.”175
Die temporale Immersion lässt sich im Sinne Ryans als eine
narrative Spannung (suspense) verstehen. Es handelt sich um
das Verlangen des Lesers zu erfahren, was als Nächstes pas-
siert. Im Gegensatz zum literarischen Text, in dem der Leser
im besten Fall sein Lesetempo beschleunigen kann, um der in-
haltlichen Auflösung näher zu kommen, ist die Narration beim
Adventure Spiel an den Spielakt selbst geknüpft. Das Gefühl
des Ausgeliefertseins gegenüber dem Fortgang der Geschichte
fällt somit weg: Der Spieler kann nicht mit dem Protagonisten
mit-fiebern, weil er gleichsam dessen Rolle einnimmt. Dennoch
173 Ryan 2001a: 121. 174 Vgl. Genette 1994: 118 175 In: Ryan 2001a: 262, 263.
44
ist die temporale Immersion nicht aufgehoben, vielmehr ver-
schiebt sie sich in die Aktantenrolle. So wird beispielsweise
der Handlungsspielraum für den Avatar konsequent verengt wer-
den, was zwangsläufig Spannung erzeugt:
When a line is chosen, the spectrum of possible developments is reduced to
the dichotomy of one branch leading to success and another ending in fail-
ure, a polarization that marks the beginning of the climax in the action.176
Oder es kommt beim Spieler zur Bildung prospektiver, mentaler
Handlungshypothesen (virtual scripts177), die er in Echtzeit
einer Prüfung unterzieht und deren Realisation über den Fort-
gang der Geschichte entscheidet; demgegenüber sieht der Leser
seine virtual scripts vom Plot entweder erfüllt oder nicht.
Die Entfaltung des Plots im Adventure Spiel hängt also davon
ab, ob der Benutzer die Spielaufgaben lösen kann. Dabei entwi-
ckelt sich auf Ebene des Spiels ein dramaturgischer Rhythmus,
den Aarseth als Abfolge von Aporie und Epiphanie bezeichnet178.
Auf Ratlosigkeit folgt ludische Erleuchtung und schliesslich
narrative Gratifikation. Diese Abfolge bestimmt denn auch den
Werkcharakter von Adventure Spielen, der dem von Kriminalroma-
nen gleicht: Sind alle Spielaufgaben gelöst beziehungsweise
ist der Täter entlarvt, verliert das Werk seine enigmatische
Aura und damit auch das Interesse des Benutzers.
Im Rahmen der emotionalen Immersion entwickelt der Leser Zu-
neigung oder Ablehnung für die Charaktere. Zum Mit-fiebern der
temporalen gesellt sich das Mit-fühlen der emotionalen Immer-
sion. Auch hier stellt sich in Bezug auf Computerspiele das
Problem der Aktantenrolle:
Emotional immersion requires a sense of the inexorable characters of fate,
of the finality of every event in the character’s life […].179
176 Vgl. Ryan 2001a: 140. 177 Ebd. 142. 178 Vgl. Aarseth 1997: 181. 179 Ebd. 262, 263.
45
Gerade diese Endgültigkeit fehlt Adventure Spielen. Deren
Echtzeit-Struktur suggeriert dem Spieler unbestimmt zu sein
und Handlungsautonomie zu gewähren. Zusätzlich wird die empha-
tische Wirkung durch die Wiederholbarkeit einzelner
Spielszenen ad absurdum geführt: Emotionale Immersion bedingt
folgenschwere Entscheidungen, die strukturell durch die Mög-
lichkeit zum Abspeichern180 nicht gegeben sind. Der Tod als
dramatische Klimax ist reversibel und somit ohne jegliche Re-
levanz.
Darin sieht Frasca eine motivische Einschränkung, da Computer-
spielen die nötige Ernsthaftigkeit für die Auseinandersetzung
mit gewichtigen Themen fehlt181: Man stelle sich eine Simulati-
on des Holocaust vor mit der Möglichkeit zum Neustart. Frasca
propagiert deshalb die Idee von OSGONs (one-session game of
narration), die keinen Neustart ermöglichen und auch keine
Speicherfunktion anbieten182. Game over ist hier wörtlich zu
verstehen. Der uruguayanische Ludologe hat zwei solcher OSGONs
gleich selber entwickelt, denen eine dezidiert politische Bot-
schaft innewohnt183. Sie stellen erste mögliche Ansätze dar,
Computerspielen nebst ihrer gegenwärtig ökonomischen Relevanz
eine politische Dimension zu verleihen.
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der serious ga-
mes184 geprägt. Dieser verweist auf Simulationen, die primär
kein monetäres Ziel verfolgen, sondern im Dienste verschie-
denster Anliegen stehen: Sei es beispielsweise im Rahmen einer
Aufklärungskampagne des UNO-Welternährungsprogramms185, zur Be-
handlung von Spinnenphobikern186 oder zur
180 Vgl. Juul 2004: 138. 181 Vgl. Frasca, Gonzalo: Don’t Play It Again, Sam - One-session and serials games of narration. http://www.lingo.uib.no/dac98/papers/frasca.html (12.6.06) 182 Vgl. Eskelinen 2003: 205. 183 Beide Simulationen Madrid und September 12 bezeichnet Frasca als Newsgames, um ihren politischen Nach-richtencharakter zu unterstreichen. In Madrid muss der Spieler, wider das Vergessen, Kerzen zum Gedenken an die Opfer der Terroranschläge vom 11. März 2004 vor dem Erlöschen bewahren. In September 12 gilt es, Terro-risten mit Raketen zu treffen ohne Kollateralschäden anzurichten. Werden dennoch Zivilisten getötet, was von der Spielanlage her induziert ist, verwandeln sich die Opfer in weitere Terroristen. Vgl. http://www.newsgaming.com/ (12.6.06) 184 Vgl. http://www.seriousgames.org (12.6.06) 185 Vgl. http://www.food-force.com/ (12.6.06) 186 Vgl. http://www.hitl.washington.edu/projects/exposure/ (12.6.06)
46
Truppenrekrutierung187. Solch simulative Indoktrinierung oder
Konditionierung mit bestehenden, rezeptiven Formen zu verglei-
chen, eröffnet als Forschungsfeld auch den
Kulturwissenschaften ganz neue Perspektiven.
2.4.4. Flow
Ryans Immersionstypologie kann indes ihre literaturwissen-
schaftliche Provenienz nicht verleugnen. Diese erweist sich in
erster Linie als tauglich, wenn man Adventure Spiele auf jene
narrativen Elemente eingrenzt, in denen Interaktion suspen-
diert wird: cut-scenes wie animierte Intro- und
Zwischensequenzen, die Anleihen beim Film beziehungsweise beim
Trickfilm machen.
Wie die Analyse gezeigt hat, bereitet jedoch die Adaption für
Echtzeit-Spielsequenzen Schwierigkeiten. Zum Abschluss soll
deshalb ein Ansatz aus der Positiven Psychologie referiert
werden, der einer ludischen Form der Immersion am nächsten
kommt. Das Flow-Konzept von Mihaly Csikszentmihalyi basiert
auf der direkten Befragung tausender Zielpersonen weltweit.
Dabei mussten diese darüber Auskunft geben, was sie empfinden,
wenn sie ihre Zeit mit einer Tätigkeit zubringen, die ihnen
Freude bereitet. Die Ergebnisse wurden systematisiert und dar-
aus eine Theorie der optimalen Erfahrung destilliert.
Flow oder auch psychische Negentropie genannt ist ein Zustand
höchster Bewusstheit. Es gibt keine überschüssige psychische
Energie, um andere Informationen zu verarbeiten, ausser jener
durch die Aktivität gebotenen:
Man ist so in die Tätigkeit vertieft, dass sie spontan, fast automatisch
wird. Man nimmt sich nicht mehr unabhängig von der verrichteten Tätigkeit
wahr.188
Die Phänomenologie einer solchen Flow-Erfahrung umfasst ver-
schiedene Komponenten: Die Person muss zunächst zur
187 Vgl. http://www.americasarmy.com/ (12.6.06) 188 In: Csikszentmihalyi 2002: 80.
47
Konzentration fähig sein und sich der Aufgabe gewachsen füh-
len, welche autotelisch189 ist. Die Aufgabe sollte deutliche
Ziele umfassen, regelbasiert sein und eine unmittelbare Rück-
meldung liefern. Dabei ist die Art des Feedbacks an sich
nebensächlich. Wichtiger ist die symbolische Botschaft, ein
Ziel erreicht zu haben. Denn fast jede Art Rückmeldung kann
Freude bereiten, solange sie in logischem Zusammenhang mit dem
Ziel steht.
Solch positive Erfahrungen machen es letztlich möglich, ein
Gefühl von Kontrolle zu erleben. Dabei kann sich für die Per-
son das Zeitempfinden ändern (Stunden vergehen als Minuten
oder umgekehrt). Zugleich kann es zu einem Gefühl des Eins-
seins mit der Umgebung kommen. Die Bewusstheit von sich selbst
schwindet, ohne dass dabei ein Verlust des Bewusstseins oder
des Selbst zu konstatieren wäre. Vielmehr dehnen sich, über
den eigenen Körper hinaus, die Grenzen des Seins aus:
Dies ist nicht bloss eine Phantasie, sondern beruht auf konkreter Erfahrung
einer engen Interaktion mit etwas Anderem, einer Interaktion, die ein sel-
tenes Gefühl von Einheit mit diesen gewöhnlich fremden Entitäten auslöst.190
Als Beispiele für die Interaktion mit fremden Entitäten führt
Csikszentmihalyi erfüllende Aktivitäten wie Musizieren,
Bergsteigen, Segeln oder Schachspielen an. Nichtsdestotrotz
hat die obige Schilderung gezeigt, dass zahlreiche Komponenten
der flow-Erfahrung sich mühelos auf das Computerspielen adap-
tieren lassen.
Da wäre zunächst die unmittelbare Rückmeldung zu nennen, die
frappante Ähnlichkeit mit Furtwänglers Definition von Interak-
tivität aufweist. Dass solche positiven Rückmeldungen ein
Gefühl von Kontrolle erzeugen, erinnert an Murrays Agency-
Konzept. Und das seltsame Gefühl von Einheit mit einer fremden
Entität bei gleichzeitigem Zeitverlust beschreibt sehr tref-
189 Der Begriff autotelisch leitet sich aus dem Altgriechischen autos für Selbst sowie telos für Ziel ab und be-zeichnet eine sich selbst genügende Aktivität. Diese übt man ohne Erwartung künftiger Vorteile aus. Sie ist an sich lohnend. Vgl. Ebd., 97. 190 Ebd. 94.
48
fend die immersive Erfahrung. Zudem erfüllt Computerspielen
die Bedingungen, eine autotelische Aktivität zu sein.
Dass die Person sich der Aufgabe gewachsen fühlen muss, lässt
aufhorchen. Die Prämisse basiert nämlich auf der Vorstellung
von flow als eine optimale Erfahrung. Die Fähigkeiten des
Spielers und die Herausforderungen im Computerspiel müssen
sich also die Waage halten. Nur so bewegt sich der Spieler im
flow-Kanal (Schaubild 11), ansonsten drohen Frustration oder
Langeweile. Daraus entwickelt sich ein dynamisches System, das
zwangsläufig zu Fortschritt führen muss, denn ein Verweilen
auf gleicher Ebene resultiert aus Überforderung, während Un-
terforderung den Spielabbruch provoziert. Exploration sprich
das Ausdehnen des Wirkungsbereichs durch den Spieler ist dem-
nach systeminhärent und entspringt dem Bedürfnis nach flow.
Dieses dynamische System erinnert an Aarseths dramaturgische
Abfolge von Aporie und Epiphanie, wenngleich das flow-Konzept
eine gewisse Normativität nicht abstreiten kann: So bewertet
Csikszentmihalyi Frustration, als das vorläufige Scheitern an
einer Aufgabe, per se als negativ und versteht diese nicht als
Quelle des Ansporns für den Spieler191. Nichtsdestotrotz über-
zeugt das flow-Konzept, indem es Immersion bei gleichzeitiger
Interaktion zu beschreiben vermag und damit die subjektive Er-
fahrung des Spielers formalisiert. Die Tauglichkeit des flow-
Konzepts zeigt sich auch daran, dass dieses in der empirischen
Rezeptionsforschung von Computerspielen zur Anwendung kommt192.
2.5. ergodic intrigue
Ob der reale Spieler im flow verbleibt, wird letztlich vom An-
forderungsgrad bestimmt, den ihm das Computerspiel vorgibt.
Dabei handelt es sich nicht um einen statischen Wert, sondern 191 Vgl. Juul 2003: 139. 192 Im Rahmen der Arbeitsgruppe Computerspiele an der Universität Magdeburg entwickelte der Diplomand Ralf Armin Böttcher ein Verfahren zur Flow-Messung bei Computerspielen. Für die Untersuchung werden die Herzaktivität und der Hautwiderstand erfasst. Gleichzeitig werden das Spielgeschehen und der Spieler für die spätere Analyse auf Video aufgezeichnet. Nachdem alle Daten aufgezeichnet und zeitlich synchronisiert worden sind, sollen so positive und negative Reaktionen des Spielers auf das Spielgeschehen analysiert werden können und allfällige Rückschlüsse auf die flow-Erfahrung möglich sein. Vgl. http://www.flowmessung.de (12.6.06) u. http://wwwisg.cs.uni-magdeburg.de/games/diplomarbeiten/boettcher_ralf_armin__diplomarbeit.pdf (12.6.06)
49
um einen dynamischen Prozess, der Bestandteil eines übergeord-
neten Kommunikationsmodells ist, das im Folgenden beschrieben
werden soll. Grundlage hierfür bildet Aarseths ergodic intri-
gue, welche der Theatertheorie entliehen ist. Im Gegensatz zur
dramatischen Intrige richtet sich diese nicht gegen Bühnenfi-
guren, „sondern gegen den Spieler selbst, der herausfinden
muss, was eigentlich vorgeht“193. Da Aarseth sich explizit auf
Textadventures beruft, ist zudem keine Adaptionsarbeit zu
leisten. Auch spielt die Ausgabeebene (scriptons194) nur be-
dingt eine Rolle.
Das Kommunikationsmodell (Schaubild 12) geht zunächst von einem
realen Schöpfer und einem realen Benutzer aus, die beide aus-
serhalb des eigentlichen Werks anzusiedeln sind. Das
eigentliche Textmodell unterscheidet zwischen drei Ebenen. Die
erste Ebene bezieht sich auf einen implizierten Schöpfer, des-
sen Funktion allerdings nicht näher spezifiziert wird. So
kritisiert Kücklich denn auch, dass „er [Aarseth – S.M.] zwar
drei textuelle Ebenen unterscheidet, formal aber einem zwei-
wertigen Modell verhaftet bleibt.“195
Die eigentliche ergodic intrigue196 richtet sich gegen den rea-
len Spieler beziehungsweise dessen Stellvertreter im Spiel,
der als intriguee bezeichnet wird. Diesem bleiben zunächst po-
tentielle Handlungsstränge verborgen, die es im Spielverlauf
gegen Widerstände (Rätsel lösen, Gegner eliminierten etc.) zu
aktualisieren gilt:
[…] intrigue constitutes a multidimensional event space and unfolds through
the negotiation of this space by text and user.197
193 In: Kücklich 2002: 110. 194 Bei scriptons handelt es sich um jenen textuellen Output, den der Leser beziehungsweise Spieler rezipieren kann. Das Auftreten von scriptons ist dabei dynamisch, also von Nutzer zu Nutzer sowie von Spielsituation zu Spielsituation verschieden. Vgl. Aarseth 1997: 62. 195 In: Kücklich 2002: 107. 196 Aarseth 1997: 111ff. 197 Ebd. 114.
50
Die Ebene der Verhandlung ist bei Aarseth denn auch das dis-
tinkte Element textbasierter Adventure Games gegenüber
fiktionalen Hypertexten. Deren scriptons lassen sich zwar in
ihrer Abfolge manipulieren, aber der Hypertext kennt keine Wi-
derstände, die der Benutzer auszuräumen hat.
Der werkimmanente Architekt solch einer Intrige wird als in-
trigant bezeichnet oder wie Aarseth ihn metaphorisch
umschreibt: „a pleasure-giving Mephistopheles in the cyber-
text”198. Der Intrigant kann dabei als Gegenspieler des realen
Benutzers verstanden werden, als Quelle ludischer Widerstän-
digkeit, mit der es sich zu messen gilt, um die Handlung zu
rekonstruieren beziehungsweise diese voranzubringen. Dass
solch ein teuflischer Geselle dem realen Spieler Vergnügen be-
reitet, lässt erneut Csikszentmihalyis flow-Konzept anklingen.
Pleasure-giving ist die Intrige allerdings nur dann, wenn sie
dynamisch ihre Anforderungen an den Spieler steigert.
Neben intrigant und intriguee beinhaltet das Textmodell weite-
re Elemente: Mit voice wird sozusagen das Sprachrohr des
Intriganten bezeichnet, dessen schriftlicher Output-Kanal:
The negotiation plane consists of the dialogue between the voice and the
player.199
Bei einem Grafikadventure wären damit wohl die manipulierbaren
Objekte des audiovisuellen Aktionsfeldes bezeichnet. Die Ver-
bindung von impliziertem Benutzer und puppet-Begriff
entspricht letztlich dem, was bereits als Avatar beschrieben
wurde. Aarseth differenziert jedoch in charakterlose Hülle
(puppet) und Aktionshandlung (implied user). Damit offenbart
sich eine weitere Schwäche des Kommunikationsmodells. Es wer-
den theoretische Differenzierungen getroffen, die nicht weiter
spezifiziert werden oder phänomenologisch nicht haltbar sind:
So fallen aus Spielersicht implizierter Benutzer und puppet
198 Ebd. 120. 199 Ebd. 125.
51
zusammen. Ebenso sind im konkreten Spiel implizierter Schöp-
fer, Intrigant und voice nicht voneinander zu trennen.
Die Vorzüge des Modells liegen also eindeutig in der Idee ei-
ner Intrige. Damit wird kein statisches Sender-Empfänger-
Schema postuliert, sondern eine dynamische Simulationsanla-
ge200. Textimmanent wird es möglich, Aktionen des realen
Spielers als intriguee zu antizipieren. Der intrigant konfigu-
riert fortlaufend den Ereignisraum für eine spielerische tour
de force. Die Erfordernisse in punkto textueller Widerständig-
keit abzuschätzen sowie die möglichen Handlungen des intriguee
vorauszusehen, wird dabei zusehends komplexer, je multioptio-
naler die Spielwelt sich gestaltet.
Bei frühen Grafikadventures wie Maniac Mansion ist die Explo-
ration noch restringiert: Findet der Spieler beispielsweise
den Schlüssel für die Eingangstüre der Villa nicht, welcher
sich unter dem Fussabtreter befindet, gerät der Spielfluss und
damit die lineare Handlung ins Stocken. Alternative Lösungs-
möglichkeiten oder weitere Aufgaben gibt es keine.
Demgegenüber stehen Spielwelten wie jene von Albion im Spiel
Fable oder die Insel Myst, welche vermeintlich frei zu erkun-
den sind und simultan verschiedene Handlungsangebote machen.
Dennoch sind auch deren Limitationen rasch erfahrbar. Sowohl
in ihrer räumlichen Ausgedehntheit als auch in Bezug auf die
mögliche Nutzung durch den Spieler als intriguee, und zwar in-
dem dieser subversiv agiert und so bewusst den Spielangeboten
zuwiderhandelt:
Such a reader works within the internal logic of the game-world to evade
the limitations imposed by the “legitimate” authors (level designers and
programmers) to engage in a little “illegimitate” authorship himself or
herself.201
200 Vgl. Frasca 2003: 227ff. 201 In: Atkins 2003: 50.
52
Die Spannbreite subversiver Vorgehensweisen202 ist dabei unge-
mein gross: So verzichten Spieler auf gewisse
Handlungsoptionen (z.B. kein Waffen-Einsatz), um selbstständig
den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen. Bei levelbasierten Action-
Spielen werden die jeweiligen Rundenzeiten gestoppt und die
schnellstmögliche Bewältigung des Levels zum neuen Spielziel
postuliert203. Diese Beispiele erweitern das explizite Regel-
werk.
Daneben kann die subversive Spielweise aber auch darin liegen,
Objekte anders zu nutzen oder andere Pfade zu wählen, als je-
ne, die gemäss der intriguee-Intention vorgegeben sind. Atkins
führt dies am Beispiel einer Szene aus dem Action-
Adventurespiel Tomb Raider II204 aus. So steht für Lara Croft
ein Motorboot bereit, mit dem es möglich wäre, die Wasserminen
zu entschärfen und so das Levelende zu erreichen.
Eine Spielanlage im Übrigen, deren idealtypischer Lösungsweg
durch unzählige Agentenfilme à la James Bond bereits vorge-
zeichnet wurde. Stereotype Charaktere und Geschichten in
Computerspielen sind also keineswegs Ausdruck fantasieloser
Entwickler, sondern vereinfachen die Spielführung. Der Rück-
griff auf populärkulturelle Codes befördert zugleich die
Immersion, in dem das Spiel Erwartungshaltungen bedient:
The reader can bring in more knowledge and sees more expectations fulfilled
than in a text that cultivates a sense of estrangement.205
Im vorliegenden Beispiel kann sich der Spieler dem beabsich-
tigten Lösungsweg verweigern und statt mit dem Motorboot die
Minen zu rammen einfach dem Zielpunkt entgegen schwimmen. Da-
mit aktualisiert er ein Handlungsmuster, das die Simulation
mit ihren lebensweltlichen Mustern zwar sanktioniert, aber der
intriguee-Intention nicht entspricht. Dies zeigt sich auch
202 Ebd. 50ff. 203 Vgl. Diese so genannten Speedruns werden häufig von den Spielern als Videoaufzeichnung dokumentiert und dann im Internet publiziert. Vgl. http://speeddemosarchive.com/ (12.6.06) 204 Tomb Raider II (Core Design / Eidos, 1997) 205 In Ryan 2001a: 97.
53
darin, dass der subversive Spieler auf die nachfolgende cut-
scene, welche die Explosion der Minen animiert, verzichten
muss.
Eine beliebte Form illegitimer Mitautorschaft ist auch das
Ausnutzen von Programmierfehlern, so genannten bugs206. So ist
es denkbar, dass eine Wand für den Avatar penetrabel wird,
aufgrund einer falschen Klassifizierung des Objekts in der
zugrunde liegenden Datenbank.
Neben diesen subversiven Lesarten, die nicht für den intriguee
gedacht sind, legen Spielentwickler aber auch intentional Mög-
lichkeiten an, die Spielwelt zu manipulieren. Die wohl
bekannteste Form sind cheats207. Meist handelt es um versteckte
Tastenkombinationen oder Steuerbefehle, mit denen der Spieler
unter anderem Handlungsstränge überspringen, seinen Avatar un-
verwundbar machen oder mit unendlich vielen Leben ausstatten
kann. Etwas despektierlich ausgedrückt handelt es sich hierbei
um Abfallprodukte, denn cheats machen es den Spieldesignern in
der Entwicklungsphase möglich, jederzeit Zugriff auf alle
Spielebenen zu haben. Dies gewährleistet effiziente Tests. Für
die Endversion werden die cheats dann häufig nicht mehr aus
dem Quellcode getilgt.
Gleiches gilt auch für Easter Eggs208. Darunter sind Gegenstän-
de zu verstehen, die ähnlich gut versteckt sind wie Ostereier
– daher der Begriff. Diese Objekte erlangt der Spieler in hid-
den areas209, versteckten Räumen, die schwer auffindbar oder
häufig nur mittels cheats erreichbar sind. Easter Eggs bezie-
hungsweise deren Aufbewahrungsorte sind ebenfalls Überbleibsel
der Entwicklungsphase. Es handelt sich um Räume und Objekte,
die es nicht in die Endversion geschafft haben und deshalb
auch für den idealtypischen Spielerfolg nicht relevant sind.
Texttheoretisch sind solche Easter Eggs hingegen in einem dop-
pelten Sinne reizvoll: Handelt es sich doch zum einen um
206 http://de.wikipedia.org/wiki/Programmfehler (12.6.06) 207 http://de.wikipedia.org/wiki/Cheats (12.6.06) 208 Vgl. Atkins 2003: 45, 46. u. http://www.eeggs.com/ (12.6.06) 209 Vgl. Jenkins 2002: 66.
54
Restbestände des Schreibprozesses, die in der Endfassung210 er-
halten geblieben sind. Zum anderen stellen Easter Eggs das
pièce de résistance der textuellen Grundbewegung dar, die je-
des Adventure Spiel einfordert, nämlich Raumerkundung. In
diesem Sinne fordern Easter Eggs die explorativen Fähigkeiten
der Spieler in besonderem Masse heraus:
It is as if a novel contained areas of sub-plot that were cordoned off from
the main body of the narrative, and accessible only to those readers who
somehow prove their sophistication of reading.211
Der Zugang hängt dabei nicht primär von der interpretativen
Kompetenz ab. Diese ist, wie bereits angetönt, in ergodischen
Texten kein Selbstzweck. Vielmehr geht bei Adventure Spielen
die interpretative Leistung der Exploration voraus und resul-
tiert schliesslich in der aktiven Einflussnahme, der
Rekonfiguration des Raumes.
2.6. Genres
Nachdem wichtige Begriffe erläutert und ein mögliches Kommuni-
kationsmodell vorgestellt wurden, sollen zum Abschluss des
zweiten Kapitels Adventure Spiele kontextualisiert werden:
Worin liegt das Differenzkriterium zu anderen Computerspiel-
Genres? Ziel ist dabei keine stringente Genre-Typologie, son-
dern eine kritische Reflektion bestehender Ansätze.
Der Genre-Begriff basiert auf intersubjektiven Konventionen,
während sich beispielsweise der Medien-Begriff auch auf Tech-
niken (Buchdruck, Fernmeldewesen etc.) und deren materiale
Beschaffenheit (Fernsehgerät, Computer-Hardware etc.) bezieht
und insofern breiter abgestützt ist. Genres fungieren dagegen
als Kommunikationshilfen, in dem sie Ansprüche der Benutzer
kanalisieren und Erwartungshaltungen bedienen. Sie sind zu-
210 Endfassung ist hier im Sinne einer von den Entwicklern autorisierten Version zu verstehen, die nicht von Dritten manipuliert wurde. 211 Vgl. Atkins 2003: 46.
55
nächst dem jeweiligen Gegenstand (Roman, Film, Computerspiel
etc.) nachgeschaltet und bilden demzufolge ein Zeichensystem
zweiter Stufe, das ästhetische Orientierung bietet212.
Allerdings besteht zwischen Einzelwerk und Genre insofern ein
paradoxes Verhältnis, als beide einander bedingen und zugleich
aufeinander rekurrieren. So kann beispielsweise das Einzelwerk
als Genreparodie die vermeintlichen Restriktionen der Gattung
thematisieren. Dennoch unterliegen Genres selbst historischen
Veränderungen, obgleich sie wiederkehrende Muster erzeugen.
Bezogen auf Computerspiele typisieren Genres dabei inhaltlich-
motivisch (Science-Fiction, Horror, Sport etc.) wie auch for-
mal (Strategie, Simulation etc.)213.
Diese Unschärfe ist historisch bedingt: So haben die Spielein-
dustrie selbst und die ihr nach geschaltete Fachpresse
entsprechende Genres bereits in den Achtziger Jahren als Ver-
marktungskategorien propagiert214. Deren Definitionsmacht hat
sich im populären Diskurs durchgesetzt, wenngleich die katego-
rialen Schwächen eminent sind. Stellvertretend hierfür steht
der Artikel Grundkurs Computerspiele215 im NZZ Folio, der Zeit-
schrift der Neuen Zürcher Zeitung. Darin sollen einem breiten
Publikum („Nichtspieler“216) die wichtigsten Computerspiel-
Genres näher gebracht werden: Action/Ego-Shooter, Strategie,
Sport, Adventure/Rollenspiele und Klassiker.
Bereits die Oberbegriffe sind entweder willkürlich gewählt o-
der sie verletzen kategoriale Hierarchien. So ist nicht
plausibel, weshalb Adventure/Rollenspiele sich ein Genre tei-
len müssen, obwohl der Lauftext klare Unterschiede
ausarbeitet. Das Genre Klassiker wiederum ist kein distinkter
Begriff. Erst im Lauftext mit Spielreferenzen wie Pac Man,
Tetris oder Space Invaders wird die Spielhalle (arcade games)
als gemeinsamer Ursprung definiert. Auch die Bezeichnung Ac-
212 Vgl. Ryan 2004a: 19. 213 Vgl. Walter 2002: 23, 24. 214 Vgl. Aarseth 2004: 363. 215 Vgl. Pescatore, Michel: Grundkurs Computerspiele. Die wichtigsten Spielekategorien. In: NZZ-Folio: Com-puterspiele. Der Joystick erobert die Welt. Mai 2005. S. 53, 54. 216 Ebd. 53.
56
tion/Ego-Shooter ist irreführend. Handelt es sich bei Ego- be-
ziehungsweise First-Person-Shooters doch um eine Spielart, ein
Sub-Genre von Action-Spielen.
Bezogen auf Adventure Spiele postuliert der Text das Diffe-
renzkriterium „Geschichte“:
Unterhaltende Plots und witzige Ereignisse zeichnen die guten Adventures
aus.217
Dabei werde die Geschichte vorangetrieben, in dem der Spieler
Figuren ausfrage und Gegenstände sammle. Zumindest letztere
Tätigkeit sieht der Artikel auch für Rollenspiele vor: „[…]
das Lösen von Aufgaben und das Sammeln von Gegenständen hat
höchste Priorität.“218 Als Differenzkriterium von Rollenspielen
dient indes, dass der Spieler die Fähigkeiten seines Protago-
nisten kontinuierlich ausbauen kann.
In der vorliegende Ludographie gilt dies aber auch für Spiele
wie Fable219 oder Grand Theft Auto: San Andreas220, die beide
keineswegs als vollwertige Rollenspiele gelten, sondern wahl-
weise als „Action-Rollenspiel-Abenteuer“ oder als „Action-
Adventure“221 betitelt werden, um die Genre-Konfusion zu kom-
plettieren. Aarseth stellt denn auch die Tauglichkeit solcher
Kategorien in Frage:
In the case of games, however, the categories are clearly problematic and
overlapping.222
Dieser Befund gilt indes nicht nur für Publikumsmagazine, son-
dern auch für den akademischen Diskurs. So wurden die
bestehenden Genre-Bezeichnungen in die game studies einfach
217 Ebd. 54. 218 Ebd. 54. 219 Vgl. http://fable.lionhead.com/ (12.6.06) 220 Vgl. http://www.sanandreas.de/ (12.6.06) 221 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Grand_Theft_Auto_%28series%29 (12.6.06) 222 Aarseth 2004: 363, 364.
57
übernommen, „[…] auch wenn dieser Kategorisierung keine wis-
senschaftliche Systematisierung zu Grunde liegt.“223
Dies ist insofern gravierend, als dass Genretypologien eine
Ausgangsbasis für das Verständnis von Computerspielen bilden.
Wird der Gegenstand nicht präzise eingegrenzt, kommt es zu in-
adäquaten Zuschreibungen. Es werden vermeintliche Defizite
moniert, welche die Genrekonventionen nicht vorsehen und die
somit vom jeweiligen Spiel gar nicht erfüllt werden können.
Die Übernahme bestehender Genre-Bezeichnungen ist letztlich
aus der Not geboren, mangels tragfähiger Alternativen:
Tatsächlich erscheint es wenig sinnvoll, die bestehenden Genres durch neue
zu ersetzen, denn jede andere Kategorisierung wäre genauso willkürlich wie
die bisherige Einteilung.224
Die bestehenden, historisch gewachsenen Genres scheitern der-
weil an der bereits angeführten Multimodalität moderner
Spiele. Deren simulative Anlage inkorporiert und zitiert ver-
schiedenste Genres und lässt kategoriale Bemühungen fruchtlos
erscheinen:
Das [brauchbare Einteilen in Genres – S.M.] ist bisher auch deshalb nicht
gelungen, weil die Ebenen, in denen Computerspiele beschrieben werden müs-
sen, zu komplex sind und sich der ganze Markt überhaupt in starker Bewegung
befindet.225
Dabei handelt es sich bei multimodalen Mischformen um ein Phä-
nomen, das sich bereits in der Geschichte des Films findet.
Sobald sich „reine“ Genres etabliert hatten, wurden diese in
der weiteren cineastischen Entwicklung unterlaufen und es bil-
deten sich Mischformen wie etwa Genreverknüpfungen oder
Genreparodien226.
223 Kücklich 2002: 30. 224 Kücklich 2001: 29. 225 In: Krotz, Friedrich: Die Welt im Computer. Überlegungen zu dem unterschätzten Medium „Computerspiel“. In: Ästhetik & Kommunikation, Heft 115, 32. Jg. (2001/02), S. 28. 226 Vgl. Hartmann, Bernd: Literatur, Film und das Computerspiel. Münster: LIT, 2004. S. 66.
58
Vor diesem Hintergrund kann ein Genre wie dasjenige der Adven-
ture Spiele nur noch als ein dominanter Faktor im jeweiligen
Titel gesehen werden. So haben die Beispiele selbstreferen-
tieller Computerspiele gezeigt, dass Genres nicht mehr als
distinkte Kategorien aufzufassen sind227. Vielmehr gibt deren
Differenzkriterium Hinweise darauf, über welche Genreanteile
das konkrete Spiel überhaupt verfügt228.
Hierzu ein Beispiel: Gemäss NZZ-Folio-Artikel verfügen Adven-
ture Games über „unterhaltende Plots und witzige
Ereignisse“229. Kurzum, sie entfalten Geschichten. Wendet man
nun dieses Differenzkriterium auf Tetris an, stellt man fest,
dass dieses zwar über konstantes gameplay, aber über keinerlei
narrative Elemente230 verfügt. Anders ausgedrückt besitzt
Tetris in seinem Genre-Portfolio keine Adventure Spiel-
Anteile.
Das Differenzkriterium Narration ist demnach konstitutiv für
Adventure Spiele, während andere Spielgenres darauf verzichten
können. Dies zeigen auch weitere Genredefinitionen deutlich
auf:
Bei einer Interactive Fiction [Synonym für Adventure Spiele – S.M.], die
auf die Geschichte verzichten würde und nur aus der darunter liegenden
Spielmechanik bestünde, gäbe es keinerlei Reiz, diese zu spielen. Die meis-
ten anderen Spiele hingegen bereiten auch ohne Geschichte Vergnügen. Der
Reiz eines Schachspiels würde nur unwesentlich dadurch gemildert, dass die
Spielsteine keine Charakterbezeichnungen trügen.231
Neben dem Brettspiel Schach gilt dies ebenso für arcade-
Klassiker wie Pong oder das oben genannte Tetris. In ähnlicher
Weise wie Hartmann betont auch Gunzenhäuser die Erzähllastig-
keit von Adventure Spielen, wonach sich „im Verlauf des Spiels
227 Trotz der Unterscheidung von 43(!) Genres gelingt es Wolf nicht, distinkte Kategorien zu erzeugen. Vielmehr konstatiert auch er Mischformen: „Due to the different types of action and objectives that can occur in a single game, games can often be cross-listed in two or more genres.” In: Wolf 2001: 117. 228 Vgl. Gunzenhäuser 2003a: 60. 229In: Pescatore, Michel: Grundkurs Computerspiele. Die wichtigsten Spielekategorien. In: NZZ-Folio: Compu-terspiele. Der Joystick erobert die Welt. Mai 2005. S. 54. 230 Vgl. Järvinen 2001: 5. 231 In: Hartmann, Bernd: Literatur, Film und das Computerspiel. Münster: LIT, 2004. S. 71.
59
ein plot, ein zielgerichteter Handlungsverlauf“ entwickle232.
Auch Kücklich macht im Gegensatz zu Actionspielen ein höheres
Narrativitätsniveau aus, wodurch Adventure Spiele meist weit-
gehend linear verlaufen würden, das heisst „entlang eines
Handlungsvektors, von dem allenfalls kurze nonlineare »Abste-
cher« gemacht werden können“.233 Das Differenzkriterium
Narration für das Genre Adventure Spiele gilt hiermit als
breit abgestützter Konsens.
Sobald jedoch der Versuch unternommen wird, die Definition
konkreter und damit aussagekräftigere zu gestalten, wird deren
Tragfähigkeit rasch überstrapaziert. Neitzels Genre-
Bestimmung234, wonach ein Held sich in einer ihm unbekannten
Umgebung befinde, diese erforsche, Rätsel löse und Kämpfe mit
unterschiedlichen Gegnern bestreite, trifft zwar auf Spiele
der vorliegenden Ludographie zu, aber eben nur bedingt. Abwei-
chungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Zum Beispiel
Shadow of the Collosus235, das sowohl auf einzusammelnde Ge-
genstände, entsprechende Rätsel als auch auf unterschiedliche
Gegner verzichtet. Das stimmungsvolle Videospiel besteht ein-
zig aus der Exploration entvölkerter, mythischer Landschaften
sowie dem vereinzelten Zusammentreffen mit steinernen Kolos-
sen, die es zu besiegen gilt.
Auch die weiterführende Definition von Neitzel über fehlende
Zielvorgaben trifft keineswegs auf alle untersuchten Spiele
zu:
Im Gegensatz zu anderen Computerspielen gibt es bei Adventures keine kon-
krete Zielvorgabe, wie z.B.: Befreie die Prinzessin! Es geht vielmehr
darum, die imaginäre unbekannte Welt zu erkunden.236
Die vorliegende Ludographie hält auch hierfür Gegenbeispiele
wie Fahrenheit oder Fable bereit, die mit expliziten Aufträgen
232 In: Gunzenhäuser 2003b: 89. 233 In: Kücklich 2002: 33. 234 Vgl. Neitzel 2005: 114. 235 http://en.wikipedia.org/wiki/Shadow_of_the_collosus (12.6.06) 236 Vgl. Neitzel 2005: 114.
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an den Spieler operieren. Es zeigt sich, dass spezifische de-
finitorische Aussagen ohne eine quantitative Analyse nicht
haltbar sind. Einmal mehr lassen sich nur Tendenzen festma-
chen, die am jeweiligen Titel zu konkretisieren sind.
61
3. Narration
3.1. Erzählbegriff
Sowohl die diachrone als auch die genreübergreifende Analyse
haben gezeigt, dass narrative Elemente das zentrale Spezifikum
von Games mit Adventure Spiel-Anteilen sind. Diese Erzählan-
teile sollen in der Folge genauer untersucht werden. Dabei
vertritt die vorliegende Arbeit einen breiten Textbegriff im
Sinne der Kulturwissenschaften, der auch multimediale Textsor-
ten wie Computerspiele einschliesst237.
Dieser pluralistische Ansatz soll auch für den Erzählbegriff
gelten, der Narration als ein rezeptives, medienunabhängiges
Phänomen versteht. Der jeweilige Interpret bildet im Leseakt
Kausalketten, die auf Ereignissen oder Zuständen einer imagi-
nativen, fiktionalen Welt basieren238.
Der subjektorientierten Definition bedarf es jedoch, um auch
nonverbale Kunstformen wie Musik oder Malerei als mögliche Er-
zählmittel zu legitimieren. Häufig wird Narration nämlich
ausschliesslich als sprachliche Ausdrucksform definiert. Dabei
gilt es zwischen being a narrative und having narrativity zu
unterscheiden239. Ersteres bezieht sich auf semiotische Objek-
te, die dergestalt intentional codiert wurden, dass beim
Rezipienten eine Erzählhandlung (narrative script) evoziert
wird. Being a narrative meint also Erzählformen im engeren
Sinne wie Romane oder Spielfilme.
Having narrativity berücksichtigt dagegen Texte, die zumindest
über narratives Potential verfügen. Dieses kann jedoch nur als
kognitives Konstrukt vom Rezipienten generiert werden und
wohnt nicht als lineare Anlage dem Kunstwerk inne. Man denke
beispielsweise an eine Skulptur, ein Instrumentalstück oder
eine Ballettaufführung.
237 Vgl. Gunzenhäuser 2003: 52. 238 Vgl. Ryan 2004b: 337. 239 Vgl. Ryan 2004a: 9.
62
Bezogen auf Computerspiele sind beide Formen je nach Genre
mehr oder weniger ausgeprägt. So führt Ryan Computerspiele an,
die Erzählangebote machen, um den Spieler sozusagen für die
Spielwelt einzunehmen:
[…] even though the story does not form the focus of interest once the
player is immersed in the strategic action.240
Diesen Formen instrumenteller Narrativität, die dem Spieler
als kognitives Sinnkonstrukt dienen, können beispielsweise ac-
tion-orientierte Genres zugerechnet werden. Hier ist Narration
sozusagen Mittel zum ludischen Zweck, indem Erzähleinschübe in
Form von animierten cut-scenes für Abwechslung sorgen. Denn
während die Handlungen in den interaktiven Spielsequenzen re-
petitiv (Rennen, Schiessen etc.) sind, wandelt sich deren
narrative Rahmung (Aufträge, Szenarien etc.) unablässig.
Adventure Spiele sind indes näher beim being a narrative anzu-
siedeln. Die Spielsequenzen dienen hier dazu, eine
spielübergreifende Erzählung zu aktualisieren, den hermeneuti-
schen Code zu entschlüsseln241. In Fahrenheit beispielsweise
schlüpft der Spieler in die Figur von Lucas Kane. Dieser muss
herausfinden, warum er, scheinbar willenlos, einen Unschuldi-
gen getötet hat. Nur wer als Spieler in der Folge auch reine
Auge-Hand-Koordinationsaufgaben löst, wird mit cut-scenes be-
lohnt, die weitere Erzählfragmente darstellen. In den
interaktiven Spielsequenzen ist der narrative Modus also ein
mimetischer, ähnlich der Bühnendarstellung. Eine Erzählerfigur
fehlt gänzlich. Die räumliche Ausdehnung der Handlung ist dem-
zufolge lokal begrenzt sprich auf den Avatar zentriert. Darin
unterscheiden sich Adventure Spiele kaum von anderen Computer-
spiel-Genres.
Was Adventure Spiele jedoch auszeichnet, ist die narrative Be-
deutsamkeit von animierten cut-scenes. Sie erzählen das, was
Celia Peirce als meta-story bezeichnet:
240 Ebd. 10. 241 Vgl. Ryan 2004b: 352, 353.
63
A specific narrative “overlay” or narrative metaphor that contextualizes
the game rules.242
Dieser diegetische Überbau zeichnet sich durch seine Determi-
niertheit aus243. Die vorprogrammierten cut-scenes schnüren ein
vergleichsweise enges Korsett für die interaktive Einflussnah-
me in den Spielsequenzen, weshalb Aarseth etwas polemisch auch
von „do-the-right-thing-in-the-right-sequence-or-you’ll-be-
sorry poetics“244 redet. Dies ist letztlich der ludische Preis
für die Implementierung einer nicht-interaktiven Handlung, die
inhaltliche Stringenz und dramaturgische Kohärenz einfordert.
3.2. Genette – Die Erzählung
Trotz dieser strukturellen Problemfelder soll in der Folge Gé-
rards Genettes Die Erzählung als theoretische Schablone für
die narratologische Analyse dienen. Dessen Leitkategorien, die
an und für literarische Texte entwickelt wurden, sollen unter
Zuhilfenahme weiterer Forschungsansätze auf Adventure Spiele
angewandt werden.
3.2.1. Ordnung
Die erste Kategorie ist dabei jene der temporalen Ordnung245.
So verfügen literarische Texte über eine doppelte temporale
Sequenz, eine erzählte Zeit und eine Erzählzeit. Diese Duali-
tät macht grundsätzlich mit Prolepsen und Analepsen zwei
Formen von Anachronien möglich. Bei ersteren wird ein späteres
Ereignis zu einem früheren Zeitpunkt erzählt. Bei letzteren
verhält es sich genau umgekehrt. Zwischen Prolepse und Ana-
lapse ist der Nullpunkt angesiedelt, bei dem die Geschichte
und deren Erzählung sich gleichzeitig ereignen.
Genette gilt dieser Referenzpunkt als eher hypothetisch denn
real. In Adventure Spielen jedoch stellt genau dieser tempora-
242 In: Peirce 2002: 118. 243 Vgl. Kocher 2005. 244 In: Aarseth 1997: 138. 245 Vgl. Genette 1994: 21ff.
64
le Nullpunkt, nämlich die Echtzeit, den Normalfall dar. Das
gilt sowohl für Spielsequenzen, bei denen der reale Spieler
mit dem Aktionsfeld interagiert, als auch für jene nicht-
interaktiven, animierten cut-scenes. Diese besitzen zwar ana-
chronisches Potential, das sich aufgrund der chronologischen
Spielsequenzen jedoch nicht voll ausschöpfen lässt246: Denn wä-
re eine cut-scene proleptisch, würde sie die nachfolgenden
Spielsequenzen als folgenlos ausweisen. Die Leistungen des
Spielers wären müssig, denn der Ausgang wäre bereits augen-
scheinlich gewesen. Animierte Analepsen erweisen sich dagegen
als tauglich: Häufig werden dabei entweder Ereignisse des Ava-
tars geschildert, die vor dem Zeitpunkt des Spielanfangs
liegen oder es werden die Handlungen der Gegenspieler nachge-
reicht.
Bei Fahrenheit beispielsweise schildert eine cut-scene, wie
die Polizei die Leiche findet, nachdem der Spieler den Tatort
bereits verlassen hat. Was jedoch nicht denkbar ist, sind in-
teraktive, spielbare Analapsen. Diese würden zu einem
paradoxen Effekt führen, ähnlich einer Reise mit der Zeitma-
schine:
[…] the player’s actions in the past may suddenly render the present impos-
sible, and what then?247
Genettes Unterscheidung in erzählte Zeit und Erzählzeit be-
zieht sich auf die temporale Ebene der Spielwelt. Juul
bezeichnet diese als event time, während play time die reale
Spieldauer indiziert, die der jeweilige Spieler benötigt. Da-
bei meint play time die objektive, messbare Zeit und keine
subjektive Zeiterfahrung wie sie im flow-Kapitel beschrieben
wurde. Play time und event time stehen in einem komplexen (Ab-
bild-)Verhältnis: Geht man von einem chronologischen Echtzeit-
Modell aus, wird die play time nicht nur auf die event time
projiziert. Auch die aktive, mechanische Bedienhandlung am Ga-
246 Vgl. Juul 2004: 136. 247 Vgl. Juul 2004: 136.
65
mepad wird sozusagen in die Spielwelt überführt. Dabei wirken
sich zeitverzögernde Effekte, Anachronien zwischen Ein- und
Ausgabe, zumeist störend auf den Spielfluss aus.
Anders verhält es sich bei der optionalen Manipulation der e-
vent time durch den Spieler. Diese Möglichkeit findet sich bei
Adventure Spielen nicht, deren Erzählanlage meist relativ li-
near strukturiert ist und keine derartigen Eingriffe verzeiht,
sondern bleibt Spielsimulationen wie The Sims vorbehalten. Da-
bei kann der Spieler gewisse Vorgänge der event time (Hausbau,
physiologische Entwicklung der Figuren etc.) beschleunigen, um
die Resultate seiner Interventionen rascher zu erfahren und
damit die play time zu verkürzen248.
3.2.2. Narrative Tempi
Solche zeitlichen Manipulationen erinnern an Genettes Begriff
der narrativen Tempi249. Dabei handelt es sich um das Verhält-
nis zwischen der Dauer des Ereignisses und jener der
Erzählung, woraus sich das jeweilige narrative Tempo ergibt.
Wiederum sind verschiedene Ausprägungen denkbar: Von der de-
skriptiven Pause, bei der die Handlung stoppt bis hin zur
summarischen Erzählung, die in wenigen Sätzen eine grosse
Zeitspanne von Ereignissen abhandelt. Bezieht man das Konzept
narrativer Tempi auf Adventure Spiele muss erneut unterschie-
den werden zwischen interaktiven Spielsequenzen und narrativen
cut-scenes. Ersteren fehlt das erforderliche Unterscheidungs-
kriterium zur Geschwindigkeitsbestimmung, weil Erzählzeit und
erzählte Zeit ineinander fallen. Das Spieltempo ist somit kei-
nes, das mit narrativen Mitteln beeinflusst werden kann,
sondern vom individuellen Empfinden des realen Spielers ab-
hängt. Denn während objektiv die event time in Echtzeit
abläuft, steuert letztlich die Ereignisdichte, der Anforde-
248 Den gegenteiligen Effekt beschreibt Karin Wenz am Beispiel des Actionspiels Max Payne. In Referenz an die bullet time der Matrix-Filmtrilogie kann der Spieler die event time auf Zeitlupen-Tempo drosseln, um so den Avatar rechtzeitig aus der Schusslinie zu steuern beziehungsweise den herannahenden Kanonenkugeln auszu-weichen. Vgl. Wenz 2002. 249 Vgl. Genette 1994: 62ff.
66
rungsgrad das flow-Empfinden des Spielers und damit dessen
subjektives Zeitempfinden.
Demgegenüber können nicht-interaktive cut-scenes sehr wohl ih-
re narrativen Tempi variieren. Gerade Introsequenzen, die als
Einführung in die Spielhandlung dienen, arbeiten dabei häufig
mit summarischen Audiosequenzen oder szenisch animierten El-
lipsen. Derselbe phänomenologische Befund trifft auch auf den
Abspann zu, während sich bei Zwischensequenzen Erzählzeit und
erzählte Zeit zumeist die Balance halten. Die Echtzeit inter-
aktiver Spielsequenzen wird somit nachempfunden, um den
strukturellen Bruch abzumildern, welcher sich für den Spieler
zwangsläufig aus dem Wechsel von Interaktion (Spielsequenz) zu
Rezeption (cut-scene) ergibt. Eine weitere Kompensationsstra-
tegie liegt darin, Spiel- und Zwischensequenz visuell
identisch zu gestalten:
More recently, cut-scenes have been more tightly integrated into gameplay
by using the same graphic engine for both displays.250
So sind häufig schwarze Kinobalken der einzige cut-scene-
Indikator. Solche Zwischensequenzen oder Katalysen, wie Pias
sie bezeichnet, dienen gleichzeitig der Belohnung und Regene-
ration des Spielers:
Die Katalysen sind Sicherheitszonen und Ruhepausen, Momente, in denen das
Spiel luxuriert und der Spieler mit interesselosem Wohlgefallen einem
Spielfortschritt zuschauen darf, den er zwar heraufgeführt hat, in den er
aber nicht eingreifen kann.251
Nebst nicht-intentionalen Spielpausen verfügen beinahe alle
Computerspiele über die Option, den Spielverlauf zu pausieren.
Dabei gilt es zwei Formen zu unterscheiden: Pausiert man das
Spiel mittels Menübefehl, wird die event time eingefroren252.
Die Spielwelt steht still. Denkbar ist allerdings auch, dass
250 In: Crawford 2003: 160. 251 In: Pias 2000: 144. 252 Vgl. Juul 2004: 137.
67
der Spieler bloss nicht mehr interveniert, also keinen Input
liefert. Die event time läuft dann weiter, während keine play
time verbraucht wird. Diese zweite Form ähnelt dem, was Genet-
te als deskriptive Pause253 bezeichnet. Dabei läuft die
Erzählung zwar weiter, ohne dass jedoch die Handlung fort-
schreitet. Findige Spielentwickler haben dieser Form der
inputfreien Pause Rechnung getragen, in dem sie den Avatar a-
nimiert haben. So beginnt beispielsweise Carl Johnson, der
Avatar von GTA, nach einer bestimmten Zeit sich umzusehen und
ein Liedchen zu pfeifen, wenn der Spieler sich seiner nicht
behändigt.
Wie bereits angetönt, verfügen die meisten Computerspiele auch
über eine Speicherfunktion. Dabei werden die Ereignisse der
event time abgespeichert, wodurch die play time segmentiert
werden kann, was den Schwierigkeitsgrad direkt beeinflusst.
Denn gespeicherte Spielstufen lassen sich beliebig oft wieder-
holen. Dies ermöglicht dem Spieler ein folgenloses Try-and-
Error–Verfahren, das ihm sozusagen in der Repetition erlaubt,
die lösungsrelevante Handlungsweise einzuüben. Das beständige
Vor und Zurück ist denn auch eine grundlegende Spielbewegung,
die nicht nur für Adventure Spiele gilt. Die Spieldefinition254
des holländischen Anthropologen F. J. J. Buytendijk basiert
auf diesem Grundgedanken:
In his opinion, a defining feature of games is a back and forth motion that
might go on among the players, as well as between a player and an object.255
3.2.3. Frequenz
Das bestände Vor und Zurück, diese oszillierende Wiederholung,
findet auch in Genettes Terminologie ihre Entsprechung: So be-
zeichnet die Frequenz256 die Wiederholungsbeziehung zwischen
253 Vgl. Genette 1994: 71ff. 254 Vgl. Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes: Wesen und Sinn des Spiels. Berlin: Kurt Wolff, 1933. 255 In: Neitzel 2005: 229. 256 Vgl. Genette 1994: 81ff.
68
Geschichte und Erzählung257. Dabei sind erneut verschiedene
Muster denkbar, deren Adaption auf Adventure Spiele überra-
schende Resultate zeigen.
Der literarische Normalfall, nämlich die singulative Erzäh-
lung, bei der einmal erzählt wird, was sich einmal ereignet
hat, ist im Computerspiel eher selten258. Sie bleibt der ani-
mierten Einleitungssequenz, dem cineastischen Vorspann sowie
vereinzelt singulären Zwischensequenzen vorbehalten. Vielmehr
überwiegt der Typus repetitiver Erzählung, bei der n-mal er-
zählt wird, was einmal passiert. Es handelt sich exakt um
jenes Trial-and-Error-Verfahren, bei dem der Spieler in der
Spielsequenz den möglichen Lösungsweg aushandelt, während die
Geschichte als cut-scene einmalig aktualisiert wird. Erfolglo-
se Wiederholungen bleiben so irrelevant für die Handlung. Es
geht letztlich darum, die ideale Sequenz zu generieren, den
richtigen Weg zu finden.
In diesem Aushandeln einer möglichen Lösung sieht Aarseth jene
Diskursebene259, die ergodischen Texten wie Adventure Spielen
vorbehalten bleibt. Während literarische Texte Geschichte
(plot) und Erzählung (discourse) kennen, weisen Adventure
Spiele zusätzlich eine Verhandlungsebene (negotiation plane)
aus. Diese bildet sozusagen die Bühne für jene Intrige, die
bereits beschrieben wurde. Eskelinen spricht in diesem Zusam-
menhang auch von der tripartiten Kombination aus Ereignis,
Verhandlung und Fortschritt:
[…] in these events the player must find and test possible event sequences
until the right one is found and the game can continue.260
Hat der Spieler die ideale Sequenz jedoch vollzogen und so die
Handlung vorangetrieben, erscheinen vorgängig handlungsrele-
257 Wenz vertritt gar die Ansicht, dass Frequenz die einzige von Genettes Kategorien sei, die auch für Computer-spiele gelte, da die Ordnung in games nicht festgelegt sei und die Dauer vom Spieler abhänge. Diese Position weiss jedoch nicht in cut-scenes und Spielsequenzen zu unterscheiden. Vgl. Wenz, Karin: Narrativität in Compu-terspielen, 1999. http://www.netzliteratur.net/wenz/narrativitaet/intro.htm (12.6.2006) 258 Vgl. Kücklich 2002: 118ff. 259 Vgl. Aarseth 1997: 125ff. 260 In: Eskelinen 2001: 32.
69
vante Räume, Objekte und NPCs plötzlich sinnentleert. Diese
Beobachtung nimmt Aarseth zum Anlass, Adventure Spiele auch
als quest games zu bezeichnen. Ausgehend von der Überlegung,
dass der Spieler eine Reihe von Aufgaben erfüllen muss. Wenn
diese jedoch gelöst sind, verliert das Adventure Spiel den
Reiz gespielt zu werden:
When meaning is found, the quest is history. […] It cannot be done again,
as it is simply not the same experience to solve a puzzle quest for the
second time.261
Das Zitat offenbart strukturelle Differenzen zu rezeptiven
Kunstformen. So besitzen Film oder Literatur eine semantische
Unabgeschlossenheit, die wiederholten ästhetischen Genuss, zu-
mindest theoretisch, denkbar macht. Die kompetitive,
zielorientierte Grundstruktur von Adventure Spielen ist dage-
gen, trotz narrativer Elemente, eine endliche262. Ist das
ludische Rätsel einmal gelöst, bleibt quasi eine entfunktiona-
lisierte Spielwelt zurück.
Aarseths quest-Konzept ist aber noch unter einem zweiten, the-
matischen Aspekt reizvoll. Nimmt man die quest-Idee nämlich
beim Wort, erinnert sie frappant an klassische Helden-Epen wie
Homers Odysseus263 oder die Artusdichtungen264 im Mittelalter.
Diese Werke gliedern sich ebenfalls in einzelne Wagnisse und
Aufgaben, die sukzessive das Bild des Helden prägen. Dessen
Wesen manifestiert sich dabei in seinen Taten, während psycho-
logische Auslotungen dem modernen Roman vorbehalten bleiben.
Gerade diese Projektion des Charakters auf äussere Taten prä-
destiniert diese Werke als motivischen Fundus für Adventure
Spiele.
Aber auch strukturell sind Analogien auszumachen: Die episo-
disch-seriellen Einzelereignisse erinnern an die „entdeckten
261 In: Aarseth 2004: 368. 262 Vgl. Ryan 2001a: 309. 263 Vgl. Homerus: Odyssee. Stuttgart: Reclam, 1995. 264 Erzählende Dichtungen des hohen und späten Mittelalters, deren Helden dem Kreis um König Artus angehö-ren. Vgl. Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1990. S. 27.
70
Puzzleteilen der Geschichte“265, wie sie dem Spieler im ani-
mierten Nachgang zu den Spielsequenzen präsentiert werden. So
finden sich denn auch zahlreiche Beispiele für Adventure Spie-
le, die sich sowohl inhaltlich wie formal bei Heldenepen
bedienen: Angefangen beim frühen Grafikadventure King’s Quest,
bei dem der tapfere Ritter Sir Graham auszieht, um verschiede-
ne magische Gegenstände zu suchen, bis hin zum kontemporären
Fable, dessen namenloser Held den Vatermord rächen muss sowie
Mutter und Schwester zu retten hat. Wie später noch zu sehen
sein wird, eignet sich das epische Streben nach Exploration
vorzüglich für die räumliche Narration von Adventure Spielen.
Zurück zu Genettes Kategorie der Frequenz: Zwar dominiert eine
repetitive Erzählweise die Spielsequenzen, doch finden sich
auch iterative Erzählfragmente, die einmal erzählen, was n-mal
passiert. Gemäss Kücklich formieren solche iterativen Erzäh-
lungen ein „narratives Rauschen“266. Dieses besteht
beispielsweise aus Hintergrundbewegungen und Geräuschen, die
dem Spieler „das Gefühl vermitteln, dass die Zeit vergeht, oh-
ne dass dazu – wie in der literarischen Erzählung –
tatsächlich Ereignisse vonnöten sind.“267
3.2.4. Modus
Der Begriff „narratives Rauschen“ steht stellvertretend für
jene bereits beschriebenen Micronarratives, die Barthes
l’éffet du réel konstituieren. In ihrer narrativen Redundanz
erzeugen sie beim Spieler die mimetische Illusion von Wirk-
lichkeit und lassen sich deshalb auch mit Genettes Modus268
beschreiben: Darunter ist zunächst jene narrative Information
zu verstehen, die der Text dem Rezipienten zur Verfügung
stellt. Diese gliedert Genette in zwei Aspekte, Distanz und
Perspektive. Da Adventure Spiele in der Regel keine diegeti-
265 In: Kocher 2005. 266 In: Kücklich 2002: 120. 267 Ebd. 268 Vgl. Genette 1994: 114ff.
71
sche Instanz kennen, erübrigt sich die Analyse der Distanz
(von erzählter bis hin zu erlebter Rede). Die mimetische Dar-
stellungsweise der Computerspiele kennt einzig die direkte,
gesprochene Rede. In seltenen Fällen wie in Fahrenheit, dessen
Hauptfigur Lucas Kane psychologisch motiviert ist, finden sich
zuweilen auch autonome innere Monologe.
Die Frage der Fokalisierung269 erweist sich indes als ergiebi-
ger. Dabei gilt es, die Doppelrolle des realen Spielers im
Prozess des gameplays zu berücksichtigen. So fungiert dieser
sowohl Agent als auch Beobachter, indem er die Position seines
Avatar im virtuellen Raum kontinuierlich zu bestimmen hat.
Erst diese vermeintliche Selbstbeobachtung schafft die Voraus-
setzung für dessen aktive Einflussnahme auf das
Spielgeschehen270.
Die Perspektive der Observation ist dabei von entscheidender
Bedeutung. Dient dieser point of view doch, im Sinne Genettes,
als regulativ für narrative Information und bestimmt letztlich
die immersive Involviertheit des Rezipienten. Während bei li-
terarischen Texten die Frage „Wer sieht?“ zwischen Erzähler
und Figur ausgehandelt wird, bestimmt die Kameraposition in
Computerspielen die jeweilige Fokalisierung. Hierbei sind drei
Formen denkbar: Interne, externe und Null-Fokalisierung. Ers-
tere ist zumeist action-orientierten First-Person-Shootern
vorbehalten, die keinen Avatar visualisieren, sondern höchs-
tens einzelne Körperteile oder Waffen. Solch ein
eingeschränkter onscreen space führt zu einem Informationsde-
fizit, das für Spannung sorgt. Die gegenwärtig gängige
Fokalisationsform für Adventure Spiele ist jedoch die externe:
This point of view is connected to the movements of the avatar; it is not a
substitute for the viewpoint, rather a viewing-with.271
269 Der Begriff bezeichnet die Perspektivierung der Darstellung relativ zum Standpunkt eines wahrnehmenden Subjekts. Vgl. Martinez, Matias: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck, 1999. S. 63ff. 270 Vgl. Neitzel 2005: 230, 231. 271 Ebd. 238.
72
Der Blick erfolgt also sozusagen über die Schulter des Ava-
tars, wobei die Kameraposition zumeist auch aktiv durch den
Spieler gesteuert werden kann. Die standardmässige Aufsicht
von hinten (Schaubild 13)stellt dabei einen Kompromiss dar: Zwar
wird der Avatar als eigenständige Figur visualisiert, aber die
immersive Aneignung durch den realen Spieler ist nicht unter-
bunden, denn charakterbildende Merkmale wie Gesichtszüge und
vordere Extremitäten bleiben im Verborgenen.
Anders verhält es sich bei der Nullfokalisation, die dem rea-
len Spieler eine objektive Aussenperspektive zuteilt. Diese
allwissende Übersicht findet sich bei frühen, zweidimensiona-
len Grafikadventures wie Maniac Mansion oder Monkey Island I,
deren Avatare von der Seite dargestellt werden, wodurch deren
Gesichtszüge omnipräsent sind. Ein dynamischer Blickwinkel e-
xistiert indes nicht. Vielmehr verfügen die Bildausschnitte
über fixe Kameraperspektiven. Diese Darstellungsweise wurde
bereits unter dem Begriff „benachbarte Räume“ (adjacent
spaces) beschrieben.
Genettes Fokalisationsformen sind insofern gewinnbringend für
die Analyse, als darin die unterschiedliche Informationsdichte
der jeweiligen Perspektiven ersichtlich wird. Allerdings stel-
len die drei Fokalisierungen nur rudimentäre Beschreibungen
dar gegenüber der faktischen Vielfalt an Raummodellen.
So macht beispielsweise Wolf nicht weniger als elf verschiede-
ne Typen in Videospielen aus272: Angefangen bei statischen Ein-
Raum-Strukturen wie Pong bis hin zu in Echtzeit berechneten
3D-Modellwelten, die 1993 mit dem First-Person-Shooter Doom273
erstmals ein Massenpublikum fanden.
Ein Typus bei Wolf fällt dabei aus dem Rahmen: represented or
“mapped” spaces. Diese Kartographien stellen kein eigenständi-
ges Raummodell dar, sondern dienen dem Spieler lediglich als
ikonische Orientierungshilfe:
272 Vgl. Kapitel 3 „Space in the Video Game“. In: Wolf 2001: 51 – 77. 273 http://de.wikipedia.org/wiki/Doom (12.6.2006)
73
These represented and “mapped” spaces became an on-screen representation of
off-screen space; they were not spaces in and of themselves, but rather
simplified schematic versions of spaces designed to orient a player or in-
dicate important events occurring in off-screen space.274
Der Spieler als Beobachter ist damit in der Lage, seinen Ava-
tar über den visualisierten Ausschnitt hinaus, in der
Spielwelt zu situieren. Bei Myst wird die Besitznahme einer
solchen Karte gar zum Teil der Erzählhandlung beziehungsweise
Spielstrategie.
Häufig sind diese Karten entweder fester Bestandteil der Be-
nutzeroberfläche oder sie müssen mittels Steuerbefehl
aufgerufen werden. Bei ersterem Fall kann von einem hypermedi-
alen Effekt275 gesprochen werden. Die Karte ist dann Teil
permanenter Statusinformationen wie Inventar, Befehlseingabe
oder Energieanzeige, die sozusagen das eigentliche Aktionsfeld
überlagern und der Immersion des Spielers zunächst abträglich
scheinen. Allerdings relativiert Kücklich diesen Befund. So
seien geübte Spieler durchaus in der Lage, die angezeigten
Statusinformationen zu „naturalisieren“276.
Nichtsdestotrotz nimmt Järvinen die Existenz von map views zum
Anlass, Genettes Fokalisierung in ein Konzept der Lokalisation
umzudeuten, das keinen dominanten point of view mehr vorsieht.
Die Kartographien seien vielmehr als visuelle Formen der Nar-
ration aufzufassen und Teil einer Multiperspektivität, deren
Ausgangspunkt für den Spieler die Frage bildet:
Where am I/my character and where can I go/she go?277
274 In: Wolf 2001: 67. 275 Der Begriff bezieht sich auf einen Effekt der Remediation. So verbinden Medien wie das Fernsehen scheinbar mühelos heterogene Elemente zu einem hypermedialen Ganzen, wenn beispielsweise ein Nachrichtensprecher im Gespräch mit einem Interviewpartner an einem anderen Ort zu sehen ist, während am unteren Bildrand aktu-elle Börsenkurse, Wetterdaten oder Zeitangaben über den Sender gehen. Derselbe Befund gilt für Computerspiele, deren eigentliche Aktionsfläche um weitere Elemente wie Energieanzeige, Karte oder Inventar überlagert wird. Vgl. Kücklich 2002: 81, 82. 276 Ebd. 82. 277 In: Järvinen 2001: 7.
74
Zwar kann der finnische Ludologe278 nicht plausibel machen,
weshalb die Fokalisierung zugunsten der Lokalisation ersetzt
werden soll - ausser dass erstere einen narratologischen Beg-
riff darstellt. Dennoch gilt es das Konzept räumlicher
Narration weiter zu verfolgen.
3.2.5. Stimme
Genettes letzter Leitbegriff ist die Stimme279. In der Doppel-
rolle des Spielers als Beobachter und Agent bezieht sich die
Stimme auf letzteren. Allerdings muss die Ausgangsfrage für
Computerspiele reformuliert werden: Statt „Wer spricht?“, wie
bei Genette, muss sie „Wer handelt?“ lauten, „[…] because no
one speaks in computer games, but the plot is created through
actions.“280
Dieser point of action kann sowohl innerhalb der Spielwelt an-
gesiedelt sein (intradiegetisch) als auch ausserhalb liegen
(extradiegetisch). Visualisiert das Adventure Spiel einen Ava-
tar, geht von diesem intradiegetisch die Handlung aus. Der
reale Spieler projiziert sich in dieselbe zeitlich-räumliche
Dimension und nimmt so, gemäss Kocher, eine homodiegetische
Perspektive ein281.
Fehlt jedoch ein solcher Agent in der Spielwelt, steht der re-
ale Spieler ausserhalb des fiktionalen Seinsbereichs. Häufig
geht diese heterodiegetische Position einher mit einer isomet-
rischen Perspektive, die bei Strategiespielen wie
Civilization282 oder Populous283 vorherrscht. In solch so ge-
nannten god games handelt der reale Spieler extradiegetisch
als Verwalter einer simulativen Versuchsanlage.
Typisch für diese Strategiesimulationen sind ihre indirekten
Handlungsverläufe: So wirken sich Eingriffe des Spielers oft
278 Vgl. Järvinens Dissertationsthesen sind auch online abrufbar unter http://www.gameswithoutfrontiers.net/ (12.6.06) 279 Vgl. Genette 1994: 151ff. 280 In: Neitzel 2005: 237, 238. 281 Vgl. Kocher 2005. 282 http://en.wikipedia.org/wiki/Civilization_%28computer_game%29 (20.4.06) 283 http://en.wikipedia.org/wiki/Populous (20.4.06)
75
verzögert und mittelbar aus, während in Adventure Spielen Be-
fehle sichtbar und in Echtzeit ausgeführt werden. Dies wirkt
sich direkt auf das Spielgefühl aus. Man denke hier vor allem
an Murrays Konzept der Agency. Gleiches gilt auch für die Un-
terscheidung in exzentrische und konzentrische points of
action: Während Strategiespiele gleichzeitig Interventionen an
mehreren Orten in der Spielwelt ermöglichen, sind Handlungen
in Adventure Spiele orts- beziehungsweise Avatar-gebunden284.
Die Adaption von Genettes narratologischen Begriffen auf Ad-
venture Games hat zu unterschiedlichen Resultaten geführt:
Während die Fokalisierung Einsichten in die Informationsstruk-
tur verschiedener Perspektiven gab, erwies sich beispielsweise
die Kategorie der narrativen Tempi als unergiebig. Es fällt
auf, dass sich insbesondere die Spielsequenzen narratologi-
schen Zuschreibungsversuchen entziehen, in dem dort Geschichte
und Erzählung in Echtzeit zusammenfallen. Oder wie Neitzel es
formuliert:
Especially when the clear distinction of story and discourse is in ques-
tion, narratology comes to its limits.285
3.3. Spatial Stories
Zum Abschluss dieses Kapitels sollen deshalb Positionen ab-
seits klassischer Erzähltheorien referiert werden. Diese eint
der Gedanke räumlicher Narration, wie er phänomenologisch be-
reits mehrfach konstatiert wurde. Theoretischer Ausgangspunkt
hierzu bildet das Spatial Story-Konzept des französischen Kul-
turphilosophen und Soziologen Michel de Certeau286, der den
Erzählbegriff im etymologischen Ursprung zu fassen sucht:
284 Vgl. Neitzel 2005: 238, 239. 285 Ebd. 241. 286 Vgl. Kapitel Videogames as Spatial Stories. In: Newman 2004: 113 – 115.
76
[…] in Greek, narration is called „diagesis“: it establishes an itinerary
(it „guides“) and it passes through („it transgresses“).287
An diese wörtliche Lesart der Erzählung als Durchschreiten ei-
ner (Reise-)Route288, knüpft de Certeau die Unterscheidung in
Ort (place) und Raum (space) an. Orte sind dabei als abstrakte
Entitäten zu verstehen, die über Erzählpotential verfügen.
Erst die Aktionen der fiktionalen Charaktere transformieren
den jeweiligen Ort zum Raum, in dem sich Ereignisse entfalten:
[…] Spaces, on the other hand, are places that have been acted upon, ex-
plored, colonized. Spaces become the locations of narrative events.289
Diese subjektive Kolonisation aus der Perspektive eines Erzäh-
lers bezeichnet de Certeau als Rundgang (tour), während sein
Gegenbegriff, die Karte (map), objektiv räumliche Bezüge
schafft.
Die genannten Merkmale von Spatial Stories bieten Adaptions-
möglichkeiten für Computerspiele: So wird Järvinens Konzept
vom map view als Form visueller Narration mit de Certeaus Un-
terscheidung in Karte und Rundgang theoretisch unterfüttert.
Die Präsenz einer Karte markiert potentielle Erzählangebote,
die der Spieler als tour aktualisieren kann. Mit der geografi-
schen Aneignung der Orte geht also deren räumliche
Narrativierung einher. Der Spieler kolonisiert aktiv als Ava-
tar die Spielwelt und erzeugt gleichsam, im Akt der
Raumeroberung, seine individuelle Erzählung einer Geschichte,
deren kulturhistorische Wurzeln weit zurückreichen.
287 Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press, 1984. S. 129. Zit. nach Manovich 2001: 246. 288 Zum Vergleich versteht Jurij Lotmans Raumsemantik den diagesis-Begriff in einem übertragenen Sinne, der sich besonders motivisch als produktiv erweist. Narrative Texte sind demnach stets durch eine Bewegung, ein Sujet gekennzeichnet: dem Überschreiten der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen Struk-tur. Die Topologie des narrativen Textes („links vs. rechts“, „innen vs. aussen“ etc.) ist dabei mit semantischen Gegensatzpaaren wie „Natur vs. Kultur“ oder „gut vs. böse“ aufgeladen, die wiederum topographisch konkreti-siert werden – zum Beispiel als Konflikt von „Stadt vs. Land“ oder „Berg vs. Tal“. Vgl. Lotman, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. 289 Fuller, Mary u. Henry Jenkins: Nintendo© and New World travel writing: a dialogue. In: Cybersociety: Computer-mediated Communication and Community. Hrsg. von S.G. Jones. Thousand Oaks: Sage Publications, 1995. S. 66.
77
Der Bezug zum antiken Heldenepos wurde dabei im Rahmen der
quest games bereits abgehandelt. Manovich sieht in Computer-
spielen indes auch den amerikanischen Gründermythos (frontier
mythology) weiterleben, wie ihn literarische Werke des 19.
Jahrhunderts etabliert haben290. So individuieren Figuren wie
Mark Twains’ Tom Sawyer oder James Fenimore Coopers’ Leder-
strumpf erst in der Exploration fremden Terrains. Auch die
Reiseberichte des 16. und 17. Jahrhunderts (travelogue) aus
der Neuen Welt291 dienen als literarische Referenzpunkte.
Während die Geschichte aus einem reichen motivischen Fundus
schöpft, ist die Erzählung eine singuläre. Denn zumindest die
Spielsequenz, der Akt der räumlichen Besitznahme, gestaltet
sich für jeden Spieler individuell, demgegenüber sind die ani-
mierten Zwischensequenzen bekanntlich vorprogrammiert und
besitzen damit intersubjektive Gültigkeit. Ob allerdings die
jeweilige cut-scene als Raum tatsächlich aktualisiert wird,
hängt sowohl von den Handlungen des realen Spielers wie auch
von der jeweiligen Erzählstruktur ab. Eine mögliche Typologie
soll hier einen Überblick schaffen.
Indes darf die Singularität der Erzählung nicht überbewertet
werden. Der individuellen Ausgestaltung sind Grenzen gesetzt,
wie der Abschnitt über subversive Lesarten gezeigt hat. Von
einem vollwertigen Autorstatus, wie ihn Atkins postuliert, ist
der reale Spieler weit entfernt292. Dieser wäre auch gar nicht
wünschenswert, denn textonische Befugnisse lassen die Immersi-
on implodieren: Lässt sich die Ebene des Codes manipulieren,
verliert die simulierende Fiktion ihr Faszinosum des Als-Ob.
Vielmehr handelt es sich bei den einzelnen Erzählvorgängen um
Variationen einer holistischen Spielwelt. Deren symbolische
Erlebnisarchitektur ist mit jener von Vergnügungsparks ver-
290 Vgl. Manovich 2001: 271, 272. 291 Vgl. Kücklich 2002: 32, 33. 292 Atkins erklärt in seinem euphorisierten Elaborat den Spieler nicht nur zum Künstler und Autoren. Er reani-miert auch jene Aura, deren Verlust Walter Benjamin einst in seinem epochalen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduktion“ durch die infinite Vervielfältigung von Kulturgütern konstatierte. So fasst Atkins jene minimalen Erzählvariationen, die der reale Spieler im gameplay erzeugt, als vollwertige Originale auf: […] the work of art in our own supposedly digital age appears to restore the mystery and return the “aura” to us – we all have access to, and only to, an original.” In: Atkins 2003: 153.
78
gleichbar. So bewegt sich der Besucher frei zwischen einzelnen
Attraktionen, die ein gemeinsames Erzählangebot bilden. Oft-
mals werden nämlich Bahnen, Darbietungen, Hotels oder
Restaurationsbetriebe zu Themenbereichen (subworlds) zusammen-
gefasst, „[…] each of which offers a different, carefully
scripted adventure“293.
Deutschlands grösster Vergnügungspark, der Europa Park294, ist
beispielsweise in nationalstaatliche Pavillons gegliedert,
welche länderspezifische Klischees bedienen, während im Dis-
neyland Paris295 populärkulturelle Motive abgerufen werden wie
„Der Wilde Westen“ (Frontierland), „Science-Fiction“ (Discove-
ryland) oder „Märchen“ (Fantasyland). Solchen Themenbereichen
sind Spatial Stories gemein, die in einem geringen Masse von
der jeweiligen Attraktion selbst erzeugt werden. Jenkins
bezeichnet sie deshalb als evokative Räume:
Such works do not so much tell self-contained stories as draw upon our pre-
viously existing narrative competencies.296
Die Narrativität dieser subworlds besteht also im Abrufen kul-
tureller Codes und motivischer Reminiszenzen beim Besucher.
Solche assoziativen Repräsentationsräume297 erzeugen auch Com-
puterspiele, wie das Agentenfilm-Beispiel aus Tomb Raider II
gezeigt hat. Damit ist reibungslose Immersion gewährleistet
und gleichzeitig wird die Spielführung vereinfacht, indem auf
ein bestehendes Repertoire an Verhaltensweisen zurückgegriffen
werden kann.
Die räumliche Darstellung in Computerspielen darf indes nicht
mit der physischen Raumerfahrung in Vergnügungsparks gleichge-
setzt werden. Zwar wird die sensorische Erfahrung künstlicher
293 In: Ryan 2001a: 255. 294 http://www.europapark.de/ (12.6.06) 295 http://www.disneylandparis.com/ (12.6.06) 296 In: Jenkins 2004: 124. 297 Aarseth unterscheidet, unter Bezugnahme auf den französischen Philosophen Henri Lefebvre und dessen Konzept einer räumlichen Praxis, zwischen Repräsentationsräumen als symbolische Bilder zu primär ästheti-schem Zweck und Raumrepräsentationen als einem logischen Relationensystem. Vgl. Aarseth 2001: 311.
79
Räume beständig sublimiert298. Diese bleiben jedoch eine reduk-
tionistische Raumrepräsentationen, „die selbst nicht räumlich,
sondern symbolisch und regelbasiert ist.“299 Der Befund er-
scheint trivial. Die Erkenntnis jedoch droht aufgrund der
Fülle möglicher, zum Teil metaphorischer, Analogiebildungen
rasch dem analytischen Fokus zu entgleiten. Trotz der ontolo-
gischen Differenz zum realen Raum, bleibt die räumliche
Verfasstheit von Computerspielen ihre raison d’être:
Insgesamt wird jedoch deutlich, dass das, was das kulturelle Genre des Com-
puterspiels von anderen Genres wie Romanen und Filmen unterscheidet – neben
seinen offensichtlichen kybernetischen Unterschieden – seine Befasstheit
mit Raum ist.300
Diese Befasstheit hat auch direkte Konsequenzen auf die Er-
zählweise von Computerspielen, was sich am Beispiel von
Filmadaptionen veranschaulichen lässt301. So besteht die Aufgabe
von Spielentwicklern darin, die Kausalketten des linearen
Filmplots aufzubrechen und diese als episodische Erzählfrag-
mente im Raum zu verteilen. Die Anordnung der Geschichte wird
dabei zum topographischen Balanceakt.
Gerade Adventure Spiele fordern einen stringenten plot, der in
seiner dramatischen Kohärenz zugleich als ludischer Anreiz
dient: Das Interesse am Fort- beziehungsweise Ausgang der Ge-
schichte spornt den Spieler an. Ein Gefühl von Agency stellt
sich allerdings nur dann ein, wenn dem Spieler möglichst um-
fassende Freiheiten zur Interaktion gewährt werden, „[…]
without totally derailing the larger narrative trajectory.“302
298 Die Raumrepräsentation in Videospielen beschränkt sich keineswegs mehr nur auf die grafische Ausgestal-tung. Die räumliche Ortung von Klängen und Geräuschen ist dabei ebenso entscheidend. So verfügen neuere Konsolensysteme über die Möglichkeit zur Ausgabe von Raumklang (Dolby Surround), was sich direkt auf das Spielerlebnis auswirkt: „Positional audio extends the player’s spatial awareness and experience beyond the visu-al. Enemies approaching from behind can be heard even if not seen.” In: Newman 2004: 125. 299In: Aarseth 2001: 312. 300 Ebd. 309. 301 Vgl. Jenkins 2004: 122. 302 Ebd. 126.
80
Der narrative Überbau bringt es also mit sich, dass Adventure
Spiele oftmals auf so genannten hard rails laufen303: Der Spie-
ler muss ein spezifisches Rätsel lösen, um die Geschichte
voranzubringen. Andere Lösungsansätze sind nicht denkbar. In
Syberia II beispielsweise benötigt die Hauptfigur Kate einen
Schlüssel, um das Bahnhofsgelände verlassen zu können. Kommt
der Spieler nicht auf den Gedanken, ein junges Mädchen mit
Süssigkeiten zur Herausgabe des Schlüssels zu bewegen, stoppt
die Geschichte. Alternative Erzählangebote finden sich keine.
3.4. Interaktive Erzählstrukturen
Das Verhältnis zwischen hard rails und Wahlfreiheit hängt
letztlich von der jeweilig interaktiven Erzählstruktur304 ab.
Nachfolgend sollen vier mögliche Modelle geschildert werden.
3.4.1. Irrgarten, Labyrinth
Da ist zunächst der Irrgarten (Schaubild 14) als klassische
Struktur von Textadventures. Bereits Adventure aus dem Jahr
1973 stellt ein solches Labyrinth dar. Der Spieler muss sich
einen Weg vom Start- zum Zielpunkt bahnen. Das Schema kann da-
bei beträchtlich variieren. Es sind verschiedene Lösungswege
zwischen einzelnen Knotenpunkten denkbar. Allerdings weist die
Abfolge dramaturgische Schwächen auf: So bewegt sich der Spie-
ler zuweilen im Kreis oder vermeintliche Endpunkte erweisen
sich als Sackgasse. Als narrativer Fixpunkt dient lediglich
die Zielvorgabe, unter welcher sich alle Aufgaben subsumieren
lassen.
3.4.2. Flussdiagramm
Diese strukturelle Schwäche findet sich beim Flussdiagramm
(Schaubild 15) nicht: Der Verlauf der Erzählung ist vorgeschrie-
303 Die Metapher der hard rails beschreibt treffend den eingeschränkten Handlungsspielraum des Spielers: Eine Erzählung als Zugfahrt mit Spielsequenzen als Zwischenstopps. Demgegenüber stehen Computerspiele mit soft rails, die sich durch Multidirektionalität und Multilinearität auszeichnen. Vgl. Jenkins 2002: 69. u. Kocher 2005. 304 Vgl. Kapitel „The Structures of Interactive Narrativity” In: Ryan 2001a: 246ff.
81
ben, während sich der Spieler lediglich an einzelnen Stellen
zwischen möglichen Erzählvarianten entscheiden kann. Die Chro-
nologie der Ereignisse ermöglicht eine geschlossene
Dramaturgie. Dies geht jedoch zulasten der Interaktivität:
„[…] it trivializes the consequences of the user’s decisi-
ons.“305
Wie das Syberia II-Beispiel gezeigt hat, ist der Spieler zum
einen innerhalb des jeweiligen Erzählstrangs eingeschränkt.
Zum anderen ist die Wahl einzelner Erzählvarianten nur eine
vermeintliche: So kann der Spieler beispielsweise in Fahren-
heit zwischen mehreren Erzählsträngen auswählen, aber
letztlich müssen alle abgearbeitet werden. Die Reihenfolge ist
also irrelevant für den Ausgang der Geschichte. Diese Schwäche
lässt sich zumindest teilweise kompensieren, indem die Struk-
tur kontextsensitiv funktioniert und so die Entscheide des
Spielers berücksichtigt werden306: Je nachdem, ob der Spieler
über einen bestimmten Gegenstand verfügt oder nicht, ergeben
sich verschiedene Erzählvarianten, wenn er auf nachfolgende
Rätsel oder Gegner trifft. Allerdings übersteigen folgenreiche
Entscheide bald einmal die Grenzen des Machbaren307, denn die
Komplexität möglicher Erzählvariationen ist ab einer gewissen
Anzahl Variablen kaum mehr vorhersehbar. Solch emergente Phä-
nomene gefährden letztlich die lineare Entfaltung der
Geschichte.
3.4.3. Hidden Story
Ein weiteres Modell ist die Hidden Story (Schaubild 16). Diese
besteht aus zwei Erzählebenen: Die eigentliche Geschichte
liegt dabei in der Vergangenheit. Die Aufgabe besteht nun dar-
in, deren Kausalkette von Ereignissen zu rekonstruieren, indem
der Spieler narrative Informationen sammelt308. Diese sind als
Objekte, NPCs oder Rätsel in der Raumrepräsentation verteilt.
305 In: Ryan 2001a: 252. 306 Ebd. 253. 307 Vgl. Crawford 2003: 262, 263. 308 Vgl. Manovich 2001: 248.
82
Die lineare Ereigniskette wird demzufolge in eine nicht-
temporale, narrativierte mise en scène überführt:
The game world becomes a kind of information space, a memory space.309
Die investigative Spielertätigkeit kommt einer gnoseologischen
Erzählung310 gleich: Am Anfang der Erzählung ist dem Spieler
das Ende der vorgängigen Geschichte noch unbekannt. Erst die
Spielhandlung transformiert Nichtwissen in Wissen. Sie wird
inhaltlich durch die Rolle des Avatars motiviert, der meist
als Ermittler (Detektiv, Kommissar) arbeitet oder zumindest
dessen Funktion übernimmt. So führen die gleichnamigen Helden
von Sam & Max eine Detektei. In Project Zero II muss Mio Ama-
kura das Verschwinden ihrer Zwillingsschwester Mayu
untersuchen. Und in Fahrenheit ermitteln die Kommissare Carla
Valenti und Tyler Miles in einem Mordfall. Für den realen
Spieler gewinnt damit die Rekonstruktion der Geschichte als
Raumerkundung auch inhaltliche Plausibilität.
3.4.4. Beurteilung der Modelle
Sowohl Irrgarten, Flussdiagramm wie Hidden Story fussen letzt-
lich auf einer linearen Geschichte, der die Spielsequenzen
untergeordnet sind:
[…] the system designs the general outline of the plot, and the user se-
lects the details of its realization.311
Dabei sind unterschiedliche Grade der Interaktivität auszuma-
chen: Am stärksten restringiert das Flussdiagramm die
Einflussnahme durch den Spieler. Die jeweilige Idealsequenz
dient lediglich dazu, chronologisch das nächste Fragment der
309 In: Jenkins 2004: 126. 310 Todorov unterscheidet zwischen mythologischen, ideologischen und gnoseologischen Erzählungen. Bei erste-ren schlägt ein positiver Grundzustand in einen negativen um. Der vormalige Zustand muss in der Folge restituiert werden. Neitzel sieht dieses Muster in Action Spielen realisiert. Ideologische Erzählungen finden sich dagegen mit ihren repetitiven Erzählfunktionen in Strategiespiele wider, während gnoseologische Erzählstruktu-ren für Adventure Spiele prototypisch sind. Vgl. Neitzel 2005a: 235ff. u. Neitzel 2005b: 119. 311 In: Ryan 2001a: 255.
83
Geschichte zu eröffnen; nur der nachfolgende Ort kann jeweils
als Raum aktualisiert werden. Die Disposition von Computer-
spielen als Erzählwelt wird dabei nicht einmal ansatzweise
ausgeschöpft. Vielmehr scheinen sich solche Modelle an linea-
ren, rezeptiven Erzählformen zu orientieren. Dieser Umstand
zeigt sich auch in der Absenz eines map views. Point-and-
Click-Adventures wie Syberia II kommen als Abfolge animierter
Tableaus daher – eine Exploration im Sinne der Spatial Stories
ist nicht möglich.
Demgegenüber gewährt das Modell der Hidden Story dem Spieler
zumindest gewisse Freiheiten der Raumerkundung. Dieser Gedanke
wird bestätigt durch Robyn Miller, Mitentwickler von Myst,
welcher den Arbeitsprozess des Spieldesigns schildert:
We are creating environments to just wander around inside of. People have
been calling it a game for lack of anything better […]. But that’s not what
it really is; it’s a world.312
Dennoch weisen Adventure Spiele, die als Hidden Stories konzi-
piert sind, auch Restriktionen auf: Die Rekonstruktion einer
bestehenden Geschichte bedarf eben zumindest einer gewissen
Linearität der Enthüllung. Ansonsten wäre es beispielsweise
denkbar, dass der Spieler bereits nach kurzer play time das
entscheidende Erzählartefakt im Raum entdeckt und somit ver-
früht den Mörder dingfest machen kann.
Beliebte Formen der topographischen Beschränkung liegen in na-
türlichen Hindernissen: Inseln, Felswände oder Schluchten
besitzen sozusagen eine intrinsische Plausibilität als Ord-
nungsprinzip. Entsprechendes lässt sich nur bedingt über Türen
und ähnliche Schliessmechanismen sagen, die einer zusätzlichen
Motivierung durch die Erzählung bedürfen.
Letztlich dienen alle diese Beispiele der aktiven Spielfüh-
rung. Trotz ihrer vermeintlich atemporalen Form als „body of
information“313 sind Hidden Stories den Gesetzen der Chronolo-
312 Zit. Nach Manovich 2001: 248. 313 In: Jenkins 2004: 126.
84
gie also nicht gänzlich enthoben; auch schon deshalb, weil ei-
ne lineare Ereignisfolge die Basis der Rekonstruktion bildet.
3.4.5. Story-World
Solch ein Tribut an die dramaturgische Kohärenz einer Ge-
schichte fällt beim letzten Modell, der Story-World (Schaubild
17) weg:
This model abandons the idea of an overarching dramatic narrative in favor
of an epic structure of semiautonomous episodes […]. The global narrative
determined by the user’s movement is purely sequential, but the micronarra-
tives specified by the system can be causal or dramatic.314
Die Story-World ist für den Spieler frei explorierbar, während
dieser als Avatar im Akt der Raumeroberung die Spatial Story
fortschreibt. Gleichzeitig verfügt das Adventure Spiel über
konkrete Erzählangebote, die Ryan als Micronarratives bezeich-
net. Dies widerspricht der vorliegenden Terminologie, welche
Micronarratives als scripted-events versteht. Fortan soll des-
halb von Erzählangeboten die Rede sein. Solche Erzählangebote
sind nicht zwingend für den Spielverlauf, sondern können vom
Spieler auch ignoriert werden. Damit erfüllt das Modell Story-
World eine von Furtwänglers normativen Postulaten an interak-
tive Erzählformen:
[…] so müssen dem Spieler jederzeit Optionen offen gehalten werden, einem
Grossteil narrativer und interaktiver Sequenzen bei potentiellem Desinte-
resse einfach den Rücken zuwenden zu können.315
In GTA beispielsweise sind die einzelnen Erzählangebote im map
view als Symbole gekennzeichnet. Aktualisiert der Spieler den
entsprechenden Ort als Raum, startet in der Regel eine ani-
mierte cut-scene. Diese dient als Exposition316 eines
dramatischen Konflikts und fungiert zugleich als Anleitung für
die nachfolgende Spielsequenz. Neben diesen linearen Erzählan-
314 In: Ryan 2001a: 255. 315 In: Furtwängler 2001: 396. 316 Vgl. Jenkins 2004: 126.
85
geboten ist bei GTA sozusagen die Spielwelt selbst narrati-
viert. Metaphorisch gesprochen, liegen die Geschichten für den
Spieler auf der Strasse, und zwar im Sinne einer simulativen
„face-to-face“ Interaktion, wie sie Furtwängler am Beispiel
des First-Person-Shooters Half Life analysiert hat:
Interaktivität und Narrativität fallen an einem Punkt zusammen, der Erzähl-
verfahren selbst in ein dynamisches System überführt – also nicht nur in
das des Spiels integriert, sondern mit diesem untrennbar verbindet. Ge-
schichten müssten gewissermaßen ‚on the fly‘ generiert und erfahrbar
gemacht werden.317
Bei GTA erzeugt die Simulation einer südkalifornischen Gross-
stadt Erzählungen. Diese fundieren auf der Emergenz schwacher
Formen von künstlicher Intelligenz (KI)318: So divergiert je
nach Quartier die ethnische Zusammensetzung der Population.
Deren situative Verhaltensmodelle unterscheiden sich, bei-
spielsweise bei einer aktiven Bedrohung durch den Avatar. Auch
ist die Polizeipräsenz beziehungsweise die Nachsichtigkeit der
Ordnungshüter gegenüber Verbrechen von Stadtteil zu Stadtteil
unterschiedlich. Zudem ändert sich mit Tageszeit und Wetterla-
ge die Verkehrsituation auf den Strassen stetig.
Erst die Summe dieser einzelnen Muster bildet eine sich stets
aktualisierende Versuchsanlage. Begeht der Spieler nun bei-
spielsweise mit seinem Fahrzeug einen Unfall und verletzt
dabei einen NRC, bestimmen unter anderem die obigen Variablen
den Fortgang der Spatial Story. Handelt es sich beim NRC um
ein Mitglied einer verfeindeten Strassengang, kann der Unfall
zu einem grossflächigen Bandenkrieg ausarten. Wird indes ein
„gewöhnlicher“ Passant tangiert, droht dem Avatar die straf-
rechtliche Verfolgung durch die Polizei.
317 In: Furtwängler 2001: 398. 318 Eine umfassende Darstellung möglicher Formen künstlicher Intelligenz (KI) in Computerspielen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und entspricht auch nicht deren Zielsetzung. Einen guten Einstieg in die kom-plexe Materie findet sich auf http://www.ai-games.de (12.6.06). Der Internetauftritt ist im Rahmen einer Vortragsreihe an der Universität Erlangen am Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz entstanden.
86
Allerdings ist das KI-Verhalten von NRCs unterkomplex: Die
Muster werden mit steigender Spieldauer repetitiv und somit
durch den realen Spieler antizipierbar. Auch die wechselnden
Umweltbedingungen muten zuweilen mechanisch an.
Trotz dieser Defizite, scheint eine dynamische Story-World in-
teraktive wie narrative Elemente miteinander zu versöhnen: Es
stellt sich indes die Frage, ob solch aktive Erfahrungen über-
haupt noch als Erzählungen zu fassen sind, „[…] or if it’s
better understood as actions carried out under certain regula-
tions, as in other types of games.“319 Für den Spieler mögen
diese Spatial Storys zwar aktive, regelgeleitete Erlebnisse
darstellen. Zumindest auf der Entwicklerseite bedarf es jedoch
eines dramaturgischen Feingefühls: Gefragt sind konfliktträch-
tige Erzählpotentialitäten im Raum.
3.5. Zusammenfassung
Die Mehrzahl der untersuchten Adventure Spiele erzeugt keine
Geschichten „on the fly“ sondern bestenfalls „games alterna-
ting with stories“320. Dabei überzeugen meist weder die
Erzählelemente, denen es an Interaktivität mangelt, noch die
Spielsequenzen, welche aufgrund eingeschränkter Handlungsopti-
onen eindimensional bleiben. Manovich konstatiert denn auch:
Interactive narrative remains to be a holy grail of new media.321
Wie das Modell der Story-World gezeigt hat, rückt dieser hei-
lige Gral zumindest in Reichweite, wenn Adventure Spiele auf
einen übergreifenden dramatischen Spannungsbogen verzichten,
welcher den Spieler zum blossen Erzählgehilfen degradiert. Ge-
schichten müssen vielmehr erfahrbar gemacht werden und vom
Spieler aktiv erzeugbar sein. Die Echtzeit als grundlegendes
Strukturmerkmal von Computerspielen fordert solche Erfahrungs-
319 In: Neitzel 2005: 237. 320 In: Crawford 2003: 260. 321 In: Manovich, Lev: Review of „Pause & Effect”. http://www.pause-effect.com/reviews.html (12.6.06)
87
welten ein. Nur so lassen sich Erzählungen im weitesten Sinne
in Adventure Spielen adäquat realisieren.
88
4. Spiele
Um dem Hybridphänomen der Adventure Spiele gerecht zu werden,
soll abschliessend das Wesen von Spielen analysiert werden.
Dieses Kapitel bildet den Abschluss dieser Arbeit und dient
zugleich als ludologischer Kontrapunkt zum narratologischen
Fokus, der bisher verfolgt wurde.
4.1. Definitionen
Als theoretische Referenzpunkte dienen der Ludologie die Ar-
beiten des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga
sowie jene des französischen Soziologen Roger Caillois322. Ers-
terer unternimmt in seinem Werk Homo Ludens einen
Definitionsversuch des Spiels:
[…] eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser
festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber
unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und
begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusst-
sein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“.323
Was hierbei auffällt ist, dass Huizingas Spieldefinition die
Rahmenbedingung (Regeln, Grenzen von Raum und Zeit) für die
eigentliche Handlung absteckt: Das Spiel (game) präformiert
das Spielen (play).
Caillois ergänzt diesen Ansatz um weitere Aspekte324. So sei
das Spiel eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und Ergebnis
nicht von vorne herein feststünde. Der Initiative des Spielers
müsse deshalb eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt wer-
den – im Übrigen auch eine Erkenntnis der narratologischen
Analyse. Daneben sei das Spiel eine unproduktive und fiktive
Betätigung, die nicht materielle Güter erschaffe, sondern ein
spezifisches Bewusstsein einer, in Bezug auf das gewöhnliche
322 Vgl. Kücklich 2002: 8. 323 In: Huizinga, Jan: Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur. Basel: Burg-Verlag, 1944. S. 46, 47. 324 Vgl. Caillois 1960: 16ff.
89
Leben, freien Unwirklichkeit. Dieses spezifische Bewusstsein
erinnert an die Immersion.
Allerdings trennt Caillois scharf zwischen geregelten und fik-
tiven Spielen. Letztere bestünden im Als Ob, dem Spielen einer
Rolle, welche willkürliche Spielregeln ersetze, zugunsten „ei-
nes Bewusstseins der absoluten Irrealität des angenommenen
Verhaltens“325. Gerade diese Unterscheidung scheint für Compu-
terspiele aber nicht zu zu treffen. Diese kennen zwar
dezidierte Regeln, sind aber auch in der Weise fiktiv, wie
Spieler und Avatar im Verhältnis zueinander stehen. Denn jene
absolute Irrealität des Als Ob wird dem Spieler ins Bewusst-
sein gerufen, sobald sich der Avatar seiner Einflussnahme
entzieht, beispielsweise, indem er stirbt326. In solchen Momen-
ten zerfällt die symbiotische Beziehung zwischen Spieler und
Avatar.
4.2. Klassifikation
Caillois hat nicht nur das Spiel zu definieren versucht, son-
dern auch eine Klassifikation möglicher Spielformen
entwickelt327: Agôn bezeichnet hierbei Spiele, die als Wett-
kampf funktionieren. Die Rivalität bezieht sich meist auf eine
einzige Eigenschaft (Schnelligkeit, Geschicklichkeit etc.),
worin der Gewinner zugleich als Bester seiner jeweiligen Kate-
gorie ausgewiesen wird. Alea steht dagegen im Lateinischen für
das Würfelspiel und meint Spiele, auf deren Ausgang der Spie-
ler keinen Einfluss nehmen kann. Im Suspendieren der
Handlungsgewalt liegt der Reiz solcher Glückspiele wie Roulet-
te oder Lotterie. Mimicry oder Verkleidung bezeichnet die oben
genannten fiktiven Spiele:
Das Vergnügen besteht darin, dass man ein anderer ist oder dass man für ei-
nen anderen gehalten wird.328
325 Ebd. 15. 326 Vgl. Aarseth 1997: 113. 327 Vgl. Caillois 1960: 21ff. 328 In: Caillois 1960: 30.
90
Als Beispiele lassen sich das Theater und andere Schaukünste
anführen. Ilinx schliesslich bezeichnet im Altgriechischen den
Rauschzustand. Diese Kategorie umfasst Spiele, deren Reiz dar-
in bestehen, die stabile Wahrnehmung zu stören. Gemeint sind
Aktivitäten wie Achterbahnfahrten, Bungee-Jumping oder kindli-
che Drehspiele.
Mit Caillois’ Kategorien lassen sich Computerspiele indes nur
bedingt definieren. Sie verweisen lediglich auf mögliche As-
pekte, die je nach Genre und konkretem Spiel stärker oder
weniger stark ausgeprägt sind. So bricht Eskelinen die Typolo-
gie denn auch auf folgende vier Anreize herunter329, die allen
Computerspielen gemeinsam sind: Wettbewerb (agôn), maximale
Spannung/Vorfreude (alea), Rollenspiel (mimicry) sowie Kon-
trollverlust (ilinx).
Wendet man jene Anreize auf die untersuchten Adventure Spiele
an, so verfügen diese über hohe Spielanteile an Wettbewerb und
Rollenspiel: Der agôn-Anteil liegt zumeist nicht in der direk-
ten action-orientierten Konfrontation mit einem Mitspieler
oder einem NPC begründet, sondern in der Widerständigkeit der
Spielwelt selbst. Zum Lösen solcher Rätsel, die im Erschlies-
sen des Raums begründet sind, bedarf es sowohl der
Geschicklichkeit wie auch einer guten Auffassungsgabe330. Mi-
micry manifestiert sich dagegen im Aneignen einer Rolle: So
wird der Spieler „[…] über den Avatar in die fiktionale Sphäre
hineingezogen“331. Analysiert man die Adventure Spiele hin-
sichtlich Kontrollverlust sowie maximaler Spannung, ergibt
sich ein uneinheitliches Bild: Während sich etwa Syberia II
dem Spieler als "meditative experience"332 vermittelt, ist Fah-
renheit immer wieder von spannungsreichen Sequenzen
durchzogen, in denen die Informationsflut einen Kontrollver-
lust induziert.
329 Vgl. Eskelinen 2003: 214. 330 Vgl. Walter 2002: 48, 49. 331 Vgl Kocher 2005. 332 McMahan, Alison. "Immersion, Engagement, and Presence: A Method for Analyzing 3-D Video Games", in: The video game theory reader. Hrsg. Von Mark J. P. Wolf. New York: Routledge, 2003. S. 83.
91
4.3. Spielweisen
Neben den genannten Spielkategorien unterscheidet Caillois
auch zwei Spielweisen, nämlich paidia und ludus333. Erstere
stellt eine spontane Manifestation des freien Spieltriebs dar,
während ludus der Geduld, Anstrengung und Zielgerichtetheit
bedarf. Die beiden Spielweisen stehen zueinander in teleologi-
scher Beziehung: „Ludus erscheint dabei als Komplement und
Weiterentwicklung der paidia, die er diszipliniert und entwi-
ckelt.“334
So geht zum Beispiel der anarchisch unbändige Bewegungstrieb
von Kindern über in einen regelbasierten, sozialen Wettkampf
unter Erwachsenen. Für Caillois nehmen die Spielweisen erst in
Verbindung mit den oben genannten Spielkategorien konkrete
Gestalt an.
In der ludologischen Exegese335 wird ludus jedoch häufig mit
dem Spielen an sich (play) gleichgesetzt, während paidia als
Spiel (game) gilt. Eine fundamentale Neudefinition der beiden
Begriffe unternimmt Frasca, indem er auch dem freien Spiel Re-
geln attestiert – allerdings unterscheiden sich diese von
jenen des ludus:
[…] the difference between paidia and ludus is that the latter incorporates
rules that define a winner and a loser, whereas the former does not.336
Anstatt die beiden Begriffe als Spielweisen zu verstehen, bil-
det Frasca daraus eigene Kategorien. Unter paidia games könne
man jene Computerspiele subsumieren, die keine Zielvorgabe
kennen. Die bereits erwähnten Simulationsspiele wie The Sims
oder Sim City verfügten lediglich über Regeln zur Einflussnah-
me (manipulation rules), aber über keine Gewinnszenarien.
Demgegenüber stehen ludus games wie beispielweise Adventure
Spiele. Diese funktionieren analog zur Dreiteilung der drama-
333 Vgl. Caillois 1960: 37ff. 334 Ebd. 39. 335 Vgl. Eskelinen 2003 u. Aki Järvinen: The Elements of Simulation in Digital Games. http://www.dichtung-digital.com/2003/4-jaervinen.htm (12.6.06) 336 In: Frasca 2003: 230.
92
tischen Handlung wie sie Aristoteles in seiner Poetik formu-
liert hat337. Die Darstellung der Verhältnisse, denen der
dramatische Konflikt entspringt, setzt Frasca mit dem Anerken-
nen von Spielregeln gleich. Die Entfaltung des Konflikts
entspricht der eigentlichen Spielhandlung. Und der dritte Akt,
die Auflösung des Konflikts, steht im Spiel als Aufteilung in
Sieger und Verlierer.
Frasca kritisiert nun, dass die binäre Finalität von ludus ga-
mes zwangsläufig auf narrativer Ebene in Gut-Böse-Schemen
resultiere, was sich an den üblichen Fantasy- und Science-
Fiction-Stoffen zeige338. Zumindest für die Charakterzeichnung
der Spielfigur muss dieser Befund jedoch differenziert werden.
So versuchen einzelne Adventure Spiele, moralische oder psy-
chische Zustände des Avatars nicht binär, sondern graduell zu
simulieren, wenngleich diese Modelle niemals an die lebens-
weltliche Komplexität solch mentaler Prozesse heranreichen.
Fahrenheit kennt beispielsweise den Parameter „Gemütsverfas-
sung“: Sinkt dieser aufgrund unangenehmer Ereignisse, muss der
Spieler eine entsprechende körperliche oder emotionale Hand-
lung einleiten, um die Moral zu heben. Bei Fable kann der
Spieler nicht nur die motorischen Fertigkeiten oder die physi-
sche Stärke seines Avatars beeinflussen. Es ist auch möglich,
je nach Aufgabe seine moralische Grundhaltung oder seinen Ruf
zu manipulieren. Ludus games vermögen also keineswegs nur Gut-
Böse-Schemen zu erzählen.
4.4. Wahlmöglichkeit
Ergiebiger für die Frage nach dem Wesen von Spielen scheint
indes Aarseths Kriterium der Wahlmöglichkeit339 zu sein. So be-
dingen selbst reine Glückspiele, deren Ausgang ungewiss ist,
eine vorgängige Entscheidung durch den Spieler. Mehr noch, die
Art und Weise der Wahlmöglichkeiten prägen die Form und den
337 Vgl. Kapitel 7 „Die Teile der Tragödie“ In: Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2003. 338 Vgl. Frasca 2003: 230ff. 339 Vgl. Aarseth 2004: 365ff.
93
Charakter des jeweiligen Spiels: Schach unterscheidet sich un-
ter anderem von Halma dadurch, dass es dem Spieler andere
Entscheidungsoptionen zubilligt.
Über Wahlmöglichkeiten verfügen auch die Spielsequenzen in Ad-
venture Spielen. Diese setzen sich damit von jenen narrativen
Elementen ab, die als cut-scenes keine Einflussnahme gewähren.
Läuft eine animierte Zwischensequenz ab, besteht die einzige
Wahlmöglichkeit des Spielers darin, sich dieser bewusst zu
verweigern. Ablauf und Ausgestaltung der cut-scenes obliegen
also einzig dem zugrunde liegenden Quellcode.
94
5. Schluss
Wie bereits in der narratologischen Analyse angedeutet,
besteht eine ontologische Differenz zwischen rezeptiven
Elementen der Narration und interaktiven Spielsequenzen. Nur
wenn es Adventure Spielen gelingt, Spiel- und Erzählanteile
genau auszutarieren, erfährt der Spieler ein Gefühl von
Agency, das einhergeht mit der Entfaltung von Geschichten.
Die vorliegende Arbeit hat dabei gezeigt, dass solch eine
symbiotische Beziehung nur unter Preisgabe einer
übergreifenden Dramaturgie möglich ist. Einige der
untersuchten Adventure Spiele gewichten indes die lineare
Entfaltung der Geschichte höher als das interaktive
Spielerlebnis. Dies bleibt nicht ohne Folgen:
If the choices presented to the player are so limited that they clearly
seem to lead the action in one unavoidable direction, they become quasi-
choices, and the game becomes a quasi-game.340
Es vermag daher nicht zu verwundern, dass klassische
Adventurespiele wie Syberia II oder Fahrenheit mit ihrer
linearen Erzählweise nur noch geringe Verkaufszahlen erzielen
und auf dem Markt ein Nischendasein fristen341. Solche Titel
nutzen sowohl das interaktive Potential von Computerspielen
als auch deren Möglichkeiten zur räumlichen Narration in
ungenügendem Masse aus.
Spiele wie Fable oder GTA simulieren dagegen frei
explorierbare Raumrepräsentationen, erzeugt unter den
Gesichtspunkten einer narrativen Architektur. So stellen
Spatial Stories einen organischen Bestandteil der holistischen
Spielwelt dar: Statt chronologische Erzählfragmente bilden
diese atemporale Erlebnisanlagen, fakultative Orte im Raum,
deren Erzählpotential vom realen Spieler aktualisiert wird.
Die Beschreibung und Analyse solch simulativer Gebilde stösst
340 Ebd. 366. 341 Vgl. Walter 2003: 48, 49.
95
indes mit einem narratologischen Instrumentarium an ihre
Grenzen. Wie die Analyse unter Zuhilfenahme von Genettes
Terminologie gezeigt hat, droht die klassische
Erzählforschung, welche an literarischen Texten entwickelt
wurde, überstrapaziert zu werden.
Nichtsdestotrotz kann die Narratologie ihren Beitrag an die
game studies leisten: Insbesondere die Spatial Stories und
damit einhergehend das Konzept einer narrativen Architektur
stellen dabei reizvolle theoretische Ansätze dar. Allerdings
bedarf es einer vorbehaltslosen Auseinandersetzung, die keine
normativen Zumutungen unternimmt, welche sich aus den Zwängen
der eigenen Disziplin ergeben: Adventure Spiele sind keine
Literatur, wenngleich sie narrative Elemente besitzen. Nur so
lässt sich der Vorwurf des theoretischen Imperialismus342
gegenüber Computerspielen nachhaltig entkräften.
342 Vgl. Aarseth 1997: 14.
96
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Loom (LucasArts / Softgold, 1990) Maniac Mansion (LucasArts / Softgold, 1987) Monkey Island 2: Le Chuck’s Revenge (LucasArts / LucasArts, 1991) Mystery House (Sierra On-Line Inc, 1980) Project Zero II – Crimson Butterfly (Tecmo / Tecmo, 2004) Sam & Max: Hit The Road (LucasArts / LucasArts, 1993) Shadows of the Colossus (SCEI / Sony, 2005) Syberia II (MC2-Microïds / Atari, 2004) The Curse of Monkey Island (LucasArts / LucasArts, 1997) Zork I: The Great Underground Empire (Infocom, 1981)
102
8. Schaubilder
Schaubild 1: Zork I: The Great Underground Empire
Schaubild 2: Mystery House
103
Schaubild 3: King’s Quest I: Quest for the Crown
Schaubild 4: Maniac Mansion
104
Schaubild 5: Fahrenheit
Schaubild 6: Grand Theft Auto: San Andreas (GTA)
105
Schaubild 7: Project Zero II
© Aiden Williams & Kodo (http://www.gtagaming.com)
Schaubild 8: Stadtgebiet von San Andreas
106
Schaubild 9: Selbstflexivität in Sam & Max
Schaubild 10: Intertextualität in Monkey Island I
107
Schaubild 11: flow-Kanal
Realer Realer Schöpfer Benutzer
Schaubild 12: Intrigue-Kommunikationsmodell
Implizierter Schöpfer
Stimme
Implizierter Schöpfer
Intriguee
Puppet
Frustration
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Schaubild 13: Standard-Aufsicht von hinten (aus Fable)
Start Avatar stirbt Ziel
Schaubild 14: Irrgarten, Labyrinth (Maze)
109
Start Ziel
Schaubild 15: Flussdiagramm (flow chart)
1. Erzählebene: Akkumulation narrativer Informationen im Raum 2. Erzählebene: Lineare Kausalkette von Ereignissen
Schaubild 16: Hidden Story
110
Erzählangebote Frei explorierbare Spielwelt
Schaubild 17: Story-World