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Transformation der Kernexekutive: Eine neo-institutionalistische Analyse der Regierungsorganisation in NRW 2005-2010

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Studien der NRW School of Governance

Herausgegeben vonUniv.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Universität Duisburg-Essen

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Die NRW School of Governance ist eine Exzellenzinitiative am Institut für Poli-tikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Zu den zentralen Zielen der För-derung des wissenschaft lichen Nachwuchses gehört es, ausgezeichnete Arbeiten einer interessierten Öff entlichkeit zugänglich zu machen. In Kooperation mit dem Verlag Springer VS wurde deshalb die Schrift enreihe „Studien der NRW School of Governance“ initiiert. Sie umfasst exzellente Projektarbeiten, Dissertationen und Forschungsergebnisse, die im Rahmen der thematischen Schwerpunkte der NRW School of Governance entstehen.

Herausgegeben vonUniv.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Universität Duisburg-Essen

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Martin Florack

Transformation der Kernexekutive

Eine neo-institutionalistische Analyse der Regierungsorganisation in NRW 2005-2010

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Martin FlorackDuisburg, Deutschland

Diese Arbeit wurde von der Fakultät für Gesellschaft swissenschaft en der Universi-tät Duisburg-Essen als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. rer pol.) genehmigt.

Name der Gutachterinnen und Gutachter:1. Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte2. Prof. Dr. Nicolai Dose

Tag der Disputation: 13.03.2013

ISBN 978-3-531-18574-3 ISBN 978-3-531-19119-5 (eBook)DOI 10.1007/978-3-531-19119-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio-nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufb ar.

Springer VS© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu-stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über-setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die-sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be-trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en.

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de

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Vorwort Was ändert sich nach einem Regierungswechsel? Der Machtwechsel gilt demo-kratietypologisch als ein Qualitätsnachweis responsiver politischer Systeme. Da ist man als Leser neugierig, ob sich nicht auch im Innern der Politik, im Arkanbereich der Regierungszentrale, messbare Änderungen zeigen lassen, die nach Wahlen erfolgen. Was liefert die moderne Regierungsforschung dazu an Ergebnissen? Was ändert sich durch Wahlen im und am institutionellen Arran-gement einer Regierung? Überzeugend ist das nicht, was man bislang in der nationalen und internationalen Literatur dazu findet. Insofern ist es vom Nachwuchswissenschafter Martin Florack nicht nur verdienstvoll diese empiri-sche Lücke zu schließen, sondern auch ein Abenteuer zugleich. Denn es galt sowohl theoretische Maßstäbe zu entwickeln als auch empirische Daten zu he-ben, um das zu Analysierende überhaupt messbar zu machen.

Als überwölbendes Fallbeispiel analysiert der Verfasser filigran den Regie-rungswechsel in Nordrhein-Westfalen von 2005. Nach 39 Jahren verlor die SPD mit dem Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten von Peer Steinbrück zu Jür-gen Rüttgers die Macht in der Staatskanzlei. Sollte das nicht Anlass genug sein, um von einem radikalen organisatorischen Umbruch auszugehen? Das von Mar-tin Florack so bezeichnete „Veränderungsnarrativ“ war öffentlich dominant. Die Erwartungshaltung vieler Wähler und Beobachter ging davon aus, dass so ein machtpolitischer Umbruch auch gravierende institutionelle Veränderungen mit sich bringen sollte. Wenn institutioneller Wandel ansonsten eher schleichend daherkommt, dann doch sicher nicht nach so einem historischen Einschnitt? Oder sollte am Ende doch erneut das „Stabilitätsnarrativ“ mit seiner Kontinui-tätsfixierung greifen? Martin Florack forscht nach Veränderungen in der Organi-sation der NRW-Landesregierung rund um den Regierungswechsel von 2005. Präzise wählt er die Perspektive einer Landesregierung als Kommunikations- und Entscheidungssystem im Sinne der Kernexekutive, was den Prozesscharak-ter des Gegenstandes unterstreicht und das Wechselspiel von formellen und in-formellen Strukturen im Blick behält. Die empirische Analyse folgt unterschied-lichen Transformationslogiken, aber nicht im Sinne der Deskription, sondern streng problemorientiert anhand theoretisch fundierter Modi institutioneller Transformation.

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6 Vorwort

Wir wissen bislang nichts über den Wandel der Regierungsformation 2005 in Düsseldorf. Was bewirkte die Transformation und wie weit reichte sie? Wie kann man exemplarisch nachweisen, dass sich Rüttgers und andere Führungsak-teure ihren Führungsanspruch erkämpften, Entscheidungen durchsetzten und damit einen unverwechselbaren Transformations-Stil pflegten? Was daran war absichtsvoll, was zufällig? Was wurde als persönlicher Anteil des Regierungs-chefs an den Entscheidungen sichtbar? Für die Regierungsforschung sind das signifikant wichtige Fragestellungen, die mit Blick auf den Gegenstandsbereich der Kernexekutive weitgehend unbeantwortet sind – dies gilt erst recht auf Lan-desebene. Doch wenn unklar bleibt, welche Muster institutioneller Transformati-on existieren, kann weder politisches Lernen noch wissenschaftliche Politikbera-tung greifen.

Was sich in der vorliegenden Studie darbietet, ist ein landespolitischer Kri-mi mit zahlreichen Spannungsmomenten. Viele der wörtlichen Zitate und Ein-schätzungen der wichtigsten Akteure stehen programmatisch für sich selbst. Sie sind Zeugnisse der politischen Selbsteinschätzung, die vor dem Gesamtbild der Studie auch häufig als eine Form von dramatischem „Bestätigungsirrtum“ einge-ordnet werden können. Die methodische Verbindung aus teilnehmender Be-obachtung, Befragung und Dokumentenauswertung schafft Raum für die authen-tische Rekonstruktion einer dynamischen Kernexekutive im Entscheidungsfall.

Alle den Analysezugang prägenden Modi der Transformation kommen zu ihrem Recht. Ihre Gewichtung und die Häufigkeit variiert, aber schon früh wird erkennbar, dass sich bestimmte Muster im Regelsystem über solche Modi der Transformation markieren lassen. Das Forschungsdesign mündet zwangsläufig in eine Hypothesenbildung ein. Neun zusammenfassende Hypothesen zeigen anspruchsvoll, welche Ansätze einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung konkret entwickelt wurden. Die Hypothesen sollen am Ende nochmals rechtfer-tigen, welcher Gewinn im Rahmen einer qualitativen Einzelfallstudie und mit Hilfe teilnehmender Beobachtung generierbar ist. Man blendet beim Lesen dieser Hypothesen häufig den konkreten Gegenstandsbereich der untersuchten Regie-rungsformation aus. Der extrem verdichtete Schluss lädt den Leser ein, Ausru-femarkierungen, Fragezeichen, Nachfragen und Analogieschlüsse an den Rand zu schreiben. Kann es etwas Besseres geben, wenn man sich so als Leser am Ende herausgefordert fühlt und gleichermaßen schon den nächsten Fall vor sich sieht, den man mit den gleichen theoriegeleiteten Überlegungen sezieren möch-te?

Vieles im Alltag einer Regierungsformation lebt vom antizipierten Panora-ma der Ahnungen. Das bedeutet keineswegs Regierungs-Anarchie oder pures Dissens-Management, aber auch nicht regelgeleite und effiziente Planung. Die Dynamiken der Transformation, die Martin Florack aufspürt, brechen diesen

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Vorwort 7

Dualismus auf. Was ändert sich folglich durch Wahlen? Die vorliegenden Innen-ansichten zum Machtgefüge einer Regierungsformation lassen eine Antwort zu: Einiges! Ob dies zielgerichtet oder zufällig war, muss an einigen Stellen zwangs-läufig offen bleiben. Aber die Dynamik der Veränderung ist mikropolitisch viel mehr als nur der äußerlich sichtbare Austausch von Akteuren oder formale Strukturveränderungen. Machtmobiles bleiben längere Zeit in Schwingung, wie die nachfolgende Studie exemplarisch zeigen kann.

Duisburg, Juni 2013 Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte

Direktor NRW School of Governance

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Dank

„Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt“ (Christoph Ransmayer: Atlas eines ängstlichen Mannes, 2012).

Dieser Satz gilt für jeden Text genauso wie für die Geschichte seiner Entstehung. Die Geschichte dieses Buches sähe anders aus, wenn mich nicht viele Menschen auf dem Weg zu seiner Fertigstellung unterstützt hätten.

Die Idee zu diesem Dissertationsprojekt wäre niemals ohne meinen Doktor-vater und Erstgutachter, Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, entstanden. Seine kreativen Einfälle, seine freundschaftliche Unterstützung, seine mitreißende Motivation und seine Bereitschaft, auch den einen oder anderen Umweg zum Ziel zu tolerie-ren, haben die Entstehung dieses Buches überhaupt erst ermöglicht.

Nur aufgrund der Bereitschaft von Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers, mir von Oktober 2005 bis September 2006 einige Monate als teilnehmender Beobachter wissenschaftlichen Zugang zur nordrhein-westfälischen Staatskanz-lei zu gewähren, konnte ich zahlreiche Gespräche führen, kernexekutive Prozes-se und Abläufe aus erster Hand beobachten und wichtige Dokumentenbestände erschließen. Die mit diesem Entgegenkommen verbundene und auf den wissen-schaftlichen Erkenntnisgewinn ausgerichtete Offenheit ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit und hierfür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.

Ein großer Dank gilt all meinen Gesprächspartnern während dieser Monate der Feldforschung, insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatskanzlei NRW. Ihnen allen verdanke ich wichtige Einsichten in das prakti-sche Funktionieren einer Kernexekutive. Einige Protagonisten der Kernexekutive haben mir überdies mit einigem zeitlichen Abstand erneut als Interviewpartner zur Verfügung gestanden. Für die Schlussfassung des Manuskripts war dieser Austausch über die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen ein unschätzbarer Gewinn.

Für meine Recherchen konnte ich neben den üblichen Quellen auf die Be-stände der Bibliotheken der Staatskanzlei und des Landtages Nordrhein-Westfalen sowie auf das Pressearchiv des Westdeutschen Rundfunks zurückgrei-fen. Den dort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich für die immer freundliche und professionelle Hilfe bei der manchmal mühsamen und kleinteili-gen Recherche.

Durch das ganze Team der Forschungsgruppe Regieren in Duisburg habe ich während des gesamten Forschungsprozesses wertvolle Hinweise, Anregun-

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10 Dank

gen und Hilfestellungen erhalten. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben durch Hinweise zu früheren Textfassungen geholfen, Zusammenhänge zu schär-fen, Unklarheiten zu bereinigen und Verbindungen zu anderen Forschungsfel-dern herzustellen. Nicht zuletzt die Geduld und Hilfestellung dieser Kolleginnen und Kollegen war in der Schlussphase notwendig, um das Buch fertigzustellen zu können. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. Andreas Blätte, Dr. Frank Gadinger, Dr. Timo Grunden, Niko Switek M.A. und Dr. Kristina Weissenbach.

Für Hilfe beim Korrekturlesen und bei der Erstellung des Schlussmanu-skripts danke ich außerdem Vera Hemker und meinem Vater, Willi Florack. Den Satz und die Formatierung für die Veröffentlichung hat Priska Schorlemmer professionell übernommen. Auf Seiten des Verlags Springer VS bedanke ich mich bei Verena Metzger, Frank Schindler und Sabine Schöller für die reibungs-lose Zusammenarbeit bei der Vorbereitung dieser Publikation.

Für den Inhalt des Buches und etwaige Fehler ist selbstverständlich allein der Autor verantwortlich.

Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Nicolai Dose, und den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission, Prof. Dr. Manfred Mai und Prof. Dr. Stefan Marschall, deren besonderes Engagement einen zügigen Abschluss des Dissertationsverfahrens ermöglicht hat.

Mein besonderer Dank für vielfältige professionelle und freundschaftliche Unterstützung gilt: Dr. Julian Eckl, Dr. Moritz Weiß, Prof. Dr. Christoph Strünck, Dr. Jörg-Uwe Nieland, Monika Bähtz, Dagmar Bäcker, Dr. Matthias Degen, Peter Maaß und André Zimmermann.

Ich danke schließlich meinen Eltern und meiner Schwester, ohne deren lie-bevolle Unterstützung alles unmöglich gewesen wäre. Gewidmet ist dieses Buch Anja und Emil. Ohne ihre Liebe wäre alles nichts.

Martin Florack

Köln, Juni 2013

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Inhalt Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ............................................................. 17 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 19 1 Einleitung: Problemaufriss, Erkenntnisinteresse und

Untersuchungsgegenstand ............................................................................. 21

1.1 Problemaufriss: Regierungsorganisation nach Regierungswechseln .. 21 1.1.1 Das „Veränderungsnarrativ“ ....................................................... 24 1.1.2 Das „Stabilitätsnarrativ“ ............................................................. 26 1.1.3 Zwischenfazit .............................................................................. 27

1.2 Gegenstand der Analyse: Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive nach dem Regierungswechsel 2005 ..................................................................... 30

1.2.1 Die Kernexekutive: Eine funktionsbezogene Definition der Regierungsorganisation ............................................................... 31 1.2.2 Formales und informelles Kommunikations-, Koordinations-

und Entscheidungssystem: Institutionen und Akteure zwischen institutionalisierten Regelsystemen, Praktiken, Routinen und Prozessen ..................................................................................... 34

1.2.3 Die Regierungsformation: Die Kernexekutive als nach innen und nach außen gerichtetes Koordinationssystem ....................... 36

1.2.4 Zwischenfazit .............................................................................. 38 1.3 Programm und Struktur der Arbeit ..................................................... 40

2 Forschungsstand und drei Zielsetzungen der Arbeit: Empirische

Fallanalyse, institutionalistische Theoriebildung und methodische Innovation ....................................................................................................... 45

2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung: Analyse zur Transformation der Kernexekutive als Beitrag zur Regierungsforschung auf Landesebene .............................................. 49

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12 Inhalt

2.1.1 Die temporale Dimension der Regierungsorganisation ............... 56 2.1.1.1 Dauer, Verlauf und zeitliche Strukturierung von Transformationsprozessen der Kernexekutive ........................ 56 2.1.1.2 Zwischenfazit .......................................................................... 61

2.1.2 Die institutionelle Dimension der Regierungsorganisation ......... 64 2.1.2.1 Regierungsbildung aus organisatorischer Sicht: Formalstrukturen der Regierungsorganisation ........................ 65 2.1.2.2 Regierungszentralen: Zentralstellen der Kernexekutive ......... 66 2.1.2.3 Koalitionsmanagement: Institutionelle Regelsysteme zur Strukturierung von Kooperation innerhalb einer Regierungsformation ............................................................... 74 2.1.2.4 Informelles Regieren: Informalität als meso-analytische Perspektive .............................................................................. 78 2.1.2.5 Zwischenfazit .......................................................................... 83

2.1.3 Die akteursbezogene Dimension der Regierungsorganisation .... 86 2.1.3.1 Akteure als Urheber und Adressaten institutioneller Transformationsprozesse ........................................................ 86 2.1.3.2 Zwischenfazit .......................................................................... 94

2.2 Theoretische Zielsetzung: Gegenstandsbezogene Theoriebildung ..... 96 2.3 Methodologische Zielsetzung: Theoriebildung durch induktive Fallanalyse und methodische Erweiterung des Repertoires der Regierungsforschung .......................................................................... 98

3 Institutionen der Regierungsorganisation zwischen Stabilisierung und

Wandel: Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz ............................ 101

3.1 Institutionen der Regierungsorganisation im Zeitverlauf: Zeit als Kategorie zur Erklärung von Stabilität und Wandel von Regierungsorganisation..................................................................... 105

3.1.1 Pfadabhängigkeit ...................................................................... 108 3.1.2 Timing, Sequenzierung und längerfristige Entwicklungsdynamiken ........................................................... 110 3.1.3 Institutionenentwicklung vs. Institutionendesign ...................... 112 3.1.4 Zwischenfazit ............................................................................ 115

3.2 Historischer Institutionalismus: Stabilität und Wandel von Institutionen ...................................................................................... 116

3.2.1 Drei Strömungen des Neo-Institutionalismus ........................... 116 3.2.2 Historischer Institutionalismus als theoretischer

Ausgangspunkt des Analyseansatzes ........................................ 122

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Inhalt 13

3.2.3 Die Notwendigkeit theoretischer Erweiterungen ...................... 124 3.2.4 Zwischenfazit ............................................................................ 129

3.3 Institutionen: Formale und informelle Regelsysteme und die Anwendung institutioneller Regeln .................................................. 131

3.3.1 Institutionen als formale und informelle Regelsysteme ............ 131 3.3.2 Institutionen und die Anwendung institutioneller Regeln ......... 134 3.3.3 Zwischenfazit ............................................................................ 135

3.4 Akteurstheoretische Erweiterung: Change-Agents, individuelle Repräsentanten korporativer Akteure und Akteurskoalitionen ......... 138

3.4.1 Die Akteurskonzeption des Akteurzentrierten Institutionalismus: Individuelle Repräsentanten korporativer Akteure ...................................................................................... 140

3.4.2 Akteure als institutionelle „Change-Agents“ und Akteurskoalitionen .................................................................... 142 3.4.3 Zwischenfazit ............................................................................ 147

3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz: Die theoretische Erfassung von Stabilisierungs- und Wandlungsprozessen der Kernexekutive ................................................................................... 149

3.5.1 Zeitgeschichtlicher Kontext ...................................................... 150 3.5.2 Anschluss an den Historischen Neoinstitutionalismus .............. 151 3.5.3 Institutionen als formale und informelle Regelsysteme ............ 153 3.5.4 Akteurskonzeption: Change-Agents und Akteurskoalitionen ... 154 3.5.5 Fünf Modi institutioneller Transformation: Displacement, Layering, Drift, Conversion, Exhaustion .................................. 155

4 Forschungsdesign und methodischer Zugang: Fallstudiendesign zur

induktiven Theoriebildung und teilnehmende Beobachtung ................... 167

4.1 Forschungsdesign: Theoriebildende Einzelfallstudie und Prozessanalyse kausaler Mechanismen ............................................. 168

4.1.1 Beschreibung vs. Erklärung: Zum erkenntnistheoretischen Fundament historischer Fallstudien .......................................... 173 4.1.2 Theoriebildung am Einzelfall: Induktive Theoriebildung, Fallauswahl und methodische Konsequenzen ........................... 179

4.1.2.1 Zum komparativen Vorteil von Fallstudien: Induktive Theoriebildung statt deduktiver Theorietest ......................... 180 4.1.2.2 Welche Art der Theoriebildung? Theorien mittlerer

Reichweite und die Identifikation kausaler Mechanismen .... 184 4.1.2.3 Einzelfalldesign: Theoretische Generalisierung über den Einzelfall hinaus .................................................................... 191

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14 Inhalt

4.1.2.4 Fallauswahl: Pragmatischer Mittelweg zwischen Stringenz und Relevanz ......................................................................... 194

4.1.2.5 Methodische Konsequenzen: „Process-Tracing“ in der Einzelfallstudie ..................................................................... 198 4.1.2.6 Zwischenfazit: Das Forschungsdesign in der Übersicht ....... 201

4.2 Methodischer Zugang: Teilnehmende Beobachtung als Primärmethode und methodische Triangulation ............................... 202

4.2.1 Zur teilnehmenden Beobachtung als politikwissenschaftliche Methode .................................................................................... 206 4.2.2 Methodische Diskussion und fallbezogene Reflexion von Grundfragen teilnehmender Beobachtung ................................ 208

4.2.2.1 Auswahl der konkreten Beobachtungsgegenstände .............. 208 4.2.2.2 Zugang zum Forschungsfeld ................................................. 210 4.2.2.3 Feldarbeit und Beobachtungsinstrumente ............................. 213 4.2.2.4 Methodenvielfalt, Material und Triangulation ...................... 217

5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive:

Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse in der Analyse ......................... 221

5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext: Politische Herausforderungen und die Startphase der Regierungsformation ........................................................................ 224

5.1.1 Die Landtagswahl 2005: Wahlkampf und Wahlausgang .......... 226 5.1.1.1 Ausgangslage und Wahlkampf ............................................. 226 5.1.1.2 Das Wahlergebnis, seine Bewertung und politische Konsequenzen ....................................................................................... 231

5.1.2 Die Bildung der Regierungsformation: Koalitionsverhandlungen und Ansätze des Koalitionsmanagements ............................................................ 237

5.1.2.1 Phasen des Koalitionsbildungsprozesses .............................. 237 5.1.2.2 Merkmale und zentrale Wegmarken der Koalitionsverhandlungen ...................................................... 242 5.1.2.3 Koalitionsvereinbarung und Beschlussfassungen zur Koalitionsbildung .................................................................. 248

5.1.3 Die formale Regierungsbildung: Wahl des Ministerpräsidenten, Ressortverteilung und Kabinettsbildung ....................................................................... 254

5.1.3.1 Die Wahl des Ministerpräsidenten ........................................ 255 5.1.3.2 Ressortverteilung und Kabinettsbildung ............................... 257

Page 15: Transformation der Kernexekutive: Eine neo-institutionalistische Analyse der Regierungsorganisation in NRW 2005-2010

Inhalt 15

5.1.4 Regierungserklärung und landespolitische Herausforderungen .................................................................... 267

5.1.4.1 Die Regierungserklärung 2005 ............................................. 267 5.1.4.2 Politische Herausforderungen in der Startphase ................... 271

5.1.5 Zwischenfazit ............................................................................ 274 5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen

Kernexekutive: Theoretisch angeleitete Struktur- und Prozessanalyse formaler und informeller Regelsysteme ................... 277

5.2.1 Die Staatskanzlei: Koordinations- und Steuerungsinstanz der Kernexekutive ........................................................................... 277

5.2.1.1 Institutionendesign und begrenztes Displacement: Die Neustrukturierung der Staatskanzlei im Zuge des Regierungswechsels 2005 ..................................................... 277

5.2.1.2 Formalstruktur, Informalisierung und institutionelle Transformation: Adaptive Anpassung der Staatskanzlei 2005-2006 ............................................................................. 300

5.2.1.3 Begrenztes Displacement zur Formalisierung informeller Regelsysteme: Die Reorganisation der Staatskanzlei 2006 .. 330 5.2.1.4 Inkrementelle Transformation, Informalisierung und Anwendung formaler Regeln: Die Entwicklung der Organisationskultur 2006-2010 ............................................. 348

5.2.2 Institutionen des Koalitionsmanagements: Die Institutionalisierung des dosierten Parteienwettbewerbs .... 360

5.2.2.1 Der Koalitionsausschuss als „Nervenzentrum“ der Kernexekutive: Conversion und Layering ............................ 362 5.2.2.2 Ergänzende institutionelle Regelsysteme des Koalitionsmanagements: Layering, Drift und Exhaustion .... 393

5.2.3 Formale Entscheidungsgremien zwischen formalen Regeln und informeller Regelanwendung: Conversion und Stabilisierung von Kabinett und Staatssekretärskonferenz im regierungsformationsinternen „Kaskadenmodell“ .................... 399

5.2.3.1 Das Kabinett: Conversion zu notariellem Entscheidungsgremium und zur informellen Informationsbörse ................................................................. 402

5.2.3.2 Die Staatssekretärskonferenz: Institutionelle Stabilisierung als administrative Clearing-Stelle ......................................... 407

5.2.3.3 Informelle und formale Praktiken der kernexekutiven Koordination: Layering und Conversion .............................. 410

Page 16: Transformation der Kernexekutive: Eine neo-institutionalistische Analyse der Regierungsorganisation in NRW 2005-2010

16 Inhalt

6 Fazit: Schlussfolgerungen zur Transformation der Kernexekutive und Einordnung der Erkenntnisse ..................................................................... 417

6.1 Theoretische Schlussfolgerungen: Potentiale und Grenzen des gegenstandsbezogenen Analyseansatzes ........................................... 422 6.2 Methodologische Schlussfolgerungen: Möglichkeiten theoretischer Generalisierung und methodische Reflexion .................................... 428 6.3 Empirische Schlussfolgerungen und Hypothesen zu den Ursachen institutioneller Transformationsdynamiken der Kernexekutive ........ 432

Literatur- und Quellenverzeichnis ................................................................ 445 Liste der Interviews ........................................................................................ 475

Page 17: Transformation der Kernexekutive: Eine neo-institutionalistische Analyse der Regierungsorganisation in NRW 2005-2010

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 1: Vier Typen von „Change-Agents“ ......................................... 146 Tabelle 2: Akteurskoalitionen ................................................................. 147 Tabelle 3: Modi institutioneller Transformation ..................................... 162 Tabelle 4: Zusammenhang von Institutionendynamik und Institutionengestaltung ........................................................... 163 Tabelle 5: Politischer Kontext, institutioneller Kontext und

Change-Agents ....................................................................... 165 Tabelle 6: Fünf Formen der wissenschaftlichen Beobachtung ................ 204 Tabelle 7: Landtagswahlergebnis 2005 für Nordrhein-Westfalen

(und Vergleich mit Landtagswahl 2000) ................................ 232 Tabelle 8: Das nordrhein-westfälische Landeskabinett 2005 .................. 263 Tabelle 9: Die nordrhein-westfälischen Staatssekretäre 2005 ................. 266 Tabelle 10: Änderungen in der Abteilung III Regierungsplanung ............ 289 Tabelle 11: Aufgabenzuwachs und Gruppenstruktur in der Abteilung III Regierungsplanung ................................................................. 345 Tabelle 12: Modifizierte Fassung der Modi institutioneller

Transformation ....................................................................... 426 Abbildung 1: Akteure als Bindeglied zwischen Kontext, Institutionen und Modi institutioneller Transformation ..................................... 144 Abbildung 2: Der Analyseansatz im Überblick ............................................ 157 Abbildung 3: Organisationsplan der Staatskanzlei 2005 .............................. 284 Abbildung 4: Organisationsplan der Staatskanzlei 2006 .............................. 331

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Abkürzungsverzeichnis AL Abteilungsleiter AN Aachener Nachrichten AZ Aachener Zeitung BZ Berliner Zeitung bzw. beziehungsweise CdS Chef der Staatskanzlei CDU Christlich Demokratische Union d.h. das heißt FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDP Freie Demokratische Partei FM Finanzministerium FR Frankfurter Rundschau GA Bonner General-Anzeiger ggf. gegebenenfalls GL Gruppenleiter Grüne Bündnis90/DieGrünen Hrsg. Herausgeber IM Innenministerium JM Justizministerium KR Kölnische Rundschau KStA Kölner Stadtanzeiger LDS Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik LT Landtag Nordrhein-Westfalen LTW Landtagswahl MAGS Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales MBE Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten MBV Ministerium für Bauen und Verkehr MGFFI Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und In-

tegration MIWFT Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung

und Technologie MP Ministerpräsident MSW Ministerium für Schule und Weiterbildung

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20 Abkürzungsverzeichnis

MUNLV Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz

MWME Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie NOZ Neue Osnabrücker Zeitung NRW Nordrhein-Westfalen NRZ Neue Rhein Zeitung NW Neue Westfälische ParlStS Parlamentarischer Staatssekretär RL Referatsleiter RN Ruhrnachrichten RP Rheinische Post SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Spiegel Der Spiegel Stk Staatskanzlei StS Staatssekretär SZ Süddeutsche Zeitung taz die tageszeitung WA Westfälischer Anzeiger WamS Welt am Sonntag WAZ Westdeutsche Allgemeine Zeitung WDR Westdeutscher Rundfunk Welt Die Welt WN Westfälische Nachrichten WR Westfälische Rundschau WZ Westdeutsche Zeitung z.B. zum Beispiel

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1 Einleitung: Problemaufriss, Erkenntnisinteresse und Untersuchungsgegenstand

1.1 Problemaufriss: Regierungsorganisation nach Regierungswechseln Demokratie bedeutet Herrschaft auf Zeit. Regierungswechsel sind folglich der Wesenskern der Demokratie: Auf Zeit verliehene Macht wird neu vergeben. Regierungen werden bei Wahlen bestätigt oder abgewählt. Regierungen kommen nach Wahlen neu ins Amt oder bilden sich in parlamentarischen Regierungssys-temen infolge des Zerfalls einer Regierungsformation ohne erneuten Wahlakt. Konstitutiv ist der antirevolutionäre Charakter all dieser Formen von Regie-rungswechseln1 in Demokratien (Weizsäcker 1989):

„Es wechselt nicht der Staat, es wechseln Regierungen. Die oft propagierte Lehre von den großen Zäsuren steht im Widerspruch zu unseren Erfahrungen. Es gibt kei-ne Stunde Null. Mit keinem demokratischen Machtwechsel droht der Untergang, mit keiner neuen Regierung fängt die Sache erst richtig an. (…) Wir sitzen zusammen in einem Boot der Kontinuität, und das ist gut.“

Konstitutiv für demokratische Regierungswechsel ist, dass trotz des Wechsels der Regierungsformation die fundamentalen demokratischen Regeln des politi-schen Spiels unverändert bleiben. Es handelt sich in systematischer Hinsicht also nicht um einen beachtenswerten Sonder-, sondern um den demokratischen Nor-malfall. Dennoch, "[t]ransitions of power represent a critical moment in our democratic systems. These ‘peaceful’ coups are greeted with a mixture of eupho-ria and anxiety” (Savoie 1993c: ix). Denn jeder Regierungswechsel zieht auto-matisch ein Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel auf unterschiedlichen Ebenen nach sich. Während ein Regierungswechsel auf der einen Seite notwen-digerweise ein gewisses Maß an inhaltlicher Veränderung der jeweiligen Regie-rungspolitik bedeutet, ist auf der anderen Seite der Fortbestand des politischen Rahmens essentiell für den demokratischen Übergang von einer Regierung zur nächsten. Diese Stabilität erstreckt sich dabei zunächst auf das konstitutionelle

1 Vgl. insbesondere die Versuche einer systematischen Typologisierung von Macht- und

Regierungswechseln bei Savoie 1993a: 2–4; Korte 2001a; Wehling 2006: 273–275.

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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22 1 Einleitung

Grundgerüst des jeweiligen Regierungssystems. Er ist aber darüber hinaus auch konstitutiv für andere Rahmenbedingungen des Regierens: Zwar mögen sich die inhaltlichen Zielsetzungen, die personelle Zusammensetzung der Regierung, der Zuschnitt und das Personal des Kabinetts, die ideologisch-programmatischen Referenzpunkte und die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen durch einen Regie-rungswechsel ändern. Aber neben den konstitutionellen Rahmenbedingungen bleiben auch die fundamentalen politischen Spielregeln des jeweiligen Regie-rungssystems, die sachpolitischen Zwänge und nicht zuletzt die etablierten poli-tischen Strukturmuster stabil und fungieren auch für die neue Regierung als handlungsbegrenzende Leitplanken ihrer künftigen Arbeit. Jede Veränderung muss gegen strukturelle und politische Beharrungskräfte durchgesetzt und er-kämpft werden.

Das damit kurz umrissene Wechselspiel zwischen Kontinuität und Wandel bei Regierungswechseln hat die Politikwissenschaft bislang vor allem unter dem Gesichtspunkt der Politikinhalte beschäftigt. „Do Parties Matter?“ ist die viel-fach gestellte Frage, die insbesondere Umfang und Ausmaß des an parteiliches Handeln gebundenen materiellen Politikwandels im Zuge von Regierungswech-seln thematisiert (vgl. ausführlicher Schmidt 1996; Zohlnhöfer 2001). Unter normativen Gesichtspunkten erscheint die damit verbundene Fokussierung auf die Policy-Dimension nachvollziehbar. Schließlich sind es vor allem die mit einem Regierungswechsel einhergehenden materiellen Veränderungen der Poli-tikinhalte, die als Referenzpunkte für künftige Wahlentscheidungen des Souve-räns dienen. Es sind zuvorderst die inhaltlichen Weichenstellungen einer neuen Regierung, die bewertet werden und folglich mit Ablauf des Regierungsmandats über Fortbestand oder Ablösung einer Regierung entscheiden.

Für die vorliegende Arbeit steht jedoch nicht die Frage nach den Politikin-halten im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. In den Fokus rücken vielmehr die institutionellen und organisatorischen Aspekte des Regierens nach einem Regierungswechsel. Im Sinne einer vorläufigen Eingrenzung des Erkenntnisinte-resses richtet die vorliegende Arbeit ihr Augenmerk auf die Konsequenzen eines Regierungswechsels für die Regierungsorganisation als Institutionensystem: Welche Konsequenzen hat ein Regierungswechsel für die institutionellen und organisatorischen Strukturen einer Regierung? Wie organisiert eine neue Regie-rung ihre kollektive Handlungsfähigkeit? Wo zeigen sich im Zuge eines Regie-rungswechsels institutionelle Veränderungen, wo dominiert institutionelle Stabi-lität? Wie organisiert eine neue Regierung ihre Entscheidungsstrukturen, um den an sie gerichteten Erwartungen zur Politikherstellung und -darstellung gerecht zu werden? Vertraut sich eine neue Regierung den etablierten Strukturen der beste-henden Regierungsorganisation an oder setzt sie auf organisatorische Verände-

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1.1 Problemaufriss 23

rungen? Dominieren mithin Stabilität oder Wandel der Regierungsorganisation und was sind die jeweils dahinterstehenden Erklärungsmuster?

Diesen Leitfragen geht die vorliegende Studie mit Hilfe einer Fallanalyse des Regierungswechsels 2005 in Nordrhein-Westfalen nach. Sie untersucht zum einen die konkreten Entwicklungen der Regierungsorganisation in den ersten Monaten der neu gewählten Landesregierung unter Führung des Ministerpräsi-denten Jürgen Rüttgers und liefert damit fallbezogene Antworten auf die oben formulierten Fragen. Die Arbeit leistet so einen empirischen Beitrag zur Regie-rungsforschung auf Landesebene und erweitert die subnationale Exekutivfor-schung. Zum anderen verbindet sich mit der Analyse ein über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinausreichendes Erkenntnisinteresse, welches im Mittelpunkt dieser Studie steht: Ziel ist nicht alleine die analytische Rekonstruk-tion des untersuchten Einzelfalls, sondern die Entwicklung eines über den kon-kreten Untersuchungsgegenstand hinausreichenden, aber gleichwohl gegen-standsbezogenen Analyserahmens, die Identifikation kausaler Mechanismen und die daraus abgeleitete Entwicklung theoretischer Erklärungen, die möglicherwei-se auch über den Einzelfall hinaus Geltung beanspruchen können. Bevor jedoch die Präzisierung der Fragestellung und des Erkenntnisinteresses, eine weiterge-hende Formulierung der Ziele der vorliegenden Arbeit und eine Konkretisierung der Untersuchungsgegenstände vorgenommen werden, gilt es, nachfolgend zu-nächst zu begründen, dass die vorliegende Forschungsfrage keineswegs trivial ist.

Aus analytischer Sicht stellen die an einen Regierungswechsel gerichteten Erwartungen ein Rätsel dar, welches mit Blick auf den Stand der Forschung nicht ohne weiteres aufgelöst werden kann: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation nach Regie-rungswechseln sehr unterschiedliche Erwartungen verbinden. Es lassen sich hinsichtlich parlamentarischer Regierungssysteme2 idealtypisch zwei Positionen herausarbeiten, die durchaus widersprüchliche Erwartungen formulieren. Sie sollen hier im Sinne einer problemorientierten Zuspitzung zu zwei „Narrativen“3 verdichtet werden, um die mit ihnen verbundenen Perspektiven jeweils deutlich zu machen und zugleich die Verortung der vorliegenden Analyse zu verdeutli-

2 Die Frage von Stabilität und Dauerhaftigkeit auf der einen und dem Wandel und der

Veränderung der Regierungsorganisation auf der anderen Seite wird meist mit Verweis auf fundamentale Unterschiede zwischen unterschiedlichen Regierungssystemtypen vorstruk-turiert. So stehen sich die weitgehende Stabilität in parlamentarischen Regierungssystemen und die deutlich größeren Veränderungsdynamiken in präsidentiellen Regierungssystemen diametral gegenüber (Derlien/Murswieck 2001: 7–8).

3 Narrativ wird hier verstanden als sinnstiftende Erzählung, die sich meist auf ein Problem bezieht und Problemsicht, Ursachen und Lösungsstrategien in einer dramatischen Komposition (Plot) kausal verknüpft. Vgl. Gadinger i.E.: 32; Viehöver 2001: 195.

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chen, die sich als Pendant zu diesen einseitig entweder auf Kontinuität oder auf Wandel abzielenden Narrativen versteht. 1.1.1 Das „Veränderungsnarrativ“ Auf der einen Seite betont das Veränderungsnarrativ bereits in der semantischen Rahmung von Regierungswechseln die Erwartungen umwälzender Veränderun-gen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich wie beim hier untersuchten Fall des Re-gierungswechsels 2005 in Nordrhein-Westfalen um einen „kompletten Macht-wechsel“ (Korte 2001a: 32–33; vgl. Wehling 2006: 273–275; Helms 1994: 227) handelt, bei dem die ursprünglich in der Opposition befindlichen Parteien CDU und FDP die Regierungsverantwortung übernehmen, während die vormaligen Regierungsparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen den Gang in die Opposition antreten. In der medialen Berichterstattung dominierten folglich Bilder eines „Erdbeben[s] vom Rhein“ (SZ v. 23.05.2005), einer „Zeitenwende an Rhein und Ruhr“ (Die Welt v. 23.05.2005), dem Ende einer Ära (FAZ v. 24.05.2010) und vom „Herzstillstand“ der bisherigen Regierung, insbesondere der SPD, in der „Herzkammer“ der Sozialdemokratie (Tagesspiegel v. 23.05.2010) (vgl. auch Korte et al. 2006: 330–335). Nimmt man die metaphorischen Deutungen des Ereignisses auf, so gibt es ein verbindendes Element: Alle Umschreibungen gehen von einem kurzfristigen, aber massiven Impuls mit weitreichenden Kon-sequenzen aus. Ein heftiges Schockerlebnis rüttelt den politischen Normalbetrieb durcheinander und sorgt für eine Neukonfiguration der politischen Verhältnisse. Ein eigentlich kurzfristiger Impuls – wie die Bilder des „Erdbebens“ und des „Erdrutsches“ nahe legen – entfaltet breite Wirkungen mit langanhaltenden Kon-sequenzen.

Meist stehen bei den erwarteten Auswirkungen die sachpolitischen Aspekte im Mittelpunkt des Interesses. So verbindet sich mit dem Veränderungsnarrativ die Erwartung, dass „nach dem Machtwechsel der Politikwechsel“ (Grunden 2004) folgt. Aber das Veränderungsnarrativ beinhaltet zumindest implizit auch Erwartungen hinsichtlich der hier im Mittelpunkt stehenden Struktur der Regie-rungsorganisation. Wird mit einem Regierungswechsel die Erwartung eines Politikwandels akzentuiert, dann verbinden sich mit dem Veränderungsnarrativ ähnliche Erwartungen hinsichtlich der Regierungsorganisation: „Wandel kann (…) nur dann wirkungsvoll in politisches Handeln umgesetzt werden, wenn die organisatorischen Veränderungsprozesse zügig und geordnet verlaufen" (Busse 1999: 322). Ein Regierungswechsel beinhaltet folglich nicht nur Konsequenzen auf der Policy-Ebene. Neben der Aufstellung und Finanzierung eines Sachpro-grammes muss eine Regierung sich zu Beginn ihrer Amtszeit selbst „organisie-

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ren“ und geeignetes Personal rekrutieren (König 2001: 23). Mit einem Regie-rungswechsel rücken folglich auch die Performanz des neuen Regierungsperso-nals, strukturelle Entwicklungen des Regierungssystems und die von Akteuren verfolgten Strategien und Taktiken im Sinne einer Politics-Fokussierung ins Blickfeld (Thaysen 2006a: 585; siehe auch Derlien/Murswieck 2001). In anderen Worten:

“Intense activity occurs within a very limited time frame as efforts are made to mesh the new political apparatus with the administrative machinery. Attention must be paid to policy, machinery of government, and personnel issues all at once. The first few weeks can set the tone and influence performance for the new government's whole mandate” (Savoie 1993c: ix).

Das Veränderungsnarrativ geht folglich davon aus, dass mit einem Regierungs-wechsel auch weiterreichende Konsequenzen für die Regierungsorganisation verbunden sind:

Zum einen versteht das Veränderungsnarrativ einen Regierungswechsel als vergleichsweise kurze und zeitlich begrenzte Phase des Übergangs. Es vermittelt den Eindruck, ein Regierungswechsel sei nach den sprichwörtlichen „ersten 100 Tagen“ weitgehend abgeschlossen. Im Anschluss an diese zeitlich eng einge-grenzte „Transition“4 geht es fortan um die Umsetzung des vereinbarten Regie-rungsprogramms sowie exekutives Routinehandeln. Handlungs- und Entschei-dungsfähigkeit einer Regierung müssen innerhalb dieser kurzen Phase des Über-gangs hergestellt werden, soll die Umsetzung der künftigen Agenda nicht behin-dert oder erschwert werden.

Zum anderen rückt das Veränderungsnarrativ schnelle Organisationsent-scheidungen der politischen Exekutive in den Mittelpunkt. Dazu gehören die vom Regierungschef im Rahmen seiner Organisationsgewalt zu treffenden Ent-scheidungen über den künftigen Ressortzuschnitt, die formale Bestellung des Kabinetts sowie Organisationserlasse über die organisatorische Verteilung von Zuständigkeiten innerhalb der neuen Regierungsformation. Einen vorläufigen

4 Vor allem die US-amerikanische Forschung spricht von „Transitionen“ und betont dabei

insbesondere die Dimension der organisatorischen Restrukturierung. Vgl. z.B. Mosher et al. 1987; Pfiffner/Hoxie 1989; Hess 2002). Ein Sammelband mit kanadischen Fallstudien hat diesen Begriff mit Verweis auf die elaborierte Forschung in den USA übernommen: Savoie 1993c. In den USA ist die „Transition“ von einer Präsidentschaft zur nächsten zudem seit 1963 im Rahmen des „Presidential Transition Act“ (Public Law 88-277) rechtlich normiert. Zeitlich ist die „Transition“ durch die Wahl des Präsidenten jeweils am Dienstag nach dem ersten Montag im November und die Amtseinführung des neuen Präsidenten am 20. Januar des Folgejahres klar eingegrenzt.

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Abschluss finden diese Veränderungsprozesse durch die Abgabe der „Großen Regierungserklärung“5 des neuen Regierungschefs vor dem Parlament.

Stärker analytisch zusammengefasst verbindet sich mit dem Veränderungs-narrativ zu Regierungswechseln also die Vorstellung eines gravierenden externen Schocks. Die Regierungsorganisation verändert sich im Zuge dieses Ereignisses schnell und gegebenenfalls abrupt, um dann für den Rest der Legislaturperiode vergleichsweise stabil als Organisationsstruktur erhalten zu bleiben. Die weitere Analyse verfolgt neben der empirischen Zielsetzung einer analytischen Rekon-struktion des Fallbeispiels auch eine theoretische Zielsetzung. Daher gilt es, zum einen die mit dem Veränderungsnarrativ verbundenen empirischen Erwartungen zur Entwicklung der Regierungsorganisation nach einem Regierungswechsel kurz zu skizzieren. Zum anderen sollen aber bereits auch im Sinne einer stärke-ren analytischen Abstraktion einige theoretische Aspekte herausgearbeitet wer-den, die bei der Erarbeitung des gegenstandsbezogenen Analyseansatzes erneut aufgegriffen werden (vgl. Kapitel 3). 1.1.2 Das „Stabilitätsnarrativ“ Das Stabilitätsnarrativ auf der anderen Seite betont die grundsätzlich auf Dauer-haftigkeit und Kontinuität angelegte Struktur der Regierungsorganisation insbe-sondere mit Verweis auf makrostrukturelle Aspekte des parlamentarischen Re-gierungssystems (Derlien/Murswieck 2001: 7–8). Aus dieser Perspektive heraus spielt sich ein Regierungswechsel fast ausschließlich auf der Ebene veränderter Sachprogramme ab. Bestenfalls kommt noch Personalveränderungen auf der Ebene der politischen Exekutive eine wichtige Rolle zu. Aber bereits bei der Betrachtung des administrativen Regierungspersonals wird auf die im parlamen-tarischen Regierungssystem beschränkten Möglichkeiten der Personalpatronage als Hemmschuh auch für organisatorische Veränderungen verwiesen (Derlien 2001: 47–52; hierzu auch König 2002c: 270–271). Ausgehend von der Prämisse, dass Personalpatronage nicht zuletzt der Veränderung von Organisationsstruktu-ren dient, sind angesichts dieser Rahmenbedingungen kaum Veränderungen der Regierungsorganisation im Zuge von Regierungswechseln zu erwarten. Diese für die bundespolitische Ebene herausgearbeitete Beschränkung findet in Nordrhein-Westfalen insofern eine weitere Zuspitzung, als dass die Abteilungsleiter in den Landesressorts und der Staatskanzlei nicht als „politische Beamte“ klassifiziert sind. Sie können insofern nicht in den vorläufigen Ruhestand versetzt werden. 5 Mit „Großen Regierungserklärungen“ sind die jeweils ersten Regierungserklärungen eines

Regierungschefs nach seiner Wahl gemeint, in denen dieser das Arbeitsprogramm der Regierung für die Legislaturperiode vorstellt (Korte 2002).

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Folglich sinkt nicht nur das personalpolitische Patronagepotential, sondern auch der Spielraum für mit Personalwechseln verbundene Organisationsveränderun-gen unterhalb der unmittelbaren exekutiven Leitungsebene.

Anders als im Veränderungsnarrativ bedeutet ein Regierungswechsel auf der Ebene der Regierungsorganisation also keineswegs ein „Schockerlebnis“. Das vielmehr wirkungsmächtige Bild einer stabilen und auch in Zeiten von Re-gierungswechseln jederzeit handlungsfähigen Regierungsorganisation zeichnet Wilhelm Hennis. Neu gewählte Amtsträger können sich den bewährten Routinen des Regierungsapparats und den etablierten Strukturen der Regierungsorganisa-tion anvertrauen: „Im Moment seiner Wahl ist das Pferd gesattelt und gezäumt, er muss nur reiten können“ (Hennis 1964: 27).

Damit korrespondiert im Gegensatz zum Veränderungsnarrativ im Stabili-tätsnarrativ die Vorstellung einer bestenfalls langfristigen und inkrementellen Strukturveränderung auf der Ebene der Regierungsorganisation. So erweisen sich insbesondere in der langfristigen Perspektive beobachtbare Veränderungsprozes-se der Regierungsorganisation als vergleichsweise marginal und wenig transfor-mativ für die Gesamtstruktur. Verwaltungswissenschaftliche Befunde zur Regie-rungsadministration verweisen beispielsweise auf den strukturbildenden Charak-ter administrativer Linienorganisation und weitere typische Strukturmuster der bundesdeutschen Regierungsorganisation (ausführlicher hierzu Kapitel 2.1).

Erneut analytisch zusammengefasst verbindet sich mit dem Stabilitätsnarra-tiv die Vorstellung, dass ein Regierungswechsel fortlaufend stattfindende, inkre-mentelle Organisationsveränderungen nur in engen Grenzen beeinflusst. Die Re-gierungsorganisation als auf Dauer angelegte Struktur bleibt meist stabil, ändert sich bestenfalls inkrementell und Eingriffe in die Regierungsorganisation stellen meist keine radikale Transformation der Organisationsstruktur insgesamt dar. 1.1.3 Zwischenfazit Wie lässt sich das mit diesen beiden Narrativen verbundene Spannungsverhältnis auflösen? Woraus resultieren die jeweils empirisch gleichermaßen belegbaren Perspektiven und inwieweit handelt es sich dabei um diametral gegensätzliche und widersprüchliche Einschätzungen?

Auf den ersten Blick formulieren die beiden idealtypisch konstruierten Nar-rative radikal unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich der Folgen von Regie-rungswechseln für die Institutionen der Regierungsorganisation. Während im Stabilitätsnarrativ der auf Kontinuität ausgelegte Charakter der Regierungsorga-nisation über längere Zeiträume hinweg betont wird, bewertet das Verände-rungsnarrativ die mit einem Regierungswechsel verbundenen strukturellen Ver-

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änderungen höher in ihrem Einfluss auf das institutionelle Gefüge der Regie-rungsorganisation. Die Ursache, und das macht den zentralen analytischen Un-terschied zwischen beiden Narrativen aus, liegt in der Betonung jeweils unter-schiedlicher Gegenstandsbereiche der Regierungsorganisation.

Das Veränderungsnarrativ betont vor allem den Einfluss politischer Füh-rung und den Veränderungs- und Steuerungsimpuls individueller politischer Akteure. Adressat dieses institutionellen Veränderungswillens sind dabei insbe-sondere die im Sinne der Organisationsgewalt des Regierungschefs veränderba-ren Organisationsmerkmale einer Regierungsformation. Dazu gehören der Res-sortzuschnitt, die personelle Neubesetzung von wenigen exekutiven Schlüsselpo-sitionen und eine nach außen zumindest deklaratorisch vermittelte Richtlinien-kompetenz der politischen Eliten gegenüber dem existierenden Regierungsappa-rat. Es überwiegt in analytischer Hinsicht die Betrachtung exekutiver Führungs-tätigkeit und strategischer Einflussnahme politischer Exekutivakteure.

Das Stabilitätsnarrativ wiederum räumt den administrativen Institutionen der Regierungsorganisation größeres Gewicht gegenüber politischer Einfluss-nahme ein. Zentral erscheint hier insbesondere der in parlamentarischen Regie-rungssystemen hohe Verflechtungsgrad zwischen politischen und administrati-ven Eliten, der sich aus der Notwendigkeit einer konstruktiven Kooperation ergibt. Ein konstitutives Wechselverhältnis mit reziproker Adaption ist die Folge und lässt mit Blick auf die Regierungsorganisation Kontinuität und dauerhafte Strukturbildung wichtiger erscheinen als kurzfristige Veränderungen. Zudem stehen klassisch verwaltungswissenschaftliche Aspekte wie Organisationsabläu-fe, administrative Strukturmuster oder das Rollenverständnis der Regierungsbü-rokratie im Mittelpunkt des Interesses. Damit prägt eine verwaltungswissen-schaftliche Schwerpunktsetzung die hier dominant vertretenen Analyseansätze.

In Abgrenzung von diesen beiden Perspektiven ist das Ziel der Darstellung der beiden Narrative, den hybriden Charakter der vorliegenden Arbeit herauszu-arbeiten: Zentrale Ausgangsüberlegung des hier verfolgten Zugangs ist, dass mit der vorgenommenen Auswahl der Untersuchungsgegenstände der mutmaßliche Widerspruch zwischen beiden Narrativen im Sinne eines synthetischen Modells aufgelöst werden kann. Oder anders gesagt: Die Narrative unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Betrachtung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche der Regierungsorganisation. Löst man sich folglich von dieser gegenstandsinduzierten Schwerpunktsetzung, so löst sich damit auch der oben skizzierte Widerspruch zwischen beiden Narrative zumindest prinzipiell auf und öffnet den Blick für weniger eindeutige Entwicklungsrichtungen der Regie-rungsorganisation nach Regierungswechseln. Neben dem Fortbestand stabiler Organisationsmuster auf der einen und der schnellen Veränderungen von Struk-turmustern der Regierungsorganisation auf der anderen Seite lassen sich bei-

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spielsweise graduelle, aber langfristig transformative Veränderungsprozesse ge-nauso identifizieren, wie vermeintlich radikale formale Organisationsverände-rungen, die langfristig wiederum durch stabile informelle Strukturmuster konter-kariert werden.

Konkreter Gegenstand der vorliegenden Analyse ist die Organisation der nordrhein-westfälischen Landesregierung rund um den Regierungswechsel 2005. Die Analyse folgt vor dem Hintergrund der oben dargestellten Ausgangsüberle-gung einer Schwerpunktsetzung, die Klaus-Eckart Gebauer mit der Identifikation unterschiedlicher Rollen von Landesregierungen vorschlagen hat (Gebauer 2006). Gebauer differenziert dabei drei unterschiedliche Gesichtspunkte, unter denen Regierungen, insbesondere Landesregierungen, analysiert werden können: 1. Die Landesregierung als kollektives Verfassungsorgan: Im Vordergrund

steht hier das Spannungsverhältnis der drei Organisationsprinzipien Richtli-nienkompetenz, Ressortprinzip und Kabinettsprinzip sowie die Stellung der Regierung als Kollegialorgan gegenüber dem Parlament.

2. Die Landesregierung als Organisation: Die zweite Rolle betont die Dimen-sion des Organisatorischen innerhalb einer Landesregierung. Im Mittelpunkt stehen Fragen des Ressortzuschnitts und die damit verbundene Aufteilung von regierungsinternen Kompetenzen in organisatorischer Hinsicht.

3. Die Landesregierung als Kommunikations- und Entscheidungssystem: Hier dominiert die Betrachtung von Mechanismen des Regierens und die hierfür zur Verfügung stehenden Verfahren, Prozeduren und Regeln. Informati-onsmanagement als Grundlage für die Entscheidungsfindung spielt dabei eine zentrale Rolle.

Die dritte Perspektive von Landesregierungen als „Kommunikations- und Ent-scheidungssystem“ stellt den Bezugspunkt dieser Analyse dar. Die damit ver-bundene Akzentuierung betont zum einen den Prozesscharakter des Regierens und damit die institutionell-prozessuale Dimension der Regierungsorganisation. Zum anderen deutet sich ein konstitutives Wechselspiel zwischen formalen Or-ganisationsstrukturen und informellen Mustern einer spezifischen Kommunikati-ons- und Entscheidungskultur an:

„Regierung ist […] nicht nur ein Norm- und Organisationssystem, sondern auch Kommunikations- und Entscheidungssystem [...] So wird die Leistung einer Regie-rung - auch auf Landesebene - mehr und mehr davon bestimmt sein, wie es ihr ge-lingt, ein verlässliches und lernfähiges Kommunikations- und Entscheidungssystem vorzuhalten: zur Gewinnung, Verarbeitung und Vermittlung von Informationen“ (Gebauer 2006: 143).

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Die damit verbundene Auswahl der konkreten Untersuchungsgegenstände liefert zugleich einen ersten allgemeinen Hinweis darauf, wie die vermeintlich gegen-sätzlichen Narrative im Sinne einer Synthese aufgeweicht werden können. Die Fokussierung auf Regierungsorganisation als Kommunikations-, Entscheidungs-, aber auch Koordinations- und Steuerungssystem weicht die Grenzen zwischen klassischer Exekutivforschung und stärker verwaltungswissenschaftlich angeleg-ten Zugängen auf. Eine solche Herangehensweise betont ein Verständnis von Regierungsorganisation im Sinne einer funktionsbezogen definierten „Kernexe-kutive“ (Rhodes/Dunleavy 1995; Peters et al. 2000) für das spezifische „Politik-management“ (Korte et al. 2006: 11–17; Korte/Fröhlich 2009: 14; Grunden 2009: 50–52) einer „Regierungsformation“ (Grunden 2009; Korte/Grunden 2010: 4). Die Konkretisierung der Analysegegenstände und die Einordnung eines solchen Zugangs in die Exekutivforschung stehen daher zunächst im Mittelpunkt des nachfolgenden Unterkapitels. 1.2 Gegenstand der Analyse: Die Transformation der nordrhein-

westfälischen Kernexekutive nach dem Regierungswechsel 2005 Allgemein gefasst ist der Gegenstand der vorliegenden Arbeit die nordrhein-westfälische Regierungsorganisation im Anschluss an den Regierungswechsel 2005. Analytischer formuliert und zugleich konkretisiert wird der Begriff der Regierungsorganisation hier im funktionsbezogenen Sinne als „Kernexekutive“ und damit als sowohl nach innen als auch nach außen gerichtetes formales und informelles Kommunikations-, Koordinations- und Entscheidungssystem einer Regierungsformation verstanden. Die Arbeit fragt somit nach der Transformation dieser Kernexekutive im Zuge eines Regierungswechsels, was sowohl Stabilisie-rungs- als auch Wandlungsprozesse einschließt, und sucht nach den dafür maß-geblichen Erklärungen im Sinne dahinter stehender Kausalmechanismen. Die damit verbundenen Leitfragen lauten: Wie wandeln und/oder stabilisieren sich formale und informelle Institutionen der Kernexekutive? Welche Rolle spielen dabei Kalküle und strategische Interventionen politischer Akteure und inwieweit verlaufen die beobachtbaren Transformationsprozesse weitgehend ungesteuert? In welchem konstitutiven Wechselverhältnis stehen Akteure und Strukturen? Wie lassen sich die jeweiligen Stabilisierungs- und Veränderungsprozesse erklä-ren? Gibt es erklärende Strukturmuster, die im Sinne kausaler Mechanismen herausgearbeitet werden können?

Mit dem oben kurz umrissenen Verständnis von Regierungsorganisation verbinden sich einige zentrale Teilaspekte, die es zunächst analytisch zu konzep-tualisieren und anschließend empirisch entlang des Untersuchungsgegenstandes

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1.2 Gegenstand der Analyse 31

zu konkretisieren gilt. Denn „Organisation ‚an sich‘ bezeichnet angesichts der enormen Varianz in mehreren Merkmalsdimensionen (…) nicht viel mehr als den Sachverhalt kollektiver Ordnung, Begrenzung und Berechenbarkeit“ (Schreyögg 2008: 138). Es gilt daher, zunächst die konkreten Bestandteile eines hier gewählten „institutionellen Organisationsbegriffs“ herauszuarbeiten, der drei zentrale Elemente beinhaltet (Schreyögg 2008: 8–10): Die spezifische Zweckori-entierung einer Organisation, die geregelte Arbeitsteilung innerhalb derselben sowie das Vorhandensein beständiger Grenzen, die eine Unterscheidung von Innen und Außen und mithin die Identifikation von Organisationsgrenzen ermög-lichen. Insofern geht das damit verbundene Verständnis von Regierungsorganisa-tion über eine vornehmlich interaktionistische Perspektive akteursbezogener „Praktiken“ (vgl. Rüb 2009: 46) hinaus und schließt institutionelle Strukturen jenseits von Akteurshandeln ein. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Darstellung steht daher zunächst die weitere begriffliche Präzisierung des Begriffs der Regie-rungsorganisation. Hinzu kommen daraus abgeleitete Hinweise auf konkrete Untersuchungsgegenstände, die im Rahmen der empirischen Analyse in den Blickpunkt geraten. Im Zuge eines problemorientierten Blickes auf den For-schungsstand (Kapitel 2) werden diese empirischen und theoretischen Anknüp-fungspunkte dann weiter angereichert und für die weitergehende Theoriebildung (Kapitel 3) und die empirische Analyse (Kapitel 5) herausgearbeitet. 1.2.1 Die Kernexekutive: Eine funktionsbezogene Definition der

Regierungsorganisation Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand ist der hier gewählte begriffliche Ausgangspunkt eine funktionsbezogene Definition der Regierungsorganisation, wie sie das Konzept der „Kernexekutive“ postuliert. Die Kernexekutive wird dabei nicht systematisch, sondern funktional über die Koordinationsleistungen, welche sie erbringt, definiert (Dunleavy/Rhodes 1990: 4):

“We define the core executive functionally to include all those organizations and structures which primarily serve to pull together and integrate central government policies, or act as final arbiters within the executive of conflicts between different elements of the government machine.”

Warum aber erscheint ausgerechnet das Konzept der Kernexekutive als für die vorliegende Fragestellung geeigneter Ausgangspunkt einer Definition von Regie-rungsorganisation? Das Konzept bietet, so die These, eine Antwort auf das oben im Rahmen der Darstellung des Veränderungs- und des Stabilisierungsnarrativs herausgearbeitete Problem. Dort wurde das Argument vertreten, dass die beiden

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jeweils mit den Narrativen verbundenen Erwartungen an die Regierungsorgani-sation im Zuge von Regierungswechseln vor allem einer unterschiedlichen Fo-kussierung konkreter Gegenstände geschuldet sind. Während die eine Sichtweise „Regierung“ im engeren Sinne und damit insbesondere die exekutive Führungs-leistung politischer Akteure in den Mittelpunkt rückt, orientiert sich die andere Perspektive vor allem an den administrativen und bürokratischen und somit aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht interessanten Aspekten der Regierungsor-ganisation. Da aber, wie im Problemaufriss zumindest implizit angedeutet wur-de, „Regierungshandeln sowohl durch politische als auch durch administrative Rahmenbedingungen bestimmt ist, muss die Analyse von Kernexekutiven zwei unterschiedliche politikwissenschaftliche Teilbereiche theoretisch und empirisch miteinander verbinden: die politisch-gouvernemental orientierte Regierungslehre und die administrativ orientierte Verwaltungslehre" (Müller-Rommel 2011: 217–218; vgl. Goetz 2004: 74)6. Ein an das Konzept der Kernexekutive angelehntes Verständnis von Regierungsorganisation schafft bereits eine gewisse Verständi-gung zwischen den beiden ansonsten oftmals getrennten analytischen Zugängen. Diesen sowohl theoretischen als auch empirischen Brückenschlag macht die über die oben dargestellte Ausgangsdefinition von Dunleavy und Rhodes hinausge-hende Definition der Kernexekutive durch Rhodes (1995: 12) deutlich:

“The term ‘core executive’ refers to all those organisations and procedures which coordinate central government policies, and act as final arbiters of conflict between different parts of the government machine. In brief, the ‘core executive’ is the heart of the machine, covering the complex web of institutions, networks and practices surrounding the prime minister, cabinet, cabinet committees and their official coun-terparts, less formalised ministerial 'clubs' or meetings, bilateral negotiations and in-terdepartmental committees. It also includes coordinating departments (...).”

Dieser Definition der Kernexekutive liegt zugleich ein weiter Institutionenbegriff zugrunde. So kann es sich bei der Kernexekutive einerseits um formale Organi-sationseinheiten, andererseits um informelle Institutionen, Praktiken, Konventio-nen und Spielregeln handeln. Konkret bezogen auf den Untersuchungsgegen-stand bedeutet das: Auf der einen Seite des Spektrums bilden Regierungszentra-len als formale Organisationen per definitionem den „Kern der ‚Kernexekutive‘“ (so Blätte 2011: 312). Denn die zentrale Aufgabe dieser Organisationseinheit ist die regierungsinterne Gesamtkoordination. Diese wird ihr im Normalfall durch 6 Müller-Rommel verweist bei dieser Problematisierung auf die Systematisierung von Klaus

Goetz (2004: 82–85) zu vier „Bildern der Kernexekutive“. Diese werden weiter unten bei der Verortung der vorliegenden Studie im Rahmen der Exekutivforschung noch einmal aufgegriffen und mit alternativen Strukturierungsvorschlägen (u.a. Andeweg 2003; Elgie 1997; Helms 2005c: 8–11) kontrastiert.

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1.2 Gegenstand der Analyse 33

die Geschäftsordnung der Regierung formal zugewiesen. Am anderen Ende des Spektrums finden sich als weitere Institutionen der Kernexekutive informelle Praktiken, Konventionen und „standard operating procedures“, die eine Koordi-nationsleistung innerhalb der Regierungsformation erbringen. Hierzu gehört beispielsweise die informelle Weitergabe von Informationen zwischen den Res-sorts unterschiedlicher Koalitionspartner, bevor der formale Weg der regierungs-internen Ressortkoordination beschritten wird. Aber auch die Etablierung eines Koalitionsausschusses mit mehr oder weniger formalisierten Beratungs- und Entscheidungsregeln ist ein Beispiel für eine solche institutionelle Ausgestaltung der Kernexekutive. Gerade das Wechselspiel aus formalen und informellen Ele-menten prägt im Regelfall die im Sinn von „Core Exekutive“ verstandene Regie-rungsorganisation. Dabei lösen sich die starren Grenzen zwischen formalen und informellen Arrangements häufig auf und werden zu einem hybriden Verbund mit unterschiedlichen Formalitäts- und Informalitätsgraden verwoben.

Auf den ersten Blick wirft diese breite Definition der Kernexekutive jedoch ein weitergehendes Problem auf, welches Rudy Andeweg thematisiert (2003: 40). Denn mit einer funktionalen Ausweitung und der damit einhergehenden Akzentverschiebung verschwimmen im Vergleich zu strukturellen Definitionen die Grenzen des Gegenstandes. Die Identifikation von zur Kernexekutive gehö-renden Gegenständen wird folglich weniger zu einer abstrakt theoretischen, als vielmehr zu einer forschungspraktischen Herausforderung. Insofern können sich je nach Untersuchungsfall Kernexekutiven auch fundamental voneinander unter-scheiden (Rhodes 1995: 26): “There is no one executive but multiple executives. The phrase ‘core executives’, because it refers to a range of central institutions, captures this essential variability.”

Ein erster Lösungsansatz für dieses Problem ergibt sich aus einer ausführli-chen Betrachtung des Forschungsstands (vgl. Kapitel 2.1). Aus diesem lassen sich bereits in systematischer Art und Weise einige Kernelemente der Kernexe-kutive auf Landesebene ableiten, die dabei helfen, die empirische Suche nach den jeweils relevanten Gegenständen vorzustrukturieren. So liefert beispielswei-se der Literaturbestand zu exekutiven „Machtzentren“ und „strategischen Zen-tren“ (u.a. Raschke 2002; Sturm/Pehle 2007; Raschke/Tils 2006; Machnig 2008; Grunden 2009; Korte/Grunden 2010) Hinweise darauf, dass eine Regierungs-zentrale nicht nur qua definitionem, sondern auch aufgrund empirischer Erkennt-nisse eine herausragende Rolle innerhalb der Kernexekutive einnimmt. Hinzu kommt die besondere Rolle, die persönliche Beraterzirkel innerhalb dieser Kern-organisation einer Landesregierung einnehmen (hierzu Grunden 2009). Insofern rücken die institutionell abgesicherten Koordinationsleistungen einer Regie-rungszentrale automatisch in den Blickpunkt der weiteren empirischen Analyse.

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34 1 Einleitung

Andere Bestandteile der Kernexekutive wiederum erschließen sich, und das stellt einen zweiten Lösungsansatz dar, im Laufe der systematischen empirischen Untersuchung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes. Das Wechselspiel zwischen theoretischen Annahmen und empirischer Analyse bei der Identifikati-on relevanter Institutionen der Kernexekutive stellt insofern bereits einen eigen-ständigen Erkenntnisgewinn dar (hierzu ausführlicher Kapitel 4), der zu erweiter-ter Tiefenschärfe entlang des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes beitragen kann.

Bevor die konkreten Gegenstände für die vorliegende Arbeit auf diese Wei-se identifiziert werden, gilt es jedoch, weitere Merkmale des hier zugrundelie-genden Verständnisses von Regierungsorganisation analytisch herauszuarbeiten. 1.2.2 Formales und informelles Kommunikations-, Koordinations- und

Entscheidungssystem: Institutionen und Akteure zwischen institutionalisierten Regelsystemen, Praktiken, Routinen und Prozessen

Mit dem oben skizzierten Begriff der Kernexekutive verbinden sich verschiedene Dimensionen der Regierungsorganisation, die hier prononcierter herausgearbeitet werden sollen. So verweist Rhodes auf den mit dem Konzept verbundenen Kerngedanken, Fragen nach der Ausprägung von Koordination und Fragmentie-rung innerhalb einer Regierungsformation in den Blickpunkt zu rücken (Rhodes 1995: 12). Diese Schwerpunktsetzung deutete auch bereits die im Problemaufriss thematisierte Betrachtung von Regierungen an, die Gebauer in Abgrenzung von anderen Rollen einer Regierung vorgeschlagen hat. Auch das von ihm herausge-stellte „Kommunikations- und Entscheidungssystem“, welches über die Exekuti-ve als reines „Norm- und Organisationssystem“ hinausreicht (Gebauer 2006: 143), rückt die Prozessdimension des Regierens im Sinne der Informationsge-winnung, Entscheidungsfindung und Koordinationsleistung in den Mittelpunkt. Mit dieser Schwerpunktsetzung sind zwei zentrale Dimensionen verbunden, die bereits in der weitergehenden Definition der Kernexekutive von Rhodes (1995: 12) angelegt sind und auf die hier kurz eingegangen werden sollen:

Erstens setzt sich die Kernexekutive sowohl aus formalen als auch informel-len Regelsystemen zusammen. Damit liegt dem Konzept zumindest implizit ein weiter Institutionenbegriff zugrunde. Dieser umfasst sowohl Organisationen im engeren Sinne als auch einzelne oder miteinander verbundene institutionalisierte Prozeduren und Regeln. Rhodes spricht hier von einem „complex web of institu-tions, networks and practices” (1995: 12) und verweist zugleich darauf, dass hierzu neben verfassungsrechtlich oder durch Geschäftsordnungen normierten

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1.2 Gegenstand der Analyse 35

Institutionen wie Kabinett oder Kabinettsausschüssen auch weniger formalisierte institutionelle Arrangements zählen können.

Warum spielen insbesondere informelle Regelsysteme innerhalb der Regie-rungsorganisation im Zuge eines Regierungswechsels eine herausragende Rolle? Ausgangspunkt ist die Annahme, dass informelle Strukturmuster der Regie-rungsorganisation sich im Zuge der Regierungstätigkeit etablieren, wandeln und zu „Informalitätskulturen“ (Pannes 2011: 76) verfestigen können. So ergeben sich neben formalen Strukturen der Regierungsorganisation weitere informelle Regelsysteme, „die eigene Kommunikationswege, Hierarchien und Sanktions-systeme definieren" (Schreyögg 2008: 13). Solch ein „zwischengelagertes Kommunikationsnetz“ (König 2002c: 260) informeller Regelsysteme kann un-terschiedliche Funktionen erfüllen. Erstens können sich solche informelle Institu-tionen der Regierungsorganisation als Störung formaler Abläufe und insofern dysfunktional im Sinne der Regierungskoordination erweisen. Zweitens können sie im Sinne einer Unterstützung formaler Regelsysteme zu deren Wirksamkeit beitragen und mithin eine unterstützende Funktion einnehmen. Sie können drit-tens aber auch als „wichtiges Korrektiv zu den dysfunktionalen Wirkungen for-maler Organisation“ fungieren. „In gewissem Umfang kann so gesehen die in-formale Organisation die formale stabilisieren, indem sie ihre Schwächen kom-pensiert und sie flexibler macht als sie nach ihrem formalen Reglement eigent-lich ist" (Schreyögg 2008: 13). Teilt man die Annahme, dass sich über die Dauer der Regierungstätigkeit hinweg informelle Strukturen etablieren, die im Sinne der zentralen politischen Akteure und ihrer Ziele funktional sind (so z.B. König 2002c: 262; Korte/Grunden 2010: 15; Grunden 2009), so ist davon auszugehen, dass sie im Zuge eines Regierungswechsels beinahe automatisch Anpassungs- und Veränderungsimpulsen ausgesetzt sind. Dies gilt insbesondere bei „kompletten Machtwechseln“: "A capital T transition signals the arrival of a new government which in many ways has maximum energy but minimum knowledge. The new government is replacing an out-going government which often has maximum knowledge and minimum energy" (Savoie 1993a: 4). Wenn man das hiermit angesprochene „Wissen“ im Sinne der Ressource eines etablier-ten Kommunikations-, Koordinations- und Entscheidungssystems versteht, ist zu erwarten, dass diese informellen Regelsysteme wichtigen Transformationspro-zessen im Zuge von Regierungswechseln ausgesetzt sind.

Diese Überlegungen deuten auf eine zweite wichtige Dimension hin, die mit dem Framing der Regierungsorganisation als Kernexekutive verbunden ist: die Bedeutung von Akteuren und ihre Interaktion vor dem institutionellen Hinter-grund der Regierungsorganisation. Es sind Akteure, nicht Institutionen, die han-deln (Mayntz/Scharpf 1995: 49). Der handlungstheoretische Begriff der „Prakti-ken“ geht sogar so weit, Akteurshandeln und Akteursinteraktionen zu einer ei-

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36 1 Einleitung

genständigen organisationalen Struktur zu verdichten (Rüb 2009: 49), wodurch die mutmaßliche Dichotomie zwischen formalen und informellen Institutionen aufgehoben wird. Regieren wird hier prozessorientiert als ununterbrochenes Organisieren von formalen und informellen Prozessen verstanden und damit zum Resultat von „Praktiken, die eine Regierungsorganisation konstituieren" (Rüb 2009: 43). Einer solchen rein handlungstheoretischen Akzentuierung folgt die vorliegende Arbeit nicht, sondern versteht Praktiken eher „als vermittelndes Element in der wechselseitigen Konstitution zwischen Akteur und Struktur" (Büger/Gadinger 2008: 280). Mit Blick auf die oben formulierten Überlegungen zu den Dimensionen der Kernexekutive heißt das: Regierungsorganisation wird nicht als rein institutionelle und strukturelle Kategorie behandelt, sondern Akteu-ren kommt eine zentrale Bedeutung in Prozessen der Stabilisierung und des Wandels dieser Institutionen der Regierungsorganisation zu. Insbesondere in-formelle Regelsysteme im Sinne zwischengelagerter Kommunikation- und Koordinationsnetze sind nur vor dem Hintergrund ihrer Verknüpfung mit den jeweiligen Erwartungen und Verhaltensweisen der Beteiligten zu verstehen (Kö-nig 2002c: 260). Auch „Informalitätskulturen“ etablieren sich erst vor dem Hin-tergrund von „stabilen Interdependenzen zwischen Akteuren, ihrem Handeln und der Struktur informeller Regelsysteme“ (Korte/Grunden 2010: 28). Oder gegen-standsbezogener auf die vorliegende Fragestellung übertragen: Es müssen im Zuge eines Regierungswechsels nicht nur Institutionen und Strukturen etabliert, verändert, adaptiert und stabilisiert werden, sondern auch Akteure mit ihrer Durchsetzung beauftragt werden (Lindquist 1993: 29). Daraus ergibt sich beina-he zwangsläufig, dass sowohl politischen als auch administrativen Akteuren im Zuge der empirischen Analyse Beachtung geschenkt werden muss. Institutionen der Regierungsorganisation und Akteurshandeln konstituieren sich gegenseitig und die im Fokus stehenden Transformationsprozesse der Kernexekutive sind nur vor dem Hintergrund dieser Interaktion zu verstehen. 1.2.3 Die Regierungsformation: Die Kernexekutive als nach innen und nach

außen gerichtetes Koordinationssystem Schließlich gilt es abschließend, den bereits verwendeten, aber noch nicht näher spezifizierten Begriff der Regierungsformation zu erläutern und zu präzisieren. Dieser steht angesichts der mit ihm verbundenen Gegenstandsentgrenzung ge-genüber der klassischen Begrifflichkeit der „Regierung“ in direktem Zusammen-hang zu den bisherigen Überlegungen zur „Core Executive“. Meist wird in ei-nem engen Verständnis der Exekutivforschung „Regierung“ synonym mit „Ka-binett“ verwendet (z.B. Andeweg 2003: 40–41). Mit dieser Engführung geht der

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1.2 Gegenstand der Analyse 37

im Problemaufriss problematisierte Bias zugunsten exekutiver Führung in der klassischen Regierungsforschung einher, während die administrative Ebene des Regierens ausgeblendet bleibt. Die Konzeption der Kernexekutive will jedoch genau diese Grenzziehung auflockern und versteht folglich unter Kernexekutive mehr als die rein verfassungsmäßigen Komponenten der Exekutive. Der Begriff der Regierungsformation greift diesen Gedanken auf und erweitert ihn zugleich um informelle Aspekte jenseits einer klassischen Unterscheidung von politischer und administrativer Exekutive: „Unter einer ‚Regierungsformation' werden jene kollektiven Akteure verstanden, von deren kontinuierlichen Verständigung über Sach- und Personalfragen die Stabilität der Regierung und die Herstellung ver-bindlicher Entscheidungen in parlamentarischen Regierungssystemen abhängig ist. Es handelt sich um die Handlungseinheit aus Exekutive, Mehrheitsfraktionen und Regierungsparteien“ (Korte/Grunden 2010: 4).

Mit dieser begrifflichen Erweiterung über den engen Begriff der „Regie-rung“ hinaus verbindet sich ein analytischer Brückenschlag zur oben erläuterten Dimension der informellen Regelsysteme. Denn die Konzeption der Regierungs-formation hebt erstens den nur in staatsrechtlich-formaler Hinsicht schlüssigen Gegensatz zwischen Exekutive einerseits und Legislative andererseits auf. Eine solche Grenzziehung stellt zumindest in den parlamentarischen Regierungssys-temen der Länder keine adäquate Beschreibung der Verfassungsrealität dar. Vielmehr bilden Regierungsakteure, Mehrheitsfraktionen und die sie stützenden Parteien eine Handlungseinheit, die mit der formalen Strukturierung einer Regie-rung im engeren Sinne kaum in Einklang zu bringen ist. Aus dem Begriff der Regierungsformation abgeleitet ist daher die Vorstellung einer vergleichsweise heterogenen Ansammlung korporativer und individueller Akteure, die wiederum als Repräsentanten korporativer und kollektiver Akteure agieren und in diesem Gesamtensemble eine Regierungsformation bilden (Pannes 2011: 37–38).

Zweitens verweist dieses weitere Verständnis der Regierungsformation über die oben gemachten Hinweise zur Kernexekutive hinaus beinahe automatisch auf eine notwendige Ergänzung vorhandener Formalstrukturen durch die Etablierung informeller Regelsysteme (Korte/Grunden 2010: 15). Die Funktionsfähigkeit einer Regierungsformation ist nur dann gewährleistet, wenn ergänzende infor-melle Regelsysteme im Sinne von Informations-, Koordinations- und Entschei-dungssystemen etabliert werden. So stellt beispielsweise die verfassungsrechtlich normierte Trennung von Regierungs- und Parteiamt eines Ministerpräsidenten in der Realität des Regierungshandelns eine Fiktion dar. Ohne eine enge Rückbin-dung der Amtsführung an die regierungstragenden Fraktionen sowie die hinter diesen stehenden Parteien, die häufig auch über eine Personalunion von Partei- und Regierungsamt herbeigeführt wird, ist eine Ausübung des Amtes entlang der Spielregeln des parlamentarischen Regierungssystems schlichtweg nicht vor-

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stellbar. Dies zieht die Etablierung entsprechender informeller Koordinations- und Strukturmuster notwendigerweise nach sich und mündet gewissermaßen automatisch in Widersprüchen zwischen diesen informellen Strukturen einerseits und formalen Regeln andererseits.

Drittens schließlich verbindet sich mit dem Begriff der Regierungsformati-on nicht nur ein nach innen gerichtetes Verständnis von Regierungsorganisation im Sinne der exekutivinternen Koordination. Vielmehr rücken jenseits dieser internen Koordinationsprozesse auch externe Akteure und Strukturen sowie die mit ihnen verbundenen Informations-, Koordinations- und Entscheidungsprozes-se ins Blickfeld. Der Blick auf die Organisation einer Regierungsorganisation im Zuge eines Regierungswechsels zieht die Notwendigkeit nach sich, auch das Umschiffen potentieller „Minenfelder“ wie etwa Interessengruppen, Medienver-treter und sonstiger politischer Akteure (vgl. Brown-John 1993: 55–66) als rele-vant zu erachten und sich daraus ergebende Strukturen der externen Koordinati-on zu thematisieren. Die Regierungsorganisation ist in diesem Sinne ein sowohl nach innen als auch nach außen gerichtetes Informations-, Koordinations- und Entscheidungssystem. Insbesondere die hierin angelegten mikro- und mesostrukturellen Bedingungsfaktoren sind jenseits makrostruktureller Einflüsse verantwortlich für die jeweilige Ausprägung informeller Regelsysteme der Re-gierungsorganisation. Denn informelle Regelsysteme einer Regierungsformation sind neben makrostrukturellen Einflüssen, wie sie die Anforderungen des jewei-ligen Regierungssystems nach sich ziehen, beispielsweise auch von Organisati-onskulturen, Interaktionsorientierungen maßgeblicher Akteure und historischen Bezügen geprägt (Korte/Grunden 2010: 9). 1.2.4 Zwischenfazit Vor dem Hintergrund dieser dreifachen definitorischen Eingrenzungen stellt sich nun die für die empirische Analyse zentrale Frage nach den relevanten Untersu-chungsgegenständen: Welche Untersuchungsobjekte verbinden sich mit diesem kernexekutiven Verständnis von Regierungsorganisation als nach innen und außen gerichtetes Informations-, Koordinations- und Entscheidungssystem einer Regierungsformation? Auch wenn dies angesichts der begrifflichen Rahmung vor allem eine forschungspraktische Frage ist, lassen sich bereits jetzt einige Kerngegenstände kurz skizzieren, deren weitere Präzisierung dann im Rahmen der Darstellung des Forschungsstandes vorgenommen wird:

Eine erste Gruppe von Untersuchungsgegenständen bilden formale Institu-tionen der Regierungsorganisation, denen aufgrund ihrer rechtlichen Normie-rung, ihrer Verankerung in der Geschäftsordnung einer Landesregierung oder

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1.2 Gegenstand der Analyse 39

ihrer anderweitig gelagerten Formalisierung eine Rolle als Koordinationsinstanz zukommt. Dazu gehört für den vorliegenden Fall beispielsweise die Staatskanz-lei, der als zentraler organisatorischer Koordinationseinheit innerhalb einer Re-gierungsformation unter anderem die Funktionen der Kabinettsorganisation und der Aufsicht über die Ressortkoordination zugewiesen sind. Auch das Kabinett als Schlüsselinstanz zur Herbeiführung formaler Regierungsbeschlüsse findet hier notwendigerweise Beachtung. Gleiches gilt für das stärker administrativ ausgerichtete Gremium der Staatssekretärskonferenz, die mit ihrer sachpoliti-schen und Verwaltungsorientierung eine Schlüsselrolle im Zuge der Ressortko-ordination übernimmt. Hinzu kommen in der Regierungsadministration veran-kerte Koordinationsinstanzen, denen aber vor allem eine politische Koordinati-onsrolle zukommt. Dazu gehören beispielsweise Organisationseinheiten wie Kabinettsreferate und den Hausspitzen zugeordnete Stabseinheiten.

Eine zweite Gruppe bilden informelle Regelsysteme einer Regierungsfor-mation, denen spezifische Kommunikations-, Koordinations- und Entschei-dungsfunktionen zugewiesen werden. Dazu gehören beispielsweise institutionel-le Arrangements, die den Austausch zwischen Exekutiv- und Legislativakteuren einer Regierungsformation strukturieren. Solche Koordinationsprozesse spielen sich einerseits auf der Ebene der Fachpolitiken ab. Die dauerhafte oder themen-bezogene personelle Erweiterung parlamentarischer Arbeitsgruppen um Vertreter der Exekutivbürokratie ist ein entsprechendes Beispiel. Von über Einzelpolitiken hinausgehender Bedeutung ist bei Koalitionsregierungen der beinahe schon rou-tinemäßig installierte Koalitionsausschuss. Er stellt meist den organisatorischen Ankerpunkt des institutionalisierten Koalitionsmanagements einer Regierungs-formation dar. Zu der Gruppe dem Koalitionsmanagement zuzurechnender in-formeller Institutionen können aber auch weitere Routinen, Praktiken und Ver-fahren gehören, die nicht unbedingt weitergehend formalisiert sind, sondern erst durch ihre wiederholte Anwendung in der politischen Praxis institutionalisiert werden. Beispielhaft sei hierbei auf die Herausbildung „strategischer Zentren“ innerhalb einer Regierungsformation verwiesen, die sich meist naturwüchsig im Laufe der Zeit herausbilden und denen in der Folge wichtige Koordinationsfunk-tionen zukommen, ohne dass sie als Organisationseinheit im formalen Sinne institutionalisiert werden. Sie unterscheiden sich insofern von formalen Instituti-onen, als weder ihre Existenz noch ihre Bedeutung ohne weiteres aus Organisa-tionsplänen abgeleitet werden können.

Wichtig für das hier zugrundeliegende Verständnis dieser beiden Gruppen relevanter Institutionen der Regierungsorganisation ist, dass die hier vorgenom-mene Trennung zwischen formalen und informellen Regelsystemen eine analyti-sche ist. In der empirischen Analyse, aber auch in der theoretischen Konzeptua-lisierung, gibt es vielfältige Überschneidungen und Verbindungslinien, welche

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die Dichotomie zugunsten eines Kontinuums formaler und informeller Institutio-nen aufweichen. 1.3 Programm und Struktur der Arbeit Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Überlegungen ergibt sich die nachfol-gende Argumentationsstruktur dieser Arbeit:

In einem nächsten Schritt geht es zunächst darum, den für die oben heraus-gearbeitete Fragestellung einschlägigen Forschungsstand zu skizzieren und die vorliegende Arbeit forschungssystematisch im Feld der Exekutivforschung zu verorten (Kapitel 2). Dabei wird argumentiert, dass es keinen klar abgegrenzten Forschungsstand gibt, auf den im Sinne eines eindeutigen Referenzpunktes zu-rückgegriffen werden kann. Vielmehr offenbart sich eine Vielzahl potentieller empirischer und theoretischer Anknüpfungspunkte in unterschiedlichen For-schungsfeldern, die für die Analyse sowohl in empirischer als auch theoretischer Hinsicht nutzbar gemacht werden können (Kapitel 2.1). Die in diesem Zusam-menhang als relevant identifizierten Literaturbestände werden nachfolgend in einer theorieorientierten Heuristik entlang von drei Dimensionen zusammenge-fasst. Diese sind sowohl theoretisch als auch empirisch bedeutsame Kategorien für die Frage nach der Transformation der Kernexekutive in der Folge eines Regierungswechsels und stellen das über die Darstellung des Forschungsstandes hinausreichende analytische Grundgerüst dieser Arbeit dar. Die temporale Di-mension (Kapitel 2.1.1) problematisiert den Einfluss zeitlicher Abfolgen, Verläu-fe und Sequenzen sowie von Pfadabhängigkeiten auf die Kernexekutive. Die institutionelle Dimension (Kapitel 2.1.2) thematisiert das aus formalen und in-formellen Institutionen bestehende Geflecht der Regierungsorganisation, unter-scheidet dabei zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung und the-matisiert die machtverteilenden Effekte von Institutionen. Die akteursbezogene Dimension schließlich (Kapitel 2.1.3) diskutiert den Akteurseinfluss auf die Regierungsorganisation im Zuge eines Regierungswechsels und das Spannungs-feld aus intentionaler Einflussnahme einerseits und nichtintendierten Handlungs-folgen andererseits. Zugleich rücken unterschiedliche Akteurstypen und ihre Koalitionen auch als Adressaten personeller und organisatorischer Revirements ins Blickfeld.

Im Hinblick auf die weitere Analyse geht es über die Einführung dieser drei theoretischen Kategorien hinaus in der Diskussion des Forschungsstandes um die Herausarbeitung bereits vorhandener Erkenntnisse zum Untersuchungsgegen-stand, die Konkretisierung relevanter Untersuchungsgegenstände für die empiri-

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1.3 Programm und Struktur der Arbeit 41

sche Analyse sowie offene Fragen und Forschungslücken, die es zu beachten, zu beantworten und zu füllen gilt.

Die aus dem Forschungsstand abgeleiteten Erkenntnisse bilden schließlich auch die Grundlage dafür, drei zentrale Zielsetzungen der Arbeit zu begründen. Jenseits des empirisches Zieles, mit der fallspezifischen Rekonstruktion neue Innenansichten zur Regierungsorganisation zu liefern und damit einen Beitrag zur Erforschung des Politikmanagements auf Landesebene zu leisten (Kapitel 2.1), rückt dabei vor allem die theoretische Zielsetzung in den Mittelpunkt (Ka-pitel 2.2). Zentrales Bestreben ist es, die analytische Anschlussfähigkeit an etab-lierte institutionentheoretische Ansätze und damit theoretische Kernbestände der Politikwissenschaft herzustellen. Die mit Blick auf die vorliegende Forschungs-frage oftmals dominierenden atheoretischen Beschreibungen von Regierungs-wechseln sollen zugunsten der Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analy-seansatzes überwunden werden. Damit in Verbindung steht die zweifach ausge-richtete methodologische Zielsetzung (Kapitel 2.3). Zum einen geht es darum, das Potential einer Einzelfallanalyse für theoriebildende Zwecke zu diskutieren und eine entsprechende Konzentration auf kausale Mechanismen zu begründen. Zum anderen gilt es, daraus mikromethodische Konsequenzen abzuleiten. Damit korrespondierende Intention dieser Arbeit ist es, das produktive Zusammenspiel aus teilnehmender Beobachtung und weiteren Sekundärmethoden zu begründen und entlang dieser Überlegungen das methodische Repertoire der Regierungsfor-schung sinnvoll zu erweitern. Diese beiden Zielsetzungen stellen zugleich den Anknüpfungspunkt für die beiden nachfolgenden Kapitel (Kapitel 3 und 4) die-ser Arbeit dar.

Zielsetzung in Kapitel 3 ist die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes zur Erfassung institutioneller Transformationsdynamiken der Kernexekutive. Hierin fließen sowohl theoretische Vorannahmen als auch im Zuge der empirischen Analyse gewonnene Erkenntnisse ein, die jedoch nicht zu einem umfassenden theoretischen Modell, sondern vielmehr zu einer forschungs-leitenden Heuristik verdichtet werden. Die bereits die Darstellung des For-schungsstandes prägenden drei Dimensionen Zeit, Institutionen und Akteure finden hier in analytischer Perspektive besondere Beachtung.

In einem ersten Schritt (Kapitel 3.1) geht es zunächst darum, Zeit und Kon-text als theoretische Kategorien nutzbar zu machen und über die allgemeine Annahme „history matters“ hinauszukommen. Dies erfolgt insbesondere durch einen Rückgriff auf Pfadabhängkeitskonzepte sowie die analytische Unterschei-dung zwischen Institutionenentwicklung und Institutionendesign.

Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Überlegungen ergibt sich, so das Argument, eine prinzipielle theoretische Anschlussfähigkeit an den Historischen Institutionalismus (Kapitel 3.2). In Abgrenzung von anderen neoinstitutionalis-

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tischen Ansätzen wird in der Folge das besondere analytische Potential dieser Theorieperspektive für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand herausgear-beitet. Zugleich gilt es jedoch, auch die systematischen und gegenstandsbezoge-nen Defizite dieses Theorieprogramms zu thematisieren und daraus notwendige analytische Erweiterungen abzuleiten. Dabei kristallisieren sich insbesondere die Notwendigkeit einer analytischen Verfeinerung des Institutionenbegriffs sowie die Entwicklung einer expliziten Akteurskonzeption als Kernpunkte einer analy-tischen Erweiterung heraus. Im Sinne eines weiter ausdifferenzierten Institutio-nenbegriffs wird daher zwischen formalen und informellen Institutionen sowie institutionellen Regeln und ihrer praktischen Anwendung differenziert und wer-den die machtverteilenden Konsequenzen politischer Institutionen diskutiert (Kapitel 3.3). Eine Spezifizierung des Akteursbegriffs erfolgt durch einen Rekurs auf den akteurszentrierten Institutionalismus sowie durch die Unterscheidung unterschiedlicher Typen von Change-Agents, die Rolle individueller Akteure als Repräsentanten korporativer Akteure und die Bedeutung von Akteurskoalitionen (Kapitel 3.4).

Ergebnis dieser theoretischen Überlegungen ist schließlich die Verdichtung zu einem gegenstandsbezogenen Analyseansatz (Kapitel 3.5). Dieser fasst die zuvor entwickelten analytischen Begrifflichkeiten systematisch zusammen und konzeptualisiert ihr Zusammenspiel in Form unterschiedlicher Modi institutio-neller Transformation (Kapitel 3.5.5). Diese sind vor dem Hintergrund ihrer analytischen und empirischen Herleitung in der Lage, zeitlich unterschiedliche Transformationsdynamiken der Kernexekutive sowohl im Sinne des Verände-rungs- als auch Stabilitätsnarrativs analytisch zu erfassen.

Sowohl aus dem Forschungsstand als auch aus der Entwicklung des gegen-standsbezogenen Analyseansatzes folgen weiterreichende methodologische Kon-sequenzen für die vorliegende Arbeit, die in Kapitel 4 zusammengefasst und diskutiert werden. Dabei gilt die Aufmerksamkeit als erstes der Begründung des gewählten Forschungsdesigns (Kapitel 4.1). Zunächst steht eine Diskussion des erkenntnistheoretischen Werts qualitativer Einzelfallstudien im Mittelpunkt. Im Rückgriff auf die theoretischen Imperative des entwickelten Analyseansatzes wird begründet, inwieweit Fallstudien einen besonderen Erkenntnisgewinn im Sinne kausaler Erklärungen liefern können (Kapitel 4.1.1). Mit direktem Bezug zum konkreten Untersuchungsgegenstand wird darauf aufbauend argumentiert, dass der hier gewählte Zugang einer einzelfallbezogenen Struktur- und Prozess-analyse sich insbesondere für das Ziel induktiver typologischer Theoriebildung eignet, inwieweit die Identifikation kausaler Mechanismen trotz kleiner Fallzah-len theoretisch generalisierbare Erkenntnisse liefern kann, warum der Untersu-chungsgegenstand der nordrhein-westfälischen Kernexekutive einen – auch unter theoretischen Prämissen betrachtet – geeigneten Fall für das Ziel der gegen-

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1.3 Programm und Struktur der Arbeit 43

standsbezogenen Theoriebildung darstellt und welchen analytischen Beitrag die makromethodische Herangehensweise der Prozessanalyse liefert (Kapitel 4.1.2).

Die daraus wiederum resultierenden mikromethodischen Konsequenzen für die weitere Analyse strukturieren den zweiten Teil dieses Methodenkapitels (Kapitel 4.2). In einem ersten Schritt werden die spezifischen Vorteile und Nach-teile der teilnehmenden Beobachtung als hier gewählter Primärmethode erläutert. Dabei geht es in einer über die konkrete Anwendung hinausreichenden Intention darum, das methodische Repertoire der Regierungsforschung um diese dort bis-lang kaum zur Anwendung gebrachte Methode zu erweitern (Kapitel 4.2.1). Gleichwohl stellen sich angesichts der spezifischen Charakteristika des hier analysierten Untersuchungsgegenstandes weitergehende methodische Fragen, die es zu beantworten gilt. Dazu gehören die Auswahl der konkreten Beobachtungs-gegenstände, der Zugang zum Forschungsfeld angesichts des Charakters der Kernexekutive als politischer „Arkanbereich“, die Nutzung von Beobachtungsin-strumenten, die Anforderungen zur Herstellung von Intersubjektivität sowie die Validierung gewonnener Erkenntnisse im Zuge einer weitergehenden Methoden-triangulation (Kapitel 4.2.2).

Die analytisch angeleitete Rekonstruktion der kernexekutiven Transforma-tionsprozesse bildet das Kapitel 5. Einleitend wird zunächst der spezifische zeit-geschichtliche Kontext des Regierungswechsels 2005 in Nordrhein-Westfalen beleuchtet. Im Mittelpunkt stehen hier die landespolitische Ausgangslage, eine Analyse des Landtagswahlergebnisses mit Blick auf die politischen Konsequen-zen für die Regierungsformation, eine kurze Darstellung des formalen Regie-rungsbildungsprozesses sowie die spezifischen landespolitischen Herausforde-rungen, mit denen sich die Regierungsformation in der Folge konfrontiert sah. Eine problembezogene Konkretisierung erfolgt bereits insofern, als diese Dar-stellung in einer kurzen Gesamtschau die nachfolgenden Untersuchungsgegen-stände der theoriegeleiteten Prozess- und Strukturanalyse beinhaltet und zugleich wichtiges Kontextwissen bereitstellt (Kapitel 5.1).

Die nachfolgende Analyse der kernexekutiven Transformationsprozesse mit Hilfe des gegenstandsbezogenen Ansatzes (Kapitel 5.2) ist entlang von drei übergreifenden institutionellen Regelsystemen der Kernexekutive strukturiert. Diese Systematisierung ergibt sich einerseits aus der in der Diskussion des For-schungsstandes enthaltenen, abstrakten Identifikation relevanter Untersuchungs-gegenstände sowie aus der forschungspraktisch hergeleiteten Begründung ihrer kernexekutiven Funktionserfüllung andererseits. Insgesamt bilden die drei Ge-genstandsbereiche insofern den Kern der nordrhein-westfälischen Exekutive, als dass sie im funktionalen Sinne die zentralen institutionellen Regelsysteme zur regierungsformationsinternen Kommunikation, Koordination und Steuerung umfassen. Analytisch strukturiert wird die Darstellung entlang der fünf Trans-

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44 1 Einleitung

formationsmodi Conversion, Drift, Displacement, Exhaustion und Layering. Die weiteren institutionellen und akteursspezifischen Analysekategorien finden in dem Sinne Anwendung, als dass sie und das mit ihnen jeweils verbundene Erklä-rungspotential explizit in die Darstellung integriert werden

Der erste Gegenstandskomplex thematisiert die Stabilisierungs- und Verän-derungsdynamiken der Staatskanzlei als „Nukleus der Kernexekutive“ (Kapitel 5.2.1). Weitgehend chronologisch, wenngleich, wenn notwendig, durch zeitliche Erweiterungen über den Zeitraum von 2005 bis 2010 hinaus ergänzt, werden die institutionellen Transformationsdynamiken der Regierungszentrale nicht nur rekonstruiert, sondern jeweils Erklärungen für die beschriebenen Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse herausgearbeitet. Als dominant erwies sich hier der Transformationsmodus des Displacement, wenngleich er einerseits institutionell begrenzt war und durch die weiteren Modi Layering, Drift und Conversion er-gänzt wurde.

Hinsichtlich der Regelsysteme des Koalitionsmanagements, die den zweiten Kernexekutivkomplex bilden (Kapitel 5.2.2), zeigt sich eine Dominanz des Mo-dus Conversion. Insbesondere der Koalitionsausschuss war dieser Transformati-onsdynamik unterworfen, in deren Folge er sich von einem reinen Kriseninter-ventionsinstrument unter der rot-grünen Vorgängerregierung zu der zentralen Koordinations- und Steuerungsinstanz der Regierungsformation wandelte. Gleichwohl zeigten sich die Modi Layering, Drift und Exhaustion als ergänzende Dynamiken.

Das Kabinett, die Staatssekretärskonferenz sowie ergänzende formale und informelle Praktiken bilden schließlich das dritte kernexekutive Anwendungsfeld (Kapitel 5.2.3). Auch hier dominiert ein vor allem auf eine veränderte Regelan-wendung zurückzuführende Conversion dieses Institutionengefüges, welche durch die Schichtung (Layering) weiterer Regelstrukturen ergänzt wurde.

Zugleich zeigt sich in der Gesamtschau eine unmittelbare Bezugnahme der drei kernexekutiven Regelsysteme mit entsprechenden Implikationen. Nicht zuletzt diese Zusammenhänge werden schließlich im Fazit (Kapitel 6) aufgegrif-fen. Über eine kurze Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse hinaus werden hier theoretische, empirische und methodologische Schlussfolgerungen identifiziert und diskutiert. Dazu gehören insbesondere die Identifikation kausa-ler Mechanismen und die Ableitung theoretisch generalisierbarer Hypothesen. Den Abschluss bildet eine Diskussion fortbestehender Fragen sowie die Identifi-kation daraus ableitbarer Konsequenzen für weitere Forschungsarbeiten zur Transformation der Kernexekutive.

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2 Forschungsstand und drei Zielsetzungen der Arbeit: Empirische Fallanalyse, institutionalistische Theoriebildung und methodische Innovation

Wie kann die vorliegende Arbeit mit der oben beschriebenen Schwerpunktset-zung der Fragestellung und den damit verbundenen Untersuchungsgegenständen nun im Feld der Exekutivforschung verortet werden? Welche empirischen und theoretischen Orientierungen verbinden sich damit und welche Ziele verfolgt die vorliegende Arbeit, um die Wissensbestände der Regierungsforschung zu erwei-tern? Diesen Fragen gehen die nachfolgenden Unterkapitel nach, indem sie ins-besondere auf den Forschungsstand und die aus diesem abgeleiteten empiri-schen, theoretischen und methodischen Anknüpfungspunkte eingehen.

Mit der oben dargestellten Bezugnahme auf das Konzept der Kernexekutive ist bereits ein theoretischer und empirischer Brückenschlag zwischen politisch-gouvernemental orientierter Regierungslehre einerseits und administrativ orien-tierter Verwaltungslehre andererseits verbunden (Müller-Rommel 2011: 217–218). Die vorliegende Arbeit stellt insofern eine Mischform der von Goetz (2004: 82–85) identifizierten „Bilder“ der Kernexekutive dar, als sowohl verwal-tungswissenschaftliche als auch Bezüge zur klassischen Regierungsforschung hergestellt werden. Mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation im umfassenderen Sinne lassen sich weitere Zugänge und damit jeweils verbundene unterschiedliche Schwerpunktsetzungen identifizieren (vgl. Helms 2005e: 29–32):

Robert Elgie und Helen Thompson (1998: 3–8) schlagen in ihrer Systemati-sierung eine Unterscheidung von vier Typen von Kernexekutivstudien vor. Die Differenzierung folgt dabei entlang zweier Dimensionen: einer Unterscheidung zwischen einer qualitativen und einer quantitativen Betrachtung einerseits sowie dem Fokus auf interne Machtbeziehungen innerhalb der Kernexekutive und externen Beziehungen der Kernexekutive zu anderen Akteuren des politischen Systems andererseits. Rudy Andeweg (2003: 41–42) greift diese Unterscheidung von interner Dynamik und externen Beziehungen auf und ergänzt mit Bezug zu King (1975) die Dimension der Rekrutierung. Im Zusammenspiel mit drei unter-schiedlichen theoretischen Zugängen – Institutionalismus, Rational Choice und

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Behaviorismus – ergibt sich hieraus eine differenziertere Strukturierung von Zugängen zu „Regierung“ als Forschungsfeld, die nicht nur nach inhaltlicher Schwerpunktsetzung, sondern auch nach theoretischer Ausrichtung unterschei-det. Ludger Helms (2005c: 8–11) wiederum kontrastiert zwei unterschiedliche Zugänge der Exekutivforschung: Während die eine Perspektive die Prozessdi-mension exekutiver Politik in den Mittelpunkt rückt, betont die andere vor allem das Verständnis von Exekutive als Institutionengefüge. Mit seiner Fokussierung auf die Regierungsorganisation unter dem Gesichtspunkt der „politischen Füh-rung“ (Helms 2005e; vgl. Helms 2000; Helms 2009; Holtmann 2008: 8–10; Grasselt/Korte 2007) betont er vor allem die prozessuale Dimension des Regie-rens, bei der als Gegenstände die institutionellen, organisatorischen, historischen und personellen Grundlagen des Regierens in den Mittelpunkt rücken (Helms 2005e: 12). Karl-Rudolf Korte schließlich (2001c: 3–4) begreift politische Füh-rung als einen von drei idealtypischen Zugängen zum Gegenstand des „moder-nen Regierens“. Die mit dieser Schwerpunktsetzung verbundene Fokussierung auf die Führungsleistung individueller Akteure grenzt er von systemtypologi-schen und machtzentrierten Zugängen ab und leitet daraus den Begriff des „Poli-tikmanagements“ ab. Unter Politikmanagement wird dabei das sich aus dem Zusammenwirken institutioneller Rahmenbedingungen auf der einen und Ak-teurshandeln auf der anderen Seite ergebende Wechselspiel zwischen der Steue-rungsfähigkeit politischer Akteure und der Steuerbarkeit des politischen Systems verstanden (Korte/Fröhlich 2009: 14).

Im Sinne einer hybriden Adaption dieser kurz angerissenen Perspektiven versteht die vorliegende Arbeit die Frage nach den Stabilisierungs- und Wand-lungsprozessen der Regierungsorganisation im Zuge von Regierungswechseln als wichtigen Beitrag zum Studium von Politikmanagement auf Landesebene (hierzu Korte et al. 2006: 11–17). Im Mittelpunkt steht dabei die institutionelle Dimension des Politikmanagements. Es geht mit Blick auf die von Elgie und Thompson vorgeschlagene Typologisierung um eine qualitative Analyse sowohl nach innen als auch nach außen gerichteter institutioneller Strukturen der Kern-exekutive. Anders als im engen Begriffsverständnis der Regierung als „Kabi-nett“, die Andeweg vorschlägt, spielen dabei formale und informelle Institutio-nen im Sinne institutioneller Regelsysteme eine wichtige Rolle. Diese Institutio-nen der Regierungsorganisation, und darin besteht die Anschlussfähigkeit an die von Helms akzentuierten Aspekte, sind jedoch nur vor dem Hintergrund ihrer historischen Einbettung und der intentionalen Einflussnahme politischer Akteure verständlich. Nicht nur das Regieren trägt damit prozesshafte Züge, sondern auch die Entwicklung der Regierungsorganisation wird als von unterschiedlichen Faktoren beeinflusster Prozess der Stabilisierung und des Wandels verstanden. Wie im theoretischen Rahmen (Kapitel 3) deutlicher herausgearbeitet wird, erge-

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ben sich vor dem Hintergrund kontextueller Umstände und aus der Interaktion formaler und informeller Regelsysteme einerseits und Akteurshandeln anderer-seits unterschiedliche Modi der Stabilisierung und des Wandels von Institutionen der Regierungsorganisation. Das Ergebnis ist eine unterschiedlichen, aber paral-lel ablaufenden Entwicklungsdynamiken ausgesetzte Transformation der Kern-exekutive.

In der Gesamtschau betont diese Arbeit damit zugleich eine klassische Government-Perspektive. Diese Schwerpunktsetzung folgt einerseits dem Be-fund, dass auf Länderebene eine ausgeprägte Exekutivlastigkeit den politischen Prozess bestimmt (Korte et al. 2006: 390–391; König 2002g: 225). Obwohl es für neue Governance-Strukturen auch auf Landesebene Ansatzpunkte gibt, spie-len doch Regierungen im Sinne einer Government-Akzentuierung weiterhin eine herausragende Rolle (ausführlicher hierzu Florack et al. 20087). Mit Blick auf den konkreten Gegenstand der Analyse, die Institutionen der Regierungsorgani-sation, kommen darüber hinaus noch vier Schwächen der Governance-Akzentuierung hinzu, deren Bedeutung für die vorliegende Fragestellung nicht unterschätzt werden sollte (Benz et al. 2007a: 18–20; grundsätzlicher Benz/Dose 2010a)8: Eine Unterbelichtung der Machtdimension in den meisten Governance-Konzepten geht im Sinne der klassischen politischen Steuerungsperspektive mit einem „Problemlösungsbias“ (Mayntz 2006: 17) einher. Hinzu kommt ein impli-ziter Funktionalismus, der die Entstehung von Governance-Strukturen meist aus ihrer jeweiligen Funktionserfüllung heraus ableitet. Damit im Zusammenhang stehen drittens eine gewisse Akteursblindheit und schließlich ein meist ahistori-scher Zugang zur Entwicklung von Governance-Strukturen. Diese vier Schwä-chen, so das im weiteren Verlauf herausgearbeitete Argument, verhindern eine stärkere Hinwendung zu von der Governance-Forschung herausgearbeiteten Analyseansätzen und machen diese Arbeit zuvorderst zu einer Government-Studie.

Vor dem Hintergrund dieser kurzen Einordnung in die Regierungsforschung verfolgt die vorliegende Arbeit drei zentrale Zielsetzungen. Diese decken sich einerseits weitgehend mit den Forderungen, die Rhodes (1995: 36) bereits 1995 an weitere Studien zur Kernexekutive gestellt hat:

“Further progress requires a focus upon the range of institutions which constitute the core executive, a theoretical approach which compares the strengths and weaknesses

7 Auch das allgemeiner gefasste Argument, dass Regierungen weiterhin „zu den zentralen

Einrichtungen bzw. Akteuren moderner Demokratien“ gehören (Helms 2005e: 11), spielt hier eine Rolle. Vgl. in ähnlich Akzentuierung Andeweg 2003: 39–40.

8 Für aktuelle Literaturüberblicke und zusammenfassende Beiträge zum Stand der Governance-Forschung vgl. insbesondere Benz/Dose 2010b; Benz 2004a; Benz et al. 2007b; Schuppert 2006; Blumenthal 2005; Dose 2008; Haus 2010.

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of different approaches, more field work to provide case studies of the core execu-tive in action, and greater methodological sophistication to make full use of the data which are already available.”

Andererseits ergeben sich die Ziele aus dem mit Blick auf die vorliegende Frage-stellung relevanten Stand der politikwissenschaftlichen Forschung. Wie im wei-teren Verlauf dieses Kapitels herausgearbeitet wird, gibt es keinen klar umrisse-nen Forschungsstand, auf den im Sinne eines eindeutigen Referenzpunktes zu-rückgegriffen werden kann. Es gibt jedoch eine Vielzahl empirischer und theore-tischer Anknüpfungspunkte, die für die theoretische Rahmung und die empiri-sche Analyse nutzbar gemacht werden können. Diese Bezugspunkte offenbaren zugleich bestehende Forschungslücken und ermöglichen damit eine ausführliche Begründung der drei Ziele dieser Arbeit: 1. Empirische Zielsetzung: Die empirische Analyse zur Transformation der

Kernexekutive leistet einen wichtigen Beitrag zur Regierungsforschung auf Landesebene. Sie trägt damit zur Ausdifferenzierung eines Forschungsfel-des bei, welches erst in jüngerer Zeit größere Aufmerksamkeit auf sich ge-zogen hat. Im Sinne einer analytischen Rekonstruktion liefert die Arbeit In-nenansichten zur Regierungsorganisation auf Landesebene.

2. Theoretische Zielsetzung: Die theoretische Intention dieser Arbeit ist es, die analytische Anschlussfähigkeit des Gegenstandes an etablierte institutionentheoretische Ansätze herzustellen. Es geht um die Überwindung einer bisher oftmals dominierenden atheoretischen Beschreibung von Ver-änderungen der Regierungsorganisation nach Regierungswechseln und die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes. Dazu sollen institutionentheoretische Ansätze herangezogen und im Zusammenspiel mit empirischen Erkenntnissen weiterentwickelt werden. Dieser Beitrag zur Theorieentwicklung steht im Mittelpunkt der Arbeit und ergibt sich beinahe zwangsläufig aus den Defiziten, welche die Darstellung des Forschungs-standes zutage fördern.

3. Methodologische Zielsetzung: Im umfassenderen methodologischen Sinne verfolgt die Arbeit das Ziel, für den Einzelfall relevante kausale Mechanis-men zu identifizieren und ihren möglichen Transfer über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinaus zu diskutieren. Insofern ist die methodo-logische Zielsetzung unmittelbar mit dem Ziel der Theoriebildung verbun-den. Das daran anschließende und zugleich darüber hinausgehende dritte Ziel ist es schließlich, das methodische Arsenal der Regierungsforschung entlang dieser methodologischen Vorüberlegungen sinnvoll zu erweitern. Dazu dient die Anwendung der Methode der teilnehmenden Beobachtung,

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 49

mit deren Hilfe in besonderer Weise vertiefte Innenansichten des Gegen-stands gewonnen werden können. Sie erfüllt dieses Ziel durch die hier an-gewandte Verbindung mit ergänzenden Untersuchungsmethoden.

2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung: Analyse zur

Transformation der Kernexekutive als Beitrag zur Regierungsforschung auf Landesebene

„Regieren nach Wahlen ist in Deutschland bislang nicht systematisch behandelt worden“, stellten Derlien und Murswieck (2001: 7; ähnlich Hirscher/Korte 2001b: 10–11) in der Einleitung des von ihnen 2001 zu diesem Thema herausge-gebenen Sammelbandes fest. Sie lieferten zugleich zwei Begründungen mit, worauf dieses Desiderat zurückzuführen sei: Erstens verwiesen sie auf die Struk-tur der deutschen Regierungssystems. Ganz wie Wilhelm Hennis, der für die Regierungsorganisation in parlamentarischen Regierungssystemen nach Wahlen das Bild des für den Reiter bereits gesattelten Pferdes bemühte, spielten auch Derlien und Murswieck zur Kontrastierung des deutschen Falles auf das präsi-dentielle Regierungssystem der USA an. Anders als der amerikanische Präsident, so die Argumentation, sei der Spielraum eines Kanzlers nach einem Regie-rungswechsel deutlich eingeschränkt. Programmatische Aussagen seien zuvor-derst Aufgabe der Parteien, die Möglichkeiten zur Personalpatronage strukturell begrenzt und die Organisation des Regierungsapparats abgesehen von Verände-rungen des Ressortzuschnitts weitgehend stabil. Zweitens habe es in der Bundes-republik nur eine geringe Zahl an Regierungswechseln gegeben. Insofern seien die Fallzahlen für entsprechende Untersuchungen historisch bedingt einge-schränkt und daher die mangelnde Beschäftigung mit diesem Thema zu erklären (Derlien/Murswieck 2001: 7–8).

In der Tat stellt der Regierungswechsel 1998 auf Bundesebene den einzigen „kompletten Machtwechsel“ dar. Alle vorhergehenden und nachfolgenden Re-gierungsformationen auf Bundesebene bildeten sich unter fortgesetzter Beteili-gung zumindest einer vormaligen Regierungspartei. Insofern boten auch erst dieser Regierungswechsel und die Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler den Anlass für die von Derlien und Murswieck herausgegebene Publikation.

Die von beiden identifizierte Forschungslücke wird besonders augenfällig, wenn man den Vergleich zur US-amerikanischen Forschung in diesem Themen-feld heranzieht. Mit dem politikwissenschaftlichen Zweig der Presidential Stu-dies verbinden sich sowohl eine eigens zu diesem Themengebiet herausgegebene

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Zeitschrift9 als auch zahlreiche Veröffentlichung zur US-Präsidentschaft als Institutionengefüge und politischer Führungsinstanz. Von besonderer Bedeutung angesichts der hier im Mittelpunkt stehenden Fragestellung nach der Transfor-mation der Kernexekutive sind dabei Studien, die sich auf die Regierungsorgani-sation im engeren Sinne konzentrieren (u.a. Hess 2002; Burke 2000b; Warshaw 2005; Arnold 1998; Pfiffner 1999; Pfiffner/Hoxie 1989). Auch die „Transition“, d.h. der Übergang von einem Präsidenten zu seinem Nachfolger, findet explizite Beachtung. Entweder thematisieren die Presidential Studies im umfassenden Sinne die damit verbundenen Konsequenzen für die gesamte Exekutive oder fokussieren auf die Folgen für einzelne Politikfelder wie z.B. der Außenpolitik (z.B. Mosher et al. 1987). Im Mittelpunkt stehen jedoch vor allem die organisa-torischen Vorkehrungen, die bei einem Amtswechsel getroffen werden. Ergänzt werden solche übergreifenden Publikationen durch detailgenaue Fallstudien zu einzelnen Präsidentschaften (z.B. Campbell/Rockman 1991; Campbell/Rockman 1996; Campbell/Rockman 2004; Rockman et al. 2011). Das Regieren eines US-Präsidenten nach Wahlen und insbesondere der damit einhergehende Reorganisa-tionsprozess des Regierungsapparats erscheinen damit nicht nur unter dem aka-demischen Brennglas, sondern finden allgemeine Aufmerksamkeit über die Wis-senschaft hinaus.

Wenngleich man in der Tat für die Bundesrepublik nicht von einem ähnlich elaborierten Literaturbestand zum Regieren und insbesondere zur Regierungsor-ganisation nach Wahlen sprechen kann, so müssen dennoch sowohl das von Derlien und Murswieck konstatierte Forschungsdesiderat als auch die hierfür benannten Begründungen inzwischen partiell relativiert werden:

Verschiebt man den Blick erstens von der Ebene der Bundespolitik auf die Länder, zeigt sich hinsichtlich der Zahl und Ausprägungen von Regierungswech-seln ein deutlich anderes Bild als auf Bundesebene (vgl. Wehling 2006: 272–273). Dort gäbe es erheblich größere Fallzahlen und insofern auch ausreichend Untersuchungsmaterial für Studien zu Regierungswechseln und damit verbunde-nen Fragen des Regierens nach Wahlen. Allerdings, und darin findet die Wahr-nehmung einer Forschungslücke wiederum ihre Bestätigung, gibt es hierzu bes-tenfalls erste Ansätze solcher Forschungen. Nicht allein unter dem spezifischen Blickwinkel der Regierungsorganisation, sondern insgesamt ist der Landespolitik in Deutschland erst in den vergangenen Jahren größere politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil geworden. Es handelt sich gewissermaßen um ein mit neuer Intensität entdecktes Forschungsfeld.

Zum einen finden sich in den letzten Jahren verstärkt vergleichende Über-blicksdarstellungen zu den Regierungssystemen der Länder (Leunig 2007; 9 Zentral ist die vom Center for the Study of the Presidency and Congress (http://www.thepresi

dency.org/; Stand: 4. August 2011) herausgegebene Zeitschrift Presidential Studies Quarterly.

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 51

Schneider/Wehling 2006; Wehling 2004). Neben den vormals betonten Gemein-samkeiten geht es dabei nun auch verstärkt um die Unterschiede zwischen den jeweiligen Institutionensystemen (Leunig 2007: 20–21; auch Reutter 2005). In eine ähnliche Richtung weisen ebenfalls vergleichend angelegte Arbeiten, die stärker theoriegeleitet sind und Konzepte auf Landesebene untersuchen, die ur-sprünglich in der vergleichenden Regierungslehre Anwendung gefunden haben. Dazu gehören beispielsweise Arbeiten, die nach der Ausprägung von konsens- und mehrheitsdemokratischen Politikmodellen auf Landesebene fragen (Frei-tag/Vatter 2008; Freitag/Vatter 2009). Das Feld dieser Arbeiten wird darüber hinaus durch Studien zu einzelnen Problemfeldern auf Landesebene angerei-chert. Dazu gehören beispielsweise Veröffentlichungen zur Staatstätigkeit (Hil-debrandt/Wolf 2008) und zu Parteien und Parteiensystemen auf Landesebene (Jun et al. 2008; Kost et al. 2010), zu einzelnen Politikfeldern (siehe ausführli-cher Hildebrandt/Wolf 2008: 13–14) sowie zum Einfluss organisierter Interessen in der Landespolitik (Stoiber 2007). Die Länder spielen auch in Arbeiten zur Mehrebenenverflechtung eine zunehmend wichtige Rolle. Das gilt sowohl für Analysen, die das nationale Spannungsfeld zwischen Kommunen und Ländern ausloten (Holtkamp 2001) als auch für Studien zum europäischen Mehrebenensystem und der darin angelegten Rolle der Länder (Alemann 2005b; Bauer 2005). Hinzu kommen weitere vergleichende Arbeiten, beispielsweise zum Wahlsystem der Länder (Massicotte 2003) und vor allem systematische Auswertungen einzelner Landtagswahlen, wie sie die entsprechenden Beiträge in der Zeitschrift für Parlamentsfragen vornehmen (für NRW z.B. Feist/Hoffmann 1990; Feist/Hoffmann 1996; Feist/Hoffmann 2001; Feist/Hoffmann 2006).

Zum anderen gibt es für die Länder in verstärktem Maße Arbeiten zum Re-gieren, zur Regierungsorganisation sowie zu einzelnen Institutionen und Akteu-ren der Landespolitik, deren Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit herangezo-gen werden können.10 Zumindest bei näherer Betrachtung gehören dazu erstens Studien zum Koalitionsmanagement auf Landesebene (Sturm/Kropp 1999b; Kropp 2001b; Heinrich 2002; Florack 2010a)11. Nachdem lange Zeit vor allem die Erklärung von Koalitionsbildungen im Mittelpunk des Interesses standen (Jun 1994; Bräuninger/Debus 2008; Pappi et al. 2005; Horst 2010; vgl. auch Müller 2004), sind durch diese Akzenterweiterung der Koalitionsforschung auch wichtige Ergebnisse zur Funktionsweise von Koalitionen, zur internen Konflikt-

10 Diese Literaturbezüge sollen hier nur kurz angedeutet werden, um das Spektrum landes-

politischer Forschung deutlich zu machen. Die jeweils relevanten empirischen Anknüp-fungspunkte sowie die mit diesen verbundenen Konsequenzen für die vorliegende Arbeit werden dann im weiteren Verlauf der problemorientierten Darstellung herausgearbeitet.

11 Für die Bundesebene sowie vergleichende Studien westeuropäischer Länder siehe auch Rudzio 2002; Rudzio 2005c; Müller 2005.

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regulierung sowie zu den institutionellen Ausprägungen des Koalitionsmanage-ments hinzugekommen. Angesichts der mit dem Koalitionsmanagement verbun-denen „Institutionalisierung eines dosierten Parteienwettbewerbs“ (Florack 2010a) beinhalten solche Arbeiten zugleich auch wichtige Erkenntnisse zur Aus-prägung, Anpassung und Veränderung von Institutionen der Regierungsorganisa-tion, die auf das Funktionieren einer Regierungskoalition angelegt sind. Neben diesen Studien, deren Relevanz für die vorliegende Arbeit eher implizit angelegt sind, gibt es aber zweitens auch „echte“ Regierungslehren für einzelne Bundes-länder (Korte et al. 2006; Sarcinelli et al. 2010; Glaab/Weigl i.E.; Holtmann 2006; Klein 2010). Hier spielen zwar auch das politische System des jeweiligen Landes, die politische Kultur sowie einzelne Policies eine wichtige Rolle. Zu-gleich liefern diese Arbeiten aber auch wichtige Hinweise auf die jeweils unter-schiedlichen institutionellen Ausprägungen der Regierungsorganisation. Dies gilt in noch stärkerem Maße für Veröffentlichungen, welche die Landesregierungen (Gebauer 2006; Niedobitek 2004) und das Amt des Ministerpräsidenten (Schnei-der 2001; Grunden 2008; Ley 2010; auch Korte et al. 2006: 123–379; Mielke 2010)12 unmittelbar in den Fokus nehmen. Letztere sind im Vergleich zu juristi-schen Arbeiten zum Amt des Ministerpräsidenten (Schümer 2006; Backmann 2006) für die vorliegende Arbeit interessant, weil sie den Blick zugleich auf die persönlichen Beraterzirkel der Ministerpräsidenten sowie die Staatskanzleien als Hilfsinstrumente der Ministerpräsidenten richten. Letztere schließlich waren schon immer Gegenstände der Forschung zu Regierungszentralen (Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer 1967; König 1993; König/Häußer 1996; Knöpfle 1967; Häußer 1996; Häußer 1995; Halstenberg 1976; Gebauer 2008; Bröchler/Blumenthal 2011b; Schneider 2001: 282–306; aktueller Überblick bei Florack/Grunden 2011b13). Die Literatur zu den Staatskanzleien der Länder be-sitzt qua definitionem eine besondere Relevanz für die vorliegende Fragestel-lung, stellen sie doch, wie oben herausgearbeitet, aufgrund ihrer formalen Stel-lung bereits den Nukleus der Kernexekutive dar. Als ein „wiederentdecktes For-schungsfeld“ (Florack/Grunden 2011b: 7) sind mit den neueren Publikationen zu Regierungszentralen zudem inhaltliche Akzentverschiebungen verbunden, die mit Blick auf die vorliegende Fragestellung besonders interessant sind. Dazu gehören vor allem eine stärkere Verbindung verwaltungswissenschaftlicher Tra-ditionen mit Ansätzen der klassischen Regierungsforschung sowie die Akzen-tuierung eines Wechselspiels zwischen formalen und informellen Institutionen

12 Aus biographisch angelegten Publikationen zu Ministerpräsidenten lassen sich meist nur

marginale Erkenntnisse über das Politikmanagement und die Struktur der Regierungsorgani-sation gewinnen. Vgl. Gösmann 2008.

13 Zum Bundeskanzleramt vgl. u.a. Knoll 2004; Busse 2004; Berry 1989; Müller-Rommel/Pieper 1991; Müller/Walter 2004; Walter/Müller 2002; Sturm/Pehle 2007.

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 53

und Strukturmustern innerhalb einer Regierungszentrale (hierzu vor allem Florack/Grunden 2011a; vgl. Bröchler/Blumenthal 2011b).

Die zweite von Derlien und Murswieck angeführte Begründung für das konstatierte Forschungsdesiderat war bereits in der einleitenden Illustration des Veränderungsnarrativs und des Stabilitätsnarrativs Gegenstand der Diskussion. Die vermeintliche Dichotomie beider Perspektiven mag vor dem Hintergrund der Makrobetrachtung des jeweiligen Regierungssystems zwar zunächst einleuch-tend erscheinen. Allerdings vertritt die vorliegende Arbeit die Annahme, dass dies zum einen eine empirisch zu beantwortende Frage ist. Zum anderen wird im weiteren Verlauf die These entwickelt, dass es sich weniger um einen wirklichen Gegensatz als vielmehr um Abstufungen auf einer Skala handelt und sich in institutioneller Hinsicht Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse gleichermaßen und parallel zueinander vollziehen können (vgl. Kapitel 3).

Noch wichtiger für die nachfolgende, theorieorientierte Darstellung der für die Fragestellung relevanten Literatur aber ist, dass es zwar im Sinne Derliens und Murswiecks keinen klar abgegrenzten Forschungsstand zu „Regieren nach Wahlen“, aber dennoch eine Vielzahl empirischer und theoretischer Anknüp-fungspunkte gibt, die sowohl für die theoretische Rahmung als auch die empiri-sche Analyse der vorliegenden Arbeit nutzbar gemacht werden können. In die-sem Sinne versammelt der von den beiden Autoren herausgegebene Band in loser Kopplung Wissensbestände zu den Veränderungen in der Regierungsbüro-kratie (König 2001), der Personalpolitik im Regierungsapparat (Derlien 2001), Koalitionsverhandlungen und daraus abgeleiteter Programmsteuerung (Kropp 2001a; Beyme 2001), der „Entfaltung von Politikstilen“ (Korte 2001b), dem mit Regierungswechseln einhergehenden Policy-Wandel (Zohlnhöfer 2001) und zur medialen Begleitung der Startphase einer Regierung (Evers/Strohm 2001). Inso-fern versucht auch dieser Band eher, die bereits vorhandenen losen Enden ein-zelner Themenfelder unter einer gemeinsamen Überschrift zu verknüpfen. Ein direkter thematischer Zusammenhang der einzelnen Beiträge wird lediglich über eine zeitliche Strukturierung unterschiedlicher Phasen des Regierens nach Wah-len, eine Typologie von Regierungswechseln und über vier relevante Aufgaben-bereiche – Polity, Policy, Politics, Personal – hergestellt (Derlien/Murswieck 2001).

Was also wissen wir darüber, wie eine Regierung regiert, wenn sie regiert? Wie kann eine Regierungsformation, die sich aus einer heterogenen Gruppe von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Normen zusammensetzt, nach ihrem Amtsantritt zu einer handlungsfähigen Einheit zusammengefügt werden?14 14 Die stark akteurzentrierte Vorstellung des Regierens, die hierin zum Ausdruck kommt, bezieht

sich auf Friedbert Rüb (Rüb 2009). Wenngleich sich die theoretische Herangehensweise, die bei ihm auf zu organisationalen Strukturen verdichteten „Praktiken“ von Akteuren abzielt, von

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54 2 Forschungsgegenstand und drei Zielsetzungen der Arbeit

Über welche Einsichten verfügen wir hinsichtlich der damit verbundenen Kon-sequenzen für die Regierungsorganisation? Welche Aspekte können einbezogen werden, um die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung zu strukturieren? Die hier herangezogenen Anknüpfungspunkte an den Literaturbestand lassen sich idealtypisch zu einem in vier Gruppen strukturierten Forschungsstand ver-dichten:

Eine erste Gruppe umfasst Beiträge, die im klassischen Sinne der neueren Regierungslehre zugeordnet werden können. Neben den allgemeinen Fragen nach den Rahmenbedingungen politischer Führung15 oder des Politikmanage-ments spielen hier auch immer wieder Fragen der Regierungsorganisation eine wichtige Rolle (z.B. Helms 2005c; Helms 2005e; Holtmann/Patzelt 2008; Grunden 2009; Korte et al. 2006: 86–87).

Ein zweiter Bezugspunkt sind Beiträge der politikwissenschaftlich orientier-ten Verwaltungsforschung. Hier gehören beispielsweise der administrative Re-gierungsapparat, das Wechselspiel zwischen politischen und bürokratischen Eliten, die Strukturmuster der politischen Verwaltung und die Aufgaben und Funktionen von Regierungszentralen zum klassischen Gegenstand verwaltungs-wissenschaftlicher Forschung (z.B. Bogumil et al. 2006; König 2002f; Mayntz 1985).

Die dritte Gruppe der Literatur zur Kernexekutive (u.a. Dunleavy/Rhodes 1990; Rhodes/Dunleavy 1995; Peters et al. 2000; Elgie 1997; Goetz 2004) hat es sich zum Ziel gesetzt, „die politisch-gouvernemental orientierte Regierungslehre und die administrativ orientierte Verwaltungslehre“ im Sinne eines Brücken-schlags zu verbinden (Müller-Rommel 2011: 217–218). Sie stellt damit in gewis-ser Weise eine hybride Mischung der beiden ersten Gruppen dar und ergänzt zugleich Tiefenschärfe und neue Einsichten zum Wechselspiel von politischer Verwaltung und Regierung. In eine ähnliche Richtung einer Grenzverschiebung geht die neuere Literatur zu Regierungszentralen (Überblick hierzu bei Florack/Grunden 2011b). Hier ergeben sich die Verbindungslinien bereits aus

der vorliegenden Arbeit unterscheidet, so gibt es dennoch zwei Gemeinsamkeiten. Rüb konstatiert ebenfalls, dass Regierungen bisher meist als einheitliche Akteure konzeptualisiert wurden und es vor allem um ihre Einbindung in Governance-Strukturen ging. Die genauere Untersuchung des Innenlebens und der organisationalen Dynamiken hingegen blieben meist eher am Rande der Aufmerksamkeit (Rüb 2009: 43).

15 Das Interesse an „politischer Führung“ ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Dabei zeigt sich eine immer stärkere Ausdifferenzierung hinsichtlich der Begrifflichkeiten. Während bei einigen Arbeiten auch institutionelle Rahmenbedingungen weiterhin eine wichtige Rolle spielen, rücken an anderer Stelle Fragen nach der Strategiefähigkeit, dem Verhältnis zu anderen politischen Akteuren und unterschiedliche Führungsrollen immer stärker ins Blickfeld (vgl. Grasselt/Korte 2007; Gast 2008; Fliegauf et al. 2008; Glaab 2007a; Lösche 2005).

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 55

dem untersuchten Gegenstand, da Regierungszentralen als Grenzstelleninstituti-onen zwischen politischer Exekutive und Verwaltung angesiedelt sind.

Viertens schließlich wird auf ergänzende Literaturbestände zurückgegriffen, die einzelne Aspekte des Themenfeldes der Regierungsorganisation mit Bezug zur vorliegenden Fragestellung berühren. Als ein erster wichtiger empirischer Anknüpfungspunkt können hierbei die Erkenntnisse der Koalitionsforschung dienen. Unter der Perspektive des Koalitionsmanagement spielen informelle Institutionen der Regierungsorganisation eine besondere Rolle (u.a. Schrecken-berger 1994; Manow 1996; Rudzio 2005c; Sturm/Kropp 1999a; Kropp 2003). Die Literatur zum „informellen Regieren“ greift diese Überlegungen stärker theoriegeleitet auf, steuert aber zugleich auch wichtige empirische Erkenntnisse zu den informellen Komponenten der Regierungsorganisation bei (Überblick bei Pannes 2011; Grunden 2011c; hierzu auch Görlitz/Burth 1998b; Stüwe 2006; König 2002c; Helms 2005a).

Diese vier Gruppen relevanter Literaturbestände werden in den folgenden drei Abschnitten in einer theorieorientierten Heuristik zusammengefasst. Dabei geht es um die Darstellung für die Fragestellung relevanter Erkenntnisse, sich daraus für die weitere theoretische Rahmung und empirische Analyse ergebende Konsequenzen, die Konkretisierung relevanter Untersuchungsgegenstände sowie offene Fragen und Forschungslücken, die es bei der weiteren Analyse zu beach-ten und gegebenenfalls zu beantworten gilt. Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit entwickelten theoretischen Herangehensweise gliedert sich die Darstel-lung entlang von drei Dimensionen. Sie sind sowohl als theoretisch als auch empirisch bedeutsame Kategorien für die Frage nach der Transformation der Kernexekutive in der Folge eines Regierungswechsels anzusehen und stellen das analytische Grundgerüst dieser Arbeit dar: Die (a) temporale Dimension proble-matisiert den Einfluss zeitlicher Abfolgen, Verläufe und Sequenzen sowie weite-rer temporal bedingter Faktoren auf die Regierungsorganisation. Die (b) institu-tionelle Dimension thematisiert das aus formalen und informellen Institutionen bestehende Geflecht der Regierungsorganisation im Sinne eines institutionellen Regelsystems. Die (c) akteursbezogene Dimension schließlich diskutiert den Einfluss politischer Akteure auf die Regierungsorganisation im Zuge eines Re-gierungswechsels und das Spannungsfeld intentionaler Einflussnahme und nicht-intendierter Handlungsfolgen. Zugleich rücken auch Akteure als Adressaten personeller und organisatorischer Revirements ins Blickfeld.

Die Erkenntnisse aus diesen drei Problemfeldern werden in der theoreti-schen Rahmung dieser Arbeit zu einem gegenstandsbezogenen Analyseansatz verdichtet (vgl. Kapitel 3).

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56 2 Forschungsgegenstand und drei Zielsetzungen der Arbeit

2.1.1 Die temporale Dimension der Regierungsorganisation 2.1.1.1 Dauer, Verlauf und zeitliche Strukturierung von

Transformationsprozessen der Kernexekutive Die temporale Dimension akzentuiert die mit der Transformation der Kernexeku-tive verbundenen zeitlichen Abfolgen und Verläufe. Es erscheint zunächst trivial, dieser Thematik besondere Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn bereits im Begriff des Regierungswechsels eine Betonung zeitlicher Aspekte angelegt ist. Es geht jedoch, wie die Überlegungen zur theoretischen Rahmung der vorliegen-den Fragestellung zeigen werden, um mehr als das Postulat „time matters“. Unter dem präzisierten Blickwinkel zeitlicher Abfolgen und Sequenzierung und deren Bedeutung für die Unterscheidung unterschiedlicher Phasen institutionellen Wandels und institutioneller Stabilisierung lässt sich, wie die Darstellung des Forschungsstandes zeigt, Tiefenschärfe ergänzen. Oder zunächst als Ausgangs-frage für die nachfolgenden Überlegungen formuliert: Welche Erkenntnisse bietet der Forschungsstand hinsichtlich der temporalen Dimension bei der Trans-formation der Exekutive und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die vorliegende Arbeit? Was wissen wir, konkreter formuliert, über die Dauer, den Verlauf und die zeitliche Strukturierung der Transformation der Kernexekutive nach einem Regierungswechsel? Welche Rolle spielt der Faktor Zeit bei den Transformationsprozessen der Kernexekutive? Antworten sind nicht nur not-wendig, um Vorannahmen sowie empirische und theoretische Ausgangspunkte für die weitere Analyse zu generieren. Sie spielen auch insofern eine Rolle, als hieraus methodologische Konsequenzen hinsichtlich des für die vorliegende Fragestellung relevanten Untersuchungszeitraums gezogen werden können. Die-se beiden Facetten werden mit Blick auf die einschlägige Literatur nachfolgend intensiver beleuchtet.

Ein erster Anknüpfungspunkt zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen sind Arbeiten, die auf Rhythmen, „Zyklen“ (Mertes 2001) oder „Kon-junkturen des Machtwechsels“ (Korte 2000) und die jeweiligen Ausgangsbedin-gungen von Macht- und Regierungswechsel abzielen. Vor der Hintergrundfolie von „Aufstieg und Fall von Regierungen“ (Hirscher/Korte 2001a) rücken dabei Faktoren in den Vordergrund, von denen die Wahrscheinlichkeit eines Regie-rungswechsels abhängt (Helms 1994: 226). Es gibt für die Bundesrepublik eine Reihe von Arbeiten, die diesen Bedingungsfaktoren entlang von Einzelfallanaly-sen und zumeist eher implizit nachspüren. Sie sind dabei entweder als historisch-beschreibende Arbeiten angelegt und stellen die möglichst detailgenaue Doku-mentation und Beschreibung der jeweiligen Fälle in den Mittelpunkt (z.B. Baring 1982; Nemitz 1970) oder arbeiten stärker mit politikwissenschaftlichen Heurist-

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iken, um die Prozesse der nachfolgenden Regierungsbildungen zu erfassen (z.B. Schmidt 1991; Thaysen 2003; Thaysen 2006a; Thaysen 2006b; Beermann 200116). Vergleichend angelegte Arbeiten hingegen wählen den Weg stärkerer analytischer Abstraktion, indem sie weniger die historische oder heuristisch gestützte Beschreibung als vielmehr die Identifikation von übergreifenden Be-dingungsfaktoren für Macht- und Regierungswechsel in den Mittelpunkt rücken (Helms 1994: 227). Das Ergebnis sind dann Kataloge von Bedingungsfaktoren für Macht- und Regierungswechsel, die beispielsweise den Wandel von Parteien-systemen, die Struktur des Verhältnisses zwischen Regierung und Opposition sowie die internen Krisen von Regierungsformationen beinhalten (vgl. Zohlnhöfer 2004; Helms 1994: 242). Wiederum andere Schwerpunkte werden gesetzt, wenn es um die Identifikation allgemeiner Regelmäßigkeiten beim Wechsel von Regierungen geht. Mertes beispielsweise unterscheidet zur Erklä-rung von Regierungswechseln zwischen „Pendel-“ und „Verschleißtheorien“ (Mertes 2001: 66–74). Längst nicht bei allen, aber dennoch bei einigen Arbeiten, spielt die Strukturierung der Regierungsorganisation, mithin die Konfiguration der Kernexekutive, für diese Zyklen und Rhythmen des Machtwechsels eine explizite Rolle. So verweist Korte (2001a: 37) unter anderem auf institutionelle Dysfunktionalitäten innerhalb einer Regierungsformation, die zum Machtverlust beitragen können und damit Regierungswechsel in der Folge wahrscheinlicher machen. Auch die Arbeiten zu „strategischen Zentren“ innerhalb einer Regie-rungsformation sowie die hierbei identifizierten Bedingungen für ihr erfolgrei-ches Funktionieren im Sinne strategischer Regierungsführung (Glaab 2007b; Raschke 2001; Raschke 2002; Raschke/Tils 2008) deuten darauf hin, dass man-gelnde Funktionserfüllung dieser zentralen Institutionen der Kernexekutive maß-geblich zu Regierungswechseln beitragen kann (auch Grunden 2009: 41-42 u. 384-401). Regierungs- und Machtwechsel erscheinen damit auch als Folge insti-tutioneller Erosionsprozesse, die sich innerhalb der jeweiligen Regierungsforma-tionen abspielen.

Von darüber hinausreichender Bedeutung für die Frage nach der zeitlichen Strukturierung der kernexekutiven Transformationsprozesse sind des weiteren Arbeiten, die weniger nach den Bedingungsfaktoren, sondern vielmehr nach der Dauer und Abfolge institutioneller Veränderungsprozesse im Anschluss an einen Regierungswechsel fragen. Für den Problemaufriss (vgl. Kapitel 1.1) spielte diese Frage nach dem zeitlichen Verlauf eine zentrale Rolle. Die beiden zur idealtypischen Illustration verdichteten Narrative betonen hinsichtlich der Ver-änderungen der Regierungsorganisation unterschiedliche Zeithorizonte. Für beide Betrachtungsweisen finden sich im Forschungsstand empirische Anknüp- 16 In der Zeitschrift für Parlamentsfragen erscheinen überdies regelmäßig Kurzanalysen zu

Regierungswechseln und zu den Prozessen der Regierungsbildungen auf Bundesebene.

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fungspunkte. Dies gilt in besonderer Weise für Arbeiten, die Phasen im Prozess der Regierungsbildung unterscheiden und in denen die jeweils vorgenommene Phaseneinteilung auf unterschiedlich lange Zeiträume verweist.

Ein erster Bezugspunkt in dieser Hinsicht sind die bereits oben kurz umris-senen Beiträge der US-amerikanischen Presidential Studies, in denen der Wech-sel im Amt des Präsidenten zum festen Forschungsschwerpunkt gehört (u.a. Pfiffner/Hoxie 1989; Burke 2000a; Sanaghan et al. 2008). Der personelle Wech-sel im Präsidentenamt, mit „Transition“ betitelt, ist dabei zunächst auf der Grundlage formaler Strukturen zeitlich eingegrenzt. Basis hierfür ist der 1963 verabschiedete „Presidential Transition Act“ (Public Law 88-277), der die Phase zwischen der Wahl des Präsidenten jeweils am Dienstag nach dem ersten Mon-tag im November auf der einen und der Amtseinführung des neuen Präsidenten am nachfolgenden 20. Januar auf der anderen Seite klar definiert. Pfiffner (1989: 1–4) kommt in seiner ersten übergreifenden Bilanz zu der Einschätzung, dass „Transitionen“ seit 1945 eine immer stärkere Formalisierung erfahren haben. Das drücke sich insbesondere in den immer wieder angepassten rechtlichen Rahmenbedingungen aus. Prozesse der Reorganisation und Adaption der Regie-rungsorganisation spielen insbesondere in dieser Transitionsphase eine herausra-gende Rolle. Dabei zeigen sich prägende Strukturmuster, die Hess gar zu den Elementen einer „typischen Präsidentschaft“ verdichtet (Hess 2002: 11–20). Allerdings zeigen sich trotz dieser vermeintlich klar eingegrenzten Phase weitere Transformationsprozesse, die über die „Transition“ im engeren Sinne hinausrei-chen. So verweist Mosher (1987: 35–38) darauf, dass diese enge zeitliche Rah-mung nur eine eingeschränkte Perspektive vermittelt. Er plädiert für ein Verständnis von Transition als „a period of time that is usually longer and much less definite, for it varies with presidencies and with issues” (Mosher et al. 1987: 36; vgl. Savoie 1993a: 2–4).

Für den deutschen Fall zeigt sich eine Unterscheidung zwischen Arbeiten einerseits, die formale Kriterien zur Definition von Phasen der Regierungsbil-dung heranziehen, und Kategorisierungen andererseits, die auch informellen Prozessen der Regierungsformierung besondere Beachtung schenken. Insbeson-dere staatsrechtliche Arbeiten betonen die formalen Prozesse der Regierungsbil-dung und dabei insbesondere die Bindung derselben an die Wahl des Regie-rungschefs. Daraus ergibt sich eine Unterteilung in zwei Phasen, deren erste aus der Wahl und Vereidigung des Regierungschefs und deren zweite Phase aus der anschließenden Inauguration der weiteren Kabinettsmitglieder besteht (z.B. Ley 2010: 390). Diese verfassungsrechtlich normierten Bestandteile des Regie-rungsbildungsprozesses sind zwar nicht in ein umfassenderes und formalisiertes Rechtskonstrukt eingebunden, wie die amerikanische „Transition“, aber bilden

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zumindest die formalen Ankerpunkte weiterer formaler und informeller Bestand-teile des Regierungsbildungsprozesses.

Zeitlich sowohl nach vorne als auch nach hinten ausgeweitet wird diese staatsrechtliche Perspektive in der politikwissenschaftlichen Literatur vor allem, indem informelle Aspekte der Regierungsbildung in den Blick genommen wer-den. Das Ergebnis sind dann weniger zentrale Wegmarken als vielmehr Phasen des Regierungsbildungsprozesses. Dieser muss keineswegs nach der Wahl des Regierungschefs und dem formalen Amtsantritt des Kabinetts beendet sein, son-dern kann sich über die nachfolgenden Monate hinweg vollziehen. Wichtige Bedingungsfaktoren für die Dauer und Abfolge dieser Phasen sind strukturelle und systemische Einflüsse wie beispielsweise das jeweilige Regierungssystem. Daraus resultieren teils gravierende Unterschiede (Derlien/Murswieck 2001: 8–9; Savoie 1993a: 4). Klaus König (1999: 45; 2001: 16; 2002e: 51–52) unter-scheidet für das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik idealty-pisch drei Phasen der Regierungsbildung: Die „Vorphase“ umfasst die Vorberei-tungen eines Regierungswechsels noch aus der Opposition heraus. Die Abgabe von Koalitionsaussagen, die Aufstellung eines Personaltableaus oder die infor-melle Vereinbarung künftiger Koalitionsgespräche sind in dieser Phase zu veror-ten. Die zweite Phase der informellen Regierungsbildung verweist auf das prä-gende Strukturmerkmal der „Koalitionsdemokratie“. Regierungsbildung in Deutschland heißt fast immer auch Koalitionsbildung. Diese spielt sich weitge-hend ohne formale Vorgaben im Sinne einer rechtlichen Normierung zwischen dem jeweiligen Wahltermin und der Wahl des neuen Regierungschefs ab. Koali-tionsgespräche zur Verabschiedung eines inhaltlichen Programms und zur Rek-rutierung des exekutiven Führungspersonals sind die zentralen Etappen dieses zweiten Abschnitts. Diese eigentlich informellen Prozesse bilden trotz ihres inzwischen erreichten Grades an Regelhaftigkeit zwar keine rechtlich normierte Formalstruktur, aber die von ihnen ausgehende Verbindlichkeit und politische Geltungskraft sind in ihrer Bedeutsamkeit keinesfalls zu unterschätzen. Dies drückt sich unter anderem in der Tendenz aus, den Abschluss von Koalitionsver-einbarungen in die protokollarische Nähe eines formalen „Vertragsschlusses“ zu rücken (König 2001: 22). „Die informale Regierungsbildung ist insoweit infor-mal, als sie dies aus der Sicht der Regierungsinstitutionen ist. (…) Die informale Regierungsbildung ist zunächst nur deswegen formalisiert, weil die politischen Parteien in einer auch sozialtechnischen Welt auf einen solchen Verhandlungsstil angewiesen sind“ (König 2001: 34). Die formale Regierungsbildung durch die Wahl des Regierungschefs, die Ernennung der Kabinettsmitglieder und nachge-ordneter exekutiver Akteure sowie formale Organisationsentscheidungen bilden schließlich die dritte Phase. Erst hier strukturieren verfassungsrechtliche Vorga-ben den Prozess der Regierungsbildung unmittelbar. Zugleich ist diese dritte

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formale Phase zeitlich nicht klar eingegrenzt und offen für weitere informelle Prozesse der Regierungsbildung. So können sich sowohl Personal- als auch Or-ganisationsentscheidungen über viele Monate hinweg vollziehen (hierzu auch Lindquist 1993: 33–35). Das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, dass sich selbst der formale Prozess der Kabinettszusammenstellung über Monate erstrecken kann. Die ursprüngliche Intention von Ministerpräsident Wolfgang Clement, das Innen- und das Justizressort nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1998 zusammenzulegen, provozierte langanhaltende politische und rechtliche Ausei-nandersetzungen und dieser sowohl innerhalb der Regierung als auch mit der Opposition ausgetragene Streit konnte erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt des neuen Ministerpräsidenten durch eine Anpassung der Kabinettsstruktur beigelegt werden (hierzu Korte et al. 2006: 226–229).

Bislang ergibt sich aus dem Forschungsstand, dass ein Regierungswechsel und damit einhergehende Veränderungen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken können, der jedoch abstrakt nicht näher eingegrenzt und eindeutig definiert werden kann. Unterschiedliche Einflussfaktoren beeinflussen die je-weils spezifische Dauer dieses Prozesses, unter anderem die Strukturen des je-weiligen Regierungssystems, das Wechselspiel aus formalen und informellen Prozessen, akteurbezogene Komponenten sowie die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen, in denen sich ein Regierungswechsel vollzieht. Allerdings ist damit noch wenig darüber gesagt, warum diese zeitlich variable Startphase einer Regierung besondere Relevanz für die Regierungsorganisation und damit die Transformationsprozesse der Kernexekutive hat. Zentraler Ausgangspunkt hierfür ist das von Andreas Falke für die amerikanische Präsidentschaft vorge-brachte Argument, das sich aber in ähnlicher Weise auch für Regierungswechsel in parlamentarischen Regierungssystemen finden lässt:

„Diese [Start]Phase ist insofern ein strategischer Moment für den neuen Präsidenten, als sie die Weichen für sein gesamtes Regierungshandeln stellt. Das gilt vor allem für Personalentscheidungen. Während dieser Periode wird er in exekutive Führungs-verantwortung sozialisiert, lernt die administrativen Herausforderungen des Amtes kennen und schafft die organisatorischen und personalpolitischen Voraussetzungen für seinen persönlichen Regierungsstil“ (Falke 2009: 319).

Diese weit verbreitete Annahme einer besonderen Relevanz der Startphase einer neuen Regierungsformation stützt damit zumindest implizit das oben herausge-arbeitete Veränderungsnarrativ: Insbesondere in den ersten Wochen und Mona-ten wird der Grundstein für die gesamte Legislaturperiode gelegt. Dies gilt über das Sachprogramm und personelle Weichenstellungen hinaus auch für die Struk-turierung der Regierungsorganisation (Savoie 1993c: ix; vgl. Savoie 1993a: 1–2; Mosher et al. 1987: 7–9; König 2001: 30–31):

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“Intense activity occurs within a very limited time frame as efforts are made to mesh the new political apparatus with the administrative machinery. Attention must be paid to policy, machinery of government, and personnel issues all at once. The first few weeks can set the tone and influence performance for the new government's whole mandate.”

Die ihr zugewiesene Bedeutung der Startphase steht dabei im Kontrast zu den vorhandenen Fähigkeiten einer neuen Regierungsformation (Lindquist 1993: 29; vgl. Mosher et al. 1987: 7):

“Never is the claim to authority and the legitimacy of a government greater than dur-ing the first few weeks and even months following an election; (...) On the other hand, never is the capacity of a government to govern at a lower ebb.”

2.1.1.2 Zwischenfazit Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen bisherigen Überlegungen für die vorliegende Arbeit? Es lassen sich hinsichtlich der hiermit umrissenen tempora-len Dimension sowohl forschungspraktische als auch theoretische Implikationen ableiten:

Erstens zeigt sich, dass die Frage nach der Dauer von institutionellen Trans-formationsprozessen der Kernexekutive weniger eine abstrakt zu beantwortende, als vielmehr eine forschungspraktische Frage ist. Diese Erkenntnis speist sich aus zwei im Forschungsstand angelegten Gesichtspunkten. Zum einen entgrenzt die Integration informeller Aspekte der Regierungsbildung in die Betrachtung den relevanten Untersuchungszeitraum. Die Regierungsbildung und damit ein-hergehende organisationale und institutionelle Veränderungsprozesse der Kern-exekutive bleiben in der politikwissenschaftlichen Betrachtung nicht auf formale Abläufe mit klaren Fristen und Abläufen beschränkt. Vielmehr weitet sich mit der Vorstellung unterschiedlicher formaler und informeller Phasen der Regie-rungsbildung der zeitliche Horizont über diese formale Sphäre hinaus. Zum an-deren gehen mit dieser zeitlichen Entgrenzung auch zusätzliche Einflussfaktoren in die Betrachtung ein. Die Transformation der Regierungsorganisation wird nicht alleine durch formale Beschlüssen gesteuert und sie folgt auch nicht eindi-mensional der Logik einer funktionalen Anpassung bestehender Organisations-strukturen, sondern der jeweilige politische und institutionelle Kontext und damit verbundene Rahmenbedingungen wie zum Beispiel die jeweilige „Organisati-onsgeschichte“ (vgl. Schreyögg 2008: 4) entscheiden über die jeweils fallspezifi-sche Ausprägung dieser Transformationsprozesse.

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Diese vor dem Hintergrund des Forschungsstandes notwendige zeitliche Entgrenzung wiederum hat zweitens forschungspraktische Implikationen. Zum einen kann der für die Beantwortung der Fragestellung relevante Untersuchungs-zeitraum nicht a priori bestimmt werden, sondern der Ablauf, die Dauer und die zeitliche Strukturierung der Transformationsprozesse der Kernexekutive werden zu einer in der Forschungspraxis zu beantwortenden Frage. Zum anderen muss während der Analyse eine gewisse temporale Flexibilität gewahrt bleiben. Wäh-rend einige Transformationsprozesse der Kernexekutive sich zeitlich klar abge-grenzt vollziehen, erstrecken sich andere Veränderungsprozesse über einen län-geren Zeitraum hinweg, möglicherweise mit Unterbrechungen und mit weniger eindeutiger Entwicklungsrichtung. Die Analyse muss folglich sowohl dem „Ver-änderungs“- als auch dem Stabilitätsnarrativ entsprechende Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse erfassen können.

Für die vorliegende Arbeit haben diese beiden Überlegungen folgende prak-tische Konsequenzen: Der zunächst als relevant erachtete Analysezeitraum um-fasst das gesamte erste Amtsjahr der neuen nordrhein-westfälischen Regierungs-formation im Anschluss an den Regierungswechsel 2005. Die als Primärmethode angewandte teilnehmende Beobachtung (hier ausführlich Kapitel 4) erstreckt sich auf den Zeitraum vom Juni 2005 bis September 2006. So lassen sich nicht nur institutionelle Transformationsprozesse, sondern auch deren mittelfristigen Auswirkungen im Prozessalltag der neuen Regierungsformation beobachten. Darüber hinaus wird auch die institutionelle Vorgeschichte der nordrhein-westfälischen Kernexekutive bewusst in die Analyse integriert. Grundlage hier-für ist die Bezugnahme auf eine einschlägige Vorläuferstudie zum Regieren in Nordrhein-Westfalen (Korte et al. 2006), die insbesondere den institutionellen Grundlagen des Politikmanagements besondere Aufmerksamkeit widmete. Vor diesem Hintergrund werden Transformationsprozesse der Kernexekutive rund um den Regierungswechsel 2005 besser erklärbar und die jeweils relevanten Kontextfaktoren deutlich. Es findet also gewissermaßen eine zeitliche Einbettung der Analyse „von vorne“ statt. Die analytische Rekonstruktion gewinnt vor dem Hintergrund einer längerfristigen Einordnung an Tiefenschärfe. Daher endet der Untersuchungszeitraum nicht unbedingt trennscharf mit dem Abschluss des ers-ten Amtsjahrs. Wo notwendig, werden darüber hinausreichende Entwicklungs-prozesse in die Analyse einbezogen und der Untersuchungszeitraum damit auch „nach hinten“ zeitlich erweitert. Hierzu dient die Anwendung ergänzender For-schungsmethoden im Sinne einer methodischen Triangulation (ausführlicher Kapitel 4).

Die dritte aus dem Forschungsstand ableitbare Beobachtung ist, dass tempo-ralen Aspekten bei durch Regierungswechseln induzierten Transformationspro-zessen der Kernexekutive bislang kaum unter theoretischen Gesichtspunkten

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Beachtung geschenkt wurde. Zeit erscheint bestenfalls als ergänzende kontex-tuelle Kategorie, ohne dabei wirklich eigenständige Erklärungskraft für die Aus-gestaltung institutioneller Regelsysteme zu besitzen. Die Identifikation unter-schiedlicher Phasen beim Prozess der Regierungsbildung verweist zwar auf die Relevanz zeitlicher Abläufe, aber nicht darauf, wie und warum temporale Aspek-te institutionelle Stabilisierungs- und Veränderungsdynamiken der Kernexekuti-ve direkt oder indirekt beeinflussen. Eine solche Verbindung, so die daran an-schließende Überlegung, lässt sich am besten durch eine stärkere theoretische Durchdringung der Kategorie „Zeit“ erreichen. Oder, wie es Paul Pierson (2004: 5) formuliert:

“The best case for connecting history to the social sciences is neither empirical (...) nor methodological (...), but theoretical. We turn to an examination of history be-cause social life unfolds over time. Real social processes have distinctly temporal dimensions.”

Als theoretischer Ausgangspunkt für ein solches Unterfangen dienen institutio-nentheoretische Ansätze (ausführlich hierzu Kapitel 3). Diese thematisieren vor allem in ihrer historisch-institutionalistischen Ausprägung theoretische Annah-men zu institutionellen Veränderungs- und Stabilisierungsprozessen im Zeitver-lauf. Das oben herausgearbeitete Verständnis der Regierungsorganisation als institutionelles Regelsystem deutet bereits die implizite Bezugnahme auf diesen Strang sozialwissenschaftlicher Theoriebildung an. Durch eine stärkere Rück-bindung des Gegenstandes an diese institutionentheoretischen Perspektiven lässt sich, so die zugrundeliegende Überlegung, Zeit stärker als erklärende und damit theoretische Kategorie konzeptualisieren. Die Konsequenz ist dann mehr als das Postulat „time matters“. Ein Beispiel für eine solche theoretische Rahmung sind Pfadabhängigkeitskonzepte, die institutionelle Stabilität im Sinne eines fort-schreitenden zeitlichen Verfestigungsprozesses thematisieren und insofern tem-porale Faktoren und institutionelle Regelsysteme in einen unmittelbaren analyti-schen Zusammenhang bringen. Diese Schlussfolgerung korrespondiert mit dem oben formulierten Ziel der gegenstandsbezogenen Theoriebildung. Im Mittel-punkt dieser Arbeit steht weniger die möglichst detailgenaue Rekonstruktion des regierungsorganisatorischen Transformationsprozesses entlang des untersuchten Fallbeispiels, als vielmehr die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analy-seansatzes im Wechselspiel aus theoretischer Konzeptualisierung und empiri-scher Analyse.

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2.1.2 Die institutionelle Dimension der Regierungsorganisation Der Gegenstand der Regierungsorganisation wurde oben als Geflecht aus forma-len und informellen Institutionen im Sinne eines kernexekutiven Regelsystems definiert. Eine Regierung steht bei ihrem Amtsantritt vor der organisatorischen Herausforderung, ein funktionierendes Koordinations-, Entscheidungs- und In-formationssystem aufzubauen. Daraus ergibt sich jenseits der Fragestellung nach der diskutierten Dauer und den zeitlichen Verläufen dieser Prozesse die Frage, was wir bereits über die Struktur dieser institutionellen Regelsysteme wissen. Welche Erkenntnisse gibt es hinsichtlich der institutionellen Transformations-prozesse im Zuge eines Regierungswechsels? Welche Einsichten bietet der For-schungsstand zu den bisher als relevant identifizierten Institutionen der Regie-rungsorganisation? Was wissen wir über ihre Veränderungsfähigkeit, was wissen wir über mögliche Beharrungskräfte? Welche weiteren konkreten Untersu-chungsgegenstände lassen sich als bedeutsam für die Koordinations-, Entschei-dungs- und Informationsverarbeitungsfähigkeit einer Regierungsformation iden-tifizieren? Wo können systematische Verbindungslinien zwischen dem For-schungsstand und der hier im Mittelpunkt stehenden Fragestellung hergestellt werden? Und schließlich, welche Forschungslücken lassen sich identifizieren und welche empirischen, methodischen und theoretischen Konsequenzen können daraus abgeleitet werden? Um die Beantwortung dieser Fragen geht es im nach-folgenden Unterkapitel in drei Schritten: Zunächst werden relevante Literaturbe-stände und daraus abgeleitete Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit kurz zu-sammengefasst. In einem zweiten Schritt wird eine problembezogene Systemati-sierung dieser Anknüpfungspunkte vorgenommen, bevor auf dieser Grundlage drittens bestehende Forschungslücken identifiziert, Untersuchungsgegenstände konkretisiert und theoretische Implikationen für die weitere Analyse aufgezeigt werden.

Vor dem Hintergrund der bisherigen definitorischen Eingrenzungen rücken unterschiedliche Literaturbestände ins Blickfeld. Allen gemeinsam ist zunächst, dass sie für die vorliegende Arbeit relevante Institutionen der Regierungsorgani-sation in den Fokus nehmen, wenngleich dabei durchaus sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und thematische Bezugspunkte beobachtbar sind. The-matisiert werden sowohl formale als auch informelle Regelsysteme, Organisatio-nen mit klarer Formalstruktur genauso wie Regeln, Prozeduren und Routinen, institutionelle Regeln mit unterschiedlichen Formalisierungsgraden genauso wie ihre konkrete Anwendung. Diese Spannbreite der Gegenstände findet Ausdruck in dem Paradoxon, das Arco Timmermanns hinsichtlich des Prozesses der Regie-rungsformierung in parlamentarischen Regierungssystemen beschreibt. Er be-zeichnet diesen als eingebettet in eine "institutionalized extrainstitutional arena"

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(Timmermans 2006: 265). Oder um es anders zu formulieren: Aus der Perspekti-ve einer formalistischen Betrachtungsweise liegen weite Teile des Regie-rungsbildungsprozesses in einem toten Winkel. Zahlreiche Prozesse vollziehen sich jenseits rechtlicher oder gar verfassungsrechtlicher Normierung und vor allem außerhalb des institutionellen Rahmens, in dem sich normalerweise Poli-tikgestaltung abspielt. Zugleich kann jedoch nicht von einem institutionenfreien Raum gesprochen werden. Vielmehr können auch diese informellen Prozesse hochgradig institutionalisiert sein (vgl. König 2002e: 69), wie beispielsweise der Forschungsstand zu Koalitionsbildungsprozessen und -management zeigt. Die für dieses Unterkapitel hinzugezogenen Literaturbestände können insofern dabei helfen, den mutmaßlich toten Winkel auszuleuchten, fortbestehende Forschungs-lücken zu identifizieren und Konsequenzen für die vorliegende Arbeit abzuleiten. 2.1.2.1 Regierungsbildung aus organisatorischer Sicht: Formalstrukturen der

Regierungsorganisation Weite Teile der Literatur, die sich explizit mit der „Regierungsbildung aus orga-nisatorischer Sicht“ (Busse 1999) beschäftigen, fokussieren zunächst auf die formalen Prozesse und rechtlichen Rahmenbedingungen der Regierungsbildung (vgl. Busse 1992; Busse 2003; Busse 1999; Butzer 1996; Böckenförde 1998; Ley 2010; Niedobitek 2004; Schümer 2006; Weis 1980). Als zentrale Quellen orga-nisatorischer Veränderungsprozesse werden die Organisationserlasse des Regie-rungschefs, die Geschäftsverteilungspläne der Ressorts und die den jeweiligen Regierungsinstitutionen Mittel zuweisenden Haushaltsgesetze identifiziert (Bus-se 1999: 314). Als konkrete Gegenstände der Betrachtung rücken darüber hinaus meist das Kabinett und die Ressortstruktur sowie die parteipolitische Machtver-teilung im Kabinett ins Blickfeld. Oftmals als Gegenstand der Regierungsorgani-sation behandelt werden auch wichtige Personalfragen, wie beispielsweise die jeweiligen Charakteristika des Kabinettspersonals sowie die Besetzung exekutive Schlüsselpositionen (z.B. Helms 2005e: 95–205). Implizit liegt dieser Vorge-hensweise die Annahme zugrunde, dass diese Personalfragen organisatorische und institutionelle Auswirkungen nach sich ziehen.

Wenngleich sich diese formalen Rahmenbedingungen für die Regierungs-organisation der Länder ähneln, gibt es doch wichtige Unterschiede in Details (hierzu ausführlich Leunig 2007), die für die vorliegende Frage nach den Trans-formationsprozessen der Kernexekutive bedeutsam werden können. Ein Beispiel für den Untersuchungsgegenstand Nordrhein-Westfalen ist die verfassungsrecht-lich bedingte Mandatspflicht des Ministerpräsidenten, den der Landtag nach Art. 52 Abs. 2 LV „aus seiner Mitte“ heraus wählt (hierzu auch Butzer 1996: 208–

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209). Zugleich tragen die übrigen formalen Vorgaben der nordrhein-westfälischen Landesverfassung trotz dieser wichtigen Einschränkung bei der Regierungsbildung insofern der Zielsetzung einer exekutiven Staatsleitung durch die Landesregierung Rechnung, als dass die sonstigen unmittelbaren Auswirkun-gen auf die Regierungsorganisation eng begrenzt bleiben: „Organisations- und Personalgewalt sowie die (...) Geschäftsleitungsgewalt fallen so dem Regie-rungschef zu und geben ihm rechtlich weitgehend freie Hand zur Binnenstruktu-rierung der Gubernative" (Butzer 1996: 214; Hervorhebung im Original). 2.1.2.2 Regierungszentralen: Zentralstellen der Kernexekutive Diese Flexibilität formaler Vorgaben zeigt sich auch hinsichtlich einer bereits als Nukleus der Kernexekutive identifizierten Institution jeder Regierungsformation auf Landesebene – der Regierungszentrale (nachfolgend Florack/Grunden 2011b). Unbestritten ist eine Regierungszentrale fester Bestandteil eines funktio-nierenden Koordinations-, Entscheidungs- und Informationssystems einer Regie-rungsformation. Die schillernden Bezeichnungen, mit denen das Bundeskanzler-amt und die Staatskanzleien der Länder in der Folge häufig belegt werden – „Innenhöfe der Macht“ (König 1993: 16; König 2002g: 225), „Schaltzentralen“ (Walter/Müller 2002), „Heilige Hallen“, „Sakristeien des Staates“ (Ossenbühl 1969: 503) und „Zentrum der Regierung“ (König 2011) – finden allerdings keine Entsprechung in ihrer formal-rechtlich Verankerung. Außer in der bayerischen Landesverfassung (Art. 52 Satz 1) sind die Staatskanzleien der Länder verfas-sungsrechtlich überhaupt nicht erwähnt. Diese „Unterbilanz des geschriebenen (hochrangigen) Rechts“ (Schneider 2001: 283) verweist insofern bereits darauf, dass der Status der Regierungszentrale innerhalb einer Regierungsformation weniger auf einer formal-rechtlichen Absicherung beruht, als vielmehr auf die Zuschreibung politischer Bedeutung und informelle Einflussfaktoren zurückzu-führen ist. In der Literatur werden für die fehlende rechtliche Verankerung der Regierungskanzleien drei Gründe angeführt (König 1993: 16; Schneider 2001: 282–306, Korte/Fröhlich 2009: 83–89): Erstens soll das stets instabile Gleichge-wicht der Organisationsprinzipien von Bundes- und Landesregierungen (Richtli-nienkompetenz, Kabinettsprinzip, Ressortprinzip) nicht durch ein weisungsbe-fugtes „Superministerium“ unter Führung des Regierungschefs gefährdet wer-den. Zweitens soll die Rolle der Regierungskanzlei an die Machtverhältnisse einer Regierung flexibel angepasst werden können. Diese Machtverhältnisse sind vom Regierungsformat (Ein-Parteien- oder Koalitionsregierung) und von der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungskoalition abhängig. Der dritte Grund ist der individuelle Führungsstil des Regierungschefs, der notwendiger-

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weise eigene Schwerpunksetzungen und organisatorische Anpassungsleistungen nach sich zieht. Kurzum: Es ist (auch) Informalität, die aus einer Staatskanzlei eine Regierungszentrale macht. Der Regierungszentralen zugeschriebene macht-politische Status einer Schlüsselinstitutionen der Kernexekutive lässt sich nicht allein aus ihren formalen, d.h. rechtlich fixierten Funktionen und Kompetenzen ableiten. „Führen, Koordinieren, Strippenziehen“ (Mertes 2000) wird ihnen erst dann möglich, wenn sie sich nicht auf die Ausübung formalisierter Verfahrens-regeln und Funktionen beschränken, sondern ihr Handeln und ihren Einfluss über die Grenzen von Geschäftsordnungen hinaus und in Anpassung an die strukturel-len Bedingungen der jeweiligen Regierungsformation ausdehnen.

Trotz dieser unkonkreten Funktionsbeschreibungen in Rechtsquellen kön-nen für Regierungszentralen allgemeine Funktionen identifiziert werden (u.a. König 2002a: 196–197; Häußer 1995: 37–61; Knoll 2004: 42–60). Dazu zählen Aufgaben der Regierungs- und Ressortkoordination und die Sekretariatsfunktion für das Kabinett genauso wie Zuständigkeiten für politische Grundsatzfragen und Gesamtplanung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, einzelne Ressortzuständigkei-ten17 und Unterstützungsleistungen für den Regierungschef als Person. Anders als bei den Fachressorts einer Regierungsformation verbinden sich mit der Re-gierungszentrale keine materiellen Politikziele, sondern Hauptaufgabe dieser Institution der Kernexekutive ist die „Sicherung effektiver Informations- und Entscheidungsabläufe" (Gebauer 1994: 519). Die Regierungszentrale wird damit zu einem zentralen „Hilfsinstrument“ (Zinn 1967: 32), ohne welches sowohl ein Regierungschef als auch die Regierungsformation als Ganzes ein „ein bedau-ernswerter Vollinvalide" (Hennis 1968: 171) wären. Die Regierungszentrale wird damit zum zentralen Instrument der „Regierungsassistenz“ (Gebauer 1994: 487). Der Forschungsstand und die darin herausgearbeiteten Funktionskataloge zeigen, „dass die kollektive Handlungsfähigkeit einer Regierungsformation maßgeblich von der Rolle der Staatskanzlei als informelles Machtzentrum abhängig ist, in-dem ihre Leitungsebene eine von allen Akteuren anerkannte Führungs- und Koordinationsfunktion wahrnimmt, die über die formale Ressortkoordination hinausreicht“ (Korte/Grunden 2010: 4; vgl. Ellwein 1967: 207–209; Zinn 1967: 31; Pannes 2011: 82–83).

Im Hinblick auf diese Funktionserfülllung konzentrierte sich die Forschung zu deutschen Regierungszentralen zunächst vor allem auf die formale Organisa-tionsstruktur, die auf ihre Effektivität und Leistungsfähigkeit bei der Informati-onsverarbeitung, Ressortkoordination und der Ausübung von Ressortfunktionen

17 Auf Landesebene zeichnen die Staatskanzleien häufig insbesondere für Medienpolitik und

Kulturangelegenheiten verantwortlich. Häufig wird dieser Sachverhalt mit dem „Chefsachen-Charakter“ dieser Politikfelder auf Landesebene in Verbindung gebracht (hierzu Korte et al. 2006: 87–91).

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hin untersucht wird. Betont wird dabei, dass sich Regierungszentralen durch eine stabile, formal-hierarchische Organisationstruktur auszeichnen. Die Konzentrati-on der Forschung auf formalisierte Interaktionen und Arbeitsabläufe sowohl innerhalb als auch zwischen Organisationseinheiten ist dabei zunächst durchaus gerechtfertigt. Zum einen setzt die Strategie- und Handlungsfähigkeit jeder Or-ganisation einen funktionalen organisatorischen Unterbau voraus. Zum anderen finden Regierungschefs nach Amtsantritt eine hierarchische Institution mit streng formalisierten Strukturen und Arbeitsabläufen vor, die sich durch eine „Indiffe-renz“ gegenüber den individuellen Prioritäten und Führungsstilen der politischen Spitzenakteure auszeichnet (König 2002g: 235–236). Diese im Vergleich stark ausgeprägte „Indifferenz“ unterscheidet die deutschen Regierungskanzleien, wie die deutsche Ministerialbürokratie insgesamt, von ausländischen Pendants. Sie äußert sich in ihrer formalen Ausprägung in Organisationsplänen und Geschäfts-ordnungen. Forschungsgegenstände sind hier vor allem die Effektivität und Zu-sammenarbeit der einzelnen Organisationseinheiten auf der Arbeitsebene: Abtei-lungen und Unterabteilungen, Spiegelreferate und Querschnittsreferate, Gruppen und Stäbe. In dieser Forschungstradition werden Regierungszentralen als „zweckorientierte Kooperationssysteme“ untersucht, die rational geplant, be-wusst geschaffen und definitiv strukturiert sind (Schwarzmeier 2001: 56). Gera-de für den Bereich der allgemeinen Strukturmuster bürokratischer Organisatio-nen ist der Literaturbestand außerordentlich umfangreich, wenngleich Regie-rungskanzleien, die sich durch ihren besonderen Aufgabenbereich von der übri-gen Ministerialverwaltung abheben, deutlich seltener explizit in derartigen Stu-dien berücksichtigt wurden.

Hinzu kommt als zweiter Untersuchungsschwerpunkt die Untersuchung der Personalstruktur in Regierungszentralen. Hierbei ist zunächst die in der Ministe-rialverwaltung obligatorische Ausdifferenzierung in politische Leitungs- und administrative Arbeitsebene relevant, die wiederum unmittelbar auf die Organi-sationsstruktur zurückwirkt. Dabei dominieren Arbeiten zur Sozialstruktur sowie zu den Rekrutierungs- und Karrierewegen des Beamtenapparats. Auch hier spie-len Regierungszentralen eine Rolle, wenngleich sich die meisten dieser Arbeiten auf die Ministerialbürokratie im Allgemeinen beziehen (z.B. Mayntz 1985; Mayntz/Derlien 1989; Schnapp 2004). Ergebnisse dieser Forschung sind bei-spielsweise der Nachweis eines ausgeprägten „Juristenmonopols“ (Derlien 2003: 404) sowie die insgesamt geringe Durchlässigkeit der Ministerialbürokratie, die für ein „geschlossenes Personalsystem“ (Schnapp 2004: 6) sorgt. Gleichzeitig wird eine zunehmende (Partei-)Politisierung der deutschen Ministerialbürokratie konstatiert, die mit einer nicht näher konkretisierten Informalisierung der Ar-beitsprozesse einhergeht (vgl. König 2002d; König 2002b; Schwanke/Ebinger 2006; Schnapp 2001).

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 69

In Ergänzung dieser schon klassischen Untersuchungsfelder setzt die jünge-re Forschung zu Regierungszentralen neue Akzente (Bröchler/Blumenthal 2011a: 7–8). Nicht nur ist das Interesse an diesem Gegenstand neu erwacht, sondern es zeigt sich auch eine größere Bandbreite methodischer Zugänge und theoretisch-konzeptioneller Ansätze. „Im Blick auf das reflexive Instrumentari-um wird die Forschung zum Zentrum der Regierung in breiter Linie für konzep-tionelle Ansätze und Theorien geöffnet" (Bröchler/Blumenthal 2011a: 7). Dazu gehören eine stärkere Hinwendung zur Prozessdimension des Regierens und die Anschlussfähigkeit der neueren Forschung an die moderne Regierungslehre. Bröchler (2011: 17) spricht bereits von einer „modernen Regierungszentralenfor-schung“. Interessant ist, dass in Abgrenzung zu anderen Diagnosen der Regie-rungsforschung dabei auch zunehmend die steigende Bedeutung der Kernexeku-tive und hier insbesondere der Regierungszentralen innerhalb des politischen Prozesses betont wird. So kommt beispielsweise Friedbert Rüb bei seiner Analy-se des Bundeskanzleramts zu dem Ergebnis, dass die veränderten „Sach-, Sozial- und Zeitdimension[en]“ zu einer gewachsenen Bedeutung der Kernexekutive beitragen (Rüb 2011). Stephan Bröchler (2011) differenziert in seinem Überblick über den älteren Forschungsstand zwischen der traditionellen „Regierungskanz-leienlehre“ und den nachfolgenden Ansätzen der „Regierungszentralenfor-schung“. Erstere konzentrierte sich auf die „Genealogie“ des deutschen Bundes-kanzleramts, eine Analyse der Organisationsstrukturen von Regierungszentralen und betonte die Lerneffekte dieses Wissens für den Aufbau der Staatskanzleien in den neuen Bundesländern ab 1990. Die mit diesem Zugang einhergehenden Schwächen sind eine beinahe ausschließliche Betonung der Polity-Dimension, einer Engführung auf formale Institutionen und Organisationsstrukturen, die bestenfalls rudimentär ausgeprägte theoretische Orientierung am klassischen Institutionalismus und der Verzicht auf vergleichend angelegte Forschungsde-signs. Die „Regierungszentralenforschung“ wiederum betonte die instrumentelle Seite von Regierungszentralen in ihrem Einfluss auf die politische Problembear-beitung. Im Gegensatz zur traditionellen „Regierungskanzleienforschung“ rückte somit die Policy-Dimension in den Vordergrund, eine theoretische Offenheit zur Systemtheorie und zu handlungstheoretischen Ansätzen gleichermaßen war fest-zustellen und es schwang eine politikberatende Dimension mit, waren doch auch politische Akteure Adressaten der gewonnenen Forschungserkenntnisse. Schwä-chen dieser Arbeiten zu Regierungszentralen war die wiederum stark auf die Policy-Dimension verkürzte Perspektive – eine Engführung, die auch durch den arkanpolitischen Charakter des Forschungsgegenstandes bedingt war –, der man-gelnde Theoriegehalt der Ansätze sowie die meist monographisch angelegten Forschungsdesigns (Bröchler 2011: 17–32). Vor dem Hintergrund dieser Deside-rate und Schwächen akzentuiert Bröchler die erneut veränderte Ausrichtung der

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„modernen Regierungszentralenforschung“. Mit dieser erfahre „das traditionelle Profil der Forschung zum Zentrum der Regierung strukturelle Innovationen“ (Bröchler 2011: 35; vgl. König 2011) in dreierlei Hinsicht (Bröchler 2011: 36–38): Erstens verstärke sich die Hinwendung zur Prozessdimension des Regierens. Mithin würden nun alle drei Politikdimensionen Beachtung finden. Zweitens sei ein vertiefter Theoriegehalt der aktuellen Arbeiten zu erkennen, der u.a. Bezüge zu Neo-Institutionalismus, strategischer Steuerung und strategischer Regierungs-führung, der Kernexekutivforschung und zu den aktuellen Varianten der Organi-sationstheorie herstelle. Drittens schließlich werde die Fixierung auf monogra-phische Studien zu deutschen Regierungszentralen zugunsten einer Öffnung zur Vergleichenden Regierungslehre aufgegeben.

Mit diesen Innovationen geht zugleich eine stärkere Ausdifferenzierung der Forschungsperspektiven zu Regierungszentralen einher, deren Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit nutzbar gemacht werden können. So finden sich neben weiterhin stark verwaltungswissenschaftlich geprägten Arbeiten (Jann et al.; Fleischer 2011; Dahlmann 2011) auch Studien mit betont präskriptivem Charak-ter und Brückenschlägen zur strategischen Regierungsführung (Bertelsmann Stiftung 2007; Tils 2011; Schilling et al. 2009; Sturm/Pehle 2007; Knill et al. 2006; vgl. Florack 2011b; grundlegend Raschke/Tils 2006), praxistheoretisch angelegte Arbeiten (Rüb 2011; vgl. Rüb 2009), politikwissenschaftliche Reflexi-onen politischer Praktiker (Mertes 2000; Mai 2011; Frohn 2011; Mielke 2003) und Veröffentlichungen, welche die Regierungszentralen zwar nicht direkt ins Zentrum rücken, diesen aber doch besondere Beachtung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse schenken (Florack 2011a; Grunden 2008; Grunden 2009; Bornemann 2011).

Eine zentrale Akzentverschiebung dieser „modernen Regierungszentralen-forschung“ ist die deutliche empirische und theoretische Hinwendung zu infor-mellen Strukturmustern und Prozessen (Florack/Grunden 2011a; Grunden 2011a). Neben das etablierte Verständnis von Regierungszentralen als formale Organisationseinheiten tritt Informalität als politikwissenschaftliche Schlüsselka-tegorie. Ausgangspunkt dieser Schwerpunkverschiebung ist die empirische Er-kenntnis, dass Organisationspläne und Formalstrukturen einer Regierungszentra-le ein bestenfalls unvollständiges Bild der Organisationswirklichkeit darstellen:

„In allen formalen Organisationen entwickeln sich informelle ‚Parallelstrukturen‘. Dies gilt auch für Regierungszentralen wie die Staatskanzleien und Staatsministerien auf Landesebene. Die formale Struktur, wie sie die Organisations- und Geschäfts-verteilungspläne festlegen, wird unweigerlich durchwirkt und umwoben von einem Netzwerk informeller Kommunikations- und Interaktionsmuster. Dieser Grundtatbe-stand der informellen Durchwirkung von Regierungszentralen, also die informellen Schleichpfade neben dem offiziellen Dienstweg; die oftmals kaum in ihren Ursprün-

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gen und Entwicklungen zu erkennende Verlagerung von Kompetenzen; die damit einhergehende Herausbildung informeller Hierarchien, welche in veränderten Zu-gangschancen zu den Entscheidungszentren und politischen Führern und in verän-derten, eben informellen Einflüssen auf die politische Prioritätensetzung ihren Aus-druck finden (...)“ (Mielke 2011: 93).

Diese „Zwischenschicht informaler Beziehungen“ zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie durch die „offizielle Amtspyramide der Organisationspläne“ nicht hinreichend erfasst wird (König 2002g: 236). Eine erste forschungspraktische Konsequenz dieser Akzentverschiebung ist eine stärkere Einbettung der Regie-rungszentrale in das institutionelle Gesamtgefüge einer Regierungsformation und damit eine Verschiebung der Analyseebene. Neben der internen Organisations-struktur einer Regierungskanzlei spielen nun Fragen nach dem Entscheidungs-dreieck von Regierung, Parlament und Parteien einerseits sowie ihre Interaktio-nen mit außerhalb der Regierungsformation angesiedelten Akteuren wie Interes-senverbänden und Medien andererseits eine stärkere Rolle. Ins Blickfeld rücken damit an die Regierungszentrale gebundene informelle Institutionen, die der Konsultation, Koordinierung und Entscheidungsfindung in den jeweiligen Akteurskonstellationen dienen. Führungs-, Steuerungs- und Koordinationsfähig-keiten einer Regierungszentrale und ihre Einbettung als „Teil verschiedener Informalitätskulturen“ (Pannes 2011: 76) werden dadurch zum neuen Erkennt-nisinteresse. Diese Akzentverschiebung versteht die Regierungszentrale folglich als Bestandteil der Kernexekutive, die weniger als Organisationseinheit an sich, als vielmehr in ihrer Eingebundenheit in diesen übergreifenden Rahmen sinnvoll zu analysieren ist.

Zweitens haben die Erkenntnisse zu informellen Strukturen und Regie-rungszentralen dazu beigetragen, die oftmals begrifflich unterstellte Dichotomie zwischen Formalität und Informalität (vgl. Grunden 2011c: 157; Helms 2005a: 72; Görlitz/Burth 1998b; Bohne 1981) aufzuweichen. So verweist beispielsweise Gerd Mielke in seinen Überlegungen (2011: 95) auf das symbiotische Verhältnis von formaler Organisationsstruktur und informellen Regelungsmustern in Regie-rungszentralen. Informelle Strukturen und Prozesse setzen formale Strukturen unter Anpassungsdruck, dessen Vollzug dann wiederum neue Anreize für die Ausprägung von Informalität bietet. In Gang kommt damit gewissermaßen eine Informalitätsspirale, die nur aus dem reziproken Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen erklärbar ist. Allgemeiner formuliert bedeutet das: „Informalität und Formalität sind komplementäre Elemente. Informalität ohne Formalität ist gegenstandslos, Formalität ohne Informalität defizitär" (Pannes 2011: 39; vgl. Grunden 2009: 60–65).

Dieses symbiotische Verhältnis von Formalität und Informalität zeigt sich schließlich drittens mit Blick auf die Funktionalität informeller Strukturen in

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Regierungszentralen. Mit Tina Pannes (2011: 45–46) lassen sich drei Meta-Einflussfaktoren identifizieren, welche die Entstehung informeller Strukturen in Regierungszentralen erklären können. Erstens spielen politische Akteure mit ihren jeweiligen Interessen und Funktionalitätserwartungen eine entscheidende Rolle (vgl. zur Akteursdimension auch Mielke 2011: 96). Zum zweiten beinhal-tet die jeweilige Ausprägung der Formalstruktur Konsequenzen für Informalität und drittens schließlich treten situative Faktoren hinzu, deren Identifikation dann vor allem eine empirische Aufgabe ist. Aus diesen drei Variablen ergeben sich nun wiederum unterschiedliche Funktionen, die informelle Strukturmuster in Regierungszentralen erfüllen (Pannes 2011: 61–68; hierzu auch Grunden 2009: 60–65). Auf der Akteursebene lassen sich so beispielsweise die Funktionen Machtsicherung, Herstellung von Geschlossenheit und Gewinn von Unterstüt-zung und Legitimation unterscheiden. Mit Blick auf die Formalstruktur als Er-klärungsvariable kann Informalität bestehende „Formalitätslücken schließen und eine Brückenfunktion übernehmen" (Pannes 2011: 64). Formale Strukturen und Regeln werden insofern durch informelle „Anwendungsregeln“ ergänzt, was einer Komplementärfunktion von Informalität entspricht und erneut das symbio-tische Verständnis der formalen und informellen Dimensionen untermauert. Gleiches gilt für die potentielle Innovationsfunktion informeller Arrangements, der zufolge informelle Strukturen und Regeln die spätere Anpassung der Formal-struktur anbahnen können, indem sie zuvor informell erprobt werden.

Die mit diesen Überlegungen angesprochenen Erklärungen für die Funktio-nalität informeller Strukturmuster zielen auf endogene Faktoren, die für die Herausbildung von Informalität in Regierungszentralen verantwortlich zeichnen. Die Literatur identifiziert jedoch auch die Relevanz exogener Einflussfaktoren. Mielke (2011: 96–98) weist darauf hin, dass auch Regierungswechsel als Motor für die Entwicklung informeller Arrangements in Ergänzung oder Abweichung von der Formalstruktur fungieren können. So entstehen insbesondere nach Re-gierungswechseln „Konstellationen, in denen informelle Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen mit den formalen Strukturen und Prozessen konkurrie-ren, wie sie noch von den Amtsvorgängern in den Organisations- und Geschäfts-verteilungsplänen kodifiziert wurden" (Mielke 2011: 96; vgl. König 2002g: 243). Die Erklärungen für diese Annahme decken sich weitgehend mit Erkenntnissen der älteren Regierungszentralenforschung. Dort wurde wiederholt auf die beson-dere Rückbindung von Regierungszentralen an den jeweiligen Regierungschef verwiesen. Dieser präge, so die weitgehend geteilte Annahme, eine Regierungs-zentrale in deutlich stärkerem Maße als ein Ressortminister sein Haus (König 2002g: 225). Allerdings, und darin liegt die Triebkraft für den Ausbau informel-ler Regelsysteme begründet, sind die Spielräume zur institutionellen Anpassung der Formalstruktur einer Regierungszentrale begrenzt. Insbesondere Organisati-

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ons- und Geschäftsverteilungspläne als formale Instrumente der Organisations-gestaltung sind nicht schnell und ohne Transaktionskosten zu verändern. Daher liege ein Ausweg in der Etablierung informeller Strukturen und Prozesse (Häußer 1995: 64–65). Darüber hinaus wird auf die begrenzten dienstrechtlichen Spielräume einer neuen Regierungsmannschaft sowie die im Zeitverlauf voran-schreitende Politisierung des Personals in Regierungszentralen verwiesen18, womit wiederum organisatorische Restriktionen einhergehen. Das Ergebnis ist eine „Übergangsphase, in der sich (…) neben den formalen Kommunikations- und Entscheidungsmustern informelle Kommunikations- und Entscheidungs-strukturen herausbilden“ (Mielke 2011: 97; vgl. König 1993: 45). Ein ebensol-cher exogener Erklärungsfaktor für die Herausbildung von informellen Struktu-ren in Regierungszentralen ist der „Koalitionskontext“. Weil die Regierungsor-ganisation in formaler Hinsicht blind für die institutionellen Anforderungen einer Koalitionsregierung ist, werden auch hier informelle Strukturen und Prozesse notwendig, um diesen gerecht zu werden und „überhaupt auf längere Sicht einen stabilen Koalitionsfrieden bewahren zu können“ (Mielke 2011: 98–99). In der Gesamtschau wirken diese endogenen und exogenen Einflussfaktoren dahinge-hend zusammen, dass sie gleichzeitig unterschiedliche Impulse zur Herausbil-dung von Informalität in Regierungszentralen liefern, die sich gegenseitig ver-stärken (Mielke 2011: 103). Die institutionelle Gestalt der Regierungszentralen ist damit einer grundsätzlichen Informalitätsdynamik ausgesetzt.

Dennoch zeichnet sich die Forschung zu Regierungszentralen noch immer durch einige Forschungslücken aus (Bröchler 2011; Florack/Grunden 2011b). Trotz der zumindest in Ansätzen erkennbaren Abkehr von der bisherigen Aus-prägung als „administrativ- und exekutivlastig“ (Korte/Grunden 2010: 11) bleibt eine Vielzahl an blinden Flecken. Zwar ist eine Trendumkehr hin zu einer „mo-dernen Regierungszentralenforschung“ (Bröchler 2011) erkennbar, aber es fehlt noch an empirischen Forschungsergebnissen zur Rolle der Staatskanzlei im Ent-scheidungsdreieck von Exekutive, Parlament und Parteien. Diese gilt im Beson-deren für die Wechselwirkungen zwischen der Beschaffenheit der internen Or-ganisationsstruktur und der Rolle bzw. dem Einfluss von Regierungszentralen in regierungsexternen Entscheidungsprozessen. Es gilt, die Black Box der informel-len Organisationswirklichkeit in Regierungszentralen zu öffnen, da vermutlich „die eigentliche politische Musik hinter der formalen Fassade im Halbdunkeln der Informalität" (Mielke 2011: 104) spielt. Aus diesem Grund bedeuteten schon

18 Wie bereits oben dargestellt, verschärft sich diese Problemlage in Nordrhein-Westfalen durch

die nur geringe Zahl politischer Beamter. So zählen bereits die Abteilungsleiter in der Staatskanzlei und den Fachressorts zu den normalen Laufzeitbeamten, so dass bereits auf dieser Ebene, die häufig der politischen Leitungsebene zugerechnet wird, nur ein sehr begrenztes Patronagepotential vorhanden ist.

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allein dichte Beschreibungen in Einzelfallstudien einen empirischen Gewinn. Allerdings deuten sich hier forschungspraktische Einschränkungen an, ist doch genau dieser Anspruch durch den oftmals eingeschränkten Zugang zum For-schungsobjekt sowie weitere methodische Schwierigkeiten bei der Analyse in-formeller Regelsysteme gefährdet (Hennis 1967: 295; Ossenbühl 1969: 503; Rhodes 1995: 32; Mielke 2011: 93–94; Grunden 2011c: 177; hierzu ausführli-cher Kapitel 4).

Eine zweite fortbestehende Forschungslücke bildet die weiterhin bestenfalls rudimentär ausgebildeten Bezugnahme auf theoretische Ansätze und Theorien jenseits der Begrifflichkeiten des „informellen Regierens“ (vgl. Grunden 2011c). Auch wenn in der neueren Forschung eine stärkere Anschlussfähigkeit an poli-tikwissenschaftliche Theoriediskurse erkennbar ist (Bröchler 2011: 37), zeichnen sich doch die meisten Darstellungen zu Regierungszentralen durch eine weitge-hend theoriefreie Anlage aus. 2.1.2.3 Koalitionsmanagement: Institutionelle Regelsysteme zur Strukturierung

von Kooperation innerhalb einer Regierungsformation Spielt Informalität erst in der jüngeren Forschung zu Regierungszentralen eine wichtigere Rolle, so muss Informalität von Beginn an als eine, wenn nicht die „Schlüsselkategorie in der (…) Koalitionsforschung betrachtet werden“ (Kropp 2003: 24), die geradezu konstitutiv für das gesamte Forschungsfeld ist. Mit dem Perspektivenwechsel von Prozessen der Koalitionsbildung hin zu den Strukturen, Verfahren und institutionellen Arrangements des Koalitionsmanagements spielen informelle Regelsysteme eine dominante Rolle. Koalitionsmanagement kann dabei als „Institutionalisierung eines dosierten Parteienwettbewerbs“ (Florack 2010a) verstanden werden. Die Relevanz dieses politikwissenschaftlichen For-schungsbestandes für die vorliegende Fragestellung liegt auf der Hand, themati-siert dieser doch teils formalisierte und überwiegend informelle institutionelle Regelsysteme zur internen Konfliktregulierung innerhalb einer heterogenen Regierungsformation. Grundlegend für den Literaturbestand ist die Beobachtung, „dass die im Verfassungsrecht enthaltenen, regierungsinternen ‚checks and balances’ zunehmend überformt, zum Teil substituiert werden durch ein Netz von informalen Entscheidungsregeln, die den Parteienwettbewerb koalitionsin-tern domestizieren sollen“ (Manow 1996: 98). Ursache für diese Informalisie-rung des Regierungshandelns unter den Bedingungen von Koalitionsregierungen ist die Blindheit der formalen Regierungsorganisation gegenüber den Bedingun-gen solcher Regierungsformationen. In organisatorischer Hinsicht überwiegen historisch gewachsene formale Strukturen mit erheblichem Beharrungsvermögen

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 75

(König 2002a: 188–189). Koalitionen schaffen daher zu informellen Regelsys-temen verdichtete Regeln und Prozeduren, um unter diesen Rahmenbedingungen die kompetitiven Elemente des Parteienwettbewerbs im Rahmen zu halten und Kooperation dauerhaft zu ermöglichen und sicherzustellen (Kropp 2001a: 73–75; grundlegend Sturm/Kropp 1999b; Kropp 2001b; Kropp 2003; Rudzio 2005c). Diese institutionelle Stabilisierung der deutschen Koalitionsdemokratie findet ihren Ausdruck in beinahe schon standardisieren institutionellen Vorkehrungen unterschiedlicher Formalisierungsgrade (vgl. Kropp 2003: 25; Kropp 2001a: 73–75; Manow 1996: 96–98): Zentraler Fokuspunkt des Koalitionsmanagements ist beinahe immer der Koalitionsausschuss. Hier werden unter Beteiligung zentraler „Grenzstellenakteure“ (Benz 1995 zitiert nach Kropp 2001a: 64–65) die unter-schiedlichen Handlungsarenen zusammengeführt, deren Management für das Funktionieren einer Koalition unerlässlich ist. Er vereint insofern Akteure mit Vertretungsmacht, die bewusst über die engere Exekutivebene hinausreichen und insbesondere die regierungstragenden Fraktionen und Parteien einschließen. Formalisiert wird der Koalitionsausschuss meist im Rahmen von Koalitionsver-einbarungen, die neben der Verständigung auf gemeinsame Politikinhalte stan-dardmäßig Hinweise auf institutionalisierte Kooperationsregeln beinhalten (aus-führlich Kropp/Sturm 1998). Neben dem Koalitionsausschuss explizit genannt werden darüber hinaus zumeist das Verbot für die Koalitionspartner, mit wech-selnden Mehrheiten im Parlament abzustimmen, die Vereinbarung des Konsens-prinzips bei regierungsinternen Abstimmungen (beispielsweise im Kabinett) und eine schriftliche Fixierung der künftigen Ressortverteilung zwischen den Regie-rungspartnern. Für Landesregierungen ebenfalls fester Bestandteil dieser institu-tionellen Arrangements ist die Vereinbarung einer „Bundesratsklausel“, mit der das Abstimmungsverhalten im Bundesrat für den Fall eines koalitionsinternen Konflikts geregelt wird. Eine weitere wiederholt Anwendung findende institutio-nelle Regel ist schließlich die Vereinbarung von „Kreuzstichverfahren“19 bei der Besetzung von Personalstellen, mit der die Koalitionslogik personalpolitisch auf einzelne Ressorts übertragen wird. Diese Institutionalisierung des Koalitionsma-nagements dient dabei nicht notwendigerweise alleine der potentiellen Konflikt-regulierung innerhalb der Regierungsformation, sondern auch der Strukturierung des Umgangs mit Politikentscheidungen von herausgehobener Bedeutung (Manow 1996: 101–106).

19 Das „Kreuzstichverfahren“ bedeutet die „über Kreuz“ vorgenommene Besetzung von

Schlüsselposten mit Vertretern der jeweiligen Koalitionspartner. So wird beispielsweise ein Ressortminister des einen Koalitionspartners durch einen Staatssekretär des anderen ergänzt. Ziel ist es, den Koalitionspartnern inhaltlichen Zugriff und Vetopotentiale im Routinebetrieb zu ermöglichen.

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Die allgemeinen Ziele der Verabredung solcher informellen Regeln und Verfahren sind deckungsgleich mit den Zwecken, denen Koalitionsvereinbarun-gen im Allgemeinen dienen (vgl. Kropp 2001a: 69–70; Timmermans 2006; Saal-feld 2007: 190–192). Es geht um die Institutionalisierung von Berechenbarkeit und Vertrauen zwischen den Koalitionspartnern, die Verringerung von Transak-tionskosten durch die Etablierung dauerhafter Kooperationsregeln und um die Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit angesichts der koalitionsbedingten Fragmentierung der Regierungsformation.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, warum Informalität ein zentraler Schlüsselbegriff der Koalitionsforschung ist: Ohne die Existenz informeller Re-gelsysteme und Institutionen des Koalitionsmanagements, die als „Stoßdämpfer“ (Saalfeld 2007: 185) bei Konflikten innerhalb einer Regierungskoalition fungie-ren, ist das Funktionieren einer solchen Regierungsformation schlechterdings unvorstellbar. Informelle Institutionen wirken als „Schmiere in der formalen Maschinerie“ (Rudzio 2005a: 12), müssen doch Regierungskoalitionen Willens-bildung in unterschiedlichen Handlungsarenen und -feldern organisieren, die für die formale Regierungsorganisation voneinander getrennt sind. Die Informalität des Koalitionsmanagements ist daher eine beinahe automatische Reaktion auf diese strukturellen Gegebenheiten (Kropp 2003: 23 u. 30–31).

Zugleich entzündet sich jedoch insbesondere an dieser „Informalisierung“ normativ begründete Kritik (vgl. Rudzio 2002: 63–65). Zur Verteidigung der Informalisierung des Koalitionsmanagements wird ganz im Sinne der Funktiona-lität dieser Arrangements betont, informelle Institutionen des Koalitionsmana-gements könnten formale Strukturen ergänzen, stützen und „verkitten“. Auch wenn kaum allgemein gültigen Aussagen möglich sind, so haben doch Bestand-teile des institutionalisierten Koalitionsmanagements einen teilweise positiven Effekt auf die Stabilität von Koalitionsregierungen und damit die Funktionsfä-higkeit einer Regierungsformation (Saalfeld 2007: 205–206; Müller 2005). Kri-tisch wird andererseits auf die Gefahr einer Aushöhlung und Unterwanderung der formalen Strukturen verwiesen. Die Informalität des Koalitionsmanagements wird hier beispielsweise als Gefahr für die Willensbildung der regierungstragen-den Parteien, die verfassungsmäßige Leitungsfunktion des Kabinetts und die Mitwirkungsrechte von Parlamentariern und Fraktionen verstanden (Kropp 2003: 26; hierzu auch Schreckenberger 1994).20 20 Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang und zentraler Gegenstand dieser Kritik

ist die systematische Verflechtung zwischen der Exekutive mit ihrem Apparat und den politischen Parteien. Beispielsweise werde, so die Problematisierung, die formal einzuhaltende Trennung von Regierungs- und Parteiämtern durch die informelle Verkopplung beider Arenen ausgehöhlt. In der Folge gehe damit eine Beschränkung der demokratischen Kontrollmög-lichkeiten, eine Auswanderung von Regierungspolitik als formalen Institutionen und die verringerte Zurechenbarkeit von Verantwortung für politische Entscheidungen einher.

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 77

Für die vorliegende Arbeit sind jedoch weniger die normativen Bewertun-gen, sondern vor allem die empirischen Ergebnisse der Forschung zum Koaliti-onsmanagement relevant. Es lassen sich vor dem Hintergrund des untersu-chungsleitenden Erkenntnisinteresses drei zentrale Konsequenzen herausarbei-ten:

Erstens ergibt sich eine deutliche empirische Ausweitung des Begriffs der Kernexekutive. Während einerseits mit den verfassungsrechtlich normierten und formal abgesicherten klassischen Gegenständen der Regierungsorganisation und andererseits der Regierungszentrale in ihrer Gestalt als formalisierte Organisati-onseinheit wichtige formale Bestandteile der Kernexekutive identifiziert wurde, weitet die Koalitionsforschung den Blick für weitere, informelle institutionelle Arrangements. Diese reichen vom faktisch weitgehend formalisierten und orga-nisatorisch unterfütterten Koalitionsausschuss, über Abstimmungsregeln bis hin zu informellen Praktiken der regierungsinternen Abstimmung. Ihre Bedeutung für ein funktionierendes Koordinations-, Steuerungs- und Entscheidungssystem wurde von der Koalitionsforschung nachdrücklich herausgearbeitet. Insofern folgt daraus die Konsequenz, auch diese primär informellen Institutionen der Regierungsorganisation in die weitere Analyse einzubinden.

Zweitens zeigt die Koalitionsforschung, dass auch von informellen Regel-systemen Verbindlichkeit und Geltungskraft ausgehen können, die formalen Institutionen in nichts nachstehen. Zwar handelt es sich beispielsweise beim Koalitionsausschuss nicht um eine rechtlich formalisierte Instanz und auch „Koalitionsverträge“ unterliegen keiner rechtlichen Normierung, sondern gelten nur durch die reziproke Anerkennung der daran beteiligten Akteure. Allerdings geht von diesen institutionellen Arrangements politische Verbindlichkeit aus, ohne deren Einhaltung nicht von einer Regierungsformation als kollektivem Akteur gesprochen werden könnte. Zugleich zeigt sich, dass informelle Regel-systeme wiederum unterschiedliche Formalisierungsgrade aufweisen. Während einige schriftlich festgehalten und durch weitere organisatorische Vorkehrungen „teil-formalisiert“ werden, gelten andere Institutionen wiederum nur aufgrund ihrer faktischen Beachtung und ihrer wiederholten Anwendung im Sinne politi-scher Akteurspraktiken. Damit zielt auch die Koalitionsforschung auf eine Auf-lösung der starren Dichotomie zwischen formalen und informellen Institutionen und auf eine Hinwendung zu einem Verständnis unterschiedlicher Formalisie-rungs- und Informalisierungsgrade auf einem Kontinuum.

Drittens schließlich zeigt die Koalitionsforschung die prinzipielle An-schlussfähigkeit der Untersuchung informeller Regelsysteme an übergreifende politikwissenschaftliche Theoriediskurse. Sabine Kropp beispielsweise integriert ihre Untersuchungen zum Koalitionsmanagement auf Landesebene in sowohl handlungs- als auch institutionentheoretische Ansätze und leitet daraus einen

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gegenstandsbezogenen Analyseansatz ab (Kropp 2001b: 35–52). Wolfgang Rudzio wiederum bettet seine Überlegungen zum Koalitionsmanagement in all-gemeinere Überlegungen zum „informellen Regieren“ (Rudzio 2002; Rudzio 2005c) ein. Damit eröffnet die Koalitionsforschung zugleich indirekt einen ana-lytischen Entwicklungspfad, der von der Forschung zur Regierungsorganisation und zu Regierungszentralen bislang nur zögerlich beschritten wurde, für die vorliegende Arbeit jedoch einen wichtigen Ansatzpunkt für die theoretische Rahmung der Analyse bietet. 2.1.2.4 Informelles Regieren: Informalität als meso-analytische Perspektive Die Literatur zum Koalitionsmanagement ist wichtige Quelle einer darüber hin-ausreichenden Perspektive des „informellen Regierens“ (aktueller Überblick bei Grunden 2011c; Pannes 2011). Dabei handelt es sich weniger um ein „kohären-tes Forschungsfeld, sondern eine Analyseperspektive“ (Grunden 2011c: 176), die gewissermaßen „auf der Suche nach der anderen Seite des Regierens“ (Wewer 1991; vgl. Pannes 2011: 35) ist. Durch diese Perspektivenverschiebung rücken bestimmte Gegenstände in den Mittelpunkt, die ansonsten womöglich am Rande der Aufmerksamkeitsschwelle bleiben (Grunden 2011c: 156). Insofern speist sich der aktuelle Literaturbestand zum informellen Regieren neben der Literatur zum Koalitionsmanagement auch aus der Governance-Forschung, Studien zu parlamentarischen Entscheidungsverfahren, der Organisationsforschung, der Steuerungsliteratur und Studien zur informellen Regierungsorganisation (aus-führlicher Grunden 2011c: 157–168), die sich alleine durch die oben angedeutete Perspektivenverschiebung und nicht durch einen gemeinsamen Untersuchungs-gegenstand auszeichnen. Diese mit einer stärkeren Beachtung von Informalität einhergehende Akzentverschiebung liefert nicht nur für die Suche nach der „an-deren Seite des Regierens“ wichtige Impulse, sondern eröffnet auch Anknüp-fungsmöglichkeiten für die hier im Zentrum stehende Analyse der Institutionen der Regierungsorganisation.

Hinter dem Stichwort des „informellen Regierens“ verbergen sich allerdings unterschiedliche Sichtweisen auf Informalität. Dies drückt sich bereits in der meist wenig trennscharfen Verwendung von Begrifflichkeiten wie „informellem und informalem“ Regieren, „Informalität“ und „Informalisierung“ aus (hierzu Stüwe 2006: 546–547). Analytisch lassen sich jedoch zwei fundamental unter-schiedliche Zugänge unterscheiden: Zum einen wird die Informalisierung politi-schen Akteurshandelns und von Entscheidungsprozessen im Sinne einer Politics-Akzentuierung betont (Pannes 2011: 40). Mit konkretem Bezug zum Regieren wird entlang dieser zweiten Schwerpunktsetzung unter der „Informalisierung des

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Regierungshandeln (…) die Gesamtheit jener von der Regierung angetriebenen Prozesse verstanden, die auf eine Überbrückung formal existierender Distanzen zwischen der Regierung und anderen Akteuren zielen und/oder auf eine Verlage-rung von Entscheidungsprozessen in nicht etablierte Gremien gerichtet sind" (Helms 2005a: 74)21. Ins Blickfeld rücken dann Prozesse der Informalisierung innerhalb der Exekutive, das informelle Zusammenspiel von Regierung und Parlament genauso wie von politischer und administrativer Exekutive oder das Verhältnis zwischen Regierung und privaten Akteuren (Helms 2005a: 77–78). Wichtig erscheint unter diesem Politics-Gesichtspunkt vor allem die Feststel-lung, dass Informalität weder „ein Synonym für Regellosigkeit noch für Illegali-tät“ ist. Es handelt sich vielmehr um „freiwillig formalisierte Entscheidungsver-fahren sowie nicht explizit formulierte, aber anerkannte Regeln der Koordinati-on, Lenkung und Führung, die in der Formalstruktur nicht vorgesehen sind, von dieser aber auch nicht ausdrücklich untersagt werden“ (Grunden 2011c: 169). Informelles Regieren ist bei dieser prozesshaften Betrachtungsweise folglich dann institutionalisiert, wenn regelmäßige Muster der Interaktion existieren, die von den politischen Akteuren gekannt, praktiziert und akzeptiert (wenn auch nicht unbedingt geschätzt) werden.

Zugleich lässt sich dermaßen institutionalisiertes „informelles Regieren“ nur vor dem Hintergrund informeller Strukturen, Institutionen und Regelsysteme beschreiben und analysieren (Grunden 2011c: 154). Die zweite Perspektive zum informellen Regieren rückt folglich im Sinne einer stärkeren Polity-Fokussierung diese Strukturen ins Blickfeld. Dass es sich bei dieser unterschiedlichen Schwer-punktsetzung jedoch um eine analytische Trennung handelt, wird deutlich, wenn man auf die Entstehung und Persistenz dieser informellen Regelsysteme ver-weist. Denn die damit einhergehende Institutionalisierung informellen Regierens ist wiederum an das Handeln politischer Akteure gebunden, die zur Ausgestal-tung von Institutionen, Praktiken und Routinen beitragen, die sich dann wiede-rum zu informellen Regelsystemen verdichten (vgl. Korte/Grunden 2010: 5–11). Informelle Institutionen werden damit gewissermaßen zur abhängigen und unab-hängigen Variablen zugleich.

In ihrer auf die informellen Regelsysteme einer Regierungsorganisation zie-lenden Literaturübersicht zum informellen Regieren unterscheidet Tina Pannes (2011: 37; vgl. die leicht abweichende Einteilung von Grunden 2011c: 171–173) unterschiedliche Dimensionen von Informalität. Neben den Entstehungsbedin-

21 Mit dieser Perspektive in unmittelbarer Verbindung steht meist die normativ aufgeladene

Kritik an der „informellen“ Auswanderung aus (formalen) Institutionen. Diese bezieht sich beispielsweise auf das „Regieren mit Kommissionen“ (Siefken 2006) oder das „Regieren mit Gipfeln“ (Krick 2010). Insofern zeigt sich eine Analogie zu einem Teil der oben kurz thematisierten Literatur zum Koalitionsmanagement.

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gungen informeller Regelsysteme thematisiert sie u.a. die Formalitätsbezüge, die Funktionen und Leistungen sowie stimulierende und restringierende Faktoren für die Herausbildung von Informalität. Die vor allem theoretischen Annahmen stellen einen wichtigen Bezugspunkt für die vorliegende Fragestellung dar, zielt das Erkenntnisinteresse doch genau auf diese Aspekte der Informalität der Kern-exekutive.

Hinsichtlich der Entstehungsbedingungen informeller Regelsysteme lassen sich zwei grundsätzliche Erklärungsmuster herausarbeiten (Pannes 2011: 42–45). Einerseits legt die Beschaffenheit der Formalstruktur Pfade fest, welche die Herausbildung informeller Regelsysteme begünstigen oder erschweren. Aus-schlaggebend können Regelungsdefizite und -lücken genauso sein wie die man-gelnde Funktionalität formaler Strukturen. Andererseits kommen die auf „Inte-ressen, Normen, tradierten Interaktionsorientierungen" (Grunden 2011c: 170) beruhenden Akteursinterpretationen der Formalstruktur hinzu. Akteure schaffen und prägen informelle Regelsysteme und so bringt das „Zusammenspiel von institutioneller Struktur und politischem Akteurshandeln informale Strukturen“ (Görlitz/Burth 1998a: 11) hervor. Hinzu kommen als intervenierende Einfluss-größen weitere mikropolitische und mesostrukturelle Bedingungsfaktoren (Kor-te/Grunden 2010: 9), deren Identifikation weniger analytisch abstrakt als viel-mehr empirisch und jeweils entlang des konkreten Untersuchungsgegenstandes erfolgen muss.

Eine zweite wichtige Dimension des informellen Regierens ist das konstitu-tive Verhältnis von Formalität und Informalität (Pannes 2011: 49–60). Klassi-scherweise werden beide im Sinn einer dichotomen Unterscheidung als sich gegenüberstehende Begriffe verstanden (z.B. Görlitz/Burth 1998a: 9). Diese vor allem verfassungsrechtlich geprägte Perspektive versteht Formalität und Informalität damit gewissermaßen als „binären Referenzcode“ (Helms 2005a: 72). Diese einfache, dichotome Unterscheidung bereitet jedoch analytische Prob-leme: Die Attribute „formal“ und „informell“ lassen sich nicht trennscharf von-einander abgrenzen. In der politischen Realität finden sich kaum Tatbestände, die in Gänze allein auf formale, d. h. rechtlich fixierte Regeln zurückzuführen wä-ren. Umgekehrt hat eine Dichotomie, die jedes Handeln jenseits rechtlich fixier-ter Regeln in den Bereich des Informellen verweist, nur einen geringen analyti-schen Wert. Denn dann könnten institutionelle Regeln, Konventionen oder Prak-tiken allenfalls ungewichtet Berücksichtigung finden. Außerdem wäre es kaum möglich, mittel- oder unmittelbare Wechselwirkungen zwischen formalen und informellen Institutionen aufzuzeigen. Statt also formal und informell als Dicho-tomie zu begreifen, legt die jüngere Literatur nahe, von einem Kontinuum aus-zugehen, in dem Formalität und Informalität jeweils zwei entgegengesetzte Pole bilden, zwischen denen Mittelpositionen und Mischverhältnisse möglich sind

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 81

(Grunden 2009: 60–61; Pannes 2011; Helms 2005a: 72–74). Oder anders ausge-drückt: „Wo von Informalität die Rede ist, wird Formalität unweigerlich mitge-dacht – Informalität ist erst durch die Abweichung als solche definiert, bzw. wird erst durch Ergänzung oder Konterkarierung von formalen Strukturen und Regeln identifizierbar“ (Pannes 2011: 39).

Eine ähnliche Bedeutungsverschiebung lässt sich hinsichtlich der in der Li-teratur formulierten Funktionen und Aufgaben informeller Regelsysteme identi-fizieren. Im klassischen Verständnis werden eigene Kommunikationspfade, Ent-scheidungswege und Akteurskonstellationen etablierende, informelle Regelsys-teme als Störung und Abweichung formaler Abläufe verstanden. Sie stellen in gewisser Weise ein „abweichendes Verhalten“ dar, welches es normativ zu kriti-sieren und daher praktisch zu eliminieren gilt (Pannes 2011: 39; Schreyögg 2008: 13). In der jüngeren Literatur wird abweichend von dieser einseitigen Sichtweise auf weitere konstruktive Funktionen hingewiesen, die informelle Regelsysteme im Zusammenspiel mit Formalität erbringen (Pannes 2011: 61–68; vgl. ähnlich Schreyögg 2008: 12–14; Schimank 2007b: 200–205). Zentral für all diese Funktionen ist das konstitutive Wechselverhältnis zwischen Formalität und Informalität. Insofern stehen die Herausarbeitung dieser Funktionskataloge und die Abkehr von einer Dichotomie beider Begriffe in einem direkten Zusammen-hang.

Erstens können informelle Regelsysteme die Formalstruktur ergänzen und somit eine „Komplementärfunktion“ erfüllen. Bestehende Regelungslücken formaler Strukturen werden in der Folge ausgeglichen, indem informelle Regeln diese auffüllen und somit zu einer verbesserten Funktionserfüllung der jeweili-gen Formalstruktur beitragen. Ein Beispiel sind die informellen Regelsysteme des Koalitionsmanagements. Erst durch die Etablierung ergänzender informeller Strukturen und Prozesse wird eine Regierungsformation überhaupt handlungsfä-hig, da die Formalstruktur der Regierungsorganisation für die Anforderungen des Koalitionsmanagements blind ist (so auch Korte/Grunden 2010: 15; Pannes 2011: 61).

Die zweite Funktion der „Innovation“ durch Informalität setzt ebenfalls an der Formalstruktur an. Durch die informelle Ergänzung formaler Regeln und Prozesse können neue Regelsysteme eingeführt und getestet werden, ohne sie gleich zu formalisieren. Damit ermöglichen informelle Regelsysteme gewisser-maßen das Durchführen von Praxistests, von deren Verlauf mögliche weitere Schritte der Formalisierung abhängig gemacht werden können. Überträgt man diese Logik auf Organisationen im engeren Sinne, wie sie beispielsweise eine Regierungszentrale darstellt, dann kann „die informale Organisation die formale stabilisieren, indem sie ihre Schwächen kompensiert und sie flexibler macht, als sie nach ihrem formalen Reglement eigentlich ist“ (Schreyögg 2008: 13; vgl.

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Schimank 2007b: 200–205; König 2002c: 268). Zudem zeigen zu Innovations-zwecken etablierte informelle Regelsysteme bei einer dauerhaften Etablierung eine Tendenz zur Formalisierung. Informelle Praktiken werden somit langfristig durch ihre zunehmende Institutionalisierung auch formalisiert (König 2002c: 273–275) und „wandern“ damit gewissermaßen auf dem Kontinuum von Forma-lität und Informalität in erstere Richtung.

Die „Kohäsionsfunktion“ als dritte Funktion geht sogar noch einen Schritt weiter. Informelle Regelsysteme erscheinen hier als „wichtiges Korrektiv zu den dysfunktionalen Wirkungen formaler Organisation“ (Schreyögg 2008: 13). In-dem Informalität bestehende Defizite der Formalstruktur ausgleicht, höhlt sie diese nicht in problematischer Weise aus, sondern sorgt überhaupt erst für ihre Funktionsfähigkeit.

Die beiden letzten Funktionen der „Legitimierung“ und der „Machtsiche-rung“ verweisen schließlich darauf, dass nicht alleine die Formalstruktur der Be-zugspunkt für die Funktionserfüllung informeller Regelsysteme ist. Vielmehr kann Informalität auch wichtige Funktionen für politische Akteure übernehmen. Erst durch die Etablierung informeller Strukturen und Prozessen können Akteure beispielsweise ihre strategischen Handlungsoptionen erweitern, indem auf dieser Grundlage Einflussmaximierung, die Herstellung von Geschlossenheit und das Herbeiführen von politischen Mehrheiten möglich werden. Auch hier kann als Beispiel die Funktion von Koalitionsvereinbarungen im Kontext des Koalitions-managements angeführt werden. Durch das Herstellen einer gemeinsam geteilten Arbeitsgrundlage kann eine Regierungsformation gemeinsame Handlungsfähig-keit gewinnen und zugleich fortbestehende Differenzen ausklammern, die im Zuge der formalen Behandlung im Rahmen der jeweiligen Ressorthoheit offen zutage treten würden.

Das Ergebnis dieses Wechselspiels zwischen Formalstruktur, informellen Regelsystemen und Akteuren ist die Ausprägung einer spezifischen „Informali-tätskultur“ (Pannes 2011: 49). Diese „Informalitätskultur“ vereint zugleich die beiden oben idealtypisch differenzierten Facetten von Informalität, indem sie Prozessdimension und die institutionelle Struktur von Informalität in einen direk-ten Zusammenhang bringt. Bestandteile dieser „Informalitätskultur“ sind „(1) die entscheidungsrelevanten und regelmäßig handelnden Akteure, deren Einfluss auf formalen Positionen oder informellem Status beruhen kann, und die Akteurskonstellation, in der sich Rollen und Handlungsorientierungen ausprä-gen, (2) Handlungsmuster, also das regelmäßig beobachtbare Handeln, das im Sinne einer ‚informellen Routine‘ Konventionen und Handlungserwartungen konstituieren kann sowie (3) daraus resultierende Verfestigungen im Sinne in-formeller Regelsysteme und weitergehend formalisierte Strukturen durch Etab-lierung informeller Gremien“ (Pannes 2011: 49).

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 83

Wenngleich das Feld des „informellen Regierens“ damit in analytischer und begrifflicher Hinsicht weitergehend bearbeitet ist, fehlen mit Blick auf die Regie-rungsorganisation im engeren Sinne aber doch empirische Arbeiten, welche die oben stehenden theoretischen Annahmen mit Leben füllen. In gewisser Weise gilt auch hier eine methodische Einschränkung, die bereits mit Blick auf den Forschungstand zu Regierungszentralen eine wichtige Rolle gespielt hat: Die Analyse informeller Regelsysteme innerhalb der Regierungsorganisation setzt nicht zuletzt einen methodischen Zugang voraus, der angesichts des Untersu-chungsgegenstands nicht ohne weiteres erreichbar ist. Zudem erschweren die unterschiedlichen Institutionalisierungsgrade informeller Regelsysteme ihre Identifikation und folglich ihre Analyse. Unter welchen Bedingungen werden informelle Regeln etabliert, angepasst oder abgewickelt? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Formalstruktur, Akteuren und informellen Regelsystemen im Konkreten? Antworten auf diese Fragen sind ein fortbestehendes For-schungsdesiderat (Korte/Grunden 2010: 6; Grunden 2011c: 164 u. 177). 2.1.2.5 Zwischenfazit Welche Erkenntnisse lassen sich vor dem Hintergrund dieser Diskussion nun hinsichtlich der institutionellen Transformationsprozesse im Zuge eines Regie-rungswechsels ableiten? Mit Blick auf die vorliegende Fragestellung können die bisher diskutierten Literaturbestände drei allgemeinen Kategorien zugeordnet werden. Erstens geht es um Erkenntnisse hinsichtlich der Formalstruktur der Kernexekutive. Zweitens rücken die eine Regierungsformation prägenden infor-mellen Regelsysteme ins Blickfeld und drittens geht es um die Wandlungs- und Stabilisierungsprozesse dieser beiden institutionellen Dimensionen der Kernexe-kutive im Zuge eines Regierungswechsels.

Für die weitere Analyse sind dabei zwei Schlussfolgerungen aus den bishe-rigen Überlegungen von besonderer Bedeutung. Erstens geht es um die Identifi-kation und Konkretisierung relevanter Untersuchungsgegenstände. Oder anders gefragt: Welche Institutionen müssen zur Beantwortung der vorliegenden Frage-stellung in den Blick genommen werden? Zweitens geht es um theoretische Im-plikationen, die für die weitere theoretische Rahmung dieser Arbeit aufgegriffen werden können. Bereits im Zuge der bisherigen Literaturdiskussion dürfte impli-zit deutlich geworden sein, wo Forschungslücken bestehen, und inwieweit die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten kann, diese zumindest teilweise zu füllen.

Die Anknüpfungspunkte an den Forschungsstand erweitern zum einen das Feld der für die Fragestellung relevanten Gegenstände über die bereits oben

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definierten hinaus. Beinahe schon klassische Forschungsgegenstände insbeson-dere der verwaltungswissenschaftlich geprägten Exekutivforschung sind die formalen Institutionen und Regelsysteme einer Regierungsformation. Dazu ge-hören mit Blick auf die funktionale Definition der Kernexekutive Schlüsselorga-nisationen wie die Regierungszentrale. Hinzu kommen das Kabinett sowie nach-gelagerte formale Institutionen, die im unmittelbaren Zusammenhang zum Kabi-nett als formaler Koordinationsinstanz stehen. Dazu gehören beispielsweise Staatssekretärskonferenzen genauso wie die in den Geschäftsordnungen vorge-sehenen Mechanismen und Verfahren zur Ressortkoordination. Grundlage dieser formalen Regelsysteme sind Organisationserlasse und sonstige Rechtsakte mit unmittelbarem Einfluss auf die Organisationsstruktur einer Regierungsformation. Hinzu kommen die Geschäftsordnung der (Landes-)Regierung sowie die in er-gänzenden Organisationsplänen fixierten Strukturen der Ressorts und weiterer formaler Organisationseinheiten. Die Analyse dieser Gegenstände der Exekutive zeichnet jedoch bestenfalls ein halbfertiges Bild der Kernexekutive. Wie der Forschungsstand zeigt, kommen informelle Regelsysteme hinzu, die beispiels-weise durch das für Deutschland zentrale Strukturmerkmal der Koalitionsdemo-kratie geprägt sind. Die von der Koalitionsforschung identifizierten informellen Institutionensysteme müssen angesichts ihrer überragenden Bedeutung für die Koordinationsprozesse innerhalb einer koalitionären Regierungsformation not-wendigerweise ebenfalls in den Blick genommen werden. Dabei zeigen sich gravierende qualitative Unterschiede dieser informellen Institutionen. Während einige, wie beispielsweise Koalitionsausschüsse, hochgradig institutionalisiert und (teil)formalisiert sind, spielen auch deutlich weniger strukturierte Routinen, Praktiken und Konventionen eine zentrale Rolle für das Koalitionsmanagement. Diese sind weniger theoretisch zu fassen, als vielmehr im Zuge der empirischen Analyse „aufzuspüren“. Hierfür ist zudem ein adäquates methodisches Instru-mentarium notwendig, denn der informelle Charakter dieser Arrangements zieht besondere methodologische Anforderungen nach sich.

Die Konsequenzen eines Regierungswechsels für die Kernexekutive haben in der Regierungsforschung unter diesem institutionellen Blickwinkel bislang bestenfalls am Rande eine Rolle gespielt. Beachtung fanden fast ausschließlich die formalen Veränderungsprozesse der Regierungsorganisation im unmittelba-ren Umfeld der Regierungsbildung oder der Aufbau informeller Regelsysteme im Zuge von Koalitionsformierungen. Studien, die sowohl formale als auch in-formelle Regelsysteme gemeinsam in den Blick nehmen und den Blick auch längerfristig auf die Entwicklungstrends derselben richten, sind jedoch bislang Mangelware. So bietet der Forschungsstand vor allem theoretisch begründete Vermutungen, die aber empirisch nur unzureichend unterfüttert sind. Dazu ge-hört die Annahme, dass sich insbesondere informelle Regelsysteme nach einem

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 85

Regierungswechsel für die neuen Akteure als dysfunktional erweisen und daher einem besonderen Anpassungs- und Veränderungsdruck ausgesetzt sind (König 2002c: 262).

Zum anderen lassen sich neben diesen gegenstandsbezogenen Schlussfolge-rungen auch theoretische Implikationen und Folgefragen festmachen, die es im Rahmen der analytischen Rahmung dieser Arbeit konkreter aufzugreifen gilt. Von herausragender Bedeutung ist beispielsweise die Frage, ob es systematische Unterschiede in der Wandlungsfähigkeit formaler und informeller Regelsysteme gibt. Die Literatur legt die Vermutung nahe, dass informelle Institutionen leich-ter angepasst und verändert werden können als formale Regelsysteme. Zugleich ist aber auch deutlich geworden, dass die Sanktionsfähigkeit, Verbindlichkeit und Regelhaftigkeit informeller Institutionen denen formaler Regelsysteme in nichts nachstehen muss. Inwieweit das auf die Wandlungsfähigkeit derselben zurückwirkt, lohnt eine genauere theoretische Diskussion und empirische Analy-se. Interessant ist folglich auch die Frage nach den Rückwirkungen solcher An-nahmen auf das Wechselspiel von Formalität und Informalität. Dies ist insbeson-dere vor dem Hintergrund einer veränderten Akzentsetzung, weg von der Vor-stellung einer Dichotomie und hin zu einem weniger klar abgegrenzten Kontinu-um von Formalität und Informalität, relevant.

Zugleich verweist der Forschungsstand darauf, dass informelle Regelsyste-me aus dem Wechselspiel institutioneller Einflüsse, Akteurshandelns und ergän-zender situativer Faktoren entstehen. Offen bleibt jedoch, wie diese Faktoren-gruppen die nachfolgenden Prozesse der Stabilisierung und der Adaption, mithin die unterschiedlichen Formen der Persistenz von informellen Institutionen beein-flussen. Denn für die vorliegende Fragestellung ist nicht alleine die Entstehung informeller Regelsysteme, sondern auch ihre längerfristige Entwicklung interes-sant. Die im Problemaufriss skizzierte Differenzierung zwischen schnellem und rapidem Wandel auf der einen und graduellen und inkrementellen Anpassungs-prozessen auf der anderen Seite sind die entsprechenden theoretischen Begriff-lichkeiten, die es in den gegenstandsbezogenen Analyseansatz zu integrieren gilt. Zugleich wird damit auch die prinzipielle Anschlussfähigkeit an institutionen-theoretische Ansätze zumindest implizit deutlich.

Schließlich ist eine weitere Konsequenz, dass eine solche institutionentheo-retische Rahmung der Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse der Kernexekuti-ve nicht akteursblind sein darf. Schließlich handeln nicht Institutionen, sondern Akteure. Allerdings ergibt sich auch hier ein Spannungsfeld zwischen intentional herbeigeführten Veränderungsprozessen, nichtintendierten Nebenfolgen von Ak-teurshandeln sowie institutionell geprägten Einflüssen, die womöglich unabhän-gig von individuellem Akteurshandeln ihre Wirkungen entfalten. In der Konse-

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quenz ist eine theoretische Erweiterung institutionentheoretischer Ansätze durch eine explizite Akteurskonzeption hilfreich und notwendig. 2.1.3 Die akteursbezogene Dimension der Regierungsorganisation 2.1.3.1 Akteure als Urheber und Adressaten institutioneller

Transformationsprozesse Wenn also bereits die institutionelle Dimension der Regierungsorganisation nicht gänzlich ohne Akteure gedacht werden kann, welche Erkenntnisse bietet der Forschungsstand hinsichtlich derselben mit Blick auf die Transformation der Kernexekutive? Welche Rolle spielen Akteure als Urheber und Adressaten insti-tutioneller Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse im Rahmen des Forschungs-standes zur Regierungsorganisation? Welche Rolle kommt Akteuren bei der Ausgestaltung der Kernexekutive zu und inwieweit tragen Akteure zu deren Stabilisierung und Wandel intentional oder als nicht intendierte Nebenfolge ihres Handelns bei?

Einen ersten Anknüpfungspunkt stellt die strikt handlungstheoretische Per-spektive dar, die Friedbert Rüb (2009) mit seiner Konzeption von „Praktiken“ des Regierens vorschlägt. Das „Organisieren der Regierungsorganisation“ steht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses und die Ausgangsfrage lautet, wie eine heterogene Gruppe von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Normen zu einer funktionsfähigen Regierung zusammengefügt werden kann. Ausgehend von dem Befund, dass Regierungen bislang meist als einheitliche Akteure kon-zeptualisiert oder unter dem Blickwinkel ihrer Einbindung in Governance-Strukturen analysiert wurden (2009: 43), wählt Rüb einen abweichenden hand-lungstheoretischen Zugang. Wenn auch die institutionelle Dimension nicht gänz-lich ausgeblendet wird, so ist das Regieren aus dieser Perspektive zuvorderst ein ununterbrochenes Organisieren von Prozessen und das Resultat von „Praktiken, die eine Regierungsorganisation konstituieren“ (Rüb 2009: 43). Unter der Regie-rungsorganisation versteht Rüb folglich das „strukturierte, gleichwohl prozessua-le Zusammenspiel der beteiligten individuellen und kollektiven Akteure, das durch institutionelle Regulative und politische Praktiken in Gang gehalten wird“ (Rüb 2009: 46)22. Praktiken füllen dabei den Zwischenraum zwischen Institutio-nen der Kernexekutive einerseits und (individuellen) Akteuren andererseits. Sie

22 Die spezifische und dauerhafte Konfiguration solcher Praktiken wiederum führt zu ideal-

typischen „Regierungsstilen“ (hierzu Rüb 2009: 53–55 ). Diesen liegt folglich ein stark handlungstheoretischer Zugang zugrunde, der andere Ansätze der Regierungsstilanalyse ergänzt (vgl. Korte/Fröhlich 2009: 190–207; Korte 1998).

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 87

sind insofern vom Handeln politischer Akteure abhängig und durch diese verän-derbar, besitzen aber zugleich einen „transpersonalen“ Charakter, der ihnen eine gewisse institutionalisierte Stabilität und Geltungskraft verleiht (Rüb 2009: 45; vgl. Büger/Gadinger 2008: 280).

Eine solche handlungstheoretische Perspektive zieht zwei weiterführende Konsequenzen für die Konzeptualisierung von Regierungsorganisation nach sich, die vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen unmittelbar an-schlussfähig an andere Facetten des hier relevanten Forschungsstandes sind. Ers-tens geht mit einer praxistheoretischen Akzentsetzung eine Abkehr von einem statischen Verständnis der Regierungsorganisation einher, welches institutiona-listisch geprägten Analysezugängen meist zugrunde liegt. Die Regierungsorgani-sation erscheint nicht mehr ausschließlich als rahmensetzende und strukturge-bende institutionelle Dimension und mithin „unabhängige Variable“, sondern ist als „abhängige Variable“ Dynamik und Veränderbarkeit, Zerfalls- und Anpas-sungsprozessen ausgesetzt (Rüb 2009: 44). Insofern ergibt sich aus der Integrati-on akteursbezogener Aspekte in theoretischer Hinsicht eine Möglichkeit zur Abkehr von kryptodeterministischen Vorstellungen der klassischen Institutionen-theorie.

Zweitens geht mit dem Begriff der „Praktiken“ insofern eine Aufweichung der Dichotomie aus formellem und informellem Regieren einher, als dass Prakti-ken nicht alleine als Handeln zwischen (individuellen) Akteuren, sondern als organisationale Struktur verstanden werden (Rüb 2009: 49). Praktiken werden damit gewissermaßen in das Netz formaler Institutionen der Regierungsorganisa-tion eingewoben und der vermeintliche Widerspruch zwischen formalen Institu-tionen und informellem Handeln akteurszentriert aufgelöst.

Wenngleich die vorliegende Arbeit nicht vollständig der handlungs- und praxistheoretischen Perspektive Rübs folgt, so gilt es doch, diese beiden zentra-len Konsequenzen in einen gegenstandsbezogenen Analyseansatz zu integrieren und mit institutionentheoretischen Überlegungen zu verkoppeln. Die praxistheo-retischen Überlegungen können diesbezüglich in unterschiedlicher Hinsicht als Inspiration dienen: Eine erste Möglichkeit stellt ein erweitertes Verständnis des Institutionenbegriffs im Rahmen des Neoinstitutionalismus dar, der darunter nicht alleine formale Institutionen, sondern auch informelle Regelsysteme, Rou-tinen und Praktiken subsummiert. Insofern erscheint der Brückenschlag zwi-schen formalen und informellen Institutionen auch unter einer institutionentheo-retischen Perspektive grundsätzlich möglich. Eine zweite Schlussfolgerung ist, die Rolle und Bedeutung von Akteuren für die Herbeiführung institutionellen Wandels zu thematisieren. Auch hier gibt es theoretische Anschlussmöglichkei-ten jenseits einer rein handlungstheoretischen Perspektive. So identifizieren jüngere Erweiterungen der Institutionentheorie individuelle und kollektive Ak-

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teure im Sinne institutioneller „Change Agents“ (Mahoney/Thelen 2010: 28) als herausragende Treiber institutioneller Veränderungs- und Adaptionsprozesse, ohne zugleich die weiteren theoretischen Prämissen der neueren Varianten der Institutionentheorie preiszugeben (vgl. ausführlich Kapitel 3).

Empirisch findet das von Rüb betonte akteurszentrierte Verständnis der Re-gierungsorganisation seinen Niederschlag beispielsweise in der besonderen or-ganisationalen Bedeutung von Akteuren im Rahmen „strategischer Zentren“ einer Regierungsformation (vgl. u.a. Raschke 2002; Sturm/Pehle 2007; Rasch-ke/Tils 2006; Machnig 2008; Grunden 2009; Korte/Grunden 2010; Mielke 2003; Glaab 2007b). Einigkeit besteht hier insofern, als dass diese meist informellen Organisationseinheiten innerhalb einer Regierungsformation an besondere Akteurskonstellationen gebunden sind und die beteiligten Akteure bestimmte Qualitäten mitbringen müssen, um den ihnen organisational zugeschriebenen Funktionen überhaupt nachkommen zu können. Das „strategische oder politische Zentrum“ als Organisationseinheit ist mithin nicht ohne die Existenz genau die-ser jeweils daran beteiligten Akteure denkbar, vielmehr konstituieren erst die Akteure diese Institution. Wenngleich „strategische Zentren“ als Institutionen der Regierungsorganisation betrachtet werden können, sind die damit zugleich „kollektive Akteure, die Entscheidungen einer Regierung initiieren, beeinflussen oder blockieren können“ (Korte/Grunden 2010: 12; Hervorhebung des Verfas-sers).

Im umfassenderen Sinne sind Akteure damit die Treiber insbesondere in-formeller Regelsysteme einer Regierungsformation (vgl. Pannes 2011: 40). Zwar stellen die institutionellen Rahmenbedingungen mit den damit verbundenen Regelungslücken, Handlungsanreizen und (dys)funktionalen Wirkungen eine wichtige weitere Quelle für institutionelle Informalisierungsprozesse dar, aber es sind auch Akteure, die durch intentionale Institutionengestaltung die Regie-rungsorganisation verändern (Korte/Grunden 2010: 7). Dies zeigt sich mit Blick auf die Regierungszentrale als Nukleus der Kernexekutive besonders deutlich: Wie keine andere formalisierte Organisationseinheit einer Regierungsformation ist die Regierungszentrale eine auch an den jeweils spezifischen Akteurskons-tellationen ausgerichtete Koordinationseinheit (Glaab 2007b: 79). Der ver-gleichsweise starke organisationale Einfluss des jeweiligen Regierungschefs ist Ausdruck dieser Orientierung. Zugleich, und darauf weist Gerd Mielke (2011) in seiner problembezogenen Innenbetrachtung von Staatskanzleien hin, sind weitere politische und administrative Akteure die Treiber von Informalisierungspro-zessen in Regierungszentralen. Er identifiziert drei akteursbezogene Kontexte – „Büroleiter-, Beratungs- und Rivalitätskontexte“ – in Regierungszentralen, die insbesondere die Herausbildung informeller Regelsysteme bedingen, welche gewissermaßen als normaler Routinevorgang die Formalstruktur des Hauses

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 89

ergänzen (Mielke 2011: 99–103). Der „Büroleiterkontext“ stellt einen individuel-len Akteur in den Mittelpunkt, der als zentraler „Machtmakler“ (Korte 2003) des Ministerpräsidenten in einem beinahe „symbiotischen Verhältnis“ mit diesem agiert. Seine faktische Bedeutung korrespondiert meist nicht mit einer hervorge-hobenen formalen Positionierung innerhalb der Organisationsstruktur. Gleich-wohl ist er als „Interpret“ des Regierungschefs und in seiner Eigenschaft als „Gatekeeper“ eine „gewissermaßen institutionalisierte Informalisierungsinstanz“ (Mielke 2011: 101).

Hinzu kommt zweitens der beinahe qua definitionem informelle „Bera-tungskontext“ unter Beteiligung interner und externer Beratungsakteure.23 So sind diese Berater der Regierungschefs „die einzigen Akteure, die kontinuierlich und über das gesamte Kontinuum hinweg Kommunikations- und Koordinations-leistungen“ erbringen (Grunden 2009: 373). Ihnen obliegt es, unterschiedliche Interessen, Orientierungen und institutionelle Logiken innerhalb der jeweiligen Regierungsformation zu bündeln und damit über die formalen Koordinationspro-zesse der Regierungszentrale hinaus tätig zu werden. Auch von dieser Akteursgruppe geht folglich ein Trend zur Informalisierung einher, ist doch die Formalstruktur einer Regierungszentrale beispielsweise blind für die systemi-schen Anforderungen einer Handlungseinheit von Regierung und Mehrheitsfrak-tionen und die Rückbindung des Regierungshandelns an die Bedingungen der Parteiendemokratie.

„Rivalitätskontexte“ schließlich sind in einer auf die politische Spitzenebe-ne ausgerichteten Organisationseinheit wie einer Regierungszentrale eine beina-he automatische Folge ihrer normalen Funktionsausübung, indem „die Ausübung der Führungs- und Koordinationsfunktionen einer Staatskanzlei fast immer in einen differenzierten und vielschichtigen Kontext permanenter innerorganisatori-scher Rivalitäten und daraus resultierender Konflikte eingebettet ist“ (Mielke 2011: 102–103). In der Folge entwickeln sich aus den damit einhergehenden „Praktiken“ der rivalisierenden Akteure beinahe zwangsläufig informelle Regel-systeme in Form von Kommunikations- und Abstimmungsstrukturen. Der unter-schiedliche Zugang administrativer Akteure zur politischen Leitungsebene, die Verteilung neu zu bearbeitender Zuständigkeitsbereiche und die Zuteilung von Ressourcen markieren solche potentiellen Auseinandersetzungen rivalisierender Akteursgruppen.

Zusammenfassend formuliert, sind es also Akteure und ihre Praktiken und Routinen im Zusammenspiel mit den institutionellen Rahmenbedingungen, wel-che die Herausbildung informeller Regelsysteme in Regierungszentralen begrün- 23 Hiermit ist weniger die fachlich ausgerichtete Policy-Beratung, als vielmehr strategische,

kommunikative und prozessbezogene Beratungsleistungen gemeint. Zu unterschiedlichen Gruppen von Beratungsakteuren vgl. Falk et al. 2006.

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den. Die Relevanz dieser Erkenntnisse für die vorliegende Fragestellung liegt auf der Hand: Es gilt zum einen, die benannten Akteursgruppen gezielt als Gegen-stand der weiteren Analyse in den Blick zu nehmen. Zum anderen ergibt sich hieraus die weitergehende Annahme, dass diesen Akteursgruppen eine besondere Rolle bei Veränderungs- und Stabilisierungsprozessen informeller Regelsysteme und institutioneller Strukturen zukommt. Diese Akteure sind somit eine Quelle institutioneller Transformationsprozesse der Kernexekutive, die vor dem Hinter-grund der institutionellen Rahmenbedingungen zu analysieren sind.

Bislang standen Akteure vor allem als Urheber institutioneller Transforma-tionsprozesse im Mittelpunkt. Ein zweiter wichtiger Bezugspunkt für die Akteursdimension der Regierungsorganisation ist jedoch auch ihre Rolle als Adressaten von Veränderungen, insbesondere in der Folge von Regierungswech-seln. Es geht unter diesem Blickwinkel also um Fragen der Besetzung von Schlüsselpositionen, Rekrutierungsmuster politischer und administrativer Eliten und die auf Personenauswahl bestehenden Strukturen der Regierungsorganisati-on. Wichtige implizite Prämisse ist hierbei, dass es um mehr als die Auswahl von Personal geht: Personalentscheidungen innerhalb der Regierungsorganisation sind zugleich auch Organisationsentscheidungen (nachfolgend Florack/Grunden 2011b: 12–18).

Für solchermaßen ausgerichtete Studien zur Personalstruktur ist zunächst die in der Ministerialverwaltung obligatorische vertikale Ausdifferenzierung in politische Leitungs- und bürokratische Arbeitsebene relevant. Dabei dominieren Arbeiten zur Sozialstruktur sowie zu den Rekrutierungsmustern und Karrierewe-gen beider Akteursgruppen, wobei ein Schwerpunkt auf dem administrativen Personal des „Regierungsapparats“ liegt (Schnapp 2004; Derlien 2003; vgl. Luhmann/Mayntz 1973; Schwanke/Ebinger 2006). Eine wichtige Unterschei-dung ist dabei die Differenzierung zwischen „Delegationseliten“ und „Ernen-nungseliten“ (Derlien 2001: 39). Während erstere unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Repräsentativität ausgesucht werden, dominiert für letztere die fach-liche Eignung als zentrales Auswahlkriterium. „Delegationseliten“ sind folglich meist auf der politischen Leitungsebene zu finden, während „Ernennungseliten“ auf der Ebene der nachfolgenden Regierungsadministration lokalisiert sind. Eine besondere Akteursgruppe an der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung sind die „politischen Beamten“. Dabei handelt es sich um Akteure, „die ein Amt bekleiden, bei dessen Ausübung sie in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen“ (König 2002d: 125). Für diese Akteursgruppe gilt, dass Parteizugehörigkeit kei-ne unabdingbare Einstellungsvoraussetzung ist, zumindest aber die parteipoliti-sche Affinität ein wichtiges Moment für die Vertrauensbildung zwischen politi-schen und administrativen Spitzenakteur ist (König 2002c: 261).

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 91

Der Austausch politischer Beamter fällt im Regelfall mit Regierungswech-seln zusammen. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland beim personel-len Patronagepotential eine Mittelposition zwischen zwei gegensätzlichen Polen ein (Derlien 2001: 40): Während im „Westminster-System“ große personelle Kontinuität auf der Grundlage der politischen Neutralität der Beamtenschaft dominiert, bildet das amerikanische Regierungssystem mit seinem auf persönli-cher Loyalität beruhenden Auswahlsystem von „government of strangers“ (Heclo 1977, vgl. Derlien 2001: 40; Falke 2009: 319) das idealtypische Gegen-modell.

Der personelle Austausch in der Leitungsebene, wozu auch die politischen Beamten gerechnet werden können, kann sich für den deutschen Fall betrachtet bis zu einem Jahr nach einem Regierungswechsel hinziehen. Derlien (2001: 49) und König (2002e: 63–65) stellen jedoch die Faustregel auf, dass etwa 50 Pro-zent der Personalwechsel auf der politischen Leitungsebene in den ersten vier bis sechs Wochen nach Regierungsantritt stattfinden. Das jeweilige Ausmaß der Elitenzirkulation ist dabei auch abhängig von der Art des Regierungswechsels (Derlien 2001: 39). Im Falle eins „kompletten Machtwechsels“ ist mit einem größeren Personalaustausch zu rechnen als bei der Wiederwahl einer bereits im Amt befindlichen Regierung (vgl. z.B. Otremba 1999; vgl. Derlien 2001: 47). Der personalpolitischen Steuerung weitgehend entzogen ist zugleich der weit überwiegende Teil der nicht-politischen Beamtenschaft. Erst im weiteren Verlauf einer Amtszeit kann hier über Instrumente wie Umsetzungen, Versetzungen oder selektive Beförderungen eine steuernde Personalpolitik entwickelt werden (Kö-nig 2002e: 65). Implizit sind mit solchen Rekrutierungsmustern immer auch organisationale Veränderungsprozesse verbunden.

Neben den Mustern und Kennzeichen dieser Rekrutierungsprozesse (Derlien 2001: 54–55) spielt in der verwaltungs- und politikwissenschaftlichen Forschung insbesondere die Frage nach der „Politisierung“ des administrativen Regierungspersonals eine wichtige Rolle.

Folgt man Wolfgang Lorig (2001), können zwei Dimensionen von Politisie-rung unterschieden werden: Auf der einen Seite steht die ansteigende „Parteipoli-tisierung“ der öffentlichen Verwaltung (formale Politisierung). Für Deutschland ist zu konstatieren, dass sich der Anteil der Parteimitglieder in der Beamten-schaft kontinuierlich erhöht hat (Derlien 2001: 52). Allerdings zeigen aktuelle Untersuchungen zum Rollenverständnis politischer Beamter (Schwanke/Ebinger 2006: 237) im Vergleich zu früheren Studien ein überraschendes Ergebnis: Der Anteil der Spitzenbeamten, die der These der Parteipolitisierung der Beamten-schaft im Sinne eines entsprechenden Rollenbildes zustimmen, ist signifikant zurückgegangen. Eine Erklärung dieses uneinheitlichen Bildes könnte in der von Lorig (2001: 185–190) vorgeschlagenen Differenzierung von „formaler“ und

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„funktionaler Politisierung“ bestehen. Letztere meint eine gesteigerte Sensibilität für Fragen der politischen Durchsetzungsfähigkeit und die Eigenarten des politi-schen Prozesses jenseits der politischen Leitungsebene (Mayntz/Derlien 1989: 402; Ebinger/Schmitt 2010: 75). Für politische Spitzenakteure wird eine solche Form der Rollenwahrnehmung als selbstverständlich vorausgesetzt. Während sich auch politische Eliten über Sachkompetenz definieren können, gehört die Selbstwahrnehmung als „Fachleute der Macht“ (König 2001: 18) gewissermaßen zur selbstverständlichen Rollenbeschreibung. Von der Leitungsebene wird er-wartet, dass sie „Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen, die sich auf die Technizität der Regierungsgeschäfte beziehen“ (König 2001: 19; vgl. König 2002e: 55), mitbringen. Aber auch die Befunde zu den administrativen Eliten zeigen einen solchen Trend hin zur funktionalen Politisierung, wenngleich damit das grundsätzlich unterschiedliche Rollenverständnis beider Akteursgruppen nicht vollständig überbrückt wird (König 2002e: 53).

Neben der personellen Formierung des Regierungsapparats spielt hinsicht-lich der akteursbezogenen Dimension der Regierungsorganisation selbstver-ständlich auch die Regierungsmannschaft im engeren Sinne eine herausragende Rolle. Insofern rückt das Kabinett als Adressat personalpolitischer Entscheidun-gen in den Fokus (Derlien 2001: 41–46; vgl. Helms 2005e: 11). Der Forschungs-stand identifiziert unterschiedliche Einflussfaktoren, welche die Personalauswahl des Kabinetts bestimmen. Hierzu gehören einerseits strukturelle Aspekte wie die Gesamtstruktur des Ressortzuschnitts und die jeweilige Größe des Kabinetts im Vergleich. Hinzu kommen andererseits weitere Faktoren wie der jeweils partei-lich oder regional bedingte Proporz, das Geschlechterverhältnis sowie durch die Anforderungen der Koalitionsdemokratie bedingte Verteilungseffekte der Res-sorts auf die Koalitionspartner. Ein prägnantes Beispiel diverser Proporzüberle-gungen selbst in Einparteienregierungen ist die von Johannes Rau als nordrhein-westfälischem Ministerpräsidenten praktizierte Kabinettszusammenstellung (Korte et al. 2006: 131–140). Er nahm sowohl auf die parteiliche Verankerung als auch auf regionalen Proporz, die innerparteiliche programmatische Ausrich-tung und persönliche Loyalitäten besondere Rücksicht und kann damit als Mus-terbeispiel eines Ministerpräsidenten gelten, der die Anforderungen der Parteien-demokratie personalpolitisch in seinen Regierungsstil integrierte. Allgemein führt diese auch in anderen Fällen beobachtbare Praxis zu dem Eindruck, dass die Organisationsgewalt des Regierungschefs und seine formale Kompetenz der Personalauswahl dem Bereich der Verfassungsfiktion zuzuordnen ist und in der Verfassungsrealität die Handlungsspielräume eng begrenzt sind. Dabei kommen sowohl äußere strukturelle Zwänge als auch der aus funktionalen Überlegungen herrührende „vorauseilende Gehorsam“ der Ministerpräsidenten gegenüber per-

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 93

zipierten strukturellen Einschränkungen der eigenen Gestaltungsmacht zusam-men.

Mit den Ministerpräsidenten rückt schließlich eine Akteursgruppe der Lan-despolitik in den Fokus, deren politische Bedeutung auf der einen und politik-wissenschaftliche Erforschung auf der anderen Seite in einem starken Kontrast stehen. Trotz der herausgehobenen Stellung der Ministerpräsidenten auf Landes-ebene, „hat die politikwissenschaftliche Forschung lange Zeit gewissermaßen einen großen Bogen um sie gemacht“ (Mielke 2010: 298). So finden sich unter den wenigen Publikationen zu diesem Amt einerseits vor allem biographisch Zugänge, welche die Amtsführung einzelner Ministerpräsidenten in den Mittel-punkt rücken, ohne dabei jedoch Anknüpfungspunkte zu weitergehenden poli-tikwissenschaftlichen Fragen herzustellen (Gösmann 2008). Andererseits spielen weniger auf das Amt in seiner Gesamtheit zielende Arbeiten zu spezifischen Teilfragen eine Rolle. Dazu gehört insbesondere die Diskussion über die mögli-chen Auswirkungen einer Direktwahl der Ministerpräsidenten (Backmann 2006; Decker 2001), die formalen Kompetenzen der Amtsinhaber (Schümer 2006; Butzer 1996) und die Verfahren zur Wahl im Ländervergleich (Ley 2010). Die erste politikwissenschaftliche Gesamtschau zu den deutschen Ministerpräsiden-ten legte Herbert Schneider (2001) vor, indem er das „Profil“ dieses Amtes in den größeren Zusammenhang der föderalen Ordnung einbettete. Neben einer Darstellung der formalen und politischen Stellung spielen hier die Herkunft und Rekrutierungsmuster der Amtsinhaber, das jeweilige Selbstverständnis und die Stellung der Ministerpräsidenten im Mehrebenensystem eine Rolle. Von Bedeu-tung für die vorliegende Arbeit ist die Integration der Staatskanzleien in die Be-trachtung Schneiders, stellen diese doch die zentrale organisatorische Unterstüt-zungseinheit für die Ministerpräsidenten dar. Zudem identifiziert Schneider un-terschiedliche Führungsstilvarianten. Er eröffnet damit den Blick für die Mög-lichkeiten zur Ausgestaltung dieses Amtes in einem integrierenden, präsidialen oder aktiv gestaltenden Sinne. Zumindest am Rande wird dabei auch deutlich, dass unterschiedliche Ausprägungen der Kernexekutive und Führungsstile in einem unmittelbaren Verhältnis stehen.

Die von Schneider zusammengefassten Befunde lassen sich in analytischer Hinsicht zum Strukturmerkmal der „Ministerpräsidentendemokratie“ auf Lan-desebene verdichten (nachfolgend Korte et al. 2006: 87-91; 116; Grunden 2009: 79–83; Mielke 2010). Dieser Begriff ruft bewusst Assoziationen mit dem bun-despolitischen Strukturmerkmal der „Kanzlerdemokratie“ hervor (Niclauß 2004; Korte/Fröhlich 2009: 81–93). Kennzeichnend für die „Ministerpräsidentendemo-kratie“ ist die in der Richtlinienkompetenz angelegte Dominanz dieses Akteurs auf Landesebene, welche durch die grundsätzliche Exekutivlastigkeit der Poli-tikherstellung in den Ländern noch einmal verstärkt wird. Hinzu kommen das

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öffentliche Prestige und die Konzentration der medialen Berichterstattung auf das Amt des Ministerpräsidenten (hierzu auch Mielke 2003: 126). Noch stärker als auf Bundesebene wird der Ministerpräsident damit zum akteursbezogenen Dreh- und Angelpunkt der Kernexekutive auf Landesebene. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kommt Timo Grunden (2009: 395–396) zu dem Ergebnis, dass die Beraterzirkel rund um die Ministerpräsidenten der „Informationskno-tenpunkt einer Regierungsformation“ sind, deren Bedeutung deutlich über die Staatskanzlei hinausreicht. Der „Kern der Kernexekutive“ findet gewissermaßen eine weitere institutionelle Zuspitzung in diesen rund um die Ministerpräsidenten angesiedelten informellen Institutionen der Regierungsorganisation. 2.1.3.2 Zwischenfazit Welche Erkenntnisse lassen sich vor dem Hintergrund dieser Diskussion nun hinsichtlich der akteursbezogenen Dimension der Regierungsorganisation ablei-ten?

Zum ersten können mit für die Regierungsorganisation relevanten Akteuren erneut weitere Untersuchungsgegenstände für die nachfolgende empirische Ana-lyse identifiziert werden. Aus der funktionalen Definition der Regierungsorgani-sation als Institutionensystem der Kernexekutive ergibt sich, dass die institutio-nell angelegten Koordinationsleistungen durch entsprechendes Akteurshandeln ergänzt werden müssen, um diesen Funktionen tatsächlich wirksam nachzu-kommen. Dies zeigt sich beispielhaft bei „strategischen Zentren“ einer Regie-rungsformation, die im erweiterten Sinne dem von Mielke benannten „Bera-tungskontext“ zugerechnet werden können. Die akteursbezogene Problematisie-rung hat gezeigt, dass diese Institution einer Regierungsformation nicht losgelöst von den sie konstituierenden Akteuren betrachtet werden kann. Erst die spezifi-sche Akteurskonstellation macht diesen informellen Kern der Kernexekutive zu einer wirksamen Institution, mit der zentrale Koordinations-, Informations- und Steuerungsaufgaben tatsächlich wahrgenommen werden können. Zugleich ver-festigen sich die darin angelegten Praktiken, Routinen und Prozeduren wiederum zu einer eigenständigen institutionellen Struktur, die dann gewissermaßen über die am strategischen Zentrum unmittelbar beteiligten Akteure hinausreicht. In-formelle Institution und Akteure konstituieren sich damit wechselseitig.

Zweitens zeigt sich, dass Akteure als Adressaten von Personalpolitik nach Wahlen auch in institutioneller und organisatorischer Hinsicht Bedeutung haben. Die Regierungsorganisation ist insofern besonders „akteurssensitiv“, als dass die Institutionen der Regierungsorganisation nicht losgelöst von der personellen Besetzung bestimmter Schlüsselpositionen betrachtet werden können. Dies zeigt

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2.1 Forschungsstand und empirische Zielsetzung 95

sich nicht alleine mit Blick auf informelle Regelsysteme, sondern auch ange-sichts der personellen Faktoren, welche die Besetzung formaler Schlüsselpositi-onen in Kabinett und Regierungsapparat beeinflussen. Die Wahrnehmung insti-tutionell angelegter Aufgaben und Funktionen ist auch hier an entsprechendes Akteurshandeln gebunden. Insofern lassen sich aus der personellen Besetzung von Schlüsselinstitutionen wiederum Rückschlüsse hinsichtlich der institutionel-len Dimension der Regierungsorganisation ziehen.

Drittens deutet das Strukturmerkmal der „Ministerpräsidentendemokratie“ auf eine systemisch angelegte herausgehobene Akteursdimension der Landespo-litik hin. Es ist davon auszugehen, dass die Konzentration auf den Ministerpräsi-denten in Verbindung mit einer besonderen Exekutivlastigkeit der Landespolitik Rückwirkungen auf die Regierungsorganisation insgesamt hat, die sich auch in ihrer institutionellen Konfiguration zeigt. Zudem ergibt sich daraus für die weite-re Vorgehensweise ein erster Zugangspunkt für die empirische Analyse: die Regierungszentrale als Hilfsinstitution des Ministerpräsidenten stellt einen ge-eigneten Ausgangspunkt dar, von dem aus dann im nächsten Schritt weitere institutionelle Regelsysteme der Regierungsformation erschlossen werden kön-nen.

Viertens schließlich ergeben sich theoretische Folgerungen, die es bei der Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyserahmens aufzugreifen gilt. Zum einen bietet die stärkere Integration akteursbezogener Kategorien eine Möglichkeit, die meist auf Statik und Stabilität institutioneller Regelsysteme angelegten Erklärungen der modernen Institutionentheorie zu erweitern und damit auch institutionelle Wandlungsprozesse analytisch besser greifbar zu ma-chen. Wie die bisherige Diskussion verdeutlicht, sind es Akteure, die informelle Regelsystem etablieren, anpassen und verändern. Auch wenn man Rübs hand-lungstheoretischer Zugangsweise in ihrer Zuspitzung nicht folgen mag, so eröff-nen doch die damit verbundenen Überlegungen einen Weg, institutionentheo-retische Annahmen durch eine explizite Akteurskonzeption zu ergänzen, um damit auch Wandlungs-, Adaptions- und Anpassungsprozesse besser erfassbar zu machen, als das bisher aus theoretischer Perspektive heraus möglich ist. Wie die bisherigen Ausführungen zeigen konnten, fungieren Akteure als „Change Agents“ bei der Herausbildung informeller Regelsysteme. Diese wiederum er-gänzen, erweitern und verändern das Netz formaler Regelsysteme der Regie-rungsorganisation. Insofern bietet eine stärkere Akteurskonzeption auch eine Möglichkeit, die nur begrenzt aussagekräftige Dichotomie von Formalität und Informalität zugunsten einer fluideren Konzeption aufzulösen. Zugleich gilt es jedoch, auch die institutionellen Beharrungskräfte analytisch zu berücksichtigen. Denn Institutionen prägen auch Akteurshandeln, begrenzen Handlungsoptionen und legen wiederum bestimmte Handlungs- und Entwicklungspfade nahe.

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2.2 Theoretische Zielsetzung: Gegenstandsbezogene Theoriebildung In die bisherige Darstellung des Forschungsstandes sind immer wieder auch theoretische Überlegungen eingeflossen. Denn neben der Identifikation der für diese Arbeit relevanten Untersuchungsgegenstände und empirischen Erkenntnis-se bietet der Forschungsstand auch zahlreiche Anknüpfungspunkte für die theo-retische Rahmung der weiteren Analyse. Mit Blick auf die darauf aufbauenden theoretischen Überlegungen erfolgte die Darstellung des Forschungsstandes bereits problem- und gegenstandsorientiert entlang der drei Dimensionen „Zeit“, „Institutionen“ und „Akteure“. Diese sind sowohl theoretisch als auch empirisch bedeutsame Kategorien: Sie problematisieren (a) den Einfluss zeitlicher Abläufe und längerfristiger Entwicklungsprozesse, (b) das formale und informelle Institutionengeflecht der Regierungsorganisation im Sinne institutioneller Regel-systeme und die Anwendung der institutionellen Regeln und (c) sie rücken Ak-teure, ihr intentionales Handeln und nichtintendierte Nebenfolgen im Rahmen dieses Institutionensystems in den Fokus. Trotz dieser vorhandenen Bezüge bleibt jedoch ein Desiderat: Es existiert kein auf den hier umrissenen Gegenstand der Regierungsorganisation bezogener Analyseansatz, der die Stabilisierungs- und Veränderungsprozesse der Institutionen der Regierungsorganisation im Zu-ges eines Regierungswechsels analytisch greifbar macht und theoretische Erklä-rungen für die beobachtbaren Prozesse anbietet. Mit einem gegenstandsbezoge-nen Analyseansatz ist keine ausformulierte Theorie im Sinne eines Modells ge-meint, sondern eher eine Forschungsheuristik, welche die Aufmerksamkeit ge-zielt auf bestimmte Aspekte des Untersuchungsgegenstandes lenkt und andere vernachlässigt. Mit der hier verfolgten Zielsetzung, einen solchen gegen-standsbezogenen Ansatz zu entwickeln, wird in analytischer Hinsicht eine dop-pelte Stoßrichtung deutlich: Es geht zum einen um eine theoretisch unterfütterte Rekonstruktion des zu untersuchenden Falles der nordrhein-westfälischen Regie-rungsorganisation im Zuge des Regierungswechsels 2005. Zum anderen zielt ein solcher Ansatz auf die Identifikation kausaler Mechanismen, die wiederum über den engeren Untersuchungsgegenstand im Sinne theoretischer Verallgemeine-rung hinaus Geltung entfalten können.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung des Forschungsstandes und in Verbindung mit weiteren theoretischen Überlegungen speist sich der in Kapitel 3 entwickelte Analyseansatz aus folgenden fünf Quellen:

Erstens greift er temporale Aspekte sowohl als empirische Kategorie als auch in ihrer theoretischen Ausprägung in Form von Pfadabhängigkeiten und sequentiellen Abfolgen auf und integriert damit den Faktor „Zeit“ als theoreti-sche Kategorie. Diese aus einer variablenzentrierten Forschungsperspektiven heraus meist vernachlässigte Dimension ist relevant, da die Transformationspro-

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2.2 Theoretische Zielsetzung 97

zesse der Kernexekutive in einem zeitlichen Zusammenhang stehen, der unmit-telbare Wirkung für den Verlauf dieser Transformationsprozesse entfaltet.

Zweitens eignet sich die historische Variante des Neoinstitutionalismus in besonderer Weise als Ausgangspunkt für die weitere Theoriebildung, greift diese doch die Prozesshaftigkeit, zeitliche Kontextgebundenheit und Pfadabhängigkei-ten institutioneller Entwicklungsprozesse unmittelbar auf. Zudem versteht der Historische Institutionalismus Institutionen sowohl als formale als auch als in-formelle Regelsysteme und legt damit einen erweiterten Institutionenbegriff zugrunde.

Drittens erfährt der Institutionenbegriff ergänzende theoretische Erweite-rungen, die über den Historischen Institutionalismus hinausreichen. Im An-schluss an die akteurszentrierte Variante des Neoinstitutionalismus werden Insti-tutionen als zugleich begrenzende und ermöglichende Strukturen begriffen, die einerseits Akteure und ihre Interaktion prägen, zum anderen aber von diesen auch absichtsvoll verändert werden können. Institutionen werden damit glei-chermaßen zur unabhängigen und abhängigen Variable. Eine zweite Anpassung des Institutionenbegriffs geht über das erweiterte Verständnis als formale und informelle Regelsysteme hinaus und ergänzt die Unterscheidung institutioneller Regeln einerseits und der konkreten Regelanwendung durch Akteure anderer-seits. Diese Modifikation ist ebenfalls an die stärkere theoretische Integration von Akteuren in das Grundgerüst des Historischen Institutionalismus gebunden. Drittens schließlich gilt es, die grundsätzliche Umstrittenheit politischer Institu-tionensysteme stärker in den Blick zu nehmen. Akteure rivalisieren im Rahmen institutioneller Arrangements und versuchen zugleich, diese entlang ihrer Vor-stellungen und Interessen zu verändern.

Vierter Bezugspunkt des Analyserahmens ist die Aufnahme einer expliziten Akteurskonzeption, mit deren Hilfe der implizite Kryptodeterminismus und die Stabilitätsfixierung mancher institutionentheoretischer Ansätze aufgebrochen werden. Es sind Akteure, die Dynamik in institutionelle Regelsysteme bringen, indem sie im Spannungsverhältnis von formalen und informellen Institutionen einerseits und institutionellen Regeln und ihrer Anwendung andererseits anset-zen. Akteure werden folglich, intentional oder auch als Nebenfolge ihres Agie-rens, zu Katalysatoren institutioneller Dynamiken. In ihrer Eigenschaft als Agen-ten institutionellen Wandels rücken sowohl individuelle als auch von diesen vertretene korporative Akteure ins Blickfeld. Im Zusammenspiel mit den institu-tionellen Regelsystemen sind sie es, die institutionelle Veränderungen anstoßen oder aber Stabilisierungs- und Institutionalisierungsprozesse in Gang bringen.

Fünftens schließlich ergeben sich aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren unterschiedliche Modi institutionellen Wandels und institutioneller Stabilisie-rung. Diese Transformationsprozesse legen nahe, nicht länger von der Vorstel-

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lung gegensätzliche Pole von Stabilität und Wandel auszugehen. Vielmehr ergibt sich daraus ein Kontinuum aus Stabilisierung und Veränderung, auf welchen die Modi jeweils unterschiedliche Ausprägungen der institutionellen Transformation beschreiben. Zugleich löst sich diese Vorstellung auch von einer statischen Ge-genüberstellung formaler und informeller Regelsysteme und eröffnet den Blick für wechselseitige Interaktionsprozesse, die wiederum auf die Modi institutionel-len Wandels und institutioneller Stabilisierung zurückwirken (vgl. Kapitel 3). 2.3 Methodologische Zielsetzung: Theoriebildung durch induktive

Fallanalyse und methodische Erweiterung des Repertoires der Regierungsforschung

Jenseits der gegenstandsbezogenen Theoriebildung verfolgt die vorliegende Ar-beit auch eine methodologische Zielsetzung. Diese ist in systematischer Hinsicht nachranging in dem Sinne, dass sie sich in weiten Teilen aus den theoretischen Vorüberlegungen und den daraus angeleiteten Konsequenzen ergibt. Sie hat aber zugleich eine darüber hinausgehende Stoßrichtung, indem jenseits der entspre-chenden Ausrichtung des Forschungsdesigns methodische Anstöße für die Re-gierungsforschung intendiert sind, um das methodische Arsenal dieses For-schungszweiges sinnvoll zu erweitern.

Erstens gilt es, das Forschungsdesign auf das primäre Ziel der Theorieent-wicklung auszurichten. Oder anders formuliert: Es muss herausgearbeitet wer-den, wie mit Hilfe der vorliegenden Einzelfallstudie das Ziel einer über den Untersuchungsgegenstand im engeren Sinne hinausreichende Theoriebildung möglich ist. Hierbei lassen sich vier zentrale Herausforderungen identifizieren:

Erstens gilt es, trotz der bewussten Einbeziehung von temporalen Kontext-faktoren und Abläufen im Rahmen der vorliegenden Fallstudie den politikwis-senschaftlichen Erkenntnisgewinn einer „historischen“ Fallstudie zu begründen, die auf mehr als die idiographische Beschreibung des Einzelfalls gerichtet ist. Zweite Herausforderung ist es, den Nutzen eines induktiven Forschungsdesigns für den theoriebildenden Charakter der Arbeit herauszuarbeiten. Damit verbindet sich konkret die Vorstellung eines konstruktiven Wechselspiels zwischen theore-tischen Annahmen und empirischer Analyse und weniger eine strikte Trennung dieser beiden Arbeitsschritte. Drittens stellen sich die Fragen nach der Zahl der zu untersuchenden Fälle sowie geeigneten Kriterien zur Auswahl derselben. Die hier vorgenommene Fallauswahl ist folglich unter dem Gesichtspunkt der theore-tischen Zielsetzung zu begründen. Der vierte Aspekt schließlich leitet über zu der Diskussion, welche weitergehenden methodischen Konsequenzen aus diesen Überlegungen ableitbar sind. Das hier gewählte Forschungsdesign beantwortet

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2.3 Methodologische Zielsetzung 99

diese Fragen auf folgende Art und Weise: Der besondere Erkenntnisgewinn von qualitativen Fallstudien für die Theoriebildung wird herausgearbeitet. Zentrales Argument hierbei ist, dass weniger die Ausweitung zu untersuchender Fallzahlen im Sinne einer quantitativen Generalisierung, sondern vielmehr die Auswahl besonders geeigneter „kritischer Fälle“ und daraus abgeleitete theoretische Gene-ralisierungen einen vielversprechenden Weg zur Theoriebildung vorzeichnen. Hinzu kommt der spezifische Nutzen kausaler Mechanismen zur Erfassung kau-saler Komplexität. Zugleich begrenzt diese methodologische Schlüsselentschei-dung die Reichweite theoretischer Erklärungen auf Theorieansätze mittlerer Reichweite und die Entwicklung typologischer Theorien. Schließlich eignet sich die Prozessanalyse als makromethodischer Zugang in besonderer Weise zur Entwicklung gegenstandsbezogener Ansätze entlang qualitativer Fallanalysen.

Als zweite Herausforderung dieses übergreifenden methodologischen The-menkomplexes kristallisieren sich die konkreten methodischen Konsequenzen aus Forschungsdesign und theoretischer Anlage der Arbeit heraus. Vor dem Hintergrund der theoretischen Vorüberlegungen muss eine geeignete Methode zur empirischen Analyse des Untersuchungsgegenstandes folgende zentralen Kriterien erfüllen: Zum einen müssen zeitliche Abläufe und längerfristige Ent-wicklungsprozesse methodisch erfassbar sein. Die Transformationsprozesse der Regierungsorganisation zeigen sich in der zeitlichen Entwicklung und mit unter-schiedlichen zeitlichen Dynamiken. Die andere Herausforderung besteht darin, informelle Institutionen und damit auch informelle Praktiken, Routinen und Verfahren gezielt in den Fokus zu nehmen. Dazu gehört auch die Anforderung, nicht nur vorhandene institutionelle Regeln zu identifizieren, sondern die Prakti-ken der Regelanwendung in der Analyse ebenso zu berücksichtigen. Dabei han-delt es sich keinesfalls um eine triviale Problematik, ist doch für die Politikwis-senschaft „Informalität prinzipiell immer nur unvollständig zu erfassen, aber in der politisch-sozialen Realität ist sie gleichwohl immer wirksam" (Mielke 2011: 95).

Diesen Anforderungen, so die hier vertretene These, entspricht der mikro-methodische Zugang der teilnehmenden Beobachtung in besonderer Weise. Die-se Methode setzt auf einen fortwährenden reziproken Prozess von empirischer Analyse auf der einen und Theorieentwicklung auf der anderen Seite. Es handelt sich zudem um eine kontextsensitive Methode, die zeitlichen Abläufen und Pro-zessen ebenso breiten Raum einräumt wie den informellen Praktiken, Routinen und Regelanwendungen von Akteuren. Zudem ist sie nicht nur anschlussfähig, sondern prinzipiell auf eine Erweiterung durch ergänzende methodische Zugänge angelegt. Insofern ist über die konkrete Anwendung hinausreichende Zielsetzung

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dieser Arbeit, das Repertoire der Regierungsforschung durch diese in der Poli-tikwissenschaft bislang eher zurückhaltend angewandte Methode zu erweitern. Sie kann einen innovativen Beitrag leisten, um insbesondere die „Schattenseiten“ des informellen Regierens stärker auszuleuchten (vgl. Kapitel 4).

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3 Institutionen der Regierungsorganisation zwischen Stabilisierung und Wandel: Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

Ziel dieses Kapitels ist die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analysean-satzes zur Erfassung institutioneller Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse der Kernexekutive. Dieser soll zum einen die in den nachfolgenden Abschnitten des theoretischen Rahmens dargestellten theoretischen Vorannahmen vereinen und gegenstandsbezogen anpassen und erweitern. Zum anderen erfolgt bereits im Rahmen dieser theoretischen Konzeptualisierung eine erste, implizite Konfronta-tion mit dem empirischen Material. Die Arbeit folgt damit grundsätzlich einer induktiven Herangehensweise, die den theoretisch entwickelten Analyserahmen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem empirischen Material sieht. Es besteht insofern ein konstruktives Spannungsverhältnis zwischen theoretischen Annah-men einerseits und empirischer Analyse andererseits, als dass zwar von theoreti-schen Prämissen ausgegangen wird, diese aber erst durch die Konfrontation mit dem konkreten Analysegegenstand weiterentwickelt und präzisiert werden. In die Formulierung des Analyserahmens sind folglich bereits Aspekte der empiri-schen Untersuchung (Kapitel 5) eingeflossen. Diese Bezüge werden nicht immer explizit deutlich gemacht, sondern erschließen sich häufig erst im Zuge der em-pirischen Analyse. Wann immer beispielhaft Verbindungen zwischen theoreti-schen und empirischen Überlegungen aufgezeigt werden können, geschieht das bereits in den nachfolgenden Ausführungen. Gleiches gilt für die empirische Darstellung, die immer wieder explizite Bezüge zur theoretischen Grundierung herstellt. Das mit dieser reziproken Herangehensweise verbundene Ziel der The-oriebildung und -entwicklung gilt es, in den Kapiteln über die Konstruktion des Forschungsdesigns und über die methodische Herangehensweise näher auszufüh-ren und zu begründen (vgl. Kapitel 4).

Zunächst ist es jedoch erforderlich, das hier zugrundeliegende Verständnis des theoretischen Rahmens als „Analyseansatz“ zu erläutern. Die gewählte Herangehensweise und begriffliche Eingrenzung stützt sich auf die von Fritz Scharpf vorgeschlagene Differenzierung zwischen Theorie und Ansatz. Während aus dieser Perspektive eine Theorie empirisch erhobene Daten weitgehend durch theoretische Annahmen zu ersetzen sucht, strukturiert ein Ansatz vor allem die

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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Suche nach möglichen Erklärungen (Scharpf 2000: 75). Ein Ansatz stellt inso-fern kein ausformuliertes Theoriegebilde dar, sondern ähnelt stärker einer die empirische Arbeit anleitenden Forschungsheuristik, die die Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Aspekte des zu untersuchenden Gegenstandes lenkt (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 39):

„Im Vergleich zu einer ausformulierten Theorie hat ein Ansatz weniger Informati-onsgehalt in dem Sinne, dass weniger Fragen schon vorab entschieden werden und mehr Fragen empirisch beantwortet werden müssen. (...) Darüber hinaus sollte uns ein Ansatz ein Ordnungssystem an die Hand geben, mit dessen Hilfe wir die Viel-zahl von Partialtheorien oder begrenzteren ‚Kausalmechanismen' ordnen können, auf die wir uns bei der theoretisch angeleiteten Rekonstruktion unserer einzigartigen Fälle stützen“ (Scharpf 2000: 64–65).

Dieser betonte Gegenstandsbezug eines Ansatzes macht deutlich, dass es sowohl um eine theoretische Anleitung zur Rekonstruktion des zu erklärenden Gegen-standes als auch um die empirische Anreicherung des analytischen Rahmens geht. Folglich sind Theorieentwicklung und empirische Analyse nicht strikt von-einander getrennt, sondern unmittelbar aufeinander bezogen. Das hat für die vorliegende Arbeit und ihren theoretischen Rahmen zwei zentrale Implikationen:

Erstens fließen während der empirischen Analyse entwickelte Überlegun-gen hinsichtlich der für die Transformation der Kernexekutive relevanten Ein-flussfaktoren neben theoretischen Überlegungen bereits in die Konstruktion des Analyserahmens ein. Der Grund für diese Vorgehensweise liegt im Forschungs-stand begründet. So gibt es hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes bislang keinen theoretisch fundierten Analyseansatz zur Erfassung des in der Fragestel-lung formulierten Erkenntnisinteresses. Es stehen bislang lediglich Partialtheo-rien und analytische Anknüpfungspunkte zur Verfügung. Hier sind insbesondere die folgenden Aspekte zu nennen:

Zum einen die Kontextgebundenheit und die temporale Dimension des Wandels von Regierungsorganisation. Regierungswechsel und die in ihrer Folge auftretenden Wandlungsprozesse der Regierungsorganisation sind eingebettet in einen historischen Kontext und Zeitabläufe spielen somit eine herausragende Rolle. Im Zuge der empirischen Analyse werden solche zeitlichen Bezüge wie-derholt als herausragende Einflussfaktoren identifiziert. Aus theoretischer Sicht wiederum sind die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten ebenso zu nennen wie längerfristige Wandlungsprozesse und die sequentielle Abfolge politischer Ent-wicklungen. Diese besondere Bedeutung temporaler Faktoren, die sich sowohl aus empirischer Analyse als auch theoretischen Annahmen speist, hat grundsätz-lichen Einfluss auf die Formulierung des Analyserahmens (vgl. vor allem

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Pierson 2004).24 Insofern bilden Sie den fundamentalen Ausgangspunkt des theoretischen Rahmens (Kapitel 2.1), wenngleich sich hieraus noch keine klare theoretische Fundierung ergibt.

Hinzu kommt das Spannungsverhältnis von institutioneller Stabilisierung und institutionellem Wandel. Dieses wird in theoretischer Weise vor allem von Ansätzen erfasst, die dem Historischen Institutionalismus zuzuordnen sind. Zum einen bietet der Historische Institutionalismus mit seinem Institutionenbegriff, der sowohl formale als auch informelle Institutionen, Regeln und Praktiken ein-schließt, eine Möglichkeit, den Gegenstand der Regierungsorganisation institu-tionentheoretisch zu konzeptualisieren und somit an politikwissenschaftliche Theoriebildung anschlussfähig zu machen. Zum anderen greift dieser Strang ins-titutionalistischer Theoriebildung explizit die zuvor identifizierten Faktoren his-torischer Kontextgebundenheit, längerfristiger Entwicklungen und Prozesse der Pfadabhängigkeit auf (vgl. u.a. Thelen/Steinmo 1992; Hall/Taylor 1996: 5–10; Thelen 1999; Thelen 2004; Czada/Schimank 2001; Mahoney 2000). Neben der Ausrichtung des Analyseansatzes auf den zu untersuchenden Gegenstand wird damit eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit an neoinstitutionalistische Theo-riebildung möglich.

Allerdings betont der Historische Institutionalismus vor allem die Stabilität von Institutionen, während institutionelle Wandlungsprozesse weitgehend unter-konzeptualisiert bleiben. Institutionen erscheinen aus diesem Blickwinkel vor allem als handlungsleitende Rahmenbedingungen und Akteurserwartungen, -verhalten, -interaktionen und -präferenzen stabilisierende Faktoren (Thelen 2000; Thelen 2003; Thelen 2004; Streeck/Thelen 2005a; Mahoney/Thelen 2010). Zwar spielt die Stabilität von Regierungsorganisation mit Blick auf den untersuchten Gegenstand eine herausragende Rolle. Allerdings liegt der Fokus in zumindest gleicher Intensität auf institutionellen Wandlungsprozessen. In dieser Hinsicht bietet der Historische Institutionalismus nur unzureichende theoretische Anknüp-fungspunkte. Einen Ausweg skizzieren theoretische Erweiterungen, die das Spannungsverhältnis zwischen Institutionen und Akteuren in den Fokus rücken. Im Mittelpunkt steht hier der ergänzende Rückgriff auf akteurzentrierte Varian-ten des Neoinstitutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000; Schimank 2004). Dieser vor allem von Renate Mayntz und Fritz Scharpf vertretene Ansatz betont zum einen sowohl die beschränkende als auch die ermöglichende Wir-kung von Institutionen. Zum anderen rückt er intentional handelnde Akteure ins Blickfeld, die institutionell geprägte Handlungskorridore ausfüllen. Institutionen werden damit zugleich als abhängige und unabhängige Variablen konzeptuali-siert, deren konkrete Wirkung sich im Zusammenspiel mit Akteuren entfalten 24 Zugleich hat diese Prämisse unmittelbare Auswirkungen auf Forschungsdesign und methodi-

sche Herangehensweise. Hierzu ausführlicher mit entsprechenden Bezügen Kapitel 4.

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und die zugleich durch diese veränderbar sind. Durch diese theoretische Erweite-rung werden für die gegenstandsbezogene Analyse dieser Arbeit sowohl (nicht-intendierte) Institutionenentwicklung als auch (intentionales) Institutionendesign gleichermaßen theoretisch erfassbar und damit eine Basis geschaffen, um neben institutioneller Stabilität auch institutionellen Wandel zu konzeptualisieren. Da-mit werden zudem die Grenzen zwischen den drei Neoinstitutionalismen aufge-weicht und der Analyseansatz zu einem institutionalistischen „border crosser“ (Thelen 1999: 369–370) (Kapitel 2.3).

Diese Vorüberlegungen gilt es dann, abschließend in einen zusammenhän-genden und die empirische Darstellung strukturierenden Analyseansatz zu über-führen. Dieser gegenstandsbezogene Ansatz rückt die Wandlungs- und Stabili-sierungsprozesse von Institutionen der Kernexekutive als zu erklärende Phäno-mene in den Mittelpunkt. Auf der Grundlage der vorhergehenden Überlegungen integriert er die Bedeutung des zeitgeschichtlichen/temporalen und des instituti-onellen Kontextes, das Wechselspiel von Institutionen und Akteuren sowie das Spannungsverhältnis institutioneller Stabilität und institutionellen Wandels zwi-schen Institutionenentwicklung und Institutionendesign als konstitutive Faktoren zu einem zusammenhängenden Analyserahmen (vgl. Mahoney/Thelen 2010; Streeck/Thelen 2005a; Streeck/Thelen 2005b). Darüber hinaus lassen sich aus diesen theoretischen Überlegungen sowie ersten empirischen Befunden unter-schiedliche Modi institutioneller Transformation identifizieren, die dann die empirische Analyse und ihre Darstellung anleiten.

Die zweite zentrale Implikation der induktiven Entwicklung eines gegen-standsbezogenen Ansatzes ist, dass sich der in diesem Kapitel zu entwickelnde Analyserahmen und die empirische Analyse des Wandels von Regierungsorgani-sation am untersuchten Fallbeispiel nicht klar voneinander abgrenzen lassen. Vielmehr sind beide aufeinander bezogen, was im weiterführenden Ziel dieser Arbeit begründet liegt: Ziel ist nicht alleine eine im engeren Sinne gegen-standsbezogene Rekonstruktion von Modi institutionellen Transformation ent-lang des ausgewählten Einzelfalls. Es geht vielmehr darum, dahinterliegende „begrenztere Kausalmechanismen“ (Scharpf 2000: 64–65) aufzuspüren und diese zu weiterführenden Hypothesen zu verdichten. Ziel ist es folglich nicht alleine, das Wie und Ob des Wandels und der Stabilität von Regierungsorganisation entlang des Einzelfalls zu ergründen. Vielmehr steht im Hintergrund die Frage nach dem Warum bestimmter institutioneller Transformationsprozesse. Die ex-plizite Annahme der vorliegenden Arbeit ist, dass sich solche Kausalmechanis-men einerseits für den konkreten Einzelfall identifizieren lassen. Insofern ist die Rekonstruktion dieser Transformationsmodi am konkreten Fallbeispiel immer mit der Suche nach dahinterliegenden Kausalmechanismen verbunden. Folglich geht es im empirischen Teil der Arbeit einerseits um die Beschreibung entspre-

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chender Transformationsprozesse und andererseits um die Suche nach Erklärun-gen für diese Prozesse. Darüber hinaus, so die ergänzende Annahme, lassen sich hieraus gegebenenfalls weiterreichende, wenn auch begrenzte Kausalmechanis-men ableiten, die über den analysierten Einzelfall hinausweisen. Zwar kann auf-grund des Einzelfalldesigns der vorliegenden Arbeit nicht von einer quantitativen Generalisierung solcher Mechanismen der Rede sein. Es erscheint jedoch mög-lich, im Zuge einer theoretischen Generalisierung (vgl. Flick 2007a: 257–263; Bennett/George 2001: 138–143) Hypothesen über zugrundeliegende kausale Mechanismen zu entwickeln (hierzu ausführlicher Kapitel 4). 3.1 Institutionen der Regierungsorganisation im Zeitverlauf:

Zeit als Kategorie zur Erklärung von Stabilität und Wandel von Regierungsorganisation

„In reducing a moving picture to a snapshot, we run the risk of missing crucial aspects of the processes through which (…) institutions take shape, as well as the ways in which they either endure or change in social environments that are them-selves constantly changing" (Pierson 2004: 104; vgl. Thelen 2000: 101). Mit dieser Einschätzung liefert Pierson ein zentrales theoretisches Argument, warum in einem auf den Wandel von Regierungsorganisation bezogenen Analyseansatz dem zeitlichen Kontext besondere Bedeutung beigemessen werden sollte: „Placing politics in time can greatly enrich our understanding of complex social dynamics" (Pierson 2004: 2). Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang aus theoretischer Perspektive zentral: historische Pfadabhängigkeiten, längerfristige zeitliche Abläufe und das Spannungsverhältnis zwischen Institutionenentwick-lung und Institutionendesign.

Dies schließt zugleich an die einleitend skizzierten Narrative an. Während aus theoretischer Perspektive das Veränderungsnarrativ auf einen radikalen und zeitlich eingegrenzten transformativen Umbruch im Sinne einer „critical juncture“ abzielt (vgl. u.a. Pierson 2000b: 75–76; Thelen 2004: 240; Schimank 2007a: 169–170; Thelen 1999: 387–388), geht das Stabilitätsnarrativ gewisser-maßen von einer Statik institutioneller Regelsysteme im Sinne stabiler Pfadab-hängigkeit und eines „lock-in“-Prozesses aus. Wie die Diskussion des For-schungsstandes gezeigt hat, erscheinen beide Perspektiven sowohl theoretisch als auch empirisch defizitär.

Welche über diese bisherige Diskussion hinausgehenden theoretischen Im-plikationen haben nun diese zur Illustration der Problemstellung herangezogenen Narrative? Welche theoretischen Konsequenzen ergeben sich und welche Folgen hat dies für einen gegenstandsbezogenen Analyseansatz? Sowohl die Fragestel-

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lung der vorliegenden Arbeit als auch die ersten empirischen Hinweise legen die Annahme nahe, dass die temporale Dimension eine herausgehobene Rolle bei der Beantwortung der Frage nach Stabilität und Wandel von Regierungsorgani-sation spielt. Folglich muss auch ein gegenstandsbezogener Analyseansatz dem zeitlichen Kontext eine besondere Bedeutung beimessen und entsprechende Annahmen integrieren. Paul Pierson weist darauf hin, dass eine vor allem variab-lengestützte theoretische Herangehensweise diesen Anspruch nur begrenzt erfül-len kann. Indem sie erklärende Variablen dem jeweiligen zeitlichen Kontext bewusst entreißt, gehen zentrale Erklärungsfaktoren verloren, die sich erst aus dem jeweiligen Kontext erschließen lassen (Pierson 2004: 1–2).25 Eine solche, von Pierson als Momentaufnahme („snapshot“) charakterisierte theoretische Herangehensweise, verstellt folglich den Blick darauf, wie Institutionen sich entwickeln, verändern und/oder stabilisieren. Er argumentiert weiter,

“that much that is important about the social world is likely to remain concealed if our inquiries are grounded, as they often are, in efforts to examine only a moment in time. If we think, instead, of how social processes unfold over time we will ask questions that we might not otherwise ask, identify flaws in possible explanations that we would otherwise not see, and find answers that we otherwise would not find” (Pierson 2004: 167).

Allerdings stellt sich angesichts dieses Anspruches die Frage, welche zeitlichen Dimensionen in den Blick genommen werden müssen, um längerfristige Ent-wicklungen in dem von Pierson formulierten Sinne erfassen zu können. Oder anders formuliert: Wenn man sich eine zeitlich orientierte Analyse als fortlau-fenden „Film“ und nicht als „Schnappschuss“ vorstellt, so bleiben die in ihrer Länge höchst unterschiedlichen Optionen eines Kurzfilms oder eines abendfül-lenden Spielfilms. Die bereits einleitend angedeutete und hier gewählte Antwort legt die Vorstellung eines „Episodenfilm“ nahe: Dieser besteht zunächst aus durchaus abgegrenzten Handlungsverläufen. Diese können wiederum unter-schiedlich lange Zeiträume thematisieren. Zugleich gibt es sowohl zeitliche als auch inhaltliche Überschneidungen einzelner Episoden. Auch eine als Klammer dienende Rahmenhandlung ist möglich. Manche Sequenzen lassen sich wiede-rum nur durch einen Rückgriff auf bereits thematisierte, möglicherweise aber auch durch gezielte Rückblenden auf bisher unbeachtete Ereignisse verständlich machen. In jedem Fall geht damit in empirischer Hinsicht die zeitliche Öffnung der Analyse einher. Neben Kurzfilmsequenzen spielen über Monate und Jahre 25 Wie sich diese Perspektive mit dem Anspruch verträgt, mehr als idiographische Erklärungen

von Einzelfällen liefern zu können, ergibt sich aus der Betonung und Suche nach kausalen Mechanismen, die theoretisch generalisierbar sind. Dieser Aspekt spielt auch bei Pierson bereits eine Rolle (siehe Pierson 2004: 6 und 168-169). Ausführlicher hierzu Kapitel 4.

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hinweg voranschreitende Entwicklungen eine Rolle. Auch wenn sich daraus keine Dekaden überspannende Filmreihe ergibt, so wird damit doch der von Pierson formulierte Anspruch einer längerfristigen Betrachtung eingelöst.

Diese besondere Betonung des längerfristigen zeitlichen Kontexts geht in theoretischer Hinsicht über die allgemeine Annahme hinaus, dass Zeit und, all-gemeiner formuliert, „Geschichte“ einen irgendwie gearteten Unterschied ma-chen. Eine solch allgemeine Vorstellung von „history matters“ zieht noch keine theoretischen Implikationen nach sich. Vielmehr kann sie zahlreiche, theoretisch deutlich unterschiedlich angelegte Zugänge anleiten. Dabei führen diese Überle-gungen entweder erstens zu rein idiographisch angelegten Studien begrenzter Reichweite und ohne generalisierbare Schlussfolgerungen, aufgezeigte histori-sche Bezüge werden zweitens lediglich zur Gewinnung historischer Illustratio-nen ohne weitere theoretische Einbettung verwendet oder sie dienen drittens der Generierung weiterer zur untersuchender Fälle (vgl. Pierson 2004: 4–5). In ei-nem theoretischen Sinne muss es jedoch um mehr gehen. Die Betonung tempora-ler Aspekte muss sich im jeweiligen theoretischen Analyserahmen wiederfinden und in theoretische Begrifflichkeiten übersetzt werden:

“The best case for connecting history to the social sciences is neither empirical (...) nor methodological (...), but theoretical. We turn to an examination of history be-cause social life unfolds over time. Real social processes have distinctly temporal dimensions” (Pierson 2004: 5).

Der zeitgeschichtliche Kontext als Ausdruck temporaler Aspekte wird folglich zur eigenständigen theoretischen Kategorie: Er wird zum Ausgangspunkt für die Beobachtung von politischen Prozessen und Ereignissen sowie ihrer Interaktion in sozialen Dynamiken über längere Zeiträume hinweg (Pierson 2004: 172). Diese Betonung längerer zeitlicher Verläufe und temporaler Aspekte hat theore-tische Konsequenzen, die für einen auf die Transformation der Kernexekutive ausgerichteten Analyserahmen genutzt werden können. Die unterschiedlichen theoretischen Anknüpfungspunkte im Rahmen institutionalistischer Theoriebil-dung deutet Pierson folgendermaßen an:

“Why do social scientists need to focus on how processes unfold over significant stretches of time? First, because many social processes are path dependent (…). Se-cond, because sequencing - the temporal order of events or processes - can be a cru-cial determinant of important social outcomes. Third, because many important social causes and outcomes are slow-moving - they take place over quite extended periods of time and are only likely to be adequately explained (or in some cases even ob-served in the first place) if analysts are specifically attending to that possibility. Fi-nally, because the task of explaining institutional outcomes is better framed as an is-

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sue of institutional development rather than one of institutional selection. Institu-tional development, in turn, cannot be adequately treated without attending to issues incorporating an extended time frame, including the role of time horizons, unintend-ed consequences, learning and competitive selection processes, and path depend-ence” (Pierson 2004: 15–16).

Überträgt man diese noch weitgehend abstrakten Vorüberlegungen nun auf den vorliegenden Gegenstand der Kernexekutive, so ergeben sich daraus folgende theoretische Anknüpfungspunkte: Erstens sind Institutionen der Regierungsorga-nisation von Pfadabhängigkeiten geprägt. Zweitens spielen zeitliche Ab- und Verläufe, Sequenzierung und längerfristige zeitliche Entwicklungen eine ent-scheidende Rolle bei der institutionellen Entwicklung der Kernexekutive im Zu-ge von Regierungswechseln. Drittens bewegen sich diese Institutionen in einem Spannungsfeld zwischen ungesteuerter Institutionenentwicklung und strategi-schen Versuchen des Institutionendesigns. Diese drei Konsequenzen werden in diesem Teilkapitel theoretisch beleuchtet, um sie im Zuge der weiteren Überle-gungen anschlussfähig an neoinstitutionalistische Theoriebildung zu machen und schließlich in den gegenstandsbezogenen Analyserahmen zu integrieren. 3.1.1 Pfadabhängigkeit Temporale Aspekte und historische Entwicklungen prägen Institutionen der Regierungsorganisation über das Phänomen der Pfadabhängigkeit. Allgemein bezeichnet Pfadabhängigkeit „einen vergangenheitsdeterminierten Prozess rela-tiv kontinuierlicher bzw. inkrementeller Entwicklungen. (…) Die Vergangenheit determiniert also zu einem gewissen Grad die Zukunft; sie richtet den Prozess der Evolution aus“ (Werle 2007: 119–120; vgl. Schultze 2005b: 683–684). Be-zogen auf institutionelle Arrangements beinhaltet die Vorstellung von Pfadab-hängigkeiten eine vergleichsweise stabile Entwicklung von Institutionen entlang eines einmal eingeschlagenen Pfades. Nach der mehr oder weniger kontingenten Auswahl einer Entwicklungsrichtung zu Beginn verstärkt sich die Pfadabhängig-keit im zeitlichen Verlauf, die eingeschlagenen Pfade werden also immer weiter ausgetreten, was nachfolgende Abweichungen erschwert. Frühere Entwicklungen spiegeln sich in der jeweiligen Umgebung wider und prägen die weitere Ent-wicklung, indem sie Ressourcen, Anreizstrukturen, Akteursverhalten und Akteurspräferenzen beeinflussen. Alternative Entwicklungspfade rücken immer weiter in den Hintergrund und Abweichungen von einmal eingeschlagenen Pfa-den sind, wenn überhaupt möglich, im Regelfall mit hohen Kosten verbunden. Institutionen erscheinen aus dieser Perspektive vor allem als Ergebnisse länger-

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fristiger, sich selbst verstärkender Entwicklungsprozesse (allgemein Pierson 2004: 17–53; Mahoney 2000; Werle 2007; Pierson 2000a).

Die Mechanismen, die zur Pfadabhängigkeit von Institutionen und sozialen Prozessen beitragen, unterscheiden sich je nach theoretischer Spielart unter-schiedlicher Pfadabhängigkeitskonzepte. Während aus der Perspektive des öko-nomischen Institutionalismus (North 1990; Arthur 1994; vgl. Pierson 2004: 22–30) vor allem zunehmende Gewinne („increasing returns“) and positive Feed-back-Effekte („positive feedback“) wirkungsmächtig sind, betonen utilitaristi-sche Ansätze die rationale Nutzenerwägung von Akteuren, funktionalistische Perspektiven die adäquate Funktionserfüllung von Institutionen, machtbasierte Ansätze die Unterstützung institutioneller Arrangements durch politische Eliten und legitimatorisch ausgerichtete Ansätze den moralischen Verpflichtungscha-rakter von Institutionen (vgl. Mahoney 2000: 517–525; Werle 2007: 122–125). Sie alle teilen jedoch die oben skizzierte Grundannahme eines gewissen instituti-onellen „lock-in“ (Schmidt 2008: 316).

Warum nun erscheint das Konzept der Pfadabhängigkeit über diesen allge-meinen Einfluss auf Institutionen hinaus besonders geeignet zur Erfassung tem-poraler Einflüsse auf Institutionen der Regierungsorganisation? Hier lassen sich sowohl theoretische als auch empirische Argumente anführen.

Die theoretische Begründung knüpft an die besonderen Charakteristika poli-tischer Institutionen im Allgemeinen an, die unmittelbar auf Institutionen der Kernexekutive übertragbar sind:

Erstens sind politische Institutionen in besonderer Weise Ergebnis kollekti-ven Handelns. Das unterscheidet sie beispielsweise von wirtschaftlichen Institu-tionen in atomisierten Märkten:

“In short, despite massive social, economic, and political changes over time, self-reinforcing dynamics associated with collective action-processes - especially high start-up costs, coordination effects, and adaptive expectations - mean that organiza-tions will have a strong tendency to persist once they are institutionalized” (Pierson 2004: 34).

Hinzu kommt zweitens die besondere Dichte institutioneller Arrangements. Poli-tische Institutionen umfassen sowohl formale als auch informelle Regelsysteme. Drittens prägen politische Machtverhältnisse und Machtasymmetrien politische Institutionen. Akteure können folglich mit Autorität handeln und damit besonde-re Feedback-Effekte in Gang setzen und Pfade prägen. Viertens schließlich kennzeichnet politische Institutionen ihre große Komplexität und Deckkraft. Institutionen wirken in der Folge auf die Wahrnehmung von Akteuren und ihre Präferenzordnung ein. Damit prägen bestehende Institutionen Akteure und geben Handlungskorridore vor, die Pfadabhängigkeiten grundsätzlich verstärken kön-

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nen. Hinzu kommen schließlich fünftens unterschiedliche Zeithorizonte von Institutionen und Akteuren. Während politische Institutionen zumindest grund-sätzlich auf Kontinuität und Dauerhaftigkeit ausgerichtet sind, kennzeichnet meist ein kürzerer Zeithorizont die Wahrnehmung politischer Akteure. Aus die-sen Faktoren ergibt sich ein institutioneller „Status-quo-Bias“ im Sinne der oben skizzierten Pfadabhängigkeit (hierzu ausführlich Pierson 2004: 30–46; vgl. Pierson 2000b: 78–79).

Diese theoretischen Annahmen finden bei einer gegenstandsbezogenen Be-trachtung von Institutionen der Regierungsorganisation eine grundsätzliche em-pirische Entsprechung: Institutionen der Kernexekutive sind sowohl Ergebnis kollektiven Handelns als auch Ergebnis machtvollen individuellen Akteurshandelns und spiegeln bestehende Machtasymmetrien wider. Ihre forma-len und informellen Dimensionen etablieren ein dichtes institutionelles Netz mit hoher Komplexität, Deckkraft und Regelungsdichte. Zugleich sind insbesondere formale Institutionen der Regierungsorganisation auf Kontinuität und Stabilität angelegt, während für die politischen Akteure der Kernexekutive ja gerade die zeitlich befristete Mandatierung konstitutiv ist. Der kürzere Zeithorizont politi-scher Akteure tritt insofern mit der Langfristigkeit politischer Institutionen in ein Spannungsverhältnis. Folglich besteht die begründete Annahme, dass temporale Faktoren über Mechanismen der Pfadabhängigkeit auf Institution der Regie-rungsorganisation einwirken. Zugleich folgt daraus jedoch, dass es um die Iden-tifikation von Mechanismen gehen muss, die pfadabhängige Prozesse beeinflus-sen und steuern. „Without this, path-dependent arguments degenerate into little more than a description of stability" (Pierson 2004: 49).26 3.1.2 Timing, Sequenzierung und längerfristige Entwicklungsdynamiken Anschließend an diese Überlegungen zu Pfadabhängigkeiten spielt auch die Strukturierung zeitlicher Abläufe eine entscheidende Rolle mit Blick auf den untersuchten Gegenstand. Die Vorannahme für die weitere theoretische Struktu-rierung des Analyserahmens lautet: „There are strong theoretical grounds for believing (...) that when things happen effects how they happen" (Pierson 2004: 77).

Hinsichtlich der Bedeutung von Timing und Sequenzierung lassen sich laut Paul Pierson zwei Gruppen von Argumenten unterscheiden (hierzu Pierson 2004: 11–13):

26 Dieser Aspekt stellt eine Verbindungslinie zu methodologischen Aspekten des Forschungs-

designs dar. Ausführlicher hierzu Kapitel 4.

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Eine erster Argumentationsstrang fokussiert vor allem auf das zeitliche Zu-sammentreffen voneinander unabhängiger zeitlicher Entwicklungen. Aus theore-tischer Sicht stellt eine solche Perspektive ein Problem dar, da es sich nicht um theoretisch generalisierbare, sondern jeweils einzelfallbezogene Phänomene handelt. Zwar lassen sich so einzelne Fälle erklären, aber selbst sehr begrenzte Generalisierungen, die über den jeweiligen Fall hinausreichen, können aus sol-chen zeitlichen Abläufen kaum gewonnen werden, da eine systematische Ver-bindung zwischen beiden zeitlichen Faktoren nicht existiert. Es handelt sich vielmehr um zeitlich kontingente Ereignisse, die sich gegenseitig beeinflussen und ggf. verstärken (Pierson 2004: 55–58). Für den vorliegenden Untersu-chungsgegenstand lässt sich hierfür folgendes Beispiel anführen: Die Ankündi-gung vorgezogener Bundestagswahlen am Abend der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2005 rückte die Regierungsbildung in NRW in ein besonderes Licht. Die Bildung der schwarz-gelben Koalition im Land galt nun als potentiel-les Vorbild für die Bundesebene. Folglich fanden die landespolitischen Wei-chenstellungen unter besonderer Beobachtung statt und unterlagen bundespoliti-schen Einflüssen. Die daraus resultierenden Konsequenzen für die Regierungs-bildung folgten aber keinem systematischen Zusammenhang, sondern dem zufäl-ligen zeitlichen Zusammenfallen der Regierungsbildung in NRW und der Vorbe-reitung von Neuwahlen auf Bundesebene.

Aus theoretischer Sicht ist eine zweite Klasse von Argumenten zur Bedeu-tung von Timing und Sequenzierung zentraler und diese stehen auch für die Entwicklung des Analyseansatzes im Mittelpunkt (Pierson 2004: 63–71). Dieses auf die Verkopplung mit Überlegungen zur Pfadabhängigkeit bezogene Ver-ständnis zeitlicher Abfolgen betont deren Bedeutung für die Etablierung von Pfaden:

“[P]articular historical sequences are crucial because initial processes generate par-ticular, long-lasting, and highly consequential organizational forms and institutional arrangements, which alter the implications of later events or processes. In all of the-se cases, it is not just a matter of what happens, but of when it happens. Some events or processes occur ‘too early’, others ‘too late’” (Pierson 2004: 71).

Insofern schließen diese Überlegungen unmittelbar an die oben stehenden Über-legungen zu Pfadabhängigkeiten und positiven Feedback-Effekten an.

Pierson unterscheidet drei Varianten solcher Prozesse (Pierson 2004: 65–71): Selbstverstärkende Abfolgen werden durch ein mehr oder weniger kontin-gentes Ereignis ausgelöst und aus dem weiteren zeitlichen Verlauf ergeben sich Pfadabhängigkeiten. Während das zeitliche Voranschreiten den jeweiligen Pfad verstärkt, spielt der Zeitpunkt des Auslösers solcher Pfadabhängigkeit eine ver-gleichsweise geringe Rolle (hierzu auch Mahoney 2000: 512–526). Für die zwei-

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te Variante gilt die gleiche Struktur zeitlicher Abläufe, aber vor allem der Zeit-punkt der „critical juncture“ spielt für den weiteren Entwicklungsprozess eine zentrale Rolle. Während solchen Pfadabhängigkeitsargumenten damit zumindest implizit ein krypto-deterministisches Verständnis innewohnt (vgl. Mayntz/ Scharpf 1995: 45), betont die dritte Variante die Bedeutung von Timing und Sequenzierung als Ausgangspunkt für potentielle Abweichungen von Pfaden zu einem späteren Zeitpunkt. Aus dieser Sicht wird die Vorstellung relativiert, dass Pfade vollkommen festgefügt („locked-in“) sind (hierzu Thelen 1999: 385; Mahoney/Thelen 2010: 3–4; Werle 2007: 123). Vielmehr können zeitliche Ab-läufe zu früheren Zeitpunkten potentielle Abweichungen von Pfaden im weiteren zeitlichen Verlauf geradezu anlegen und ermöglichen. Damit wird einerseits die Vorstellung von vergleichsweise stabilen Pfadabhängigkeiten nicht aufgegeben, andererseits aber die Bedeutung zeitlicher Prozesse für mögliche Abweichungen betont.

Diese dritte Perspektive erscheint vor allem als Reaktion auf Kritik an der fast ausschließlichen Betonung von Stabilität durch Ansätze der Pfadabhängig-keit. Diese vor allem von Kathleen Thelen vorgebrachte Kritik (Thelen/Steinmo 1992; Thelen 1999: 396--399; Thelen 2000: 106; Thelen 2003; Thelen 2004: xii–xiii) gilt es im weiteren Verlauf aufzugreifen, da sie die Notwendigkeit einer theoretischen Erweiterung zur Erfassung des Wandels von Institutionen der Re-gierungsorganisation nach sich zieht.

Für den hier zu entwickelnden Analyseansatz gilt es, diese theoretischen Überlegungen einzubeziehen. Die Betonung zeitlicher Abfolgen, des Timings von einzelnen Prozessabläufen und des langfristigen Charakters institutioneller Entwicklungsprozesse legt die Schlussfolgerung nahe, den zeitlichen Kontext bewusst als theoretische Kategorie aufzunehmen. Bei der Erklärung von Wandel und Stabilisierung von Institutionen der Regierungsorganisation bildet der zeitli-che und institutionelle Kontext nicht nur einen Rahmen, sondern wirkt als Ein-flussfaktor unmittelbar auf institutionelle Transformationsprozesse ein. Daraus ergeben sich zudem direkte methodologische Konsequenzen (Pierson 2004: 89; George/Bennett 2005: 223; ausführlicher Kapitel 4). 3.1.3 Institutionenentwicklung vs. Institutionendesign Die Betonung temporaler Aspekte verweist schließlich auf ein Spannungsver-hältnis zwischen Institutionenentwicklung einerseits und Institutionendesign andererseits (hierzu Pierson 2004: 102–166; vgl. Pierson 2000b). Die bislang vorgestellte Akzentuierung temporaler Abläufe und langfristiger Evolution für institutionelle Transformationsprozesse lenkt den Fokus insbesondere auf Pro-

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zesse der Institutionenentwicklung. Damit ist die beinahe urwüchsige, weitge-hend ungesteuerte und pfadabhängige Entwicklung von Institutionen im Zeitver-lauf gemeint. Dagegen spielen für Prozesse des Institutionendesigns vor allem die kurzfristigen, intentionalen Entscheidungen von Akteuren im Zuge aktiver Institutionengestaltung eine Rolle. Institutionen erscheinen hier als abhängige Variable, die entlang von Akteurspräferenzen etabliert und entwickelt werden. In anderer Begrifflichkeit könnte auch von „Institutionenpolitik“ gesprochen wer-den, indem Institutionen zum expliziten Gegenstand politischen Handelns wer-den (Benz 2004b: 19).

Piersons Plädoyer für die stärkere Fokussierung auf Institutionen-entwicklung und eine Relativierung von Institutionendesign problematisiert die Konsequenzen einer zeitlichen Momentaufnahme als Ausgangspunkt für die Entstehung und Entwicklung von Institutionen. Pierson wendet sich damit expli-zit gegen einen zumindest impliziten Funktionalismus institutionalistischer Er-klärungsansätze. Hier werden die Entstehung und die Dauerhaftigkeit von Insti-tutionen zumeist auf die Erfüllung bestimmter Funktionen zurückgeführt. Pierson unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer akteurzentrierten und einer gesellschaftlichen/soziologischen Variante einer solchen funktionalis-tischen Betrachtung (Pierson 2004: 105). Die erste Spielart geht davon aus, dass Institutionen die Intentionen von Akteuren reflektieren. Indem Institutionen für Akteure bestimmte Aufgaben erfüllen, beweisen sie ihre Funktionalität. Insofern werden sowohl Entstehung als auch Bestand von Institutionen auf den entspre-chenden Akteurswillen und ihre intentionale Institutionengestaltung zurückge-führt. Gerade rational-choice-basierte Argumente verweisen auf die strategische Auswahl von Institutionen durch Akteure zur Reduktion von Transaktionskosten, Erwartungsunsicherheit und zur Generierung von Kooperationsgewinnen. Eine zweite Variante funktionalistischer Argumente betont dagegen die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen durch Institutionen als Ursache für ihre Entstehung und Persistenz. Weniger die beteiligten Akteure als vielmehr die funktionale gesellschaftliche Einbindung von Institutionen bilden hier den Fokuspunkt. Hier zeigen sich aus theoretischer Sicht Bezugspunkte zum Soziologischen Institutio-nalismus. Während die erste Variante auf eine akteurzentrierte Mikrofundierung abzielt, greift die zweite eine Makroperspektive zur Erklärung von Institutionen auf.

Die besondere Betonung zeitlicher Abläufe relativiert eine solche funktiona-listische Perspektive: Indem Institutionen zeitlich eingebettet sind, können weder ihre Entstehung noch ihre Persistenz und ihr Wandel funktionalistisch ausrei-chend hergeleitet werden. Nur bei einer kurzfristigen Betrachtungsweise von Institutionen erscheinen diese in einem solch funktionalistischen Sinne. Wird jedoch eine längerfristige Perspektive eingenommen und werden zeitliche Ent-

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wicklungen ernst genommen, so zeigen sich gravierende Begrenzungen funktio-nalistisch begründeter Argumente (hierzu Pierson 2004: 109–122): Erstens kön-nen Institutionen gleichzeitig multiple, sich möglicherweise widersprechende Funktionen erbringen. Folglich erscheint eine funktionalistische Erklärung in sich widersprüchlich. Zweitens sind Institutionen per definitionem längerfristig angelegt, Akteurspräferenzen aber meist auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet. Akteursintentionen können folglich den fortgesetzten Bestand institutioneller Arrangements nicht hinreichend erklären. Zudem können sich drittens die Funk-tionen stabiler Institutionen im Zeitverlauf durch veränderte Kontextbedingun-gen ändern. So bleiben zwar einmal etablierte Institutionen erhalten, aber die von ihnen längerfristig erfüllten Funktionen entsprechen nicht unbedingt denen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Eine auf die jeweils aktuelle Funktionserfüllung abzielende Erklärung kann also die eigentlichen Ursachen für institutionelle Entwicklungsprozesse nicht notwendigerweise erklären.

Während also insbesondere eine akteurzentrierte funktionalistische Betrach-tung die Möglichkeiten des Institutionendesigns von Akteuren unterstreicht, verschiebt eine stärker temporale Betrachtung von Institutionen den Fokus hin zu einer eher ungesteuerten Institutionenentwicklung. Angesichts dieser beiden Dimensionen entfaltet sich damit eine Spektrum von intentionaler Institutionen-gestaltung und urwüchsiger Institutionendynamik (Schimank 2007a: 161–163). Dabei betont aber Letztere insbesondere die Stabilität und die bestenfalls pfad-abhängige Entwicklung von Institutionen, wie auch Pierson unterstreicht:

“In short, I prefer to talk about institutional development rather than institutional change because the former term encourages us to remain attentive to the ways in which previous institutional outcomes can channel and constrain later efforts at in-stitutional innovation” (Pierson 2004: 133).

Diese theoretische Sichtweise entspricht auf den ersten Blick den gegen-standsbezogenen Ansprüchen: Gerade formale Institutionen der Regierungsorga-nisation sind angesichts ihres oftmals rechtlich normierten Status stabil und da-mit den kurzfristigen Einflussmöglichkeiten von Akteuren in Teilen entzogen. Sie entwickeln sich vor allem entlang langfristiger Pfadabhängigkeiten. Zugleich ist aber die damit einhergehende fast ausschließliche Fokussierung auf Institutionenentwicklung mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand nicht aus-reichend. Denn Institutionen der Regierungsorganisation sind andererseits auch nicht vollständig immunisiert gegen strategische Einflussnahme und intentionale Veränderungsbemühungen durch politische Akteure. Daher muss es im Rahmen eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes darum gehen, auch Versuche des Institutionendesigns zu erfassen. Dies erscheint insbesondere deswegen möglich, weil es sich, anders als Piersons Konzeption nahe legt, weniger um eine Dicho-

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tomie, sondern vielmehr um ein Kontinuum zur theoretischen Erfassung von institutioneller Stabilität und institutionellem Wandel handelt: Nichtintendierte Institutionenentwicklung und intentionales Institutionendesign sind aufeinander bezogen und die jeweiligen Übergänge fließend. So sind einerseits Versuche der Institutionengestaltung eingebettet in längerfristige Dynamiken und kontextbe-zogene Einflussfaktoren. Andererseits lassen sich Institutionendynamiken nicht von zielgerichtetem Akteurshandeln entkoppeln (Czada/Schimank 2001: 242–258). 3.1.4 Zwischenfazit Für die theoretische Rahmung des Analyseansatzes bleibt an dieser Stelle vorläu-fig festzuhalten: Zeitlichen und Kontextfaktoren muss bei der Analyse von Insti-tutionen der Regierungsorganisation besondere Bedeutung beigemessen werden. Um über die allgemeine Annahme „history matters“ hinauszukommen, ist dazu eine theoretische Konzeptualisierung dieser temporalen Einflussfaktoren not-wendig. Dies kann grundsätzlich durch die Erfassung von drei Aspekten gelin-gen: Erstens gilt es, die prägenden Einflüsse von Pfadabhängigkeiten auf Institutionenentwicklung in den Blick zu nehmen. Zweitens müssen zeitliche Abläufe und längerfristiger Entwicklungen theoretisch erfassbar sein. Institutio-nenentwicklung wird damit nicht als Momentaufnahme, sondern als „moving picture“ gesehen, was wiederum methodologische Rückwirkungen hat. Drittens gilt es, das Spannungsfeld zwischen Institutionenentwicklung und Versuchen intentionalen Institutionendesigns zu beleuchten.

Mit diesem erweiterten Blick auf den Untersuchungsgegenstand erscheint eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit an neoinstitutionalistische Ansätze gege-ben. Nimmt man dabei die in diesem Teilkapitel skizzierten Implikationen ernst, so erscheint innerhalb dieses Theoriezweiges insbesondere eine Bezugnahme zum Historischen Institutionalismus sinnvoll. Dieser greift die bislang themati-sierten Aspekte explizit auf und bringt sie in einen analytischen Gesamtzusam-menhang. Zugleich deutet sich mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Institutionenentwicklung und Institutionendesign jedoch ein Problem dieser institutionalistischen Theorievariante an: Die Skepsis gegenüber intentionaler Institutionengestaltung und die Fokussierung auf weitgehend ungesteuerte Institutionendynamik führt zu einer beinahe expliziten Betonung institutioneller Stabilität. Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand muss ein adäquater Ana-lyseansatz aber auch institutionelle Wandlungsprozesse theoretisch erfassbar machen. Hierzu bieten sich theoretische Erweiterungen an, die im Anschluss an die grundsätzlichen Merkmale des Historischen Institutionalismus zu entwickeln

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sind. Dabei scheinen, so die Ausgangsüberlegung, ein erweiterter Institutionen-begriff und eine explizite Akteurskonzeption sinnvoll, ohne sich von der grund-sätzlichen Herangehensweise des Historischen Institutionalismus verabschieden zu müssen. 3.2 Historischer Institutionalismus: Stabilität und Wandel von

Institutionen 3.2.1 Drei Strömungen des Neo-Institutionalismus Angesichts des hier gewählten Fokus‘ auf Institutionen der Kernexekutive spie-len für die weiteren Überlegungen sowohl formale als auch informelle Regelsys-teme eine herausragende Rolle. Zugleich ist die Fragestellung auf die kernexeku-tive Institutionenentwicklung im Spannungsfeld von Stabilisierung und Wandel gerichtet. Damit erscheint aufgrund einiger gemeinsamer Annahmen eine grund-sätzliche theoretische Anschlussfähigkeit an neoinstitutionalistische Theoriean-sätze gegeben:

Während sich der klassische Institutionalismus vor allem auf formale Insti-tutionen konzentrierte, rückten mit dem Neoinstitutionalismus insbesondere auch informelle Regelsysteme ins Blickfeld (ausführlicher Benz/Seibel 1997; Czada/Schimank 2001; Czada 2005). Vor allem verstand sich der ab Mitte der 1970er Jahre entwickelte „Neue Institutionalismus“ als Gegenbewegung zu be-havioristischen Ansätzen (Clemens/Cook 1999: 441), die fast ausschließlich Akteursverhalten in den Mittelpunkt gerückt hatten. Ellen Immergut verleiht den Problemen einer solchen rein akteurszentrierten Perspektive Ausdruck, indem sie auf die damit einhergehenden Defizite aus Sicht des Neoinstitutionalismus an-spielt:

“The new institutionalists vehemently rejected observed behaviour as the basic da-tum of political analysis; they do not believe that behaviour is a sufficient basis for explaining ‘all the phenomena of government’. For behaviour occurs in the context of institutions and can only be so understood” (Immergut 1998: 6).

In dieser Abgrenzung von der Institutionenblindheit des Behaviorismus etablier-ten sich grundsätzlich voneinander unabhängige neoinstitutionalistische Theo-rieprogramme, die aber zugleich von drei gemeinsamen Annahmen geprägt sind (Hasse/Krücken 2001: 48–55): Erstens geht es um Aspekte der Institutionalisie-rung und der De-Institutionalisierung, also um die Entstehung, die Entwicklung und den Zerfall von Institutionen. Zweitens widmen sich die Protagonisten die-ses Theoriestranges dem Zusammenspiel von Akteuren und Institutionen und

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damit der aktiven Verarbeitung institutioneller Vorgaben durch Akteure. Drittens schließlich spielen gegenseitig konstituierende Effekte zwischen Institutionen und Akteuren eine Rolle. Institutionen prägen und beeinflussen Akteure nicht nur, sondern konstituieren sie gewissermaßen.

Die in diesen Gemeinsamkeiten angelegte Bandbreite des Theoriepro-gramms macht jedoch zugleich deutlich, dass es sich beim Neoinstitutionalismus um einen Sammelbegriff für unterschiedliche Strömungen handelt, nicht aber um ein stringentes Theorieprogramm. Stattdessen können mit Hall und Taylor (1996) drei Ausprägungen des Neoinstitutionalismus unterschieden werden (vgl. ausführlicher auch Czada/Schimank 2001; Czada 2005; Immergut 1998; Peters 1999; Schimank 2007a; Thelen 1999: 369–370; Clemens/Cook 1999; Hall 2010):27 1. Historischer Institutionalismus 2. Rational-Choice-Institutionalismus 3. Soziologischer Institutionalismus Hall und Taylor strukturieren ihre Binnendifferenzierung des neoinstitutionalis-tischen Theorieprogramms in drei Strömungen anhand zweier fundamentaler Fragen (Hall/Taylor 1996: 936–937): Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Institutionen einerseits und Akteuren andererseits? Wie werden Prozesse der Institutionenentstehung und des Wandels von Institutionen erklärt und konzep-tualisiert?

Sie differenzieren zudem zwischen zwei analytischen Ansätzen zur inhaltli-chen Strukturierung neoinstitutionalistischer Ansätze (Hall/Taylor 1996: 939–940): Der kalkulierende Ansatz („Calculus Approach“) betont die Fokussierung von Akteursverhalten auf strategischen Kalkulationen und damit instrumentelles Akteursverhalten. Akteure bevorzugen aus diesem Blickwinkel Institutionen mit dem größten in Aussicht stehenden Nutzen. Ziele und Präferenzen der Akteure werden dabei als exogen vorgegeben verstanden, Institutionen prägen lediglich die darauf basierenden Erwartungen der beteiligten Akteure. Institutionen struk-turieren somit die strategische Interaktion Nutzen maximierender Akteure. Aus der daraus resultierenden Lösung von Dilemmata und Kollektivgüterproblemati-ken erklärt sich die Dauerhaftigkeit von Institutionen.

Der kulturelle Ansatz („Cultural Approach“) hingegen betont die Bedeutung von Routinen und Gewohnheiten für Akteursverhalten. Dieses ist nicht alleine

27 Offen ist, ob diese Dreiteilung angesichts neuer Theorieentwicklungen noch trennscharf ist.

Beispielsweise scheint der „Diskursive Institutionalismus“ eine wichtige Abweichung von dieser Systematik zu sein (vgl. Schmidt 2008). Thelen spricht von grenzüberschreitenden Ansätzen („border crossers") zwischen diesen drei Spielarten (Thelen 1999: 369–370).

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strategisch gebunden, sondern von den individuellen Weltsichten der Akteure geprägt. Diese sind folglich weniger Nutzenmaximierer als vielmehr „Satisfi-cers“. Institutionen stellen aus dieser theoretischen Perspektive heraus normative und kognitive Fundamente für Akteursinterpretationen und -verhalten bereit. Sie beeinflussen folglich Identitäten und Präferenzen von Akteuren auch endogen. Institutionen überdauern dementsprechend nicht alleine aufgrund des strategi-schen Interesses von Akteuren, sondern weil sie darüber hinaus eigenständige Wirkungen entfalten. Diese beiden Ansätze prägen das jeweilige theoretische Verständnis der drei Neoinstitutionalismen in unterschiedlicher Weise.

Der Historische Institutionalismus (Hall/Taylor 1996: 937–942; hierzu auch Thelen/Steinmo 1992; Czada/Schimank 2001: 239–241; Thelen 1999; Schimank 2007a: 169–170) rekurriert grundsätzlich auf beide Ansätze und erobert damit für sich eine mittlere Position innerhalb des Neoinstitutionalismus (Hall/Taylor 1996: 957). Dieser Strömung zuzuordnende Ansätze wenden sich zum einen gegen eine primär funktionalistische Perspektive. Die Vertreter dieses Ansatzes führen Institutionen mithin nicht auf Funktionen zurück, die sie innerhalb eines Feldes erfüllen.

„Instead, they saw the institutional organization of the polity (…) as the principal factor structuring collective behaviour and generating distinctive outcomes. They emphasized the ‘structuralism’ implicit in the institutions of the polity rather than the ‘functionalism’ of earlier approaches that viewed political outcomes as a re-sponse to the needs of the system” (Hall/Taylor 1996: 937).

Der im Historischen Institutionalismus angelegte Institutionenbegriff ist zudem weit gefasst:

“By and large, they define them as formal or informal procedures, routines, norms and conventions embedded in the organizational structure of the polity (…). They can range from the rules of a constitutional order or the standard operating proce-dures of a bureaucracy to the conventions governing trade union behavior or bank-firm relations. In general, historical institutionalists associate institutions with organ-izations and the rules or conventions promulgated by formal organization” (Hall/Taylor 1996: 938).

Zudem zeichnet sich der Historische Institutionalismus durch vier zentrale Merkmale aus:

Erstens ist das Verhältnis zwischen Institutionen und Akteuren vergleichs-weise breit konzeptualisiert. Institutionen beeinflussen sowohl Akteurspräferen-zen als auch ihre Interaktionen. Sie beeinflussen und begrenzen, sind aber nicht alleinige Determinanten für Akteursverhalten (Thelen/Steinmo 1992: 2–7). Ak-

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teure können demnach in unterschiedlichen Handlungskontexten unterschiedli-chen Handlungslogiken folgen.

Zweitens werden Machtverhältnisse und insbesondere Machtasymmetrien in die theoretischen Überlegungen einbezogen. Sie spielen einerseits eine zentra-le Rolle bei der Entstehung und Entwicklung von Institutionen. Zum anderen wirken Institutionen auf Machtverhältnisse zurück. Sie sind damit nicht alleine Ergebnis freiwillig und nutzenmaximierend handelnder Akteure, sondern können auch Machtverhältnisse festschreiben und damit künftige Akteursinteraktionen beeinflussen.

Drittens greift diese neoinstitutionalistische Strömung explizit historisch geprägte Pfadabhängigkeiten und unintendierte Konsequenzen für die Institu-tionenentwicklung auf. Institutionen sind demzufolge über längere zeitliche Phasen hinweg relativ stabile Faktoren, die von Pfadabhängigkeiten geprägt sind. Damit werden sie von Akteuren auch weniger absichtsvoll und effizient gestaltet, sondern unterliegen nichtintentionalen Entwicklungstrends.

Schließlich weitet diese Theorieströmung viertens den Blick über Institutio-nen hinaus auf weitere Faktoren wie gesellschaftliche Entwicklungen, Ideen und situative Faktoren aus. Solchermaßen in kausale Ketten eingebundene Institutio-nen wirken dann wiederum auf Akteure ein.

Der Rational-Choice-Institutionalismus (hierzu Hall/Taylor 1996: 942–946; Czada/Schimank 2001: 227–232; Schimank 2007a: 167–169) rekurriert deutlich stärker auf den kalkulierenden Ansatz. Institutionen lösen aus dieser Perspektive heraus vor allem Probleme kollektiven Handelns. Unter Bezugnahme vor allem auf den ökonomisch geprägten Institutionalismus (March/Olsen 1989; vgl. Czada/Schimank 2001: 233–237) rückt die Senkung von Transaktionskosten bei der Entwicklung von Institutionen in den Mittelpunkt. Anders als der Historische Institutionalismus geht diese Theorieströmung von fest gefügten Präferenzen und Zielen auf Seiten der Akteure aus. Diese handeln stark nutzenmaximierend im Sinne ihrer jeweils exogen vorgegebenen Präferenzen. Zugleich steht damit die strategische Akteursinteraktion im Fokus. Politisches Handeln wird aus einer solchen Perspektive als kollektive Dilemmasituation konzeptualisiert. Institutio-nen bearbeiten und überwinden solche Dilemmata, indem sie Akteursinter-aktionen strukturieren und die Kalkulationen von Akteuren bei ihrem strategi-schen Handeln beeinflussen. Der Entstehungshintergrund von Institutionen wird folglich funktionalistisch formuliert: Sie entstehen, weil sie für die beteiligten Akteure Kooperationsgewinne versprechen oder weil sie gesellschaftliche Funk-tionen erfüllen.28 Diese Funktionserfüllung begründet damit auch die Persistenz von Institutionen. 28 Paul Pierson differenziert in dieser Hinsicht zwischen „actor-centered functionalism“ und

„societal functionalism“ (Pierson 2004: 105).

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Der Soziologische Institutionalismus (Hall/Taylor 1996: 946–950; vgl. Has-se/Krücken 2001; Schimank 2007a: 163–165) wiederum weicht diametral von zentralen Annahmen der Rational-Choice-Variante ab. Im Sinne des kulturellen Ansatzes betont diese Theorierichtung die Bedeutung kultureller Praktiken, Vor-stellungen und Konstruktionen. Institutionen sind mithin nicht auf Effizienzüber-legungen im rationalistischen Sinne zurückzuführen. Die soziologische Spielart des Neoinstitutionalismus geht von einem weiten Institutionenbegriff aus. Dieser umfasst neben formalen und informellen Regeln, Prozeduren und Normen auch Symbole, kognitive Skripte und moralische Vorstellungen. Diese „rahmen“ Ak-teure und ihre Handeln gewissermaßen in sozialisierender Form. Zugleich wird durch diesen weiten Institutionenbegriff die Trennung zwischen Institutionen und Kultur aufgebrochen, Kultur wird selber zur Institution. Dementsprechend wirken Institutionen auf Akteure konstitutiv ein. Sie stellen Kategorien und Mo-delle zur Interpretation der Umwelt zur Verfügung und beeinflussen damit nicht alleine zur Verfügung stehende Handlungskorridore. Vielmehr beeinflussen sie, anders als Rational-Choice-Ansätze, Akteurspräferenzen und gar Akteursiden-titäten. Daraus ergibt sich ein hochgradig interaktives und gegenseitig konstituie-rendes Verhältnis von Institutionen und Akteuren. Daher entstehen Institutionen auch nicht aus Effizienzüberlegungen heraus. Stattdessen konstituieren sie erst den sozialen Raum und die Legitimität von Organisationen und Akteuren. Sie folgen weniger einer instrumentellen Logik, sondern vor allem einer ‘logic of social appropriateness’.

Vergleicht man die drei neoinstitutionalistischen Theorierichtungen mitei-nander (Hall/Taylor 1996: 952–955; vgl. Thelen/Steinmo 1992: 7–13), so rücken mit Blick auf einen gegenstandsbezogenen Ansatz als zentrale Vergleichsdimen-sion die jeweiligen Annahmen zur Entstehung und zum Wandel von Institutio-nen ins Blickfeld.29 Die klarste analytische Perspektive nimmt hierbei der Ratio-nal-Choice-Institutionalismus ein. Er versucht, durch den Rückgriff auf die Funktionserfüllung von Institutionen die Entstehung und den Fortbestand von Institutionen erklären. Diese potentielle analytische Stärke bedeutet jedoch zu-gleich auch eine zentrale Schwäche dieses Ansatzes:

Er erscheint erstens zu funktionalistisch, indem Entstehung und Fortbestand von Institutionen auf weitgehend gleiche Ursachen zurückgeführt werden. Eine solche Sichtweise ist in empirischer Hinsicht meist problematisch, erscheint sie doch geschichtsblind (hierzu Pierson 2004: 44–46; Thelen 2000: 107–108).

Zweitens ist diese Vorstellung zur Entstehung und Persistenz von Institutio-nen von einer stark intentionalistischen Perspektive geprägt. Akteure werden als strategische und intentionale Urheber von Institutionen verstanden, während 29 Die von Hall und Taylor (1996: 950–952) vorgeschlagene zweite Vergleichsdimension, das

Verhältnis von Institutionen und Akteuren, wird in Kapitel 2.3 aufgegriffen.

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nichtintentionale Entwicklungen und Konsequenzen für die Institutionenent-wicklung ausgeblendet werden.

Drittens schließlich erweist sich die stark voluntaristische Ausprägung des Rational-Choice-Institutionalismus als problematisch. Indem Institutionen als Ergebnis freiwillig handelnder Akteure konzeptualisiert werden, werden zum einen bestehende Machtasymmetrien zwischen Akteuren ausgeblendet. Zum anderen schließt die Fokussierung auf stabile Gleichgewichte bei der Entstehung von Institutionen die Vorstellung institutioneller Dynamik nahezu unmöglich.

Deutlich stärker bezieht der Soziologische Institutionalismus Kontextbezü-ge von Institutionen ein. Institutionen entstehen nicht im luftleeren Raum. Zu-dem betont der Soziologische Neoinstitutionalismus nicht einseitig funktionalis-tisch die Effizienzfokussierung für die Institutionenentstehung. Ähnlich wie in der rationalistischen Variante bleibt jedoch die insbesondere für politische Insti-tutionen konstitutive Machtdimension unterbelichtet. Zudem führt die Abgren-zung vom Rational-Choice-Ansatz zu einer beinahe ausschließlichen Makroper-spektive, so dass Akteure gänzlich hinter makrosoziologischen Phänomenen verschwinden.

Der Historische Institutionalismus wiederum bezieht sowohl Kontextfakto-ren als auch Machtverhältnisse explizit in seine Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung von Institutionen ein. Über die Betonung von Pfadabhängigkei-ten wird die historische Einbindung von Institutionen unterstrichen. Institutionen entwickeln sich nicht auf der Basis spieltheoretische Gleichgewichtsvorstellun-gen, sondern auf den Grundfesten vorhergehender Entwicklungen. Durch die Integration des kalkulierenden Ansatzes (Hall/Taylor 1996: 939–940) spielen Akteure mit ihren strategischen Überlegungen zugleich eine wichtige Rolle. Der Historische Institutionalismus betont jedoch, dass jede Form der strategischen Institutionengestaltung „im langen Schatten der Vergangenheit steht und ihrer-seits einen langen Schatten in die Zukunft wirft" (Czada/Schimank 2001: 241). Damit vermeidet diese Perspektive einen funktionalistischen Fehlschluss und fragt nach den ursprünglichen Intentionen beteiligter Akteure und den tatsächli-chen Prozessen der Institutionenentstehung und -entwicklung (Thelen 2000: 107–108). Allerdings erschwert dieser induktive Zugang die Entwicklung syste-matischer theoretischer Annahmen deutlich stärker als beispielsweise der Ratio-nal-Choice-Ansatz.

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3.2.2 Historischer Institutionalismus als theoretischer Ausgangspunkt des Analyseansatzes

Was folgt aus diesen Überlegungen zum neoinstitutionalistischen Theoriepro-gramm nun für die Entwicklung eines auf Wandel und Stabilisierung von Institu-tionen der Regierungsorganisation bezogenen Analyseansatzes? Grundsätzlich erscheint eine Anschlussfähigkeit aufgrund gemeinsamer Charakteristika aller drei Strömungen möglich und sinnvoll. So rücken in Abgrenzung vom klassi-schen Institutionalismus neben formalen auch informelle Institutionen in den Mittelpunkt. Zudem beschäftigen sich alle neoinstitutionalistische Ansätze mit Fragen der Institutionalisierung und des Zusammenspiels von Institutionen und Akteuren. Darüber hinaus drängt sich jedoch angesichts der bisherigen Darstel-lung für die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes eine deutliche Bezugnahme zum Historischen Institutionalismus auf. Hierfür sind insbesondere die nachfolgenden Gründe ausschlaggebend:

Erstens zielt der Historische Institutionalismus in besonderer Weise auf die kontextgebundene Entstehung und Entwicklung von Institutionen. Durch die für diesen Ansatz konstitutive Bedeutung des zeitlichen Kontextes werden die im vorhergehenden Unterkapitel entwickelten Aspekte der Pfadabhängigkeit, tem-porale Abläufe und zeitliche Strukturierung, die Betonung langfristiger Entwick-lungen und das produktive Spannungsfeld zwischen Institutionenentwicklung und Institutionendesign unmittelbar theoretisch aufgegriffen. Mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation erscheint eine solche Betrachtung viel-versprechend. So befinden sich, wie auch die empirische Analyse nachfolgend zeigen wird, Institutionen der Kernexekutive in einem Spannungsfeld zwischen tradierter Stabilität, exogenen Anpassungsversuchen und endogenen Verände-rungsprozessen. Wie bereits in der dieses Kapitel einleitenden Illustration ange-deutet, entstehen und verändern sich Institutionen der Regierungsorganisation nicht in einer „Tabula-Rasa-Situation“ (Peters 1999: 47). Insbesondere formale Institutionen der Regierungsorganisation sind grundsätzlich stabil und von Pfad-abhängigkeiten geprägt. Zugleich wandelt sich die Regierungsorganisation schrittweise und inkrementell.

Zweitens zeigen sich angesichts des erweiterten Institutionenbegriffs deutli-che Anknüpfungspunkt mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand. Die Kern-exekutive speist sich sowohl aus formalen als auch informellen Institutionen. Sowohl formale Regeln, als auch formale und informelle Prozeduren, Routinen, Praktiken, Konventionen und Normen prägen somit den institutionellen Rahmen. Dies greift der Historische Institutionalismus durch seinen Institutionenbegriff auf. Zugleich zieht diese Variante des Neoinstitutionalismus eine Grenze zum beinahe allumfassenden Institutionenbegriff des Soziologischen Institutionalis-

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mus. Damit umgeht der Historische Institutionalismus die potentielle Fallgrube institutionalistischer Theoriebildung, alle Prozesse auf institutionelle Ursachen zurückzuführen und damit in ein krypto-deterministisches Institutionenverständ-nis abzugleiten (vgl. Mayntz/Scharpf 1995: 45).

Drittens bezieht der Historische Institutionalismus in besonderer Weise Machtverhältnisse ein. Dies gilt sowohl für Institutionen prägende Machtverhält-nisse, als auch durch Institutionen geprägte Machtasymmetrien zwischen Akteu-ren. Hier sind die Bezüge zum vorliegenden Untersuchungsgegenstand beson-ders deutlich, ist doch die institutionelle Struktur der Kernexekutive der Versuch, zeitlich begrenzt verliehene Macht institutionell zu kanalisieren und zu struktu-rieren. So bedeutet jeder Regierungswechsel auch einen Machtwechsel, der wichtige Rückkopplungseffekte für die institutionelle Basis nach sich zieht. Die Regierungsorganisation spiegelt folglich einerseits die institutionelle Machtver-teilung wider, prägt sie andererseits wiederum und wirkt damit auf Akteure zu-rück.

Viertens eröffnet der Historische Institutionalismus einen Ausweg aus der Vorstellung krypto-deterministischer Wirkungen von Institutionen, von der insti-tutionalistische Ansätze grundsätzlich bedroht sind. Nicht alleine Institutionen determinieren Akteurshandeln, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungs-trends, situative Faktoren und Ideen werden in die theoretischen Überlegungen integriert. Anders als die eher modelltheoretischen Vorstellungen des Rational-Choice-Institutionalismus bewahrt sich dieser Theoriezweig eine Offenheit ge-genüber außerhalb des engeren Theorierahmens befindlichen Aspekten. Insofern trägt diese Offenheit auch dem stärker explorativen Charakter des hier gewählten Forschungsdesigns Rechnung (vgl. Kapitel 4).

Fünftens schließlich entspricht der grundsätzlich induktive Zugang des His-torischen Institutionalismus der Herangehensweise dieser Arbeit. So setzt ein durch den Historischen Institutionalismus geprägter Analyserahmen weniger auf den Test deduktiv abgeleiteter Hypothesen entlang der jeweiligen untersuchten Fälle. Vielmehr verfolgt diese Arbeit den Ansatz, den theoretisch entwickelten Rahmen durch die Konfrontation mit dem empirischen Material zu präzisieren und damit einen Beitrag zur Theoriebildung zu leisten. Zugleich gilt es jedoch, die von Hall und Taylor (Hall/Taylor 1996: 954–955) identifizierten Schwächen einer solchen Perspektive durch die Fokussierung auf kausale Mechanismen mit dem Potential theoretischer Generalisierung auszugleichen. Ansonsten droht die dem Historischen Institutionalismus innewohnende Gefahr, über die reine Be-schreibung nicht hinauszukommen (Pierson 2004: 49–50).

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3.2.3 Die Notwendigkeit theoretischer Erweiterungen Trotz dieser grundsätzlichen Anschlussfähigkeit sind theoretische Erweiterungen notwendig, um zu einem gegenstandsbezogenen Analyseansatz zu gelangen. Dabei erscheint es sowohl möglich als auch sinnvoll, Grenzen zwischen den unterschiedlichen institutionalistischen Strömungen zu überbrücken, ohne dabei die unterschiedlichen Perspektiven vollständig einzuebnen (vgl. hierzu Hall/Taylor 1996: 955–957; Pierson 2004: 8–9)30.

Die mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand zentrale Problematik aller neoinstitutionalistischen Ansätze ist der dominante Fokus auf institutionelle Stabilität, während institutionelle Wandlungsprozesse systematisch ausgeblendet bleiben. Neben der Stabilität von Institutionen der Kernexekutive gilt es aber mit Blick auf die Fragestellung, auch Wandlungs- und Veränderungsprozesse analy-tisch zu erfassen und nicht als theoretischen Sonderfall oder situativ bedingte Ausnahmesituation zu konzeptualisieren. Dies leistet der Historische Institutio-nalismus in seiner dominanten Ausprägung nur unzureichend. Bereits in ihrer zusammenfassenden Bestandsaufnahme zum Historischen Institutionalismus weisen Steinmo und Thelen (1992: 13–26) kritisch auf diesen Befund hin. Sie identifizieren einen impliziten Determinismus institutioneller Einflüsse und kriti-sieren, dass insbesondere Fragen des institutionellen Wandels und der Reproduk-tion in diesem neoinstitutionalistischen Theorieprogramm bislang unterbelichtet seien. Sie plädieren für eine stärkere Erfassung von Wandel über die Identifikati-on kritischer Wegmarken („critical junctures“) hinaus. Vivien Schmidt geht in ihrem Plädoyer für einen „diskursiven Neoinstitutionalismus“ sogar noch einen Schritt weiter:

“One of the main problems with HI [Historischer Institutionalismus; Anm. d. Verf.], in fact, is that despite the reference to history in its title, it tends to be rather ahistori-cal. Change is explained mainly by reference to critical junctures or ‘punctuated equilibrium’ (…), or history is given very limited play through path dependence, with its ‘lock-in effects’ and ‘positive reinforcement’ mechanisms (…)” (Schmidt 2008: 316; vgl. auch Clemens/Cook 1999: 442).

James Mahoney und Kathleen Thelen (2010: 5–7) stellen den Historischen Insti-tutionalismus in den Kontext des gesamten neoinstitutionalistischen Theoriepro-gramms und kritisieren eine Engführung aller drei neoinstitutionalistischen An-sätze auf Stabilität: So setzt der Soziologische Institutionalismus mit seinem breiten Institutionenverständnis vor allem auf sozialisationsbedingte Reprodukti-

30 Hall (2010) unterstreicht in einer neueren Publikation den besonderen Gewinn solch

synthetischer Ansätze des Neoinstitutionalismus mit Blick auf den Wandel von Institutionen.

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onsprozesse entlang grundsätzlich gleicher Domänen. Institutioneller Wandel wird hier meist als Folge exogener Einflussfaktoren konzeptualisiert. Aus der Perspektive des Rational-Choice-Institutionalismus dienen Institutionen vor allem dem Erhalt und damit der Stabilität von Gleichgewichtsverhältnissen. Entsprechend sorgen hier Institutionen für die Stabilisierung von Erwartungen interagierender Akteure durch die Reduktion von Transaktionskosten. Die klare Trennung zwischen institutioneller Reproduktion und Wandel in Form funda-mentaler Umwälzungen ist folglich konstitutiv für diesen Ansatz. In der Ausprä-gung des Historischen Institutionalismus (ausführlicher hierzu Thelen 1999: 387–399; Thelen 2004: 24–27) zeigt die Betonung von „critical junctures“ vor allem die Entstehungsbedingungen von Institutionen auf. Diese Fokussierung beinhaltet aber keine klare Vorstellung, wie solche einmal geschaffenen Institu-tionen sich danach entwickeln und gegebenenfalls verändern. Auch die Vorstel-lung positiver Feedback-Effekte betont eindeutig Mechanismen der Reprodukti-on und damit institutioneller Stabilisierung. So legt diese Argumentation die Vorstellung nahe, dass Akteure ihre Strategien entlang bestehender Institutionen ausrichten, diese damit adaptieren und die im institutionellen Rahmen zum Aus-druck kommenden Machtverhältnisse dadurch verfestigen. Folglich beinhaltet auch die Betonung positiven Feedbacks und zunehmender Gewinne („increasing returns“) durch Institutionalisierungsprozesse die Dimension der institutionellen Stabilität. Institutioneller Wandel vollzieht sich folglich entweder abrupt und als fundamentale Umwälzung im Zuge kritischer Wegmarken („critical junctures“) oder erscheint bestenfalls als marginale Randerscheinung und damit aus theoreti-scher Sicht vernachlässigenswert. Für die theoretische Konzeptualisierung von Stabilität und Wandel im Historischen Institutionalismus dieser klassischen Aus-prägung bedeutet das eine strikte Trennung zwischen der Entstehung von Institu-tionen in Ausnahmesituationen einerseits und langen Phasen institutioneller Stabilität als theoretischem „Normalfall“ andererseits (Thelen 2004: 27–29).31

Für Mahoney und Thelen folgt daraus:

“All three varieties of institutionalism, in short, provide answers to what sustains in-stitutions over time as well as compelling accounts of cases in which exogenous shocks or shifts prompt institutional change. What they do not provide is a general model of change, particularly one that can comprehend both exogenous and endoge-nous sources of change” (Mahoney/Thelen 2010: 7).

31 Thelen argumentiert darüber hinaus auf, dass prinzipiell Agent-Structure-Ansätze dieser

grundsätzlichen Logik folgen. So regiert in „normalen Zeiten“ die Struktur („structure“), während Phasen des Wandels von Akteuren („agents“) geprägt sind (Thelen 2004: 27–29).

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Anders als Schmidt sehen beide aber die Möglichkeit, institutionelle Wand-lungsprozesse innerhalb des allgemeinen Rahmens des Historischen Institutiona-lismus zu konzeptualisieren (vgl. Schmidt 2008: 316–317; Schmidt 2010).32 Ähnlich lautet auch Piersons Einschätzung, die zugleich den Ausgangspunkt für die im weiteren Verlauf entwickelten theoretischen Ergänzungen des Analysean-satzes darstellt:

“The arguments advanced here about resilience do not suggest that formal political institutions, once established, will never change, or that institutional reform will al-ways be incremental, or that only the factors that contribute to resilience are relevant in assessing the prospects for institutional revision. (...) What the current analysis suggests is that institutions will generally be far from plastic, and that when institu-tions have been in place for a long time most changes will be incremental” (Pierson 2004: 153).

Welche Möglichkeiten bestehen also, innerhalb des Historischen Institutionalis-mus Aspekte des institutionellen Wandels analytisch zu erfassen? Pierson (2004: 134–139) identifiziert fünf Versuche, die Betonung institutioneller Stabilität zu überwinden. Diese erscheinen zugleich als anschlussfähige Ausgangspunkte für eine hier verfolgte gegenstandsbezogene Erweiterung des Historischen Institu-tionalismus:

Erstens blendet das Kernkonzept des Historischen Institutionalismus institu-tionellen Wandel nicht vollständig aus. Vielmehr fungieren kritische Wegmarken als potentielle Katalysatoren institutioneller Veränderungsprozesse. Dabei treten zumindest implizit zwei unterschiedliche Verständnisse solcher kritischer Weg-marken zutage: Einerseits die Vorstellung exogener Schocks, die aufgrund fun-damentaler Umwälzungen des jeweiligen Kontextes institutionelle Wandlungs-prozesse beinahe automatisch nach sich ziehen. Die Wirkung und Bedeutung solcher exogener Ereignisse erschließt sich unmittelbar aus den von ihnen ausge- 32 Schmidt geht in dieser jüngeren Publikation dazu über, den diskursiven Institutionalismus als

vierte neoinstitutionalistische Säule zu systematisieren. Zentraler Fokus ist die stärkere konzeptionelle Rahmung institutionellen Wandels, der aus ihrer Sicht eine Abkehr von dem etablierten Institutionenverständnis notwendig macht. Vgl. hierbei insbesondere die Systematisierung vorliegender neoinstitutionalistischer Ansätze Schmidt 2010: 5 u. 20. Für die vorliegende Analyse bieten die Überlegungen von Schmidt jedoch über die hier aufgegriffene Kritik an der neoinstitutionalistischen Stabilitätsfixierung hinaus keine fundamental abweichenden Anknüpfungspunkte. So besitzt der diskursive Institutionalismus mit der Idee der diskursiven Interaktion von Akteuren einen auch für die anderen neoinstitutionalistischen Stränge identifizierbaren Makromechanismus – kulturelle Sozialisation, Pfadabhängigkeit, Reduktion von Transaktionskosten etc. - , welcher die diskursive Reproduktion und vor allem den Wandel von Institutionen bedingt. Allerdings lassen sich diese Überlegungen, so die hier vertretene Position, im Zuge einer ergänzenden Akteurskonzeption auch in einen stark vom Historischen Institutionalismus geprägten Rahmen integrieren.

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3.2 Historischer Institutionalismus: Stabilität und Wandel von Institutionen 127

lösten Erschütterungen. Andererseits kann es sich aber auch um mutmaßlich kleine Veränderungen handeln, die dann durch positive Feedback-Effekte und sich entwickelnde Pfadabhängigkeiten erst im Zeitverlauf große Wirkungen entfalten. Ihre Bedeutung als kritische Wegmarke erschließt sich folglich erst in der analytischen und längerfristig angelegten Rückschau.

Einen zweiten Katalysator institutionellen Wandels stellen marginalisierte Akteursgruppen dar. Diese sind Verlierer bestehender institutioneller Gegeben-heiten und können durch Widerstand und die Bildung von Koalitionen zu Kata-lysatoren für institutionellen Wandel werden. Diese Form institutionellen Wan-dels rekurriert auf die Betonung von Machtasymmetrien, die den Historischen Institutionalismus kennzeichnet.

Eine dritte Gruppe von Argumenten betont sich überlappende zeitliche Pro-zesse mit Auswirkungen auf die jeweiligen institutionellen Gegebenheiten. So können sich aus Überschneidungen zwischen eigentlich voneinander unabhängi-gen institutionellen Strukturen weitergehende Dynamiken entwickeln, die insti-tutionelle Veränderungsprozesse nach sich ziehen. Während insbesondere der Rational-Choice-Institutionalismus solche gegenseitigen Einflusseffekte oftmals übersieht, besitzt der Historische Institutionalismus durch die Betonung von Kontextfaktoren eine prinzipielle Offenheit gegenüber solchen, institutionellen Wandel auslösenden Effekten.

Eine vierte Perspektive betont die herausgehobene Rolle von Akteuren für institutionellen Wandel. „Institutionelle Unternehmer“ (DiMaggio/Powell 1983; Levy/Scully 2007) können aufgrund persönlicher Eigenschaften oder ihrer struk-turellen Positionierung zu Agenten institutionellen Wandels werden. Als so ge-nannte „Change-Agents“ (Mahoney/Thelen 2010: 22–28) stellen sie eine Ver-bindung zwischen Kontextfaktoren, Institutionen und institutionellen Verände-rungsprozessen her.

Schließlich lassen sich fünftens Versuche erkennen, institutionelle Verände-rungen induktiv zu identifizieren und diese zu idealtypischen Modi institutionel-len Wandels zu verdichten (Thelen 2003: 211–213; Thelen 2004; Mahoney/Thelen 2010). Diese Modi überwinden die Dichotomie von Stabilität und Wandel und verstehen Wandel als auf einem Kontinuum von Stabilität und Veränderung angelegten Prozess. Anders als die klassische Perspektive des His-torischen Institutionalismus erscheinen aus dieser Sicht Stabilität und Wandel von Institutionen nicht als gegensätzliche Pole:

“‘Stasis’ is a particularly misleading notion when it comes to explaining institutional stability, for what we find here is that in order to survive, institutions can rarely just ‘stand still’. Their survival is guaranteed not by their ‘stickiness’ but by their ongo-ing adaptation to changes in the political (...) environment” (Thelen 2004: 217; vgl. Thelen 2004: xii–xiii).

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In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Clemens und Cook (1999), die Institutionen in „Ressourcen“ und „Schemata“ auffächern. Institutio-nen sind folglich heterogen und wirken nicht quasi-deterministisch in eine Rich-tung. Vielmehr sind potentielle Aspekte der Veränderung bereits in Institutionen angelegt, indem sie Mutationsfähigkeit, Widersprüchlichkeiten und Gegensätz-lichkeiten, Vielfalt und Streuung in sich bergen.33 Durch die damit verbundene Differenzierung institutioneller Persistenz in Prozesse der Reproduktion, der Auflösung und der wechselseitigen Reaktion hierauf (Clemens/Cook 1999: 443) wird auch hier die Dichotomie von Stabilität und Wandel zugunsten der Vorstel-lung weniger eindeutig ausgerichteter Transformationsprozesse überwunden. Damit verschiebt sich der Fokus einer institutionalistischen Betrachtungsweise systematisch, wie Thelen feststellt.

“Instead, to understand how institutions evolve, it may be more fruitful to aim for a more fine-grained analysis that seeks to identify what aspects of a specific institu-tional configuration are (or are not) renegotiable and under what conditions” (Thelen 2003: 233; Hervorhebung im Original).

Solche potentiellen theoretischen Erweiterungen des Historischen Institutiona-lismus sind allerdings bislang von drei zentralen Problemen gekennzeichnet (Pierson 2004: 139–141):

Erstens betont insbesondere die Identifikation von „Modi institutionellen Wandels“ primär die Beschreibung von Veränderungsprozessen und damit das Wie institutionellen Wandels. Warum und wann solche Prozesse zu erwarten sind und welche strukturellen Mechanismen dahinter stehen, bleibt jedoch häufig im Dunkeln.

Zweitens zeichnen sich die meisten empirischen Untersuchungen, die auf den Wandel von Institutionen abzielen, durch einen Auswahlbias aus. In den Mittelpunkt rücken von Beginn an Fälle, in denen institutioneller Wandel gegen-über institutioneller Stabilität dominiert.

Schließlich konzentrieren sich solche Studien drittens zumeist auf Katalysa-toren institutionellen Wandels und weniger auf die dahinterliegenden, längerfris-tigen Dynamiken. Insofern gelingt es nicht automatisch, die relevanten Erklä-rungsfaktoren für institutionelle Veränderungsprozesse zu identifizieren.

Allen drei potentiellen Kritikpunkten Piersons kann für die vorliegende Ar-beit offensiv begegnet werden:

Erstens steht zwar vordergründig die Beschreibung von Stabilität und Wan-del der Regierungsorganisation im Mittelpunkt dieser Arbeit. Dabei geht es aber

33 Clemens und Cook sprechen hier von “Mutability“, “Contradiction“, “Multiplicity”, “Con-

tainment” und “Diffusion“ (Clemens/Cook 1999: 443).

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nicht zuvorderst um eine detailgenaue Rekonstruktion des Kontextes in all sei-nen Feinheiten im Sinne einer historisch-investigativen Spurensuche. Vielmehr wird der Rekonstruktion von zeitlichen Abläufen in erster Linie soweit Rech-nung getragen, wie es für die Identifikation von Hypothesen über zugrundelie-gende kausale Mechanismen notwendig ist. Damit greift die Arbeit die von Pierson dargestellte Differenzierung der Kategorie „zeitlicher Kontext“ in zwei unterschiedliche Verständnisse auf (Pierson 2004: 168–169). Weniger detailge-naue Rekonstruktion als vielmehr die Integration kontextualer Aspekte in kausa-le Erklärungen ist gemeint.34 Das schließt einerseits nicht aus, dass über das Instrumentarium der „dichten Beschreibung“ (Geertz 2003) zu solchen Erkennt-nissen gelangt werden kann. Andererseits geht es jedoch zuvorderst um Sensibi-lität gegenüber kausalen Mechanismen und Prozessen, die sich zwar nur aus dem Kontext erschließen lassen, aber begrenzt über den Einzelfall hinausreichen und damit prinzipiell theoretisch generalisierbar sind (vgl. ausführlicher Kapitel 4).

Zweitens steht mit dem untersuchten Gegenstand gerade ein Fall im Mittel-punkt, der sich sowohl durch institutionelle Stabilität als auch durch Wandel auszeichnet. Einen ersten Hinweis hierauf haben die diese Arbeit einleitenden Narrative bereits gegeben. Von einem theoretisch induzierten Auswahlbias kann also keine Rede sein. Vielmehr ist sowohl die Fragestellung als auch der hier zu entwickelnde Analyserahmen gerade darauf ausgelegt, die Dichotomie zwischen Stabilität und Wandel zugunsten der Vorstellung eines Kontinuums mit Abstu-fungen zwischen beiden Polen zu überwinden.

Drittens steht der Versuch im Vordergrund, über die Identifikation konkre-ter Katalysatoren institutioneller Veränderungsprozesse hinauszukommen und begrenzt generalisierbare Mechanismen zu identifizieren. Hier werden bewusst längerfristige institutionelle Entwicklungen aufgegriffen. Hierzu wird auf frühere Arbeiten zum Gegenstand zurückgegriffen, mit deren Hilfe auch die Erfassung längerfristiger Dynamiken möglich wird (vor allem Korte et al. 2006; Florack 2010a). 3.2.4 Zwischenfazit Angesichts dieser Vorüberlegungen erscheinen wiederum drei theoretische Er-weiterungen des Historischen Institutionalismus vielversprechend, um mit Blick auf die vorliegende Fragestellung zu einem gegenstandsbezogenen Analysean-satz zu gelangen. Diese Erweiterungen zur Erfassung von Stabilität und Wandel 34 Diese Unterscheidung verweist implizit auf das unterschiedliche Verständnis von zeitlichem

Kontext in den Sozialwissenschaften und der Geschichtswissenschaft (vgl. Mahoney/Ruesche-meyer 2003; Seibel 1997; Davis 2005).

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von Institutionen der Regierungsorganisation sind innerhalb des dargestellten historisch-institutionalistischen Rahmens möglich, ohne einen fundamental neu-en Weg neoinstitutionalistischer Theoriebildung beispielsweise im Sinne eines „diskursiven Institutionalismus“ zu beschreiten (vgl. Schmidt 2008: 304). Auf-gegriffen und konstruktiv bearbeitet werden müssen aber die beiden zentralen Kritikpunkte am Historischen Institutionalismus: Einerseits seine Neigung, Insti-tutionen als vor allem Stabilität produzierend zu verstehen und andererseits das weitgehend Fehlen einer expliziten Akteurskonzeption. Dadurch, so die hier zugrunde liegende Argumentation, lassen sich Stabilisierungs- und Verände-rungsprozesse von Institutionen der Regierungsorganisation im Wechselspiel von Institutioneneinflüssen und Akteurshandeln analytisch erfassen:

Eine erste Konsequenz besteht in der Konzeptualisierung von Institutionen als zugleich begrenzende und ermöglichende Einflussfaktoren. Durch einen ergänzend am akteurzentrierten Institutionalismus (Mayntz/Scharpf 1995; Scharpf 2000) orientierten Institutionenbegriff geht es um eine Abkehr von ei-nem krypto-deterministischen Institutionenverständnis: Institutionen entfalten keine deterministische Wirkung. Zwar können sie einerseits begrenzend auf Akteure einwirken und bestimmte Akteursreaktionen nahelegen. Andererseits ermöglichen und stimulieren sie aber auch erst Akteurshandeln und stellen damit Handlungskorridore für Akteure bereit (Mayntz/Scharpf 1995: 43; vgl. Czada 2005: 382–386). Institutionen werden damit zur unabhängigen und abhängigen Variable zugleich. Sie beeinflussen einerseits Akteurspräferenzen und -handeln und werden zugleich selber zum Objekt intentionalen Institutionendesigns.

Eine zweite Konsequenz stellt die Ergänzung des hier gewählten neoinstitutionalistischen Zugangs durch eine explizite Akteurskonzeption dar. Auch hier bietet sich zum einen ein theoretischer Brückenschlag zum akteurzent-rierten Institutionalismus an. Nicht als Regelsysteme verstandene Institutionen, sondern Akteure handeln. Sie entscheiden über die Wahrnehmung von Hand-lungsoptionen, die sich aus dem jeweiligen institutionellen Kontext ergeben. Erst durch eine explizite Akteurskonzeption wird ein quasi-deterministisches Ver-ständnis von Institutionen aufgebrochen.

„[A]uf diese Weise [werden] Institutionen nicht einfach als Ergebnis evolutionärer Entwicklungen interpretiert und als gegeben angenommen, sondern sie können ih-rerseits absichtsvoll gestaltet und durch das Handeln angebbarer Akteure verändert werden. Institutionen werden damit im Rahmen des akteurzentrierten Ansatzes ebenso als abhängige wie als unabhängige Variable behandelt“ (Mayntz/Scharpf 1995: 45).

Zum anderen greifen auch Mahoney und Thelen (2010: 27–28) eine stärkere Akteurzentrierung auf und erweitern damit das vor allem auf Institutionen-

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entwicklung konzentrierte Repertoire des Historischen Institutionalismus. Durch die Identifikation von „Change-Agents“ ergänzen Mahoney und Thelen die vom Historischen Institutionalismus betonte Dimension der Institutionenentwicklung um die intentionale Gestaltungsmacht von Akteuren (Mahoney/Thelen 2010: 24-28; vgl. Werle 2007: 128–129). Damit rücken sowohl Prozesse der Institutionen-entwicklung als auch des Institutionendesigns ins Blickfeld. Eine solche umfas-sendere theoretische Konzeptualisierung erscheint aufgrund der begrenzten Trennschärfe zwischen beiden Dimensionen sinnvoll zu sein. Nichtintendierte Institutionenentwicklung und intentionales Institutionendesign sind aufeinander bezogen und die jeweiligen Übergänge fließend (hierzu ausführlicher Czada/ Schimank 2001: 242–258).

Die dritte aus diesen Überlegungen abgeleitete Konsequenz schließlich lau-tet, die im Historischen Institutionalismus klassischer Ausprägung angelegte Dichotomie von Stabilität und Wandel aufzubrechen und beide Dimensionen stattdessen als auf einem Kontinuum angesiedelten Prozess von Beharrung und Veränderung zu verstehen. Den zentralen Anknüpfungspunkt für diese theoreti-sche Erweiterung bieten die Überlegungen von Kathleen Thelen (2004; auch Mahoney/Thelen 2010; Streeck/Thelen 2005b). Die von Thelen induktiv heraus-gearbeiteten und zu Idealtypen institutionellen Wandels weiterentwickelten Modi markieren unterschiedliche Positionen auf diesem Kontinuum. Sie ermöglichen eine gegenstandsbezogene Heuristik zur Erfassung des Wandels von Institutio-nen der Regierungsorganisation, indem sie sowohl fundamentale und schnelle Wandlungsprozesse als auch langfristige Stabilität und graduelle, inkrementelle Veränderungsdynamiken erfassen. Diese noch weitgehend beschreibend ange-legten Modi gilt es dann im Zuge der empirischen Analyse durch die Identifika-tion dahinterliegender kausaler Mechanismen anzureichern. 3.3 Institutionen: Formale und informelle Regelsysteme und die

Anwendung institutioneller Regeln 3.3.1 Institutionen als formale und informelle Regelsysteme Im Zentrum der Fragestellung stehen die Transformationsprozesse der Kernexe-kutive. Was aber ist eigentlich aus theoretischer Perspektive mit diesen „Institu-tionen“ gemeint? Dem Begriff der Kernexekutive liegt ein weiter Institutionen-begriff zugrunde. So kann es sich bei der Kernexekutive einerseits um formale Organisationen, andererseits um informelle Praktiken, Konventionen und Spiel-regeln handeln. Konkret bezogen auf den Untersuchungsgegenstand bedeutet das: Auf der einen Seite des Spektrums bilden Regierungszentralen als formale

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Organisationen per definitionem den Nukleus der „Kernexekutive“ (Blätte 2011). Die zentrale Aufgabe dieser Organisationseinheit ist die regierungsinterne Gesamtkoordination. Diese wird ihr durch die Geschäftsordnung der Regierung formal zugewiesen (u.a. Knöpfle 1967; König 1993; Knoll 2004; Häußer 1995; Gebauer 2008). Am anderen Ende des Spektrums finden sich als Institutionen der Kernexekutive informell verabredete Praktiken, Konventionen und „standard operating procedures“. Hierzu gehört beispielsweise die informelle Weitergabe von Informationen zwischen den Ressorts unterschiedlicher Koalitionspartner, bevor der formale Weg der Ressortkoordination beschritten wird. Dieses Wech-selspiel aus formalen und informellen Elementen prägt im Regelfall alle politi-schen Institutionen. Für Institutionen der Kernexekutive ist dieses Spannungs-verhältnis, wie Gerd Mielke festhält, beinahe konstitutiv: „Die formale Struktur, wie sie die Organisations- und Geschäftsverteilungspläne festgelegen, wird un-weigerlich durchwirkt und umwoben von einem Netzwerk informeller Kommu-nikations- und Interaktionsmuster“ (Mielke 2011: 93).

Diese bereits einleitend herausgearbeitete, definitorische Rahmung über den Begriff der Kernexekutive entspricht dem oben dargestellten weiten Institutio-nenbegriff des Historischen Institutionalismus. Auch hier werden Institutionen als „formal or informal procedures, routines, norms and conventions embedded in the organizational structure of the polity” (Hall/Taylor 1996: 938) definiert (vgl. (Thelen/Steinmo 1992: 2–7). Dabei betont der Historische Institutionalis-mus, wie auch andere neoinstitutionalistische Theoriestränge, das auf Kontinuität und Dauerhaftigkeit angelegte Verständnis von Institutionen:

“Despite many other differences, nearly all definitions of institutions treat them as relatively enduring features of political and social life (rules, norms, procedures) that structure behavior and that cannot be changed easily or instantaneously” (Ma-honey/Thelen 2010: 4).

In Erweiterung dieser allgemeinen Definition kann mit Artur Benz (2004b: 20) zwischen verfassten Institutionen, formalen Regeln und informellen Regeln unterschieden werden. Diese drei Ausprägungen beschreiben verschiedene Punk-te auf einem Kontinuum unterschiedlicher Formalisierungsgrade von Institutio-nen. Sie unterscheiden sich entlang der Kriterien Verbindlichkeit, Sanktionspo-tential und Regelhaftigkeit voneinander. Gleichwohl können, trotz fortbestehen-der Unterschiede zwischen beiden, sowohl von formalen als auch informellen Institutionen Verbindlichkeit und Sanktionspotential ausgehen. Entsprechende Wirkungen sind im Zuge eines weiten Institutionenbegriffs gerade nicht auf formale Regeln und Prozeduren beschränkt (Grunden 2009: 60–61). Hierauf weist auch Benz im Zuge seiner Kategorisierung hin:

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3.3 Institutionen 133

„Die Stabilität von Institutionen beruht vor allem auf formalen Regeln. Die Ord-nungs-, Orientierungs- und Koordinationswirkung hängt von Institutionen, hängt aber auch von der Regelauslegung und -anwendung der Akteure in Institutionen ab. Darüber hinaus gehören zur Realität von Institutionen auch informale Regeln und soziale Normen, also so genannte 'standard operating procedures', Gewohnheiten, Entscheidungsstile und normative Selbstbeschreibungen der organisierten Realität, auf die sich zusammenarbeitende Akteure geeinigt haben. Im Unterschied zu forma-len Regeln sind sie flexibel, allerdings nur im Rahmen eines vorgegebenen Entwick-lungspfades“ (Benz 2004b: 20).

Allerdings deutet sich in dieser Konzeptualisierung eine Abweichung von einem allzu statischen und determinierenden Institutionenverständnis an. Zwar betont Benz insbesondere die Wirkung von Pfadabhängigkeiten, die dadurch begrenzten Entwicklungspfade für und die hieraus resultierenden stabilisierenden Effekte von Institutionen. Dennoch ist in diesem Institutionenverständnis die Möglich-keit institutionellen Wandels strukturell angelegt, indem insbesondere informelle Institutionen und die konkrete Regelanwendung Wandlungsprozesse ermögli-chen.

Noch stärker kommt ein entsprechendes Institutionenverständnis im Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus zum Tragen (Mayntz/Scharpf 1995: 43–45; Scharpf 2000: 76–84; zusammenfassend auch Schimank 2007a: 170–173; Schimank 2004: 292–299; Schultze 2005a; Grunden 2009: 53–58). Für die theo-retische Rahmung der Kernexekutive soll hier zunächst das darin angelegte Institutionenverständnis und weniger die Akteurzentrierung des Ansatzes im Mittelpunkt stehen.

Dem akteurszentrierten Institutionalismus liegt ein Grundverständnis von Institutionen als „verhaltensregulierende und Erwartungssicherheit erzeugende soziale Regelsysteme“ (Czada 2005: 381; vgl. Benz 2004b: 19) zugrunde. Damit ist aber keinesfalls ein alleine begrenzendes und insofern deterministisches Ver-ständnis von Institutionen gemeint. Vielmehr kritisiert der Ansatz genau diese Engführung. Institutionen entfalten keine deterministische Wirkung, sie wirken nicht alleine begrenzend und als Institutionen verstandene „Regelsysteme han-deln nicht" (Mayntz/Scharpf 1995: 49). Vielmehr stellen institutionelle Struktu-ren einen „stimulierenden, ermöglichenden oder auch restringierenden Hand-lungskontext“ (Mayntz/Scharpf 1995: 43) bereit. Institutionen werden insofern konzeptuell auf ein Verständnis von Regelsystemen beschränkt, die „offenste-hende Handlungsspielräume strukturieren“ (Scharpf 2000: 77). Institutionen konstituieren Akteure, beeinflussen ihre Präferenzen und ihre Wahrnehmung und definieren „Dominanz- und Abhängigkeitsbeziehungen“ (Grunden 2009: 53). Hierbei beinhaltet dieses Verständnis institutioneller Regelsysteme sowohl for-male Regeln, als auch informelle Aspekte und soziale Normen. Die insbesondere

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vom Historischen Institutionalismus hervorgehobene pfadabhängige Einbindung von Institutionen wird von Mayntz und Scharpf explizit aufgegriffen und inte-griert. Aber Institutionen sind, und diese stellt eine gravierende und für den Ana-lyseansatz zentrale Abweichung dar, nicht alleine unabhängige Variablen, die strukturell auf Akteure einwirken. Sie sind darüber hinaus, anders als es der Historische Institutionalismus im engeren Sinne nahelegt, nicht alleine „Ergebnis evolutionärer Entwicklungen (…), sondern sie können ihrerseits absichtsvoll gestaltet und durch das Handeln angebbarer Akteure verändert werden. Instituti-onen werden damit im Rahmen des akteurzentrierten Ansatzes ebenso als abhän-gige wie als unabhängige Variablen behandelt“ (Mayntz/Scharpf 1995: 45).

Der zentrale Ausgangspunkt für diese dualistische Wendung von Institutio-nen ist hierbei das vom Historischen und Akteurzentriertem Institutionalismus geteilte weite Institutionenverständnis. Diesen Aspekt greifen Mayntz und Scharpf aber nur implizit auf. Insofern besteht ihr zentrales Verdienst darin, auf die ermöglichende und stimulierende Wirkung von Institutionen explizit hinge-wiesen zu haben. Allerdings gilt es darüber hinaus herauszuarbeiten, wie Institu-tionen aus einer konzeptionellen Perspektive konkret stabil und zugleich verän-derbar sind. 3.3.2 Institutionen und die Anwendung institutioneller Regeln Der Schlüssel hierfür liegt im spezifischen Institutionenverständnis mit seiner doppelten Fokussierung auf formale und informelle Regelsysteme begründet. Einen ersten Hinweis in dieser Hinsicht lieferte bereits die oben vorgestellte Überlegung von Benz zur Differenzierung zwischen verfassten Institutionen, formalen und informellen Regeln (Benz 2004b: 20). Seine Betonung der grund-sätzlichen Flexibilität informeller Regeln innerhalb vorgegebener Entwicklungs-pfade bei gleichzeitig größerer Stabilität formaler Regeln stellt genau die kon-zeptionelle Brücke dar, mit der sowohl institutionelle Stabilität als auch instituti-oneller Wandel fassbar werden. Wolfgang Streeck und Kathleen Thelen (2005b: 9–16) greifen diese Überlegungen auf, indem sie auf die dualistische Ausrich-tung von Institutionen im Sinne eines sozialen Regimes hinweisen. Einerseits sind Institutionen Bausteine einer stabilen sozialen Ordnung: „Typically they involve mutually related rights and obligations for actors, distinguishing between appropriate and inappropriate (…) actions and thereby organizing behavior into predictable and reliable patterns“ (Streeck/Thelen 2005b: 9). Dies umschreibt die stabilisierende Dimension von Institutionen, indem die Handlungskorridore und Entwicklungspfade begrenzen. Institutionen können in diesem Sinne als „soziale Regime“ verstanden werden. Zugleich, und das ist die andere Dimension eines

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3.3 Institutionen 135

solchen Institutionenverständnisses, liegt genau hierin das Potential für instituti-onellen Wandel. Die Begründung fußt auf dem zuvor skizzierten Institutionen-begriff, der sowohl formale als auch informelle Regeln einbezieht. Hier ist vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Regel und Regelanwendung von be-sonderer Bedeutung:

“They all have to do with the fact that the enactment of a social rule is never perfect and that there always is a gap between the ideal pattern of a rule and the real pattern of life under it” (Streeck/Thelen 2005b: 14).

Anders ausgedrückt, erscheinen Institutionen unter dieser Prämisse nicht mehr als festgefügte und klar umrissene Rahmenbedingungen, die nur noch begrenzte Abweichungen für Akteure und Akteurshandeln ermöglichen. Formale und in-formelle Regeln gelten vielmehr nicht von sich aus, sondern müssen umgesetzt, adaptiert und in der jeweiligen Situation angewandt werden. Dabei ist zu beach-ten, dass Regeln nie alle potentiellen Anwendungsfälle abdecken können, impli-zite Annahmen Teil von institutionellen Regeln sind und Akteure bei der Regel-formulierung kognitiven Limitierungen unterliegen (Mahoney/Thelen 2010: 14–17). Dabei sind zwar formale Regeln grundsätzlich stabiler als informelle Regel-systeme, aber auch sie unterliegen Möglichkeiten zur Veränderung. Dies führt Mahoney und Thelen (2010) zu einem Institutionenverständnis, welches gerade an dieser Schnittstelle zwischen Regelsystemen und ihrer Anwendung, zwischen formalen und informellen Regeln den Hebel für institutionelle Veränderungspro-zesse ansetzt:

“In short, we propose that the basic properties of institutions contain within them possibilities for change. What animates change is the power-distributional implica-tion of institutions. However, where we expect incremental change to emerge is pre-cisely in the ‘gaps’ or ‘soft spots’ between the rule and its interpretation or the rule and its enforcement. This is an analytic space that other conceptions of institutions (as behaviors in equilibrium, or as scripts) essentially rule out by definition, but as a practical matter this is exactly the space in which contests over - and at the same time within - institutions take place. The emphasis on compliance also opens new avenues for theorizing the actors and the coalitions that drive institutional change” (Mahoney/Thelen 2010: 14).

3.3.3 Zwischenfazit Ein solch erweitertes und analytisch aufgefächertes Institutionenverständnis eröffnet die Möglichkeit, die sowohl begrenzende als auch ermöglichende Struk-

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tur von Institutionen analytisch greifbar zu machen. Über das vom akteurzent-rierten Institutionalismus hinaus erhobene allgemeine Postulat hinaus, Institutio-nen als unabhängige und abhängige Variable zu verstehen, machen diese weiter-führenden Überlegungen die zwei Schlüsselstellen deutlich, mit deren Hilfe sowohl Stabilität als auch Wandel von Institutionen entlang eines modifizierten Institutionenbegriffs konzeptualisierbar werden:

Ein erster Ausgangspunkt liegt in dem gegenüber dem klassischen Institu-tionalismus erweiterten Institutionenbegriff, der formale und informelle Instituti-onen integriert. Hierbei sind formale Institutionen durch den hohen Institutiona-lisierungsgrad tendenziell stabiler, während informelle Regeln aufgrund ihres weniger formalisierten Charakters tendenziell leichter veränderbar sind. Hier-durch ergibt sich trotz des grundsätzlich stabilisierenden Charakters von Institu-tionen das Potential für institutionelle Veränderungsprozesse.

Zugleich können aber auch informelle Praktiken einen hohen Grad an Re-gelhaftigkeit, Sanktionspotential und Verbindlichkeit nach sich ziehen, der for-malen Institutionen in nichts nachsteht. Beide Formen von Institutionen sind in ihrer Entwicklung von Pfadabhängigkeiten geprägt, die längerfristige Einflüsse und historische Kontextbedingungen beinhalten.

Ein mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand gewähltes Beispiel illus-triert kurz diese Überlegung: Die Geschäftsordnung einer Regierung stellt im oben geschilderten Sinne eine formale Institution dar. Sie legt beispielsweise Verfahrensabläufe für die regierungsinterne Ressortkoordination fest, bestimmt zeitliche Abfolgen und regelt die Beteiligung unterschiedlicher Akteure. Durch ihren formalisierten Charakter zieht sie besondere Regelhaftigkeit, Verbindlich-keit und Sanktionspotential nach sich. Veränderungen sind hier nur über eine formalisierte Beschlussfassung unter Beteiligung zahlreicher Akteure möglich. Ein Beispiel für eine informelle Institution wiederum ist ein Koalitionsausschuss zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Koalitionspartnern. Dieser beruht auf der widerrufbaren Vereinbarung der beteiligten Koalitionspar-teien, unterliegt nicht notwendigerweise einem formalisierten Verfahren und kann im Zeitverlauf unterschiedliche Formate annehmen. Das formale Sankti-onspotential bei Verstößen gegen die vereinbarten Verfahrensregeln ist hier be-grenzt. Gleichwohl kann auch ein Koalitionsausschuss durch Gewohnheit, wie-derholte Einsetzung und begrenzte Formen der Formalisierung - beispielsweise in der schriftlich vereinbarten Koalitionsvereinbarung - mittelfristig ein wirksa-mes Potential an Regelhaftigkeit und Verbindlichkeit nach sich ziehen.

Einen zweiten Ausgangspunkt stellt die Unterscheidung zwischen formalen und informellen Regelsystemen auf der einen und ihrer konkreten Anwendung, Umsetzung und Adaption auf der anderen Seite dar. Diese von Mahoney und Thelen (2010: 11–18) hervorgehobene Modifikation des Institutionen-

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3.3 Institutionen 137

verständnisses im Vergleich zu anderen institutionalistischen Theorieansätzen35 macht deutlich, wo ein zweites Einfallstor für institutionellen Wandel bei grund-sätzlich stabilisierenden Einflüssen von Institutionen begründet liegt: Als Regel-systeme verstandene Institutionen erlangen nicht automatisch Geltungskraft, sondern müssen angewandt und umgesetzt werden. Diese Regelanwendung er-möglicht beispielsweise begrenzte Abweichungen, gezielte Regelverstöße und Anpassungsprozesse angesichts der jeweiligen Kontextbedingungen. Hierdurch ergibt sich ein weniger auf Statik ausgerichtetes, als gegenüber begrenzten Wandlungsprozessen aufgeschlossenes Institutionenverständnis.

Auch hier illustriert ein mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand ge-wähltes Beispiel diese Überlegung: Die Geschäftsordnung einer Regierung stellt eine formale Regel dar, die beispielsweise Verfahrensabläufe der Ressortkoordi-nation regelt. Dabei betont sie die Rolle federführender Ressorts für die Ab-stimmung von Ressortvorlagen und die koordinierende Rolle der Regierungs-zentrale in diesem Verfahren. Jenseits dieser formalen Regel können sich aber informelle Praktiken entfalten, die diese Regeln modifizieren, erweitern oder gar verletzen. Während beispielsweise die Geschäftsordnung nicht zwischen den jeweiligen Ressorts der eine Regierung tragenden Koalitionsparteien unterschei-det, macht diese Kontextbedingung für die konkrete Regelumsetzung einen fun-damentalen Unterschied. So können jenseits des formalen Verfahrensablaufes Informationen gezielt an weitere Akteure oder Organisationseinheiten weiterge-geben werden, die sich neben der offiziellen Ressortkoordination mit der Koor-dination zwischen den Koalitionsparteien beschäftigen. Dies führt gegebenen-falls dazu, dass die formalen Regeln der Geschäftsordnung nur pro forma gelten, während informelle Praktiken die entscheidenden Regelsysteme in diesem Zu-sammenhang darstellen.

Zusammenfassend formuliert, besteht mit Blick auf die vorhergehenden Überlegungen durch diese theoretische Erweiterung des Institutionenbegriffs die Gelegenheit, sowohl Institutionenentwicklung als auch Institutionendesign und sowohl institutionelle Stabilität als auch institutionellen Wandel analytisch greif-bar zu machen. Damit begegnet der hier gewählte analytische Zugang einer Schwäche aller drei neoinstitutionalistischen Theorieströmungen, institutionellen Wandel nur im Zuge exogener Schocks und nicht auch im Zuge endogener Ein-flussfaktoren erklären zu können. Darüber hinaus bleibt jedoch eine zweite Er-weiterung der theoretischen Grundlagen durch eine explizite Akteurskonzeption notwendig. Denn ein solch verändertes Institutionenverständnis „calls for inject-ing somewhat more agency and strategy at the ‚back end‘ of such arguments - by emphasizing the way in which institutions operate not just as constraints but as 35 Die Abgrenzung von Mahoney und Thelen wendet sich insbesondere gegen den Rational-

Choice- und den Soziologischen Institutionalismus.

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strategic resources for actors as they respond to changes in the political (…) contexts that present new opportunities or throw up new challenges“ (Thelen 2003: 213). Denn es gilt auch bei einem solch veränderten Verständnis von Insti-tutionen das Diktum von Renate Mayntz (1995: 49): Akteure, nicht institutionel-le Regelsysteme handeln. 3.4 Akteurstheoretische Erweiterung: Change-Agents, individuelle

Repräsentanten korporativer Akteure und Akteurskoalitionen Anknüpfungspunkte für eine explizite Akteurskonzeption im Rahmen eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes ergeben sich aus den Implikationen des bisher diskutierten Institutionenverständnisses. Bislang standen zwei für Institutionenstabilität und -wandel zentrale Charakteristika von Institutionen im Mittelpunkt: Einerseits das Spannungsverhältnis zwischen formalen und infor-mellen Institutionen und andererseits das Wechselspiel aus institutionellen Re-gelsystemen und ihrer Anwendung. Daraus ergibt sich zumindest indirekt auch eine herausgehobene Bedeutung von politischen Machtverhältnissen für Institu-tionen und damit eine dritte Dimension, die ihrerseits wiederum auf die Notwen-digkeit einer expliziten Akteurskonzeption als theoretische Ergänzung verweist. Dieser Zusammenhang steht bei den nachfolgenden Ausführungen im Mittel-punkt. Zu beantworten sind im weiteren Verlauf die Fragen, warum Akteure eine zentrale Rolle für Institutionenentwicklung und Institutionendesign spielen und welche Akteure dabei ins Blickfeld rücken. Erst durch die Verdichtung dieser Annahmen zu einer expliziten Akteurskonzeption findet das Institutionenver-ständnis eine notwendige Ergänzung, welche die analytische Erfassung instituti-onellen Wandels und institutioneller Stabilität mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation ermöglicht.

Zentraler Aspekt des im vorhergehenden Abschnitt entwickelten Institutio-nenbegriffs ist ein dualistisches Verständnis von Institutionen als unabhängige und abhängige Variable. Daraus ergibt sich beinahe zwangsläufig ein stark machtbezogener Institutionenbegriff, denn Institutionen prägen Akteure und Akteursinteraktionen und sind auf der anderen Seite gezielten Veränderungsver-suchen und Anpassungsprozessen ausgeliefert. Daraus folgt eine Vorstellung, „that conceives institutions above all else as distributional instruments laden with power implications” (Mahoney/Thelen 2010: 7–8). Die grundsätzliche An-schlussfähigkeit dieser Sichtweise an den Historischen Institutionalismus wurde oben bereits diskutiert. Diese Theorieströmung geht in besonderer Weise davon aus, dass Machtverhältnisse und Machtasymmetrien zum einen eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Entwicklung von Institutionen spielen. Zum ande-

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3.4 Akteurstheoretische Erweiterung 139

ren wirken Institutionen ihrerseits auf Machtverhältnisse zurück, indem sie Ak-teure konstituieren und ihre Präferenzen und Interaktionen beeinflussen. Hieraus ergibt sich, so die bisherige Argumentation mit Blick auf das Institutionenver-ständnis, gleichermaßen eine theoretische Basis für Stabilität und Wandel von Institutionen, denn:

“For these reasons, there is nothing automatic, self-perpetuating, or self-reinforcing about institutional arrangements. Rather, a dynamic component is built in; where in-stitutions represent compromises or relatively durable though still contested settle-ments based on specific coalitional dynamics, they are always vulnerable to shifts. On this view, change and stability are in fact inextricably linked” (Mahoney/Thelen 2010: 8–9).

Das aus diesen Überlegungen resultierende machtbezogene Institutionenver-ständnis beinhaltet folglich eine dritte Dimension, mit der jenseits institutioneller Stabilität auch Veränderungsprozesse analytisch erfassbar werden.

Zugleich gilt es aber im Blick zu behalten, dass nicht institutionelle Regel-systeme, sondern Akteure handeln. Insofern teilt der hier entwickelte Ansatz eine zentrale Annahme des akteurzentrierten Institutionalismus, der „den strategi-schen Handlungen und Interaktionen zweckgerichteter und intelligenter indivi-dueller und korporativer Akteure dieselbe Bedeutung beimisst wie den ermög-lichenden, beschränkenden und prägenden Effekten gegebener (aber veränderba-rer) institutioneller Strukturen und institutionalisierter Normen“ (Scharpf 2000: 72). Akteure entscheiden über die Wahrnehmung von Handlungsoptionen, die sich aus dem jeweiligen institutionellen Kontext ergeben. Eine explizite Akteurs-konzeption überwindet eine zentrale Schwäche des Historischen Institutionalis-mus, der diesem Aspekt bislang wenig Beachtung beigemessen hat (vgl. Thelen 2004: 286–287). Dieser Theoriestrang betont in seiner klassischen Ausprägung vor allem die weitgehend unintendierte Entstehung institutioneller Ordnungen. Aber erst durch die Beachtung von Akteuren wird die vom Historischen Institu-tionalismus betonte Dimension der Institutionenentwicklung um die der intentio-nalen Institutionengestaltung durch Akteure ergänzt.

“The key to understanding institutional complementaries is to think in terms of insti-tutional co-evolution and feedback effects as processes through which coherence does not emerge so much as it is constructed, as institutions inherited from the past get adapted (…) to changes in the political (…) context” (Thelen 2004: 291).

Diese Konstruktions- und Anpassungsleistung wird von Akteuren erbracht. Sie füllen den Raum zwischen formalen und informellen Institutionen, zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung. Dass insbesondere bei politischen

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Institutionen Machtverhältnisse eine wichtige Rolle spielen, liegt auf der Hand. Aus einem machtbezogenen Institutionenverständnis folgt daher beinahe auto-matisch die Notwendigkeit einer entsprechenden Akteurskonzeption (vgl. Thelen 2004: 32–33).

Mit Blick auf einen gegenstandsbezogenen Ansatz erscheinen zwei An-knüpfungspunkte geeignet, die bisherigen Überlegungen durch eine explizite Ak-teurskonzeption zu ergänzen:

Erstens bietet sich ein institutionentheoretischer Brückenschlag zum akteur-zentrierten Institutionalismus an. Dieser teilt einerseits eine Vielzahl der im Vor-lauf diskutierten Annahmen des Historischen Institutionalismus. Andererseits erscheint die von Mayntz und Scharpf entwickelte akteurstheoretische Heuristik übertragbar, ohne zugleich die spieltheoretische Fundierung des Ansatzes über-nehmen zu müssen.

Zweitens greifen auch Mahoney und Thelen (2010) in ihrer unmittelbar vom Historischen Institutionalismus geprägten Perspektive eine stärkere Akteurzentrierung zur Erklärung institutionellen Wandels auf und erweitern damit das analytische Repertoire des neoinstitutionalistischen Ansatzes um Agenten institutionellen Wandels. 3.4.1 Die Akteurskonzeption des Akteurzentrierten Institutionalismus:

Individuelle Repräsentanten korporativer Akteure Der akteurzentrierte Institutionalismus „sieht politisches Handeln als Ergebnis der Interaktionen zwischen strategisch handelnden, aber begrenzt rationalen Akteuren, deren Handlungsmöglichkeiten, Präferenzen und Wahrnehmungen weitgehend, aber nicht vollständig, durch die Normen des institutionellen Rah-mens bestimmt werden, innerhalb dessen sie interagieren“ (Scharpf 2000: 319). Politische Entscheidungsprozesse und Politikergebnisse können aus dieser Per-spektive auf die Struktur des institutionellen Kontextes, die Interaktionsmuster innerhalb bestehender Akteurskonstellationen und die jeweiligen Handlungsori-entierungen der Akteure zurückgeführt werden. Der Ansatz zielt vor allem auf die theoriegestützte Erklärung von Policy-Prozessen. Dabei versucht er, durch den interaktionsorientierten Zugang eine Brücke zwischen materieller und pro-zessorientierter Policy-Forschung zu schlagen (Scharpf 2000: 32–36).

Mit Blick auf eine gegenstandsbezogene Akteurskonzeption zur institutio-neller Transformationsdynamiken der Kernexekutive entfaltet das Verständnis von Akteuren im Rahmen dieses Ansatzes besondere Bedeutung. Mayntz und Scharpf unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen individuellen, kollek-tiven und korporativen Akteuren (Mayntz/Scharpf 1995; ausführlicher Scharpf

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2000: 95–122). Durch die Gegenstandsausrichtung des Ansatzes auf Prozesse der gesellschaftlichen Selbstorganisation und auf materielle und prozessuale Policy-Ergebnisse rückt die Interaktion „korporativer Akteure“ in den Mittel-punkt der Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich um formalisierte Organisatio-nen, die „über zentralisierte, also nicht mehr den Mitgliedern individuell zuste-henden Handlungsressourcen verfügen, über deren Einsatz hierarchisch (…) oder majoritär (…) entschieden werden kann“ (Mayntz/Scharpf 1995: 49–50). Sie unterscheiden sich damit von kollektiven Akteuren, die zwar gleichgerichtet handeln, dabei aber nicht über ein formalisiertes Regelsystem im Sinne einer Organisation verfügen. So sind beispielsweise Koalitionen (oder auch Verbände und soziale Bewegungen) entlang dieser Systematisierung kollektive Akteure. Die Mitglieder einer Koalition handeln gemeinsam, verfolgen aber individuelle Ziele, besitzen individuelle Ressourcen und führen Entscheidungen über konsensuale Vereinbarungen herbei. Dagegen verfügt ein korporativer Akteur über den Status einer Organisation, so dass auch hierarchische Entscheidungs-prozesse möglich werden (ausführlicher Scharpf 2000: 96–107).

Wenngleich das Hauptaugenmerk auf korporativen Akteuren liegt, so be-zieht der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus auch individuelle Ak-teure in die Akteurssystematik ein. Ihnen gilt theoretische Aufmerksamkeit durch die besondere Betonung ihrer Rolle als Repräsentanten kollektiver Akteu-re. Dabei verfügen „die für eine Organisation agierenden Individuen (…) fast immer [über] gewisse, manchmal sogar ganz erhebliche Bewegungsspielräume“ (Mayntz/Scharpf 1995: 50). Eine solche Mikrofundierung jenseits der Betrach-tung korporativer Akteure als „black box“ wird von Mayntz und Scharpf für sinnvoll und notwendig gehalten. Bestimmte Fragen sind nur zu beantworten, „wenn das Handeln von Individuen auf der ‚Mikroebene’ den zu erklärenden Sachverhalt wesentlich mitbestimmt“. Hier muss individuellen Akteuren in ihrer „Rolle als Mitglieder, Funktionsträger und Repräsentanten“ korporativer Akteure besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden (Mayntz/Scharpf 1995: 44).36

Diese Repräsentantenrolle individueller Akteure stellt für die vorliegende Fragestellung einen ersten analytischen Anknüpfungspunkt dar. Die oben im Zusammenhang mit dem Institutionenbegriff diskutierten Überlegungen begrün-den die Annahme, dass Akteure den Raum zwischen formalen und informellen Institutionen, zwischen institutionellen Regeln und ihrer konkreten Anwendung füllen. Dabei rücken insbesondere individuelle Akteure in den Fokus. Denn es sind mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand individuelle politische Akteure, die auf Institutionen der Kernexekutive unmittelbar Einfluss nehmen, deren Re- 36 Artur Benz (1997: 19) verweist auf das einer solchen Perspektive innewohnende Integrations-

potential, da aus einer solchen handlungstheoretischen Perspektive sowohl Makro- als auch Mikroprozesse analysiert werden können.

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geln anwenden oder zu verändern suchen. Zugleich repräsentieren sie dabei in der Regel verschiedene korporative Akteure (hierzu Grunden 2009: 56).

Mit Blick auf die Regierungsorganisation illustriert folgendes Beispiel diese multiple Repräsentantenrolle individueller Akteure37: Innerhalb eines Koalitions-ausschusses repräsentieren die Mitglieder einerseits ihre jeweiligen Parteien innerhalb der Regierungsformation. Es sitzen sich im Regelfall mehrere indivi-duelle Repräsentanten des korporativen Akteurs „Partei“ gegenüber. Innerhalb der jeweiligen Parteien repräsentieren diese wiederum weitere korporative Ak-teure. So kann der Regierungschef als Repräsentant der Exekutive, der Frakti-onsvorsitzende als Repräsentant der die Regierungsformation tragenden Parla-mentsfraktionen und der Generalsekretär als Repräsentant der außerparlamenta-rischen Parteigliederungen gelten.

Als Akteure besitzen diese individuellen Akteure gegenüber den jeweiligen korporativen Akteuren eine gewisse Handlungsfreiheit. Allerdings sind politi-sche Organisationen „polyarchisch überformt, d.h. sie konstituieren sich von unten“. Das Handeln der Akteure muss in gewissem Maße an die jeweiligen korporativen Akteure rückgebunden sein, sollen deren Mitglieder nicht mit „Exit“- oder „Voice-Optionen“ reagieren (Grunden 2009: 56). 3.4.2 Akteure als institutionelle „Change-Agents“ und Akteurskoalitionen Ein zweiter Ansatzpunkt für eine explizite Akteurskonzeption ergibt sich aus der Weiterentwicklung neoinstitutionalistischer Ansätze. Wenngleich die entspre-chenden Vertreter sich grundsätzlich dem Historischen Institutionalismus ver-pflichtet fühlen und zahlreiche Annahmen teilen (Thelen 2004: 36), so geht mit einer stärkeren Mikrofundierung von Pfadabhängigkeitskonzepten und der stär-keren Beachtung für das Handeln individueller, kollektiver und korporativer Akteure eine gewisse Abkehr von dem alleinigen Fokus auf ungesteuerte Institutionenentwicklung einher. Entsprechende Ansätze schreiben politischen Unternehmern, die Pfade institutionalisieren und somit institutionelle Entwick-lungen intentional vorantreiben, deutlich größere Bedeutung zu (Werle 2007: 128–129).

Mahoney und Thelen (2010) bauen bei ihren Überlegungen zur Rolle von Akteuren auf dem oben entwickelten Institutionenverständnis auf. Sie betonen mit Blick auf einen betont machtbezogenen Institutionenbegriff das in Institutio-nen angelegte dynamische Potential: “A distributional approach suggests that 37 Man könnte alternativ mit Artur Benz auch von „Grenzstellenakteuren“ sprechen, indem

individuelle Akteure unterschiedliche Handlungsarenen miteinander in einer Person verbinden und zugleich verschiedene korporative Akteure repräsentieren (vgl. Kropp 2001a: 64–65).

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dynamic tensions and pressures for change are built into institutions“ (Maho-ney/Thelen 2010: 14). Dagegen akzentuieren andere institutionalistische Ansätze fast ausschließlich den stabilisierenden Effekt von Institutionen (Mahoney/The-len 2010: 4–14).

Dieses in Institutionen angelegte Veränderungspotential kann sich in jeweils unterschiedlichen Modi institutionellen Wandels manifestieren (Mahoney/Thelen 2010: 15–18; vgl. Streeck/Thelen 2005b: 19–30). Auslöser und Ausgangspunkt für diese Modi sind einerseits (situative) Faktoren des politischen Kontextes, andererseits die jeweils vorherrschenden institutionellen Charakteristika. Bevor im weiteren Verlauf genauer auf den damit verbundenen Ansatz eingegangen wird, ist für die hier diskutierte Frage einer ergänzenden Akteurskonzeption alleine die Rolle von Akteuren in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Sie sind für Mahoney und Thelen, wie die Abbildung (Abbildung 1) zeigt, der zent-rale Dreh- und Angelpunkt zur Verbindung der drei genannten Kategorien. Diese Perspektive entspricht prinzipiell der zuvor entwickelten Überlegung, dass Ak-teure den Raum zwischen formalen und informellen Institutionen, zwischen institutionellen Regeln und ihrer Umsetzung ausfüllen.

Das von Mahoney und Thelen entwickelte Modell zur Erklärung institutio-nellen Wandels versteht Akteure im Sinne von Change-Agents als Agenten und Treiber institutionellen Wandels (nachfolgend Mahoney/Thelen 2010: 22–28). Damit wird im Zuge dieser „Theorie institutionellen Wandels“ eine explizite Akteurskonzeption ergänzt, die bei den vorhergehenden Überlegungen Thelens allenfalls eine Nebenrolle gespielt hat (vgl. Thelen 2003: 213; Thelen 2004: 286–287).

Anders als der akteurzentrierte Institutionalismus differenziert dieser Ansatz dabei jedoch nicht zwischen korporativen, kollektiven und individuellen Akteu-ren, sondern spricht von Akteuren als Gesamtkategorie. Allerdings deutet die analytische Verwendung darauf hin, dass vor allem individuelle Akteure als Change-Agents verstanden werden. Insofern kann die Verbindung mit dem ela-borierteren Akteursverständnis des akteurzentrierten Institutionalismus analyti-sche Tiefenschärfe ergänzen, indem durch die Repräsentantenrolle dieser indivi-duellen Akteure auch dahinter stehende korporative und kollektive Akteure ein-bezogen werden.

Wenngleich Akteure damit für Mahoney und Thelen eine zentrale Rolle im Rahmen institutioneller Wandlungsprozesse einnehmen, so sind damit nicht alleine intentional handelnde „Change-Agents“ gemeint. Vielmehr kann institu-tioneller Wandel sowohl aufgrund intentionalen Handelns von Akteuren als auch aufgrund nichtintendierter Nebenfolgen von Akteurshandeln in Gang gesetzt werden (Mahoney/Thelen 2010: 27–28). Damit verschiebt die analytische Er-gänzung um eine herausgehobene Akteursdimension die Gewichte nicht einseitig

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zugunsten intentionalen Institutionendesigns, sondern misst der vom Histori-schen Institutionalismus betonten ungesteuerten Institutionenentwicklung wei-terhin zentrale Bedeutung bei. Hier zeigt sich folglich eine Abweichung vom akteurzentrierten Institutionalismus, der primär die intentionale und strategische Interaktion von Akteuren in Akteurskonstellationen betont. Abbildung 1: Akteure als Bindeglied zwischen Kontext, Institutionen und

Modi institutioneller Transformation

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Mahoney/Thelen 2010: 15 Mahoney und Thelen identifizieren in ihrem Ansatz vier Typen von Change-Agents, die entlang von zwei Schlüsselfragen differenziert werden (Mahoney/ Thelen 2010: 23): Unterstützen die Akteure die bestehenden institutionellen Regeln und geht es ihnen um den Erhalt von Institutionen? Folgen die Akteure den bestehenden institutionellen Regeln? 1. Aufständische Ein erster Typus von Change-Agents sind „Aufständische“. Diese Akteure „con-sciously seek to eliminate existing institutions or rules, and they do so by active-ly and visibly mobilizing against them" (Mahoney/Thelen 2010: 23). Ihnen geht es um die Herbeiführung eines schnellen und fundamentalen institutionellen

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Wandels. Folglich betont dieser Typus die entsprechenden Intentionen und das strategische Verhalten von Akteuren zur Herbeiführung institutionellen Wandels. 2. Symbionten Der zweite Typus des „Symbionten“ kann in zwei Varianten unterteilt werden. Die „parasitäre“ Ausprägung dieses Change-Agents nutzt Institutionen vor allem eigennützig zur Erreichung persönlicher Ziele oder - im Sinne der zuvor entwi-ckelten theoretischen Erweiterung - der Ziele der von ihnen repräsentierten kor-porativen Akteure. Change-Agents dieses Typs sind zwar auf Institutionen an-gewiesen, sie beachten aber die hieraus abgeleiteten institutionellen Regeln nicht permanent, um ihre jeweiligen Handlungsziele zu erreichen, und unterminieren damit auf lange Sicht die Stabilität von Institutionen. Primäres Ziel ist allerdings nicht die Herbeiführung institutioneller Veränderungen, sondern diese ergeben sich sozusagen als Nebenprodukt eines entsprechenden Akteursverhaltens. In der zweiten Ausprägung des „Symbionts“ dominiert dagegen eine Wechselbezie-hung zwischen diesen und bestehenden Institutionen zum gegenseitigen Nutzen aller Akteure. Zwar verletzt dieser Akteurstyp des „mutualistic symbiont“ vor-dergründig institutionelle Regeln, aber nicht die dahinter stehenden Intentionen für den fortgesetzten Bestand der Institution. „Rather mutualists violate the letter of the rule to support and sustain its spirit - in contrast to parasites, who exploit the letter of the rule while violating its spirit” (Mahoney/Thelen 2010: 24). Im Gegensatz zum parasitären Symbiont unterstützen diese Akteure damit durch Reproduktionsdynamiken die mittelfristige Stabilität von Institutionen (Mahoney/Thelen 2010: 24–25). 3. Subversive Der dritte Akteurstyp der „Subversiven“ beschreibt Akteure, „who seek to dis-place an institution, but in pursuing this goal they do not themselves break the rules of the institution. They instead effectively disguise the extent of their pref-erence for institutional change by following institutional expectations and work-ing within the system" (Mahoney/Thelen 2010: 25). Anders als „aufständische” Akteure propagieren sie also nicht den offenen und schnellen institutionellen Wandel, sondern reichern bestehende institutionelle Arrangements durch ergän-zende institutionelle Regeln an, die erst mittelfristig zu institutionellem Wandel führen (Mahoney/Thelen 2010: 25–26).

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4. Opportunisten Dem vierten Typus des „Opportunisten“ zuzuordnende Akteure schließlich sind weniger Agenten des Wandels als vielmehr eine Kraft der institutionellen Behar-rung. Dies ergibt sich jedoch weniger aus einer bewussten Intention zur Stabili-sierung von Institutionen, sondern vielmehr als mehr oder weniger unbewusster Nebeneffekt: „They do not actively seek to preserve institutions. However, be-cause opposing the institutional status quo is costly, they also do not try to change the rules" (Mahoney/Thelen 2010: 26). Diese Akteure erscheinen folglich als opportunistische Trittbrettfahrer, die ihr Akteurshandeln sowohl am jeweili-gen institutionellen Kontext als auch dem Handeln anderer Akteure orientieren. Tabelle 1: Vier Typen von „Change-Agents“

Streben nach Erhalt der Institution

Folgen institutionellen Regeln

Aufständische Nein Nein Symbionten Ja Nein Subversive Nein Ja Opportunisten Ja/Nein Ja/Nein

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Mahoney/Thelen 2010: 23 Wenngleich solchermaßen verstandene Change-Agents der Schlüssel zur Erfas-sung institutionellen Wandels sind, so sind sie selber jedoch vom jeweiligen institutionellen Kontext sowie situativen Faktoren geprägt. Dies entspricht der an anderer Stelle betonten gegenseitigen Konstituierung von Institutionen und Ak-teuren. In der Vorstellung von Mahoney und Thelen agieren Akteure folglich als intermediäre Träger, durch die der politische und der institutionelle Kontext ihre Wirkung entfalten (Mahoney/Thelen 2010: 23).

Eine Ergänzung findet diese Konzeption von Change-Agents in der Vorstel-lung von Akteurskoalitionen. Damit rücken neben einzelnen Change-Agents auch ihre Interaktionen und ihre mögliche Zusammenarbeit ins Blickfeld. Aus-gangsüberlegung hierbei ist, dass aufgrund der stabilisierenden Elemente von Institutionen Veränderungsprozesse meist nicht im Alleingang einzelner Akteure zustande kommen. Vielmehr hängt das Potential für und die Wirkung auf institu-tionelle Wandlungsprozesse von Change-Agents mit ihrer Fähigkeit und Bereit-schaft zur Bildung von Koalitionen zusammen. Dabei unterscheiden sich die vier Akteurstypen in ihrer prinzipiellen Bereitschaft und Fähigkeit zum Eingehen solcher Koalitionen, die in ihrer jeweiligen Zielsetzung oder Rollendisposition begründet liegen (Mahoney/Thelen 2010: 29–31). Akteure, die als Aufständische

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3.4 Akteurstheoretische Erweiterung 147

gezielt und intentional institutionelle Veränderungen verfolgen, sind geradezu zwangsläufig bereit, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden und eine Ak-teurskoalition einzugehen. „Opportunistische“ Change-Agents wiederum ma-chen diese Bereitschaft vom jeweiligen Kontext den daraus abgeleiteten Mög-lichkeiten zur Erreichung der eigenen Ziele abhängig. Sie sind insofern potentiel-le, aber nicht automatische Verbündete im Rahmen von Akteurskoalitionen. Tabelle 2: Akteurskoalitionen

Koalieren mit institutionellen Unterstützern

Koalieren mit institutionellen

Herausforderern Aufständische Nein Ja Symbionten Ja Nein Subversive Nein Nein Opportunisten Ja/Nein Ja/Nein

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Mahoney/Thelen 2010: 30 3.4.3 Zwischenfazit Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten: Ziel dieses Unterkapitels waren zwei theoretische Erweiterungen des Historischen Institutionalismus, um zu einem gegenstandsbezogenen Ansatz zur Erfassung institutioneller Stabilität und institutionellen Wandels zu gelangen.

Ein erster Schritt bestand in einer erweiterten Konzeptualisierung von Insti-tutionen als zugleich begrenzenden und ermöglichenden Einflussfaktoren. Mit einer zuvorderst am akteurzentrierten Institutionalismus orientierten Erweiterung werden Institutionen damit als sowohl unabhängige als auch abhängige Variable verstanden. Sie prägen einerseits Akteure und ihre Interaktion, können aber von diesen wiederum absichtsvoll verändert werden. Dies beinhaltet zugleich die Vorstellung eines stark machtbezogenen Institutionenbegriffs, der auf das in Institutionen angelegte dynamische Potential verweist. Institutionen vereinen sowohl formale als auch informelle Regelsysteme und sie sind geprägt von insti-tutionellen Regeln auf der einen oder ihrer Anwendung auf der anderen Seite. Wenngleich Institutionen eine grundsätzlich stabilisierende Rolle übernehmen, so schließt dieses Verständnis keinesfalls institutionellen Wandel aus, wie dies ein oftmals krypto-deterministisches Institutionenverständnisses institutionalisti-scher Ansätze nahelegt.

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Die in einem solchen Institutionenverständnis angelegte stabilisierende und veränderbare Struktur verweist auf eine zweite notwendige theoretische Erweite-rung - eine explizite Akteurskonzeption. Durch den theoretischen Brückenschlag zum akteurzentrierten Institutionalismus wird zunächst deutlich, dass nicht insti-tutionelle Regelsysteme, sondern Akteure handeln. Sie entscheiden über die Wahrnehmung von Handlungsoptionen, die sich aus dem institutionellen Kon-text ergeben. Sie können sich dabei auf die in Institutionen angelegte Dynamik beziehen, indem sie im Spannungsverhältnis zwischen formalen und informellen Institutionen und zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung anset-zen. Wenngleich Akteure damit eine zentrale Rolle bei der Herbeiführung insti-tutionellen Wandels einnehmen, so verschiebt diese Erweiterung den Fokus nicht alleine zugunsten intentional handelnder Akteure. Vielmehr kann institutioneller Wandel sowohl aufgrund intentionalen Handelns von Akteuren als auch auf-grund nichtintendierter Nebenfolgen von Akteurshandeln und institutioneller Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden. Damit verschiebt die analytische Ergänzung um eine herausgehobene Akteursdimension die Gewichte nicht ein-seitig zugunsten intentionalen Institutionendesigns, sondern misst der vom Histo-rischen Institutionalismus betonten, weitgehend ungesteuerten Institutionenent-wicklung weiterhin zentrale Bedeutung bei. Ein entsprechendes Akteursver-ständnis drückt sich in der von Mahoney und Thelen übernommenen Typenbil-dung unterschiedlicher Change-Agents aus. Diese Agenten des Wandels stehen einerseits unter dem Einfluss institutioneller und kontextueller Rahmenbedin-gungen, beeinflussen diese aber wiederum durch ihr Handeln. Während Maho-ney und Thelen in ihrer Typologie von Change-Agents nicht explizit zwischen verschiedenen Akteursgruppen unterscheiden, kann eine entsprechende Tiefen-schärfe durch eine Integration des im Rahmen des akteurzentrierten Institutiona-lismus angelegten Akteursverständnisses herbeigeführt werden. Hier steht insbe-sondere die Unterscheidung von individuellen, kollektiven und korporativen Akteuren im Mittelpunkt. Für die Analyse des vorliegenden Untersuchungsge-genstandes sind insbesondere individuelle Akteure von besonderer Bedeutung. Zugleich verweist die von Mayntz und Scharpf etablierte Akteurkonzeptua-lisierung darauf, dass individuelle Akteure meist korporative Akteure repräsen-tieren, wenngleich sie auch individuelle Ziele verfolgen und Motivationen auf-weisen. Die wiederum von Mahoney und Thelen vorgenommene Erweiterung durch Akteurskoalitionen verweist insofern auf die dahinter liegende strukturelle Kopplung korporativer Akteure bei Prozessen institutioneller Stabilisierung und Veränderung.

Abschließend gilt es nun im nachfolgenden Unterkapitel, diese Überlegun-gen mit den in den vorhergehenden Abschnitten entwickelten theoretischen Überlegungen zu verknüpfen. Ziel ist die Überwindung einer im Historischen

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 149

Institutionalismus angelegten Dichotomie von Stabilität und Wandel von Institu-tionen. Hierzu bietet sich die von Thelen erarbeitete Heuristik unterschiedlicher Modi institutionellen Wandels (und Stabilität) an. Diese markieren unterschiedli-che Positionen auf einem Kontinuum institutioneller Transformationsdynamiken mit unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen. Zugleich sind sie das Ergebnis eines Wechselspiels aus kontextuellen, institutionellen und akteursbezogenen Einflussfaktoren. Damit vereint dieser Ansatz grundsätzlich die bisher diskutier-ten theoretischen Annahmen des Historischen Institutionalismus sowie die vor-genommenen konzeptionellen Erweiterungen. Folglich wird auf dieser Basis die Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes zur Erfassung von Stabilität und Wandel von Institutionen der Regierungsorganisation möglich. Dieser Ansatz soll einerseits die Prozessanalyse zur Untersuchung der nordrhein-westfälischen Kernexekutive anleiten, andererseits vor allem dabei helfen, dahinterliegende kausale Mechanismen zu identifizieren, die eine begrenzte theoretische Verallgemeinerung der aus dem Einzelfall gewonnenen Erkenntnis-se ermöglichen. 3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz: Die theoretische Erfassung

von Stabilisierungs- und Wandlungsprozessen der Kernexekutive Ziel dieses abschließenden Unterkapitels ist die systematische Zusammenfassung der bisherigen institutionentheoretischen Überlegungen zu einem gegen-standsbezogenen Analyseansatz zur Erfassung institutioneller Transformations-prozesse der Regierungsorganisation. Folglich gilt es, die bislang entwickelten theoretischen Vorannahmen zu vereinen, die bereits diskutierten theoretischen Erweiterungen zu integrieren und schließlich einen zusammenhängenden Ansatz zu skizzieren, der zwei Funktionen erfüllt: Einerseits soll er als Forschungsheu-ristik Ansätze für theoretisch generalisierbare Erklärungen bieten und auf rele-vante Erklärungsfaktoren verweisen. Andererseits soll im weiteren Verlauf die-ser Arbeit entlang dieser Systematik die Darstellung der empirischen Analyse strukturiert werden, um eine explizite Verbindung zwischen theoretischem Rah-men und empirischer Analyse herzustellen.

Wie schon einleitend in diesem Kapitel festgehalten, zielt der theoretische Rahmen nicht auf die Entwicklung einer (neo)institutionalistischen Theorie, sondern auf einen gegenstandsbezogenen Ansatz. Dieser ersetzt weniger empi-risch erhobene Daten durch theoretische Annahmen, sondern strukturiert viel-mehr die Suche nach möglichen Erklärungen. Durch den Gegenstandbezug eines Ansatzes wird zudem deutlich, dass er ein doppeltes Ziel verfolgt: Einerseits geht es um eine theoretisch hergeleitete Anleitung zur Rekonstruktion des zu

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erklärenden Gegenstandes. Andererseits wird der analytische Rahmen erst durch die empirische Analyse angereichert und weiterentwickelt. Mit Blick auf die vorliegende Fragestellung nach den Transformationsdynamiken der Kernexeku-tive rücken die nachfolgenden fünf Aspekte in den Mittelpunkt: 3.5.1 Zeitgeschichtlicher Kontext Erstens gilt es, dem zeitgeschichtlichen Kontext und damit temporalen Einfluss-faktoren besondere Beachtung zu schenken. Die oftmals von einer variablenzen-trierten Perspektive geprägte Geringschätzung dieser Kategorie ist, wie Kapitel 3.1 gezeigt hat, sowohl aus theoretischen als auch aus empirischen Gründen zurückzuweisen:

“The point is that what is too easily dismissed as ‘context’ may in fact be absolutely crucial to understanding important social processes. Too often, contemporary social science simply drops out a huge range of crucial factors and processes, either be-cause our methods and theories make it difficult to incorporate them, or because they simply lead us not to see them in the first place” (Pierson 2004: 169).

Eine illustrative Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes legt den Schluss nahe, dass die Ausweitung der theoretischen Perspektive auf Kontextfaktoren und zeitliche Abläufe von besonderer Bedeutung ist: Die mit einem Regierungs-wechsel verbundenen Transitionsprozesse vollziehen sich über einen längeren Zeitraum hinweg und lassen sich in unterschiedliche Phasen unterteilen. Weiter-hin zeigt sich, dass die politische „Inbetriebnahme“ der Kernexekutive keine triviale Aufgabe ist. Vielmehr manifestiert sich das hierin angelegte Spannungs-verhältnis zwischen institutionellem Rahmen und Akteuren sowie zwischen den verschiedenen Akteuren eine Regierungsformation erst vollständig im weiteren zeitlichen Verlauf. Und schließlich zeigt sich im Zuge eines Regierungswechsels ein besonderes Wechselverhältnis zwischen systemisch bedingter institutioneller Stabilität, graduellen und unintendierten Veränderungsprozessen und schrittwei-sen intentionalen Anpassungsversuchen politischer Akteure. Hier zu untersu-chende Prozesse der Stabilisierung und der Veränderung von Institutionen der Regierungsorganisation stehen damit in einem offensichtlichen zeitlichen Zu-sammenhang. Daher muss ein gegenstandsbezogener Analyseansatz dieser Kate-gorie auch theoretische Beachtung schenken.

Die aus diesen Beobachtungen abgeleiteten theoretischen Implikationen ge-hen über die allgemeine Annahme von „history matters” hinaus. Sie lassen sich vielmehr theoretisch aufladen und als Schlüsselkategorien für den Analyseansatz nutzbar machen:

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 151

Erstens über das Konzept der Pfadabhängigkeit mit einer an Entwicklungs-pfaden orientierten Institutionenentwicklung.

Zweitens durch eine analytische Erfassung zeitlicher Abfolgen und länger-fristiger Entwicklungen, indem Institutionen zeitlich als von vorne und hinten eingebettet verstanden werden. Hieraus ergeben sich auch weitergehende metho-dologische Konsequenzen.

Drittens schließlich durch das Spannungsverhältnis zwischen unintendierter Institutionenentwicklung und intentionalem Institutionendesign, die es beide in den Analyseansatz zu integrieren gilt. Aus dieser Sicht gewinnt die Dimension „Kontext“ eine besondere Bedeutung: „It becomes a point of entry for thinking about how events and processes are related to each other in social dynamics that unfold over extended periods of time” (Pierson 2004: 172).

Für die Analyse des Untersuchungsgegenstandes folgt daraus, mit einer Darstellung der zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen, den politischen Kräf-teverhältnissen, den spezifischen Machtverhältnissen sowie den politischen Her-ausforderungen an die Regierungsformation zu beginnen (vgl. Grunden 2009: 68–71). Diese längerfristigen Herausforderungen und kontextuellen Rahmenbe-dingungen beschreiben den Rahmen, innerhalb dessen die Institutionen der Kernexekutive lokalisiert sind, von dem ihre Entwicklung beeinflusst wird und auf welche Rahmenbedingungen sich die relevanten Akteure bei ihren intentio-nalen Steuerungsimpulsen im Sinne von Institutionendesign einzustellen haben (Kapitel 5.1). Allerdings geht es dabei nicht zuvorderst um die möglichst detail-genaue Rekonstruktion im Sinne einer deskriptiv-historischen Analyse, sondern um „locational information“ (Pierson 2004: 168–169), die für die Identifikation zugrunde liegender kausaler Mechanismen essentiell sind.38 3.5.2 Anschluss an den Historischen Neoinstitutionalismus Der zweite zentrale Aspekt dieses Ansatzes besteht in der grundsätzlichen An-schlussfähigkeit dieser, die historischen und politischen Kontextbedingungen betonenden Betrachtungsweise an den Historischen Institutionalismus. Dieser Strang neoinstitutionalistischer Theoriebildung greift analytisch die zuvor identi-fizierten Faktoren historischer Kontextgebundenheit, längerfristiger Entwicklun-gen und Prozesse der Pfadabhängigkeit auf. Hinzu kommt ein Institutionenbeg-riff, der Institutionen als formale und informelle Regelsysteme versteht und inso-fern ein für den Gegenstand adäquates, weites Institutionenverständnis zugrunde legt. Zugleich misst er politischen Machtverhältnissen eine für Institutionen

38 Zu den methodologischen Implikationen siehe ausführlicher Kapitel 4.

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152 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

konstitutive Bedeutung zu. Damit bleibt neben der konkreten Ausrichtung des Analyseansatzes auf den Untersuchungsgegenstand eine grundsätzliche An-schlussfähigkeit an neo-institutionalistische Theoriebildung erhalten.

Allerdings lassen sich drei zentrale Probleme identifizieren, die mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand der Regierungsorganisation theoretische Er-weiterungen notwendig erscheinen lassen:

Erstens betont der Historische Institutionalismus beinahe ausschließlich in-stitutionelle Stabilität. Einmal geschaffene Institutionen entwickeln sich pfadab-hängig und damit grundsätzlich stabil entlang einmal eingeschlagener Entwick-lungspfade. Pfadabweichungen erfolgen im Zuge von „critical junctures“ als radikaler Umbruch. Eine solche Betrachtungsweise erscheint mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation nicht adäquat. Zusammen mit Kathleen Thelen wird hier argumentiert „against prominent theoretical perspectives based on a strong punctuated equilibrium model that draws a sharp analytical distinc-tion between long periods of institutional ‚stasis‘ periodically interrupted by some sort of exogenous shock that opens things up, allowing for more or less radical innovation or reorganization” (Thelen 2004: xii–xiii).39 Denn auch für die Kernexekutive und die damit verbundenen Institutionen gilt folgende Ausgangs-beobachtung:

“For many political (…) institutions that persist over long periods, one is very often struck simultaneously by how little and how much they have changed” (Thelen 2004: 216; Hervorhebung im Original).

Zweitens zeichnet sich der Historische Institutionalismus durch ein Institutionen-verständnis aus, welches diese vor allem als begrenzende und damit stabilisie-rende Faktoren begreift. Er läuft damit Gefahr, Institutionen krypto-determinis-tische Wirkungen zuzuschreiben und gerade dadurch institutionellen Wandel systematisch zu vernachlässigen.

Drittens schließlich fehlt dem Historischen Institutionalismus eine explizite Akteurskonzeption. Dies drückt sich in der besonderen Betonung ungesteuerter Institutionenentwicklung aus, während von Akteuren verfolgtes intentionales Institutionendesign beinahe vollkommen ausgeblendet bleibt.

Die hier entwickelte Argumentation sieht gerade in einer auf die beiden letztgenannten Problemfelder bezogenen theoretischen Modifikation eine kon-zeptionelle Möglichkeit, zu einem gegenstandsbezogenen Ansatz zur Erfassung

39 Man kann noch einen Schritt weitergehen und diese Betonung von „critical junctures“ als

fundamentale Abkehr von Pfadabhängigkeitsvorstellungen verstehen, wie Thelen (2004: 30) das tut: „In other words, where the problem of change is posed in terms of breakdown and replacement, there is often no sense of a ‚path‘ at all.“

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 153

sowohl institutioneller Stabilität als auch institutionellen Wandels zu gelangen. Insofern bilden die hieraus abgeleiteten theoretischen Erweiterungen und Vertie-fungen den dritten und vierten Baustein des hier zusammenfassend dargestellten Analyseansatzes. 3.5.3 Institutionen als formale und informelle Regelsysteme Dritter zentraler Bestandteil des Analyseansatzes ist ein modifiziertes Verständ-nis von Institutionen. Diese wurden mit Blick auf den konkreten Untersuchungs-gegenstand der Regierungsorganisation zunächst funktionalitätsbezogen im Sin-ne der „Kernexekutive“ definiert. Als relevante Institutionen werden somit all diejenigen Regelsysteme verstanden, die eine Koordinationsleistung innerhalb der Regierungsformation erbringen. Insofern besteht ein theoretischer Anknüp-fungspunkt zur Identifikation relevanter Institutionen im empirischen Teil der Arbeit. Einleitend wurden zu diesem Zweck bereits aus dem Forschungsstand heraus zentrale Institutionen der Kernexekutive als relevante Untersuchungsge-genstände definiert.

Aus theoretischer Perspektive besteht die zentrale Erweiterung der vorher-gehenden Überlegungen im begrifflichen Anschluss an den akteurzentrierten Institutionalismus. Dieser versteht Institutionen als zugleich begrenzende und ermöglichende Einflussfaktoren. Sie werden damit sowohl zur unabhängigen als auch abhängigen Variable, indem sie einerseits Akteure und ihre Interaktion prägen, zum anderen von diesen aber wiederum absichtsvoll verändert und ange-passt werden können. Diese Vorstellung löst sich von einem stark deterministi-schen Institutionenverständnis, welches häufig (neo-)institutionalistische Theo-rieansätze und auch den Historischen Institutionalismus kennzeichnet. Zugleich ergänzt die vorgenommene Binnendifferenzierung von Institutionen konzeptio-nelle Tiefenschärfe, die auf das in Institutionen angelegte dynamische Verände-rungspotential verweist:

Erstens vereint das vorliegende Institutionenverständnis sowohl formale als auch informelle Regelsysteme, wobei informelle gegenüber formalen Regelsys-temen zumindest aus theoretischer Perspektive als vergleichsweise leichter ver-änderbar erscheinen.

Zweitens sind Institutionen von institutionellen Regeln und ihrer Anwen-dung geprägt. Dieses Spannungsfeld zwischen institutionellen Regeln und ihrer konkreten Anwendung eröffnet zumindest indirekt institutionelles Verände-rungspotential, denn möglicherweise weicht die Regelanwendung von der ei-gentlichen Intention des Regelsystems ab und eröffnet damit wiederum Variati-onspotential desselben.

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154 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

Drittens schließlich beinhaltet das vorgestellte Institutionenverständnis eine stark machtbezogene Komponente. Diese Dimension des Institutionenbegriffs verweist auf die grundsätzliche Umstrittenheit institutioneller Arrangements und auf die hierin begründete Dynamik. Institutionen werden nicht unhinterfragt hingenommen, sondern bleiben umkämpft. Ein solchermaßen erweitertes Ver-ständnis weist Institutionen zwar weiterhin eine grundsätzlich stabilisierende Rolle zu, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit zur analytischen Erfassung institutionellen Wandels. 3.5.4 Akteurskonzeption: Change-Agents und Akteurskoalitionen Der vierte Baustein des Analyseansatzes ist eine explizite Akteurskonzeption. Auch hier erfolgt zum einen ein theoretischer Brückenschlag zum akteurzentrier-ten Institutionalismus. Dieser verweist darauf, dass nicht institutionelle Regel-systeme, sondern Akteure handeln. Akteure können sich dabei auf die in Institu-tionen angelegte Dynamik beziehen, indem sie im Spannungsverhältnis zwischen formalen und informellen Institutionen und zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung ansetzen. Wenngleich Akteure damit wichtige Katalysatoren für institutionellen Wandel sind, so verschiebt diese Erweiterung den Fokus nicht vollständig zugunsten intentional handelnder Akteure. Vielmehr kann institutio-neller Wandel sowohl aufgrund intentionalen Handelns von Akteuren als auch aufgrund nichtintendierter Nebenfolgen von Akteurshandeln und ungesteuerter institutioneller Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt werden. Sowohl intentio-nales Institutionendesign als auch ungesteuerte Institutionenentwicklung werden folglich in den Analyseansatz integriert.

Über diese theoretisch bedeutsame Akteurskonzeptualisierung hinaus lassen sich mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand zum anderen unterschiedliche Akteurstypen identifizieren. Diese von Mahoney und Thelen (2010) im Zuge typologischer Theoriebildung induktiv hergeleiteten Typen unterscheiden ver-schiedene Rollen von Agenten des Wandels. Sie stehen dabei einerseits unter dem Einfluss institutioneller und kontextueller Rahmenbedingungen, beeinflus-sen diese aber andererseits durch ihr Handeln.

Mit Blick auf die empirische Anwendbarkeit und weitere Tiefenschärfe die-ser Akteurskonzeption erscheint über diese Typenbildung hinaus ein erneuter Bezug zum akteurzentrierten Institutionalismus sinnvoll. Dieser unterscheidet explizit die drei Akteurskategorien individueller, kollektiver und korporativer Akteure. Für die nachfolgende empirische Analyse sind insbesondere individuel-le Akteure von besonderer Bedeutung. Diese Mikrofundierung erscheint insbe-sondere mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand angemessen. Artur Benz

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 155

(2004b: 20–21) unterscheidet zwischen institutioneller Makro- und Mikropolitik. Während mit der Makroperspektive die Veränderung formaler Regen und Ver-fahren gemeint ist, beschreibt die Mikroperspektive die Veränderung informeller Praktiken, die nicht unmittelbar die formale Struktur und Gestalt einer Institution betrifft. Angesichts der bisherigen Ausführungen ist Benz auch mit Blick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand zuzustimmen, dass institutioneller Wan-del nur unter Beachtung dieses Doppelcharakters aus Makro- und Mikroperspek-tive zu erfassen ist. Zugleich gilt die ergänzende Prämisse, dass „gerade das Handeln von Individuen auf der Mikroebene den zu erklärenden Sachverhalt wesentlich mitbestimmt“ (Mayntz/Scharpf 1995: 44). Allerdings verweisen die vorhergehenden Überlegungen wiederum darauf, dass diese individuellen Akteu-re meist korporative Akteure repräsentieren, wenngleich sie auch individuelle Ziele verfolgen und Motivationen aufweisen.

Schließlich eröffnet die vorgestellte Komponente der Akteurskoalitionen die Möglichkeit, Akteure nicht alleine als isolierte Change-Agents zu verstehen. Vielmehr lassen sich durch Akteurskoalitionen auch darin zum Ausdruck kom-mende Machtverhältnisse und damit eine wichtige Grundlage für den entwickel-ten Institutionenbegriff implizit in die Akteurskonzeption integrieren. Durch die Vorstellung der Repräsentation korporativer durch individuelle Akteure rücken empirisch zu identifizierende Akteurskoalitionen zudem die strukturelle Kopp-lung korporativer Akteure ins Blickfeld. 3.5.5 Fünf Modi institutioneller Transformation: Displacement, Layering, Drift,

Conversion, Exhaustion Aus dem Zusammenspiel dieser vier Faktoren ergibt sich nun ein veränderter Blick auf die Frage nach den Transformationsprozessen der Kernexekutive. An-ders als es die klassische historisch-institutionalistische „Erzählung“ (Thelen 2000: 105) nahelegt, vollzieht sich institutioneller Wandel nicht alleine im Zuge kritischer Wegmarken und aufgrund exogener Einflussfaktoren, während ansons-ten positive Feedbackeffekte vor allem die stabilisierende Reproduktion von Institutionen nach sich ziehen. Vielmehr sind Institutionen auch schrittweisen, graduellen, aber möglicherweise gleichfalls transformativen Wandlungsprozes-sen ausgesetzt, die sich auch aus endogenen Faktoren speisen. Diese Möglichkeit ergibt sich einerseits aus dem oben skizzierten und weniger monolithischen Ver-ständnis von Institutionen (vgl. Streeck/Thelen 2005b: 18–19), indem das Zu-sammenspiel von formalen und informellen Institutionen, Regeln und ihrer An-wendung und die Betonung von Machtverhältnissen Spielraum für institutionelle Veränderung lässt. Zum anderen spielen Akteure als Agenten des Wandels eine

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156 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

herausragende Rolle bei institutionellen Wandlungsprozessen, indem sie die sich bietenden Handlungsoptionen ausgestalten. Diese Change-Agents verfügen als individuelle Akteure dabei häufig über Vertretungsmacht, indem sie korporative Akteure repräsentieren. Dabei sind sowohl Institutionen als auch Akteure wiede-rum in einen zeitlichen und politischen Kontext eingebunden, der als weiterer erklärender Faktor auf Stabilisierungs- und Veränderungsprozesse einwirkt. Aus der somit entwickelten Perspektive erscheinen Stabilität und Wandel von Institu-tionen nicht länger als gegensätzliche Pole, sondern vielmehr als auf einem Kon-tinuum aus Stabilisierung und Veränderung angesiedelte Prozesse, wie auch Thelen unterstreicht:

“Institutional reproduction and institutional change, which are often treated as com-pletely distinct analytical problems, have to be studied together and are in some im-portant ways quite closely linked. (…) [I]nstitutions do not survive long stretches of time by standing still. The language of stasis and inertia is particularly unhappy be-cause as the world around institutions is changing their survival will not necessarily rest on the faithful reproduction of those institutions as originally constituted, but ra-ther on their ongoing active adaption in the political (…) environment in which they are embedded” (Thelen 2004: 293).

Diese Perspektive zieht auch eine gewisse Veränderung des Erkenntnisinteresses nach sich: Weniger die einer Entweder-oder-Logik folgende Frage nach Stabili-tät oder Wandel als vielmehr die Frage nach dem Wie und Warum institutionel-ler Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse rückt folglich ins Zentrum der Be-trachtung. Oder mit den Worten Thelens:

“Instead (…) it may be more fruitful to aim for a more fine-grained analysis that seeks to identify what aspects of a specific institutional configuration are (or are not) renegotiable and under what conditions” (Thelen 2003: 233; Hervorhebung im Ori-ginal).

Aus diesen Überlegungen lassen sich abschließend, und das ist das fünfte Merk-mal des vorliegenden Analyseansatzes und zugleich der systematische Aufhä-nger der empirischen Analyse, unterschiedliche Modi institutioneller Transfor-mation40 ableiten. Diese induktiv hergeleitete Typologie beschreibt unterschied-liche Ausprägungen institutioneller Stabilisierungs- und Veränderungsprozesse,

40 Thelen und Mahoney sprechen selber von „Modes of Institutional Change“ (Mahoney/Thelen

2010: 19–22 ). Aufgrund der hier vorgenommenen Erweiterungen zur Erfassung sowohl von Stabilisierungs- als auch von Wandlungsprozessen, wird daher hier abweichend von „Modi institutioneller Transformation“ gesprochen. Dieser Terminus entspricht der Auflösung der klassischen Dichotomie „Stabilität und Wandel“ zugunsten eines abgestuften Kontinuums.

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 157

die jeweils auf dem oben skizzierten Kontinuum verortet sind. Die nachfolgende Abbildung (Abbildung 2). illustriert den daraus resultierenden Analyseansatz im Überblick: Abbildung 2: Der Analyseansatz im Überblick

Quelle: Eigene Darstellung; vgl. als Ausgangspunkt Mahoney/Thelen 2010: 15 Thelen und Streeck (2005b: 19–31; hierzu auch Mahoney/Thelen 2010: 15–18) identifizieren die nachfolgenden fünf41 Modi, um unterschiedliche Ausprägungen institutioneller Wandlungs- und ggf. Stabilisierungsprozesse zu typologisieren. Grundlage dieser Typologie sind empirische Fallstudien, aus denen die Modi

41 Bei Mahoney und Thelen (2010) finden sich nur noch vier Modi institutionellen Wandels. Dies

ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der dort fehlende Modus „Exhaustion“ im Kern keine Beschreibung institutionellen Wandels, sondern der Institutionenauflösung ist. Für den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand der Regierungsorganisation scheint jedoch die Beibehaltung aller fünf Modi relevant, wie die empirische Analyse in Kapitel 5 zeigen wird. Die Darstellung der Modi institutioneller Transformation ist weitgehend identisch mit einem bereits veröffentlichten Beitrag, der sich auf Institutionen des Koalitionsmanagements als Anwendungsbeispiel beschränkt (vgl. Florack 2010a: 156–160).

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158 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

jeweils induktiv abgeleitet sind42 (Thelen 2000; Thelen 2003; Thelen 2004; Streeck/Thelen 2005a; Thelen/Busemeyer 2008; Mahoney/Thelen 2010; vgl. auch Benz 2004b: 28; Clemens/Cook 1999: 443; Werle 2007: 128). 1. Displacement Dieser Modus beschreibt die Aufhebung bestehender und ihre Ersetzung durch neue institutionelle Regeln, wenngleich die Institutionen als Ganzes erhalten bleibt. Institutionelle Inkohärenz eröffnet dabei den Weg für abweichendes Ver-halten von Akteuren. Damit verschieben sich institutionelle Bezugspunkte und eine neue Logik innerhalb bestehender Institutionen wird betont. Es kann sich im Zuge von Displacement auch um die Neuentdeckung vormals unterlegender institutioneller Ressourcen handeln, die nun aufgrund veränderter Kontextbedin-gungen und/oder veränderter Akteurskonstellationen wieder reüssieren. Insbe-sondere veränderten Potentialen von Akteuren kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Displacement kann sowohl abrupt, aber auch über einen längeren Zeitraum durch einen inkrementellen Veränderungsprozess erfol-gen.

Beispielhaft zeigte sich dieser Transformationsmodus bei der Restrukturie-rung der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei im Sommer 2006. Der Minister-präsident machte von seiner formalen Organisationsgewalt Gebrauch und verän-derte den Zuschnitt der Staatskanzlei. Dabei wurde zwar nicht die gesamte Staatskanzlei in ihrer Struktur, aber insbesondere die Aufgabenverteilung zwi-schen den Abteilungen maßgeblich verändert. Zugleich folgte dieses Displacement keiner Entwicklung auf dem Reißbrett, sondern erwies sich viel-mehr als formale Absicherung informell bereits ab 2005 praktizierter Regeln und Routinen.

42 Abweichend vom vorliegenden Gegenstand der Regierungsorganisation richtet sich der Fokus

von Thelen u.a. vor allem auf den Bereich der politischen Ökonomie und einzelne Policies. So bearbeiten die im Sammelband von Streeck und Thelen (2005a) vereinten Autoren u.a. den US-amerikanischen Wohlfahrtsstaat, französische Sozialpolitik, die politische Ökonomie Japans, deutsche und italienische Finanzpolitik der 1990er Jahre und das Thema der Frühverrentung in Deutschland. Auch Thelens (2004) Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Modi ist mit dem dualen Ausbildungssystem in Deutschland in Themenfeld an der Schnittstelle zwischen Politik und Ökonomie.

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 159

2. Layering Dieser Modus betont „the introduction of new rules on top of or alongside exist-ing rules” (Mahoney/Thelen 2010: 15). Es findet folglich eine Schichtung insti-tutioneller Regeln statt, ohne dass die alten institutionellen Regelsysteme aufge-geben werden. Vielmehr kann man sich diesen Prozess als Ergänzung neuer Ringe um einen institutionellen Kern vorstellen. Bei diesen ergänzenden, ange-lagerten Schichten muss es sich nicht um gänzlich neue Regeln handeln, sondern sie können auch einer Modifikation, Revision und Ergänzung bestehender Re-geln entspringen. Wie beim Displacement bleibt die Institution insgesamt beste-hen, darüber hinaus behalten aber auch existierende Regelsysteme ihre grund-sätzliche Geltungskraft. Der institutionelle Kern wird nicht ersetzt, sondern er-gänzt. Durch diese Ergänzung verändert sich jedoch das Strukturmuster der Insti-tution. Erneut spielen dabei die oben herausgearbeiteten Einflussfaktoren „Kon-text“ und „Akteure“ eine zentrale Rolle: Akteure sorgen für die Schichtung neuer Regeln und dieser Prozess spielt sich unter kontextuellen Rahmenbedingungen ab.

“Thus, [institutions] often evolve through a layering process that preserves much of the core while adding amendments through which rules and structures inherited from the past can be brought into synch with changes in the normative, social, and political environment” (Thelen 2003: 228).

Erneut lässt sich am Beispiel der Staatskanzlei dieser Modus der institutionellen Schichtung illustrieren. So wurden ab 2005 neben den bereits etablierten hausin-ternen Abstimmungsrunden weitere Koordinationsinstitutionen geschaffen. An-gesichts einer veränderten Teilnehmerschaft sowie neuer Funktionen folgte aus diesem differentiellen Wachstum eine institutionelle Transformation der Staats-kanzlei insgesamt. Gleichwohl blieben die bereits etablierten Regelsysteme er-halten, wurden nicht vernachlässigt oder in ihrer Bedeutung verändert, sondern lediglich durch weitere Koordinationsstrukturen ergänzt. 3. Drift Mit diesem Modus wird ein institutioneller Veränderungsprozess beschrieben, der maßgeblich aus veränderten Kontextbedingungen resultiert. Es handelt sich folglich vor allem um einen exogen induzierten Wandlungsprozess, bei dem institutionelle Regeln erhalten bleiben, sich ihre Wirkung aber angesichts verän-derter Rahmenbedingungen fundamental verändert. Bereits durch diese definito-rische Eingrenzung wird die Bedeutung von Kontextbedingungen für diesen

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160 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

Modus institutionellen Wandels deutlich: Exogene Veränderungsprozesse wir-ken auf Institutionen und die damit verbundenen institutionellen Regeln ein und verändern ihre Wirkung und ihren Einfluss, ohne dass sich zugleich endogene Veränderungsprozesse abspielen müssen. Zugleich spielen auch hier Change-Agents und ihr Handeln eine zentrale Rolle. Präziser gesagt wird dieser Modus durch das Nichthandeln von Akteuren beeinflusst. Sie verändern bestehende Institutionen, indem sie diese angesichts neuer Umweltfaktoren gerade keinem notwendig gewordenen Anpassungsprozess unterziehen. Dabei kann es sich um Unterlassung und damit eine nichtintendierte Nebenfolge von Akteursverhalten handeln. Drift kann aber auch auf die intentionale Inaktivität von Akteuren zu-rückgeführt werden, die durch ihr Nichthandeln bewusst für institutionelle Ver-änderungen sorgen und strategische Ziele verfolgen.

Eine solche Vernachlässigung alter und veränderte Inkraftsetzung bestehen-der Regeln zeigte sich in der Staatskanzlei zwischen 2005 und 2006 angesichts des Umgangs mit hausinternem Schriftverkehr. Eine eigentlich nur als Ausnah-me vorgesehene Möglichkeit, Briefentwürfe und Vorlagen ohne vorherige Kenntnisnahme des Chefs der Staatskanzlei direkt an den Ministerpräsidenten weitergeben zu können, wurde bei wichtigen Vorgängen schrittweise zum insti-tutionellen Normalfall. Auslöser hierfür war die Wahrnehmung organisatorischer Defizite, die eine entsprechende Abweichung im Sinne einer funktionalen Auf-gabenerfüllung der Regierungszentrale notwendig erscheinen ließen. Zugleich zeigte sich am Beispiel dieser vergleichsweise kleinen Regelabweichung ein darüber hinausreichender Transformationsprozess der Regierungszentrale insge-samt. 4. Conversion Dieser Modus der Umwandlung beschreibt einen institutionellen Veränderungs-prozess, der auf die Neuinterpretation bestehender Regeln zurückzuführen ist. Solche Wandlungsprozesse ereignen sich, „as institutions designed with one set of goals in mind are redirected to other ends“ (Thelen 2003: 228). Dieser Modus setzt folglich primär an bestehenden institutionellen Charakteristika an. Ange-sichts einer Lücke zwischen institutionellen Regeln und ihrer Implementation bietet sich Raum für Veränderungsprozesse. Bestehende Regeln bleiben folglich formal erhalten, ihre Interpretation und Anwendung verändert sich jedoch, und damit auch die Wirkung der Institution insgesamt. Die Folge ist ein Auseinan-derklaffen formaler und informeller Regelsysteme. Erneut kann es sich, wie beim Modus Drift, um die strategische Entscheidung von Akteuren oder die unintendierte Nebenfolge von Akteursverhalten handeln. So können Institutionen

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 161

bewusst ambivalent gestaltet sein, um im Rahmen der Interpretation institutio-neller Regeln Freiräume nutzen zu können. Es kann aber auch erst angesichts veränderter Rahmenbedingungen zu einem Auseinanderklaffen zwischen Regeln und Regelanwendung kommen, was dann von Akteuren intentional entweder für eigene Zwecke genutzt wird oder nichtintendierte Folgen zeitigt.

Die Transformation des Koalitionsausschusses nach 2005 von einem Kri-seninterventionsinstrument unter der vorherigen rot-grünen Landesregierung hin zur zentralen Koordinations-, Informations- und Steuerungsinstanz der neuen Regierungsformation folgte diesem Modus. Bestehende Regeln wurden weder beseitigt, noch vernachlässigt und auch keine grundsätzlich neuen formalen Re-geln eingeführt. Jedoch zeigten sich in der informellen Regelanwendung eine veränderte Bedeutung dieser Regeln und eine daraus resultierende grundsätzliche Veränderung des Koalitionsausschusses als Regelsystem. 5. Exhaustion Mit diesem letzten Modus schließlich verbindet sich weniger ein institutioneller Transformationsprozess, als vielmehr die Auflösung von Institutionen. Dieser Auflösungsprozess vollzieht sich jedoch nicht abrupt, sondern schleichend und im Zuge eines längerfristigen Prozesse. Die Institution verliert im Zeitverlauf ihren ursprünglichen Zweck, ohne dass ihr eine neue Aufgabe zugewiesen wird. Die durch die Schaffung der Institution erzielten Vorteile im Sinne positiven Feedbacks gehen zurück, was schließlich zur Aufgabe und Auflösung der Institu-tion insgesamt führt. Dabei ist der Auflösungsprozess meist eine Folge der „normalen“ Arbeitsweise einer Institution. Diese unterminiert im zeitlichen Ver-lauf ihre ursprüngliche Intention und Wirkung systematisch, ohne darauf be-wusst angelegt zu sein. Anders als beim Modus Drift ist der Auflösungsprozess damit bereits institutionell angelegt. Akteure unterminieren die Institution inso-fern, als dass sie sich entlang institutioneller Regeln bewegen und diese einhal-ten.

Beispielhaft für diesen Modus lässt sich hinsichtlich des Untersuchungsge-genstandes die Vernachlässigung im Zuge des Regierungswechsels 2005 verein-barter interfraktioneller Koordinationspraktiken anführen. So sah der Koalitions-vertrag neben dem Koalitionsausschuss ergänzende Abstimmungsformate zwi-schen den beiden Regierungsfraktionen vor. Praktische Konsequenz waren zu-nächst regelmäßige Treffen der beiden Fraktionsvorsitzenden, die jedoch nach wenigen Monaten angesichts zuvorderst persönlicher Differenzen der beiden Akteure wieder einschliefen. Die zugrundeliegende formale Regel wurde zwar in der Folge nicht beseitigt, aber angesichts ihrer fehlenden Anwendung zeigte sich

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162 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

in der Praxis ihre systematische Vernachlässigung mit entsprechenden institutio-nellen Auswirkungen auf die Kernexekutive insgesamt.

Wie die zusammenfassende Tabelle (Tabelle 3) zeigt, zeichnen sich die fünf Modi durch jeweils unterschiedliche Mechanismen. Mit Blick auf ein Verständ-nis von Institutionen als Regelsysteme lassen sie sich entlang von vier zentralen Fragen kategorisieren: Werden bestehende institutionelle Regeln beseitig, ver-nachlässigt, neu interpretiert und/oder werden neue Regeln eingeführt? Tabelle 3: Modi institutioneller Transformation

Displace-ment

Layering Drift Conversion Exhaustion

Definition Slowly rising salience of subordinate relative to dominant

institutions

New ele-ments at-tached to existing

institutions gradually

change their status and structure

Neglect of institutional maintenance

in spite of external change

resulting in slippage in institutional practice on the ground

Redeploy-ment of old

institutions to new pur-

poses; new purposes

attached to old structures

Gradual breakdown (withering away) of

institutions over time

Beseiti-gung alter Regeln

Ja Nein Nein Nein Ja/Nein

Vernach-lässigung alter Re-geln

- Nein Ja Nein Ja

Veränder-te Bedeu-tung/In-kraftset-zung alter Regeln

- Nein Ja Ja Nein

Einfüh-rung neuer Regeln

Ja Ja Nein Nein Nein

Zugrunde-liegender Mecha-nismus

Abtrünnig-keit

Differentiel-les Wachs-

tum

(Absichtli-che) Ver-nachlässi-

gung

Neuausrich-tung/Neu-

interpretation

Abschrei-bung

Quelle: Zusammenfassung auf Basis von Mahoney/Thelen 2010: 16; Streeck/Thelen 2005b: 31

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 163

Diese Modi institutionellen Wandels verdichten die im theoretischen Rahmen entwickelten Einflussfaktoren in idealtypischer Weise. Zeitliche und situative Kontextbedingungen, die institutionelle Struktur und im Sinne von Change-Agents verstandene Akteure spielen, wie die kurze Beschreibung der Modi zeigt, für ihre idealtypische Konstruktion eine zentrale Rolle. Sie ergeben sich aus dem Zusammenspiel dieser Aspekte und prägen zugleich idealtypisch zugespitzte Unterschiede im Sinne der daraus resultierenden Transformationsprozesse aus. Zugleich schlägt diese Typologie die Brücke zwischen den beiden Polen Institutionenentwicklung und Institutionendesign und löst damit eine entspre-chende Anforderung ein, die im Zuge der vorhergehenden theoretischen Überle-gungen herausgearbeitet wurde. Czada und Schimank (2001a: 242–258) haben bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass Institutionengestaltung und Institutionendynamik eng aufeinander bezogen sind. Aus dem jeweiligen Zu-sammenspiel dieser beiden Faktoren ergeben sich unterschiedliche Formen insti-tutioneller Stabilität und institutionellen Wandels (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Zusammenhang von Institutionendynamik und

Institutionengestaltung Institutionelle Gestaltungsintention

(Institutionendesign)

Institutionelle Dynamik

(Institutionen-entwicklung)

vorhanden fehlend keine Veränderung als Frage der

Machtverteilung Institutionelles Gleichge-

wicht mittel Veränderung eine Frage des

Steuerungswissens Schleichender Wandel im

Rücken der Akteure stark Politische Revolution Band-Wagon-Effekt

Quelle: Czada/Schimank 2001; mit eigenen Ergänzungen Die im vorliegenden Analyseansatz erarbeiteten Modi institutioneller Transfor-mation gehen über diese einfachere Systematisierung insofern hinaus, als dass sie auch einen Zusammenhang zwischen den drei zentralen Einflussfaktoren Kontext, Institutionen und Akteuren explizit herstellen. Hinzu kommt die Fähig-keit dieser Heuristik, unterschiedliche zeitliche Entwicklungsdynamiken abbil-den zu können und damit eine Verbindung zwischen schnellen und abrupten Veränderungsprozessen auf der einen und graduellem und inkrementellen Wan-del auf der anderen Seite herzustellen.

Mit Blick auf einen hier entwickelten gegenstandsbezogenen Analyseansatz besteht bislang die Einschränkung, dass die Modi institutionellen Wandels und die damit in Zusammenhang stehenden theoretischen Überlegungen fast aus-schließlich Gegenstandsbezüge zur politischen Ökonomie und zu damit in Ver-

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164 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

bindung stehenden Politikfeldern aufweisen. Insofern eröffnet die auf den Ge-genstand der Regierungsorganisation im Allgemeinen und die Kernexekutive im Besonderen bezogene Erweiterung dieses Ansatzes zwei Chancen: Zum einen kann das analytische Potential auch durch gänzlich andere Gegenstandsbezüge illustriert werden und damit die Übertragbarkeit der theoretischen Annahmen evaluiert werden. Zum anderen bietet dieser Brückenschlag auch die Möglich-keit, Grenzen zwischen der Theoriebildung unterschiedlicher politikwissen-schaftlicher Teildisziplinen zu überwinden.

Problematisch für den hier verfolgten Zweck eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes hingegen erscheint der Versuch von Mahoney und Thelen, die Modi in eine umfassendere „Theorie graduellen institutionellen Wandel“ (Maho-ney/Thelen 2010) einzubinden. Dieses Anliegen drückt sich in dem Bemühen aus, die Verbindungslinien zwischen den erarbeiteten Einflussfaktoren nicht nur allgemein zu skizzieren, sondern in generalisierter Form zu konzeptualisieren. Damit ändert sich der Charakter von einem stärker gegenstandsbezogenen An-satz hin zu einer ausformulierten Theoriekonzeption. Hierzu identifizieren Mahoney und Thelen drei Verknüpfungen zwischen den von ihnen identifizier-ten Kategorien:

Eine erste Verbindungslinie ergibt sich aus der Tatsache, dass bestimmte Ausprägungen des politischen Kontextes einerseits und institutioneller Struktu-ren andererseits jeweils bestimmte Modi institutionellen Wandels wahrscheinli-cher machen (Mahoney/Thelen 2010: 18–22). Allerdings bleibt dieser konkrete Zusammenhang nicht der jeweiligen empirischen Analyse alleine überlassen, sondern die beiden Faktoren politischer Kontext und institutionelle Charakteris-tika werden näher definiert: Der politische Kontext wird von Mahoney und The-len als Ausprägung unterschiedlicher Vetostrukturen verdichtet, während für Institutionen der für Akteure vorhandene Ermessensspielraum bei der Interpreta-tion institutioneller Regeln als zentrales Kriterium herangezogen wird.

Die zweite Verbindungslinie ergibt sich aus der Verbindung der unter-schiedlichen Typen von Change-Agents mit bestimmten Modi institutionellen Wandels (Mahoney/Thelen 2010: 27):

“In sum, we can generalize about the affinity between particular kinds of actors and modes of change as follows: Insurrectionaries seek rapid displacement but will settle for gradual displacement. Symbionts seek to preserve the formal institutional status quo, but their parasitic variety carries out actions that cause institutional drift. Sub-versives seek displacement, but often work in short run on behalf of layering. Op-portunists adopt a wait and see approach while pursuing conversion when it suits their interests.”

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3.5 Ein gegenstandsbezogener Analyseansatz 165

Der dritte Link schließlich bringt die beiden vorhergehenden Verbindungslinien in einen weitergehenden Zusammenhang und leitet daraus eine aus den Charak-teristika des politischen Kontextes, den Merkmalen der betreffenden Institutio-nen, Typen von Change-Agents und Modi institutionellen Wandels bestehende Systematik ab (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Politischer Kontext, institutioneller Kontext und Change-Agents

Charakteristika der avisierten Institution Charakteristika des politischen Kontextes

Kleiner Ermessens-spielraum auf der Umsetzungsebene

Großer Ermessens-spielraum auf der Umsetzungsebene

Stärkere Vetomöglichkeiten

Subversive (Layering)

Parasitäre Symbionten

(Drift) Schwächere

Vetomöglichkeiten Aufständische (Displacement)

Opportunisten (Conversion)

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Mahoney/Thelen 2010: 19 Für den hier verfolgten Zweck eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes kann die damit verbundene grundlegende Systematik durchaus übernommen werden. Allerdings ist die hierin angedeutete, zu analytischen Zwecken verkürzte Perspektive auf die beiden Faktoren Kontext und Institutionen zurückzuweisen. Wie die vorhergehende Diskussion gezeigt hat, zeichnet sich die hier vorge-nommene Konzeptualisierung beider Begrifflichkeiten gerade durch eine Ab-grenzung von variablenzentrierten Perspektiven anderer theoretischer Zugänge ab. Sie erscheinen, wie die vorhergehenden Abschnitte verdeutlicht haben, als zu vielschichtig, als dass sie vor dem Hintergrund ihrer heuristischen Funktion auf die beiden von Mahoney und Thelen vorgeschlagenen Kategorisierungskriterien verkürzt werden könnten. Diesem Zugang wiederum stimmen auch Mahoney und Thelen zu und insofern orientiert sich das weitere Vorgehen an der von Mahoney und Thelen selbst vorgeschlagenen Zielsetzung: „Ultimately, the ar-guments we have put forward can only be evaluated through the analysis of concrete cases and actual episodes of institutional change“ (Mahoney/Thelen 2010: 32).

Wie strukturiert nun der entwickelte Analyseansatz die nachfolgende empi-rische Analyse? Erstens gilt es, dem zeitgeschichtlichen und politischen Kontext besondere Beachtung zu schenken. Dieser wirkt sowohl auf die Institutionen der Kernexekutive als auch auf die Akteure ein und beeinflusst damit grundsätzlich auch die Modi institutioneller Transformation. Im Sinne einer einleitenden Be-

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166 3 Ein neo-institutionalistischer Analyseansatz

schreibung gilt es daher zunächst, die mit diesen kontextuellen Einflüssen ver-bundenen zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen, politischen Kräfteverhältnis-se und politischen Herausforderungen der nordrhein-westfälischen Regierungs-formation nach dem Regierungswechsel 2005 darzustellen (Kapitel 5.1).

Zweitens sind die für den vorliegenden Gegenstand relevanten Institutionen der Kernexekutive empirisch zu identifizieren und im Sinne eine Struktur- und Prozessanalyse hinsichtlich der auf sie einwirkenden Einflussfaktoren zu unter-suchen. Erst durch eine entsprechende Abgrenzung der in die Analyse einbezo-genen formalen und informellen Regelsysteme wird die Reichweite des hier untersuchten Gegenstandes im theoretischen Sinne abgesteckt. Zugleich struktu-rieren die als zentrale heuristische Instrumente identifizierten Modi institutionel-ler Transformation diese empirische Analyse, indem sie den Blick auf bestimmte Transformationsprozesse und die dahinter stehenden kausalen Mechanismen lenken (Kapitel 5.2).

Zunächst gilt es jedoch im nachfolgenden Kapitel, die mit dem Analysean-satz und dem Untersuchungsgegenstand verbundenen methodologischen Fragen zu klären (Kapitel 4).

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4 Forschungsdesign und methodischer Zugang: Fallstudiendesign zur induktiven Theoriebildung und teilnehmende Beobachtung

“In the end, good theory – not simply method –

is what makes for good science.” (Thomas 2005: 858)

Der in Kapitel 3 entwickelte, gegenstandsbezogene Analyseansatz sowie die dahinter stehenden institutionentheoretischen Überlegungen haben sowohl für das Forschungsdesign als auch für die methodische Anlage der Arbeit wichtige Implikationen. Daher gilt es zunächst, diesen Zusammenhang zwischen indukti-ver Theorieentwicklung einerseits und Forschungsdesign andererseits deutlich zu machen und die dieser Arbeit zugrundeliegenden methodologischen Entschei-dungen zu begründen. Dabei verfolgt dieses Kapitel zwei bereits in der Einlei-tung kurz skizzierte Ziele:

Erstens soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit die These untermauert werden, dass aus einer Einzelfallstudie - wie der vorliegenden - über diesen kon-kreten Fall hinausreichende Erkenntnisgewinne möglich sind. Dabei geht es nur im nachrangigen Sinne um eine an anderen Stellen vehement geführte Auseinan-dersetzung zwischen Vertretern quantitativer und qualitativer Methoden (vgl. Thomas 2005; Brady/Collier 2004). Vielmehr rücken grundsätzliche Fragen hinsichtlich des Forschungsdesigns ins Zentrum der Diskussion: Die Bedeutung von (Einzel)Fallstudien als politikwissenschaftliches „Basisdesign“ zwischen Theorieentwicklung und Theorietest, Anforderungen und Probleme der Fallaus-wahl, Möglichkeiten und Grenzen der Generalisierbarkeit gewonnener Einsich-ten sowie methodologisch induzierte Forschungsstrategien. Die hier getroffene Entscheidung für eine qualitative Herangehensweise folgt dann diesen Vorüber-legungen. Zu begründen ist in diesem Sinne, welche politikwissenschaftlichen Erkenntnisgewinne aus der vorliegenden Einzelfallstudie ableitbar sind.

Zweitens ergibt sich aus diesen allgemeinen methodologischen Überlegun-gen indirekt das Ziel, die bislang in der Regierungsforschung kaum angewandte Methode der teilnehmenden Beobachtung für die vorliegende Analyse nutzbar zu machen und damit das methodische Repertoire der Regierungsforschung zu erweitern. Angesichts der bislang vor allem in der Ethnologie und der soziologi-schen Forschung beheimateten Anwendung dieser Methode und ihrer Beschrän-

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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168 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

kung auf wenige Teilbereiche der Politikwissenschaft ergeben sich mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand aus dem Bereich der Regierungsforschung ganz neue Fragen, die es zu beantworten gilt. Zu nennen sind der Zugang zu einem grundsätzlich auf Vertraulichkeit basierenden Arkanbereich43 der Politik und die „Beobachtbarkeit“ von Phänomenen, die mit der hier untersuchten Frage nach den Transformationsprozessen der Kernexekutive in Zusammenhang stehen. Zudem ist zu beantworten, wie die teilnehmende Beobachtung in eine darüber hinausgehende Forschungsstrategie sinnvoll integriert werden kann. Der Verfol-gung dieser beiden Ziele dienen die nachfolgenden Unterkapitel zum For-schungsdesign (Kapitel 4.1) und der methodischen Herangehensweise dieser Arbeit (Kapitel 4.2). 4.1 Forschungsdesign: Theoriebildende Einzelfallstudie und

Prozessanalyse kausaler Mechanismen Die Notwendigkeit einer ausführlichen Diskussion des hier zugrundeliegenden Forschungsdesigns folgt beinahe zwangsläufig aus dem bisher entwickelten gegenstandsbezogenen Analyseansatz. Ein erster Anknüpfungspunkt hierfür sind die im theoretischen Rahmen diskutierten Überlegungen von Paul Pierson. Sein Plädoyer für die besondere Beachtung zeitlicher und Kontextfaktoren erstreckte sich bislang vor allem auf die theoretische Rahmung eines gegenstandsbezoge-nen Analyseansatzes. Dies resultierte aus der Grundannahme Piersons, dass „[t]he best case for connecting history to the social sciences is neither empirical (...) nor methodological (...), but theoretical” (Pierson 2004: 5). Pierson wendet sich mit dieser Betonung von Zeit als theoretisch zu erfassender Kategorie gegen aus seiner Sicht weniger ambitionierte Vertreter einer „historischen Wende“ der Sozialwissenschaften, die Zeitlichkeit und Geschichte vor allem als Auswahlkri-terien für Fallstudien verstehen, ohne jedoch weitergehende theoretische Konse-quenzen abzuleiten (vgl. Pierson 2004: 4–5).

Zugleich jedoch, und auch das betont Pierson explizit, hat eine solche Be-trachtungsweise neben theoretischen auch methodologische Implikationen. Denn bei einer Forschungsperspektive, die zeitlichen Abläufen und Kontextfaktoren theoretischen Raum einräumt, „[e]ach line of argumentation is likely to be visi-ble only if the analyst's research design and methods are open to the possibility that such long-term processes are causally significant” (Pierson 2004: 89). An-ders formuliert: Forschungsdesign und methodische Anlage müssen auf den theoretischen Rahmen insofern abgestimmt sein, als dass sie die Erfassung von

43 Vgl. zu diesem Problemfeld auch die kritischen Anmerkungen von Timo Grunden (2009: 73).

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4.1 Forschungsdesign 169

Kontextfaktoren und zeitlich induzierten Kausalmechanismen überhaupt erst ermöglichen. Es geht insofern um eine doppelte Hinwendung zu zeitlichen Ab-läufen und Kontext als wichtige Erklärungsfaktoren: Einerseits in theoretischer, andererseits in methodologischer Hinsicht.

Für die vorliegende Einzelfallstudie stellt sich diese Anforderung als kei-neswegs trivial dar, denn sie widerspricht in ihrer Anlage in weiten Teilen einem konventionellen methodologischen Verständnis in der Politikwissenschaft und daraus abgeleiteten Kriterien für die Formulierung eines adäquaten Forschungs-designs.44 Auf diese Inkompatibilität weist erneut Pierson in abstrakter Form hin: „For a social science community largely confined to [short-time phenomena], a great deal of social life is simply off the radar" (Pierson 2004: 98). Die von Pierson damit implizit kritisierte konventionelle methodologische Betrachtungs-weise (u.a. King et al. 1994; Geddes 2007) geht mit einem stark variablenzen-trierten Zugang einher. Für die vorliegende Fragestellung gilt es jedoch, zumal in Verbindung mit dem zuvor entwickelten theoretischen Analyseansatz, einen anderen Forschungszugang zu formulieren. Geeignet erscheint hierfür ein Fall-studiendesign, das sich aufgrund seiner Fallzentrierung von einer variablenzen-trierten Perspektive fundamental unterscheidet: „The alternative, case oriented approach places cases, not variables center stage“ (Ragin 2000d: 5; vgl. Blatter et al. 2007: 123–124). Fallstudien sind insofern gewissermaßen ein eigenen Gestal-tungskriterien folgendes „Basisdesign“ qualitativer Forschung (Flick 2007a: 252).

In Verbindung mit den theoretischen Überlegungen ergeben sich aus dieser kurzen Ausgangsüberlegung vier grundsätzliche Fragen, die es aufzugreifen und in der nachfolgenden Diskussion zu vertiefen gilt (vgl. hierzu allgemein King et al. 1994; Bates et al. 1998; Brady/Collier 2004; Davis 2005; George/Bennett 2005; Ragin/Becker 2000; Thomas 2005; Vaus 2001: 219–232):

Erstens wirft die Betonung von Kontextfaktoren und zeitlichen Abläufen im Rahmen einer Fallstudie die Frage nach der methodologischen Unterscheidung von Geschichts- und Politikwissenschaft auf. Denn im Sinne Mayntz’ handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine „historische“ Arbeit: „Zunächst einmal heißt ‚historisch‘ nicht immer ‚vergangen‘, sondern bedeutet vor allem, dass es sich um einen in Raum und Zeit genau lokalisierten, konkreten Fall (Vorgang usw.) handelt“ (Mayntz 2002: 8).

44 Der Begriff der „konventionellen Methodologie“ wird hier in Anlehnung an die Literatur als

vereinfachende Zuschreibung verwendet. Damit ist kein Werturteil verbunden, sondern nur die Einordnung von Fallstudien mit kleinen Fallzahlen innerhalb politikwissenschaftlicher Forschungsdesigns. Stephen van Evera konstatiert: „Case study is the poor cousin among so-cial science methods. The mainstream methodology literature pays vast attention to large-n methods while dismissing case methods with a wave" (1997: 3).

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170 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Vereinfacht dargestellt, zielt historische Forschung dabei auf die Erklärung konkreter Fälle, während politikwissenschaftliche Analysen die Identifikation übertragbarer Muster bezwecken, die über diese konkreten Fälle hinausweisen (Bennett/George 2001: 137). Aus einem konventionellen methodologischen Verständnis heraus ist dieser Anspruch über (historische) Fallstudien mit gerin-gen Fallzahlen oder gar einzelnen Fällen nur sehr eingeschränkt einzulösen:

“In the midst of these strong decontextualizing trends, historically oriented analysis in the social sciences has often been criticized as a particularly egregious instance of backward thinking (...). Preoccupied with contexts that are taken to be unique, his-torical analyses are seen as antithetical to the identification of patterns and the de-velopment of generalizations. These approaches to inquiry are dismissed as ‘tradi-tional’ and contrasted, unfavorably, with the ‘modern’” (Pierson 2004: 168).

Die mit Blick auf die Fragestellung und den theoretischen Rahmen eingeforderte methodologische Offenheit gegenüber Kontext- und zeitlichen Faktoren wird folglich gleichgesetzt mit einer idiographischen Betrachtung spezifischer Einzel-fälle, aus denen keine generalisierbaren Erkenntnisse gewonnen werden können. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit die vorliegende Arbeit zu politikwissen-schaftlichem Erkenntnisgewinn beitragen kann. Auf den Ansatzpunkt für eine mögliche Antwort verweist Pierson insofern, als „what is too easily dismissed as 'context' may in fact be absolutely crucial to understanding important social pro-cesses“ (Pierson 2004: 169). Wie zugleich das politikwissenschaftliche Ziel zumindest begrenzter Generalisierbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse über den Einzelfall hinaus aufrechterhalten werden kann, erfordert jedoch eine weiterge-hende Begründung.

Zweitens wurde bereits im theoretischen Rahmen auf die grundsätzlich in-duktive Herangehensweise dieser Arbeit hingewiesen. So geht es einerseits um eine theoretisch hergeleitete Anleitung zur Rekonstruktion des zu erklärenden Gegenstandes. Diese meint weniger die statistische Auswertung von „Zusam-menhänge[n] zwischen Variablen, sondern eine Erklärung des fraglichen Makro-phänomens durch die Identifikation der an seinem Zustandekommen beteiligten Prozesse und Interdependenzen“ (Mayntz 2002: 13). Andererseits wird der ana-lytische Rahmen erst durch die empirische Analyse angereichert und weiterent-wickelt. Theorieentwicklung und empirische Analyse sind folglich nicht strikt voneinander getrennt, sondern unmittelbar aufeinander bezogen. Insofern dient die empirische Analyse nicht primär dem Testen theoretischer Vorannahmen, sondern soll stattdessen Hinweise auf notwendige Modifikationen und Verände-rungen theoretischer Annahmen liefern. Ein solches Verhältnis von Theorie und Empirie widerspricht einem konventionellen Verständnis für ein adäquates For-

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4.1 Forschungsdesign 171

schungsdesign (vgl. King/Keohane/Verba 1994)45. Theorieentwicklung und empirische Analyse sind aus dieser Sicht klar voneinander zu trennen. Theorie-entwicklung und Theorietest können nicht entlang des gleichen Gegenstandes erfolgen. Die vorliegende Arbeit widerspricht diesem Postulat explizit. Folglich gilt es zu erläutern, welchen methodologischen Annahmen sie stattdessen folgt und welche Entscheidungen für die Strukturierung des Forschungsdesigns sich hieraus ergeben. Der zentrale Unterschied besteht kurz zusammengefasst darin, weniger allgemeinen Gesetzmäßigkeiten nachzuspüren als gegenstandsbezogene Ansätze mittlerer Reichweite in den Mittelpunkt der Theorieentwicklung zu stellen.

Drittens stellt sich bei einem auf Fallstudien ausgerichteten Forschungsde-sign die Frage nach der Zahl der zu untersuchenden Fälle sowie der Auswahl relevanter Fälle. Eine vielfach geteilte Annahme lautet, dass mit der Zahl der untersuchten Fälle die Zahl der Beobachtungen und damit die Generalisierbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse steigen. Mit Blick auf die hier vorliegende Einzel-fallstudie ergibt sich folglich die Frage, wie diese überhaupt zu theoretischem Erkenntnisgewinn beitragen kann. Oder in der „konventionellen“ Logik formu-liert: Je weniger Fälle, umso weniger zu untersuchende Beobachtungen, desto weniger Generalisierungspotential. Auch hier bieten Piersons Überlegungen einen ersten Anknüpfungspunkt für die Zurückweisung einer solchen Perspekti-ve. Er verweist auf die Unterscheidung von „dünnen“ und „dichten Theorien“ und damit den Zusammenhang zwischen theoretischem Rahmen und methodolo-gischen Entscheidungen. Nimmt man die Entwicklung dichter Theorien in den Blick, löst sich das methodologische Problem von Einzelfallbetrachtungen durch die Betonung kausaler Mechanismen in gewisser Weise auf:

“Again, the conclusion that this is an intractable problem is mistaken. It stems from the view that a study of, say two or three revolutions means that an analyst can gain leverage from only two or three observations. This might well be true for the typi-cally ‘thin’ theories prevalent in decontextualized research. (...) By contrast, emerg-ing arguments about temporal relationships are much more attentive to mechanisms. They therefore provide a basis for thicker theories that can generate many more ob-servable implications within each broad 'case' subjected to empirical scrutiny. (…). Richer theories increase the prospects for surmounting, or at least diminishing, the ‘many variables, few cases’ problem” (Pierson 2004: 173–174; vgl. auch Collier et al. 2004b: 224–249).

Neben der Zahl der zu untersuchenden Fälle stellt sich die Frage nach den Krite-rien für die Fallauswahl. Hier betont ein konventionelles Verständnis die deduk- 45 Mit der Bezeichnung „konventionell“ ist kein Werturteil verbunden, sondern lediglich eine

vielfach als dominant bezeichnete Perspektive zu Forschungsdesigns gemeint.

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tive Herleitung derselben und definiert klare Kriterien für die Identifikation rele-vanter Fälle. Im Anschluss an die vorhergehenden Überlegungen stellt sich aber auch hier die Frage, ob eine solche Herangehensweise nicht gleichfalls blind gegenüber wichtigen Kontextfaktoren ist, die alleine aufgrund der Fallauswahl ausgeblendet werden. Bates u.a. plädieren gar für eine radikal pragmatische Perspektive:

“When students learn research methods, they typically start by learning principles of case selection. Like them, we resist this point of departure. As have many of our students, we too have been impelled to ‘do social science’ by our fascination with particular cases [...]. In effect, our cases selected us, rather than the other way around” (Bates et al. 1998: 13).

Mag man dieser Sichtweise möglicherweise nicht in ihrer fundamental pragmati-schen Herangehensweise folgen, so stellt sich die Fallauswahl als zentrale Frage im Zuge der Anlage des Forschungsdesigns. Die hier formulierte Antwort orien-tiert sich einerseits an politischen und theoretischen Relevanzkriterien. Anderer-seits zielt die Begründung der vorliegenden Fallauswahl weniger auf eine unter-stellte Repräsentativität des untersuchten Einzelfalles als vielmehr auf die theore-tische Generalisierbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse ab.

Schließlich stellt sich viertens die Frage nach den konkreten methodischen Konsequenzen des hier zugrunde gelegten Forschungsdesigns. Fasst man hierzu die drei vorhergehenden Aspekte zusammen, ergibt sich folgende Zielsetzung: Das Forschungsdesign zielt nicht auf die idiographische Beschreibung eines Einzelfalles, sondern auf die begrenzte Generalisierbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse in Form kausaler Mechanismen. Dabei steht neben dem empiri-schen Erkenntnisgewinn die Generierung und Entwicklung theoretischer Katego-rien und Annahmen im Mittelpunkt, die wiederum über den untersuchten Einzel-fall hinausreichen und auf weitere Gegenstände übertragen werden können. Gegenstandsbezogen übersetzt heißt das: Ziel ist sowohl die Beschreibung als auch die Erklärung von Wandlungs- und Stabilisierungsprozessen der Regie-rungsorganisation in Nordrhein-Westfalen im Zuge des Regierungswechsels 2005. Die hierbei gewonnenen empirischen Erkenntnisse sollen in begrenzt ver-allgemeinerter Form potentiell auch zur Erklärung anderer Fälle herangezogen werden können. Schließlich soll der dabei zugrundeliegende Analyseansatz in-soweit angepasst und erweitert werden, als dass er im Sinne eines theoretischen Ansatzes mittlerer Reichweite zur weiteren Analyse kernexekutiver Transforma-tionsprozesse herangezogen werden kann.

Dieser Anspruch, so die Ausgangsüberlegung, lässt sich am besten durch einen Rückgriff auf eine qualitative Vorgehensweise einlösen. Die vorliegende Arbeit teilt dabei die von George Thomas in seinem Literaturbericht formulierte

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4.1 Forschungsdesign 173

Kritik einer klaren Trennung von bestätigender („confirmatory“) und explorativer („exploratory“) Forschung (Thomas 2005: 857–858). Die auf dieser Unterscheidung beruhende Betonung testender Forschungsdesigns in der Poli-tikwissenschaft erscheint für den vorliegenden Gegenstand wenig angemessen. Kausale Mechanismen lassen sich nicht durch die Isolierung einzelner Variablen erschließen:

“If the world is characterized by complex multi-causality, isolating individual varia-bles and testing them across time will not capture how they interact; indeed it is in-consistent with the ontology of complex causality” (Thomas 2005: 862).

Thomas leitet daraus die weiterführende Konsequenz ab, dass gerade qualitative Zugänge die methodologischen Grundlagen der Politikwissenschaft darstellen. Für die vorliegende, auf Theorieentwicklung abzielende Untersuchungsanlage folgt hieraus eine Bezugnahme auf die Instrumentarien der Prozessanalyse und der „Within-Case-Analysis“ (George 1979; Bennett/George 2001; George/Ben-nett 2005). Diese methodisch umzusetzen, schlägt dann auch die Brücke zur konkreten methodischen Herangehensweise dieser Arbeit, die im nachfolgenden Unterkapitel 4.2 erläutert wird.

Diese vier zentralen Fragen gilt es zu beantworten, um das gewählte For-schungsdesign und die damit verbundenen Entscheidungen zur Anlage der Un-tersuchung zu begründen. Diese Begründungspflicht speist sich aus der Prämis-se, dass es keine klar umrissenen und feststehenden Richtlinien für die Gestal-tung eines Forschungsdesigns gibt. Vielmehr handelt es sich um einen Entschei-dungsprozess, bei dem teilweise widerstreitende Anforderungen in Ausgleich gebracht oder aber begründete Entscheidungen für eine bestimmte Perspektive getroffen werden müssen (ausführlicher Collier et al. 2004a: 221–226). „In the end, there is nothing to do but justify our research and defend the results. Good scholarship is based (...) upon 'reflection and choice'" (Thomas 2005: 863; vgl. auch Flick 2007a: 257–263; Ragin 2000a: 217–218; Vaus 2001: 9). 4.1.1 Beschreibung vs. Erklärung: Zum erkenntnistheoretischen Fundament

historischer Fallstudien Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine historische Fallstudie. Es geht bei einem solchen Verständnis des „Historischen“ im bereits oben genann-ten Sinne Renate Mayntz’ allerdings weniger um etwas „Vergangenes“, was möglichst detailgenau rekonstruiert wird, sondern vielmehr um die Analyse eines zeitlich und räumlich eingebundenen Gegenstands (Mayntz 2002: 8). Bereits bei

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174 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

der Entwicklung des Analyseansatzes (Kapitel 3) mit dem starken Fokus auf Ansätze des Historischen Institutionalismus wurde herausgearbeitet, warum dies mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand der Regierungsorganisation zentral ist: Eine Analyse von Wandlungs- und Stabilisierungsprozessen der Regierungs-organisation ist insofern ein „historisches“ Unterfangen, als dass diese zeitlich und kontextuell eingebunden und in besonderer Weise von Pfadabhängigkeiten geprägt sind. Diese Arbeit fühlt sich insofern einem „historischen“ Verständnis politikwissenschaftlicher Forschung verpflichtet und orientiert sich insofern an einer Reihe von Studien, welche die jüngere „historische Wende“ der Fachent-wicklung begründen (vgl. Bates et al. 1998: 10; Pierson 2004: 4–5; Elman/Elman 2008).46 Diese historische Wende beinhaltet zudem die Hinwendung zu einer detailreichen Beschäftigung mit Daten und Kontexten (Bates et al. 1998: 10). Daraus ergeben sich einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen histori-scher und einer historisch orientierten politikwissenschaftlichen Forschung:

Erstens teilt dieser Zugang die gemeinsame Annahme, dass Beschreibungen und damit ein zunächst deskriptiver Zugang eine wichtige Grundlage für das jeweilige Erkenntnisinteresse darstellen. Selbst wenn man die Aufgabe politik-wissenschaftlicher Forschung als „Analyse politischer Strukturen“ versteht (Sei-bel 1997: 357; Hervorhebung durch den Verfasser), so kann oder muss geradezu die Beschreibung politischer Ereignisse eine wichtige Grundlage und Vorbedin-gung dieser Analyse darstellen. Folglich kann eine solche Perspektive nicht als „reine“ Beschreibung um Gegensatz zu einer analytischen Herangehensweise abgetan werden (Vaus 2001: 1–2). Zu unterscheiden ist jedoch zwischen konkre-ter und abstrakter Beschreibung auf der einen (Vaus 2001: 1–2), und „dichter“ und „dünner“ Beschreibung auf der anderen Seite (Geertz 2003: 11–12). Wäh-rend konkrete Beschreibung streng gegenstandsbezogen und einzelfallorientiert ist, abstrahiert die Zweitgenannte vom jeweiligen Gegenstand ausgehend. „Dich-te“ Beschreibung wiederum geht über die „dünne“ Beschreibung des mutmaßlich Faktischen hinaus und beinhaltet Interpretationen und erklärende Aspekte. Sie ergänzt folglich die „reine“ Beschreibung durch „eigentümlich übereinander geschichtete Schlüsse und Implikationen“ (Geertz 2003: 12).

Zweitens spielen aus beiden Perspektiven heraus „Narrative“ eine wichtige Rolle. Diese sind im Sinne dichter Beschreibung formulierte Erzählungen zur 46 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass zeitgleich unterschiedliche „Wenden“ in der

Politikwissenschaft identifiziert werden. Es handelt sich also nicht um eine allgemeine Re- oder Neuorientierung der Disziplin als vielmehr um einen Trend in einem sich immer weiter ausdifferenzierenden Feld politikwissenschaftlicher Forschung (vgl. z.B. Benz/Seibel 1997). Elman und Elman (2001: 3–4) weisen auch abweichend darauf hin, dass auf bestimmten Feldern der Politikwissenschaft historisch orientierte Fallstudien auf der Grundlage qualitativer Zugänge zunehmend unter Druck geraten und daher gerade nicht von einer historischen Wende die Rede sein kann.

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4.1 Forschungsdesign 175

Präsentation gewonnener Erkenntnisse. Sie fassen beispielsweise Informationen über Akteure, Institutionen, Ereignisse und Zusammenhänge zwischen diesen in einer kohärenten „Geschichte“ zusammen, wenngleich dies ergänzende Neben-handlungen nicht ausschließt (vgl. Büthe 2002: 482). Diese Narrative erzählen „Geschichten“, können aber zugleich analytisch aufgeladen sein. Solche „analy-tical narratives“ (Bates et al. 1998) sind insofern narrativ, als sie Kontext und zeitlicher Komplexität breiten Raum einräumen, statt nur bestimmten Variablen und Ausschnitten des jeweiligen Gegenstands Beachtung zu schenken. Im Sinne Piersons gehen sie über den „snapshot-view“ hinaus und erfassen Gegenstände in Form von „moving pictures“ (Pierson 2004: 1–2). Die analytische Dimension analytischer Narrative reicht jedoch über das Deskriptive hinaus und zielt auf Erklärungen und formale Argumentationsstrukturen ab (Bates et al. 1998: 10). Zugleich zeigt sich hier unter Bezugnahme auf Clifford Geertz (2003) und Ri-chard Fenno (1978; 1992) die Verbindung zur oben dargestellten Unterscheidung dichter und dünner Beschreibung: “In an effort to move from apprehension to explanation, [analytical narratives] move from ‘thick’ accounts to ‘thin’ forms of reasoning“ (Bates et al. 1998: 13–14). Zugleich kann argumentiert werden, dass diese Form der analytischen Beschreibung sowohl für die Geschichts- als auch Politikwissenschaft konstitutiv ist, es sich also keineswegs um einen fundamen-talen Unterschied zwischen quellengestützter Beschreibung und theoriebasierter Erklärung handelt (Elman/Elman 2001: 6–7; auch Seibel 1997: 357–358).

Vielmehr besteht gerade im Umgang mit Quellen und Datenmaterial eine weitere, dritte Verbindungslinie zwischen beiden Disziplinen, die hier aufgegrif-fen werden soll. So kennzeichnet auch die Politikwissenschaft die Arbeit mit Primärquellen. Die Vorstellung einer historischen Hilfswissenschaft, die der Politikwissenschaft beschreibende Sekundärquellen vorlegt, während sich die Politikwissenschaft auf die Erklärung und theoretische Analyse auf dieser de-skriptiven Grundlage verlegt, erscheint eindimensional. Vielmehr ist gerade für eine analytische Durchdringung von Kontextfaktoren das Bekanntmachen mit dem Gegenstand sowie die Erschließung von Quellenmaterial eine notwendige Bedingung (George/Bennett 2005: 94–105; Elman/Elman 2001: 28–29). Der von Richard Fenno (1992: 55) beschriebene Suchprozess des „soaking and poaking“ – also des „Aufsaugens und Stocherns“ – stellt den zentralen Ausgangspunkt dar, um überhaupt zu analytischen Erklärungen gelangen zu können (vgl. Blatter et al. 2007: 180; George/Bennett 2005: 89–90). Bei diesem Suchvorgang handelt es sich folglich um eine historisch geprägte Vorgehensweise:

“This is a matter of detective work and historical analysis rather than a matter of ap-plying orthodox quasi-experimental design. Social scientists performing case studies will need to familiarize themselves with the craft of the historian’s trade (…)” (George/Bennett 2005: 90).

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176 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Angesichts dieser ähnlich lautenden Bezugs- und Ausgangspunkte stellt sich die Frage nach dem spezifisch politikwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Denn ein auf historische Fallstudien abzielendes Forschungsdesign führt in ein gewis-ses Dilemma:

“[T]he kind of research we engage in (…) leads us continuously into a position where we have the feeling we are doing nothing but history. But we don’t want to be historians, we want to be social scientists (…)” (Mayntz 2002: 7).47

Wie kann diesem von Renate Mayntz formulierten Postulat im Rahmen einer historischen Fallstudie Rechnung getragen werden? Oder, um es gegenstandsbe-zogen zu formulieren, was ist das Politikwissenschaftliche an einer historisch angelegten Kernexekutivstudie?

Die hier im weiteren Verlauf ausformulierte Antwort lässt sich zu der An-nahme verdichten, dass es sich weniger um einen methodischen, sondern viel-mehr um einen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft handelt. Die Differenz liegt folglich weniger in unterschied-lichen Methoden zur Erschließung von Gegenständen, als vielmehr in der Reichweite der im Zuge der Analyse gewonnenen Erklärungen begründet (Davis 2005: 166–174). Zwar lassen sich in Abgrenzung zu den oben genannten Ge-meinsamkeiten auch Differenzen zwischen beiden Disziplinen identifizieren (vgl. Elman/Elman 2001: 11–27).48 Diese sind in ihrer Verallgemeinerung je-doch weder unumstritten (vgl. u.a. Bates et al. 1998; Brady/Collier 2004; Davis 2005; George/Bennett 2005; Hall 2008; Njølstad 1990; Rueschemeyer 2003), noch zielen sie auf den Kern des von Renate Mayntz formulierten Postulats ab. Dieser besteht darin, dass der darin enthaltene originär sozial- bzw. politikwis-senschaftliche Anspruch zuvorderst mit einer theoretischen Zielvorstellung ver-bunden ist. Ziel politikwissenschaftlicher Fallstudien ist nicht die Erklärung einzelner Fälle, sondern das Testen und Reformulieren von Theorien und Ansät-zen oder die Entwicklung von neuen Erklärungsansätzen. Ein solches Vorgehen, „which converts a historical narrative into an analytical causal explanation 47 Mayntz’ selbstkritische Reflexion bezieht sich auf die politikwissenschaftliche Beschäftigung

mit makro-sozialen Phänomenen wie z.B. die Veränderung von Regulierungsstrukturen, sozialpolitische Entscheidungsprozesse und die Entwicklung internationaler Organisationen zu autonomen korporativen Akteuren. Gleichwohl scheint diese Frage auch mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand gerechtfertigt, wenngleich es sich in diesem Sinne nicht um ein „makro-soziales“ Phänomen handelt.

48 Elman und Elman identifizieren beispielsweise ästhetische Unterschiede zwischen beiden Disziplinen bei der Darstellung von Theorie und Empirie (2001: 27), die unterschiedliche Neigung zu normativen Werturteilen (2001: 25–26), die grundsätzlich unterschiedliche Gewichtung von Akteurshandeln und strukturellen Einflussfaktoren (2001: 23–25) sowie ein fundamental anderer Zugang zu Fällen und ihrer Auswahl (2001: 16–18).

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4.1 Forschungsdesign 177

couched in explicit theoretical forms, is substantially different from historical explanation“ (Bennett/George 2001: 148; hierzu auch George/Bennett 2005: 92–94; Elman/Elman 2001: 7–8; Njølstad 1990: 221).49 Dieser theoretische An-spruch kennzeichnet auch diejenigen politikwissenschaftlichen Zugänge, die Kontext und zeitlichen Abläufen besondere Bedeutung beimessen und sich ei-nem historischen Zugang grundsätzlich verbunden fühlen. So merkt Pierson kritisch an, dass die Beschäftigung mit Pfadabhängigkeiten nicht zu einer reinen Beschreibung zeitlicher Zusammenhänge führen dürfe. Vielmehr gelte es, dahinterliegende, wirkungsmächtige Kausalmechanismen zu identifizieren und damit einem über den Fall hinausreichenden theoretischen Anspruch Genüge zu tun (Pierson 2004: 49–50). Davis fasst den damit verbundenen erkenntnistheore-tischen Unterschied zu historischen Analysen folgendermaßen zusammen:

“What differentiates a purely historical account or description of a given event or outcome from a social science explanation is that the latter converts historical data into a suitable theoretical or ‘analytical’ vocabulary that, at least in principle, can be applied to other cases” (Davis 2005: 176).

Mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand und die gewählte Herangehensweise im Rahmen einer historischen Einzelfallstudie gerät dieser theoretische An-spruch jedoch aus zwei unterschiedlichen und sich widersprechenden Perspekti-ven unter Druck (vgl. Gerring 2004: 351–352):

Einerseits wird auf den jeweils einzigartigen Charakter sozialwissenschaft-licher Gegenstände verwiesen. Mit Blick auf die hier untersuchten Stabilisie-rungs- und Wandlungsprozesse von Regierungsorganisation lautet der zentrale Einwand: Jeder Regierungswechsel folgt eigenen Logiken und Besonderheiten, es handelt sich jedes Mal um nichtrepräsentative Einzelfälle. Dabei spielen histo-rische Zufälle eine Rolle, denen keine wiederkehrenden Muster zugrunde liegen (Elman/Elman 2001: 23). Folglich können untersuchte Fälle auch keine weiter-gehende Repräsentativität beanspruchen, sondern stehen immer nur für sich selbst. Damit ist die Zielsetzung theoretischer Generalisierung und Verallgemei-nerung aufgrund der besonderen Gegenstandsstruktur verstellt.

Andererseits wird aus methodologischer Sicht der Anspruch zurückgewie-sen, über das Instrument historischer Fallstudien zu grundsätzlich für möglich gehaltenen verallgemeinerbaren sozialen Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Diese Perspektive gründet sich folglich nicht auf ein gegenstandsbezogenes Argument,

49 Von manchen Autoren wird abweichend darauf hingewiesen, dass auch historische Forschung

durchaus theoriebezogen arbeitet (z.B. Seibel 1997: 357–358). Dies soll hier keinesfalls bestritten werden, sondern nur auf den theoretischen Anspruch politikwissenschaftlicher Erklärungen verwiesen werden.

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178 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

sondern zielt vielmehr auf mutmaßlich fundamentale Mängel des Forschungsde-signs ab. Zum einen gelten Fallstudien hier als ein stark deskriptives Basisdesign der Sozialwissenschaften (Gerring 2004: 347; vgl. Lijphart 1971; Eckstein 1975). Zum anderen wird ein theoretischer Anspruch auf der Grundlage von Fallstudien mit kleinen Fallzahlen vor dem Hintergrund zurückgewiesen, dass für einen verallgemeinerbaren theoretischen Anspruch zumindest vergleichende Forschungsdesigns, wenn möglich mit großen Fallzahlen notwendig seien (King et al. 1994).

Als Reaktion hierauf identifiziert James Davis (2005: 2–3; vgl. Ben-nett/George 2001: 137)50 zwei unterschiedliche methodologische Trends, die sich vereinfacht als gegensätzliche Pole kategorisieren lassen: Einerseits eine postmodernistisch geprägte Abkehr von theoretischen Ansprüchen auf der Grundlage eines Wissenschaftsverständnisses, welches jeden objektiven und wertneutralen Erkenntnisgewinn zurückweist. Andererseits eine weitere „Ver-wissenschaftlichung“ im Sinne streng deduktiver und nomothetischer Vorstel-lungen entlang einer klar identifizierbaren „scientific method“ (King et al. 1994).

Mit Blick auf diese beiden Entwicklungen folgt die vorliegende Arbeit ab-weichend einer von Fritz Scharpf formulierten Überzeugung und insofern einem methodologischen Mittelweg (so auch George/Bennett 2005: 129–131; Bra-dy/Collier 2004; Mayntz 2002; Ragin 2000b; Gerring 2004: 351–352): „Die Erkenntnisse, die aus guten Fallstudien gewonnen werden, haben eine Überzeu-gungskraft, die von den Sozialwissenschaftlern in ihrem Streben nach dem uner-reichbaren Ziel universeller ‚wissenschaftlicher Gesetze‘ nicht leichtfertig ver-worfen werden sollten“ (Scharpf 2000: 61); hierzu auch Davis 2005: 168). Ei-nerseits wird damit der Anspruch auf theoretische Generalisierungen im Sinne des von Mayntz formulierten Postulats nicht grundsätzlich aufgegeben. Anderer-seits wird der Anspruch auf die Identifikation allgemeiner sozialer Gesetzmäßig-keiten grundsätzlich zurückgewiesen. Diese Abkehr von einer stark deduktiv und nomothetisch orientierten Methodologie stützt sich nicht vorrangig auf methodo-logische Argumente, sondern auf die Struktur sozialwissenschaftlicher Gegen-stände. Mit Blick auf die Gegenstandsstruktur

50 Davis (2005: 2–3 identifiziert als indirekte Konsequenz dieser methodologischen Entwicklung

der Sozialwissenschaften eine weitgehende Entfremdung politischer Praxis und politik-/sozialwissenschaftlicher Forschung. Die politische Praxis sieht keinen Gewinn mehr in sozialwissenschaftlicher Forschung, worauf diese drei Reaktionen zeigt: Erstens die Abwendung von jedwedem Praxisbezug; zweitens eine postmoderne Wendung in der Methodologie, die jeden theoretischen Erkenntnisgewinn systematisch bestreitet; drittens eine noch stärkere „Verwissenschaftlichung“ im Sinne eines rein deduktiven und nomothetischen Verständnisses. Sein Krisenbefund deckt sich in Teilen mit der jüngeren kritischen Selbstreflexion von Wolfgang Streeck (2008), der neben dem mangelnden Praxisbezug auch eine normative Krise der Sozialwissenschaften unterstellt.

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4.1 Forschungsdesign 179

“(…) many of the general claims made on behalf of the scientific method cannot be sustained. Moreover, owing to its particular ontological base the subject matter of interest to most political scientists is poorly suited to explanation in terms of gener-ally valid covering laws. The problem (…) lies not with the practitioners but with the subject itself” (Davis 2005: 3).

Die Struktur der Untersuchungsgegenstände verstellt folglich den Weg für die oben beschriebene methodologische Strategie der „Verwissenschaftlichung“. Wie Renate Mayntz (2002: 20–37; vgl. Elman/Elman 2008: 363) mit Blick auf makrosoziale Phänomene ausführt, zeichnen sich diese durch Multikausalität, Equifinalität, Prozessualität, Historizität und kausale Komplexität aus. Die Ana-lyse solcher Gegenstände, und zu dieser Gruppe von makrosozialen Phänomenen gehört unzweifelhaft auch der vorliegende Untersuchungsgegenstand, führt we-niger zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten als vielmehr zu Theorien mittlerer Reichweite. Hierzu können auch Fallstudien mit begrenzter Fallzahl oder gar Einzelfallanalysen einen wichtigen Beitrag leisten. In diesem Sinne gilt es im nachfolgenden Kapitel aufzuzeigen, wie die vorliegende Fallstudie einen Beitrag zu theoretischem Erkenntnisgewinn leisten kann, statt „nur“ eine Geschichte zu erzählen. Denn die Vorstellung allgemeiner sozialer Gesetzmäßigkeiten zurück-zuweisen, heißt nicht, die grundsätzliche Suche nach Erklärungen und kausalen Prozessen aufzugeben (Davis 2005: 166). 4.1.2 Theoriebildung am Einzelfall: Induktive Theoriebildung, Fallauswahl und

methodische Konsequenzen Wie das vorhergehende Unterkapitel zumindest implizit gezeigt hat, ist diese Arbeit in methodologischer Hinsicht auf zwei Ziele ausgerichtet. Zum einen geht es um die analytische Rekonstruktion des konkreten Gegenstandes, mithin die Darstellung und Erklärung von Wandlungs- und Stabilisierungsprozesse der Regierungsorganisation in Nordrhein-Westfalen im Zuge des Regierungswech-sels im Jahr 2005. Zum anderen geht es um einen Beitrag zur politikwissen-schaftlichen Theoriebildung, der über den konkreten Einzelfall hinausweist und insofern zumindest eine beschränkte Generalisierung der gewonnenen Erkennt-nisse ermöglicht. Erst dadurch wird dem von Renate Mayntz formulierten Postu-lat Rechnung getragen, die Sozialwissenschaften müssten mehr als Geschichten erzählen. Folglich gilt es im weiteren Verlauf darzustellen, wie insbesondere der damit verbundene Anspruch im Rahmen dieser Fallstudie eingelöst werden kann.

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180 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

4.1.2.1 Zum komparativen Vorteil von Fallstudien: Induktive Theoriebildung statt deduktiver Theorietest

Wie bereits das einleitende Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt hat, fehlen für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand elaborierte und gegenstandsbezogene Analyseansätze, auf die hier zurückgegriffen werden könnte. In der konkreten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand dominieren vielmehr deskriptive Dar-stellungen einzelner Regierungswechsel. Kommt dabei gelegentlich auch eine vergleichende Perspektive zum Tragen, so wird zugleich der Einzelfallcharakter der jeweiligen Wandlungs- und Stabilisierungsprozesse von Institutionen der Regierungsorganisation betont. Zumindest implizit ist damit auch die Einschät-zung verbunden, dass sich der Gegenstand demnach einer generalisierbaren The-oriebildung verschließt.

Zugleich bietet jedoch, so die hier in theoretischer Absicht verfolgte Aus-gangsüberlegung, das Feld neoinstitutionalistischer Ansätze und Theorien ein breites Spektrum an theoretischen Anknüpfungsmöglichkeiten mit Blick auf das formulierte Erkenntnisinteresse. Insbesondere der hier in den Mittelpunkt ge-rückten Fragestellung nach Wandlungs- und Stabilisierungsprozessen von Insti-tutionen wird von neoinstitutionalistischen Ansätzen inzwischen größere Beach-tung geschenkt (vor allem Streeck/Thelen 2005a; Mahoney/Thelen 2010a). Al-lerdings zeigen die beiden einschlägigen, jüngeren Sammelbände zu diesem Themenkomplex eine klare Orientierung auf Institutionen der politischen Öko-nomie. So beschäftigen sich die dort zusammengestellten Beiträge unter anderem mit nationalen Sozialpolitiken (Hacker 2005; Levy 2005; Falleti 2010; Jacobs 2010), der vergleichenden Analyse von Finanzpolitiken (Deeg 2005) und weite-ren Teilfragen aus dem Feld der politischen Ökonomie (Trampusch 2005). Inso-fern dominiert eine policy-orientierte Beschäftigung mit politisch-ökonomischen Institutionen. Ausnahmen stellen eine makro-soziologische Fallstudie zum Re-gimewandel (Slater 2010) und die Beschäftigung mit institutionellen Regeln des US-amerikanischen Repräsentantenhauses (Sheingate 2010) dar. Eine konkrete Ausrichtung auf Institutionen der Regierungsorganisation und damit eine stärke-re Polity- und Politics-Orientierung fehlen hingegen bislang. Genau darum geht es jedoch mit Blick auf das hier verfolgte theoretische Erkenntnisinteresse.

Was bedeutet diese Ausgangssituation nun für die Struktur des Forschungs-designs? In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist ein Ziel dieser Arbeit, einen Beitrag zur gegenstandsbezogenen Theorieentwicklung zu leisten. Hierzu sind, so die These, Fallstudien aus den folgenden Gründen in besonderer Weise geeig-net:

Erstens ermöglicht ein Fallstudiendesign die explizite Einbeziehung des je-weiligen historischen und politischen Kontextes in die Analyse. Dass damit der

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4.1 Forschungsdesign 181

grundsätzliche Generalisierungsanspruch nicht verloren gehen muss, macht be-reits die allgemeine Definition von Fallstudien von George und Bennett deutlich. Dieser Perspektive folgend handelt es sich bei Fallstudien um „the detailed ex-amination of an aspect of a historical episode to develop or test historical expla-nations that may be generalizable to other events“ (George/Bennett 2005: 5). Das von Mayntz formulierte Postulat einer zumindest grundsätzlichen Verallgemei-nerbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse wohnt also auch diesem Verständnis von Fallstudien inne, wenngleich es sich hierbei nicht um eine Generalisierbar-keit im Sinne allgemeiner sozialer Gesetzmäßigkeiten handelt. Allerdings nimmt die Wahl eines Fallstudiendesigns die bereits im theoretischen Rahmen formu-lierten Anforderungen ernst, auf Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse von Institutionen der Regierungsorganisation einwirkende Kontextfaktoren in die Analyse einzubeziehen. In methodologischer Hinsicht handelt es sich beim Untersuchungsgegenstand um einen Gegenstand, der von komplexen Kausali-tätsbeziehungen gekennzeichnet ist. Phänomene wie Pfadabhängigkeiten und längerfristige institutionelle Wandlungs- und Stabilisierungsprozesse, deren besondere Bedeutung für die vorliegende Untersuchung bereits bei der Entwick-lung des theoretischen Rahmens herausgearbeitet wurde, sind solch komplexe Prozesse, die von Multikausalität, Equifinalität, Prozessualität und Historizität geprägt sind (Mayntz 2002: 20–37). Deren Zusammenspiel gilt es im Rahmen des gewählten Forschungsdesigns explizit aufzunehmen, was nur im Rahmen von Fallstudien geschehen kann:

“If the world is characterized by complex multi-causality, isolating individual varia-bles and testing them across time will not capture how they interact; indeed it is in-consistent with the ontology of complex causality. (…) Even if we predict results casted upon the scores of a wide variety of variables we have not explained why this happened” (Thomas 2005: 862; vgl. George/Bennett 2005: 19–22; Pierson 2004: 1–2; Munck 2004: 115–116).

Ziel von Fallstudien ist demnach nicht die isolierte Betrachtung einzelner Vari-ablen und ihre möglichst von Kontextfaktoren entlastete Isolierung, sondern die Erfassung und Erklärung des komplexen Zusammenspiels verschiedener Fakto-ren. Daraus folgt auch eine von variablenzentrierten Forschungsdesigns abwei-chende Herangehensweise: „The alternative, case oriented approach places cases, not variables center stage“ (Ragin 2000d: 5; vgl. Blatter et al. 2007: 124–125). Diese Fälle werden dabei als komplexe Konfiguration von Strukturen und Ereig-nissen behandelt. Die daraus resultierenden Spannungsverhältnisse stehen folg-lich im Mittelpunkt des Interesses. Es geht insofern nicht um die Isolierung ein-zelner Beobachtungen aus dieser komplexen Fallkonfiguration (Ragin 2004: 125–128) oder anders ausgedrückt: Ein Fallstudiendesign beruht auf einer holis-

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182 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

tischen Ontologie (Blatter et al. 2007: 124). Diese Grundannahme wird im Zuge dieser Arbeit insofern aufgegriffen, als dass relevanten Kontextfaktoren sowohl in theoretischer Hinsicht51 als auch bei der empirischen Analyse breiter Raum eingeräumt wird. In methodologischer Hinsicht bedeutet dies insbesondere, den zeitgeschichtlichen, politischen und institutionellen Zusammenhang des unter-suchten Gegenstandes explizit in seiner Bedeutung für das vorliegende Erkennt-nisinteresse herauszuarbeiten.

Zweitens geht es bei der vorliegenden Analyse um einen Beitrag zur poli-tikwissenschaftlichen Theoriebildung und nicht vorrangig um das Testen bereits existierender theoretischer Vorannahmen. Insbesondere jüngere Publikationen (u.a. George/Bennett 2005; Blatter et al. 2007; Brady/Collier 2004; Davis 2005; Ragin 2000b) verweisen in diesem Zusammenhang auf den besonderen Nutzen, den (historische) Fallstudien mit Blick auf Theoriebildung und -entwicklung nach sich ziehen. Ein Teil dieser neueren methodologischen Literatur kritisiert zugleich die starke Ausrichtung konventioneller methodologischer Grundlegun-gen auf das Testen theoretischer Annahmen (zu dieser Kritik insbesondere Colli-er et al. 2004a: 202–209; Brady/Collier 2004). Allerdings wird die theoriebil-dende Bedeutung von Fallstudiendesigns als wichtiges Basisdesign politikwis-senschaftlicher Analysen erst in jüngerer Zeit explizit herausgearbeitet. Zum einen wird beklagt, Fallstudien seien für lange Zeit „the ugly duckling of re-search design“ (Vaus 2001: 219) oder „the poor cousin among social science methods“ (van Evera 1997: 3) gewesen. Insofern fehlten auch klare Darstellun-gen der komparativen Vor- und Nachteile von Fallstudiendesigns (vgl. auch George/Bennett 2005: 3–6; Gerring 2004: 341–342). Zum anderen wird kritisch darauf hingewiesen, dass ein größerer Teil der vorhandenen Methodenliteratur einen Bias zugunsten theorietestender Forschungsdesigns aufweist (Geor-ge/Bennett 2005: 11–14). In Abgrenzung von solchen Zugängen erscheinen gerade Fallstudien geeignet, theoretische Ansätze in bestimmten Forschungsfel-dern auf konkrete Gegenstände zu beziehen und insofern zur Entwicklung von gegenstandsbezogenen Ansätzen beizutragen (Blatter et al. 2007: 128–129). Für die vorliegende Arbeit ist dieser Aspekte insbesondere zentral, da bislang keine klaren gegenstandsbezogenen Analyseansätze zur Verfügung stehen, die entlang des untersuchten Fallbeispiels getestet werden könnten.

In Ergänzung dieser für die vorliegende Arbeit grundsätzlich relevanten Po-tentiale von Fallstudien bleibt jedoch festzuhalten, dass von einem einheitlichen

51 Mit Blick auf den vom historischen Institutionalismus geprägten theoretischen Rahmen dieser

Arbeit ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass Ansätze des historischen Institutionalismus tendenziell ein variablenzentriertes Wissenschaftsverständnis zurückweisen und entlang einer fallorientierten Betrachtung die Komplexität historischer Prozesse betonen (siehe hierzu Thelen/Steinmo 1992: 26–27). Vgl. ausführlicher Kapitel 3.

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4.1 Forschungsdesign 183

Fallstudiendesign keine Rede sein kann. Vielmehr unterscheiden sich entspre-chende Forschungsdesigns beispielsweise entlang der Zahl der untersuchten Fälle, der Entscheidung für eine induktive oder eine deduktive Herangehenswei-se sowie nach unterschiedlichen methodischen Zugängen (George/Bennett 2005: 49). Für die vorliegende Arbeit gilt es daher, als drittes Merkmal des gewählten Forschungsdesigns auf die grundsätzlich induktive Herangehensweise hinzuwei-sen.52 Gerade diese induktive Strukturierung ermöglicht einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung und -modifikation. Denn im Gegensatz zu stark variablen-zentrierten Zugängen (hierzu Thomas 2005: 856) betont eine solche fallorientier-te Perspektive keineswegs die strikte Trennung von Theorieentwicklung und empirischer Überprüfung dieser theoretischen Annahmen, sondern bezieht theo-retische Überlegungen und empirische Analyse explizit aufeinander. Ziel ist weder die Verifizierung noch die Falsifikation theoretischer Annahmen im Zuge empirischer Überprüfung als vielmehr die Modifikation, Weiterentwicklung und Anpassung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes.53 In diesem Sinne befinden sich Theorieentwicklung und empirische Analyse in einem kontinuier-lichen Dialog, dessen Ziel die Präzisierung und Verfeinerung der theoretischen Annahmen ist. Ein induktiver Zugang meint folglich auch keinesfalls eine theo-riefreie Beschäftigung mit einem Gegenstand, sondern ein konstruktives Wech-selspiel zwischen existierenden theoretischen Vorannahmen und empirischen Befunden. Diese Form der Induktion ist insofern analytisch und theoriegeleitet (George/Bennett 2005: 240–244).54 Theorieanpassung und empirische Analyse gehen Hand in Hand (Blatter et al. 2007: 138–139; hierzu auch Davis 2005: 7; Rueschemeyer 2003: 311–312; Thomas 2005: 859).

Für die vorliegende Arbeit konkretisiert bedeutet das: Grundlage der theore-tischen Überlegungen sind die bereits diskutierten neoinstitutionalistischen Vor-stellungen zu Wandlungs- und Stabilisierungsprozessen von Institutionen. Da-

52 Die beiden anderen Spezifika des hier gewählten Forschungsdesigns - Einzelfallanalyse und

die qualitative methodische Herangehensweise - werden in den nachfolgenden Teilkapiteln thematisiert.

53 James Davis spricht in seiner epistemologischen Kritik konventioneller Forschungsdesigns von den Grenzen der Logik. Nach einem klassischen Wissenschaftsverständnis sollten Theorie-bildung und empirische Überprüfung auf den Gesetzen der Logik fußen, d.h. der Zweiklang von wahr und falsch bei der Anwendung theoretischer Annahmen auf empirische Gegenstände dominiert. Dies erscheint mit Blick auf sozialwissenschaftliche Gegenstande wenig angemessen. Vielmehr plädiert Davis für die Aufnahme der Kategorie „unentschieden“. Daraus ergibt sich implizit ein wissenschaftstheoretisches Argument für das konstruktive Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie (vgl. ausführlicher Davis 2005: 7–9).

54 Robert Bates u.a. gehen davon aus, dass durch dieses konstruktive Wechselverhältnis zwischen Theorie und Empirie die Trennung von Induktion und Deduktion grundsätzlich überwunden wird (ausführlicher Bates et al. 1998: 16). Zur erweiterten Begriffsklärung siehe auch Reichertz 2007.

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184 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

raus abgeleitete theoretische Annahmen und Begriffe bilden den theoretischen Ausgangspunkt der empirischen Analyse. Zugleich gilt es jedoch, diese gegen-standsbezogen weiterzuentwickeln, anzupassen, zu ergänzen und zu modifizie-ren. Denn „wenn es für ein spezifisches Untersuchungsfeld keine spezifischen Theorien gibt, dann ist die Konsequenz nicht das theorielose Herangehen, son-dern die Suche nach adäquaten generellen Theorien, die direkt oder in modifi-zierter Form auf das Feld übertragen werden können" (Blatter et al. 2007: 172). Folglich sind Theorieentwicklung und empirische Analyse dieser Arbeit nur in der Darstellung getrennt. In die Entwicklung des theoretischen Rahmens (Kapitel 3) sind einerseits bereits im Zuge der empirischen Analyse gewonnene Erkennt-nisse eingeflossen. Andererseits erfolgt die Beschäftigung mit dem Gegenstand der Regierungsorganisation aus dem theoretischen Blickwinkel neoinstitutiona-listischer Ansätze. Es handelt sich insofern beim theoretischen Rahmen dieser Arbeit nicht um ein deduktiv hergeleitetes Theoriegerüst, welches entlang des untersuchten Falles getestet wird, sondern vielmehr um einen induktiv entwi-ckelten, gegenstandsbezogenen Analyseansatz, der bereits entsprechende Modi-fikationen und Erweiterungen beinhaltet. 4.1.2.2 Welche Art der Theoriebildung? Theorien mittlerer Reichweite und die

Identifikation kausaler Mechanismen Wenn das erkenntnistheoretische Ziel dieser Arbeit ein Beitrag zur Theorieent-wicklung ist, stellt sich die Frage danach, welche Art der Theoriebildung hiermit gemeint ist. Eine gewisse Einschränkung des damit verbundenen Generalisie-rungsanspruchs wurde bereits vorgenommen, indem auf die Zielsetzung der Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes verwiesen wurde. Gleichwohl gilt es aufzuzeigen, inwiefern damit dem Anspruch einer zumindest begrenzten theoretischen Generalisierung Rechnung getragen werden kann und auf welche Weise über den untersuchten Einzelfall hinausreichende Erkenntnisse im Sinne der Theorieentwicklung möglich sind.

Peter Hall folgend lassen sich drei Erklärungsmodi in den Sozialwissen-schaften identifizieren (Hall 2008: 305–306):

Erstens historisch spezifische Zugänge, die auf die Erklärung konkreter Er-eignisse und Strukturen abzielen. Dieser Modus unterscheidet sich bestenfalls marginal von einer historisch-deskriptiven Betrachtungsweise. Insofern kann er auch als idiographischer Zugang charakterisiert werden (Gerring 2004: 351–352).

Auf der anderen Seite stehen zweitens multivariate Erklärungen. Diese su-chen nach Erklärungen für eine Vielzahl verallgemeinerbarer Fälle und bemühen

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4.1 Forschungsdesign 185

sich insofern um eine breite Generalisierung der Erkenntnisse. Anders formuliert handelt es sich dabei um deduktiv-nomologische Erklärungsmodelle, die im positivistischen Sinne von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ausgehen (Geor-ge/Bennett 2005: 131–134).

Drittens schließlich identifiziert Hall einen dritten Modus theorieorientierter Erklärungen. Dieser zielt auf die Entwicklung und den Test von Ansätzen und theoretischen Erklärungen mittlerer Reichweite. Im Sinne der oben diskutierten Beiträge unterschiedlicher Forschungsdesigns zur Theorieentwicklung lässt sich das hier gewählte Design der Fallstudie idealtypisch diesem dritten Erklärungs-modus zuordnen.

Der geeignete Weg zur Entwicklung entsprechender Ansätze mittlerer Reichweite führt, so die hier formulierte These, über die Identifikation kausaler Mechanismen. Die Begründung dieser Herangehensweise knüpft indes an unter-schiedlichen Punkten epistemologischer und methodologischer Diskussionen zu Fallstudien an (George/Bennett 2005; Davis 2005; Brady/Collier 2004). Dabei lassen sich entlang dieser Argumentation zwei divergente Extrempositionen zurückweisen. Einerseits die postmoderne Perspektive auf erkenntnistheoretische Probleme, welche ein objektivierendes und wertneutrales Wissenschaftsver-ständnis radikal in Frage stellt (hierzu ausführlicher Bennett/George 2001: 137; George/Bennett 2005: 129–131; Davis 2005: 2–3). Andererseits wird aber auch der Anspruch auf die Identifikation allgemeiner sozialer Gesetzmäßigkeiten grundsätzlich zurückgewiesen. Diese Abkehr von deduktiv und nomothetisch orientierter Methodologie stützt sich unter anderem, wie James Davis argumen-tiert, auf die besondere Struktur sozialwissenschaftlicher Gegenstände:

“[M]any of the general claims made on behalf of the scientific method cannot be sustained. Moreover, owing to its particular ontological base the subject matter of interest to most political scientists is poorly suited to explanation in terms of gener-ally valid covering laws. The problem (…) lies not with the practitioners but with the subject itself” (Davis 2005: 3).

Gespeist wird dieses Argument aus der Überzeugung, dass

“the social world is complex, characterized by path dependency, tipping points, in-teraction effects, strategic interaction, two-directional causality or feedback loops, equifinality (many paths to the same outcome) and multifinality (depending on con-text, many different outcomes from the same value of an independent variable)” (Elman/Elman 2008: 363; vgl. George/Bennett 2005: 131–134).

Mit dieser Zurückweisung einer möglichen Identifikation zeitloser und allgemei-ner sozialer Gesetzmäßigkeiten geht aber der Anspruch auf theoretische Erklä-

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186 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

rungen und die Aufdeckung kausaler Prozesse nicht verloren (Davis 2005: 166). Allerdings ändert sich der damit verbundene Modus theoretischen Erkennt-nisgewinns:

“Social science research can produce catalogues of causal and constitutive processes that, insofar as they are cast in general (rather than case-specific) terms, are theoreti-cally useful. But the sort of theory I have in mind is built over time from the bottom up rather than the top down” (Davis 2005: 186).

Es geht folglich um einen induktiven, dabei aber theoriegeleiteten und analyti-schen Prozess, der über das Studium von Fällen zum schrittweisen theoretischen Erkenntnisgewinn beiträgt. Folglich stehen Konzeptmodifikation, Theorieent-wicklung und Erklärungen begrenzter Reichweite im Mittelpunkt, nicht die uner-reichbaren Ziele konzeptueller Präzision, deduktiver Eleganz und nomothetischer Generalisierung (Davis 2005: 154).55

Einen solchen methodologischen Mittelweg zwischen idiographischer Be-trachtungsweise einzelner Gegenstände einerseits und der Identifikation allge-meiner Gesetzmäßigkeiten andererseits markieren Theorien mittlerer Reichweite auf der Grundlage kausaler Mechanismen. Diese kausalen Mechanismen zeich-nen sich durch eine Reihe von Charakteristika aus, die diesen erkenntnistheoreti-schen Unterschied implizit deutlich werden lassen (grundsätzlicher u.a. Elster 1998; Elster 1996; Hedström/Swedberg 1998; Mayntz 2003; Little 2004).56 Wenngleich sie begrifflich nicht durchgängig einheitlich definiert sind (Blatter et al. 2007: 133–135), so lässt sich mit George und Bennett doch eine grundsätzlich anerkannte Basisdefinition identifizieren (George/Bennett 2005: 137): Kausale Mechanismen sind demnach

55 Davis (2005), George und Bennett (2005), Brady und Collier (2004), Thomas (2005) u.a.

argumentieren darüber hinaus, dass die Bemühungen um eine klar definierte „scientific method“ in den Sozialwissenschaften einem falschen Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis anhängen. Statt der immer weiter forcierten Verfeinerung einer „scientific method“ im Sinne eines physikalischen Wissenschaftsverständnisses plädieren sie für eine erkenntnistheoretische Orientierung an anderen Disziplinen wie der Medizin oder der Kriminalistik. Über diese erkenntnistheoretischen Überlegungen hinaus betont insbesondere Davis, dass damit auch der Brückenschlag zwischen politikwissenschaftlicher Forschung und politischer Praxis besser gelingen kann, als dies bislang der Fall ist. Diesen Umstand beklagt auch Wolfgang Streeck in seiner kritischen Bestandsaufnahme zum Zustand sozialwissenschaftlicher Forschung (2008).

56 Für die gegenstandsbezogene Anwendung einer mechanismenorientierten Betrachtung siehe beispielsweise den Sammelband von Steffen Ganghof und Philip Manow zum deutschen Regierungssystem (2005). Die klare Fokussierung auf den Rational-Choice-Institutionalismus macht zudem deutlich, dass es keinen theoretischen Bias einer solchen methodologischen Ausrichtung gibt (hierzu Manow/Ganghof 2005).

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4.1 Forschungsdesign 187

“ultimately unobservable physical, social, or psychological processes through which agents with causal capacities operate, but only in specific contexts or conditions, to transfer energy, information, or matter to other entities. In so doing, the causal agent changes the affected entity's characteristics, capacities, or propensities in ways that persist until subsequent causal mechanisms act upon it.”

Die folgenden fünf in dieser Basisdefinition angelegten Definitionsmerkmale lassen sich dabei voneinander abgrenzen:

Erstens sind kausale Mechanismen grundsätzlich kontextbezogen. Sie ope-rieren unter jeweils spezifischen Bedingungen, also nicht um luftleeren Raum. Die durch sie ausgelösten Prozesse lassen sich folglich nur im Zusammenhang mit den jeweiligen Kontextbedingungen ermessen. Gleichwohl gehen sie in ihrer begrenzten Verallgemeinerung über diese konkreten Rahmenbedingungen hin-aus. Sie stellen insofern gegenüber Beschreibungen eine analytische Abstrakti-onsstufe dar, als dass sie kausale Komplexität und Kontextfaktoren verbinden (George/Bennett 2005: 145–147; vgl. ähnlich lautend Pierson 2004: 175–178; Munck 2004: 107–112). Der politische Kontext wird folglich im Sinne Piersons (2004: 168–169) als „locational information“ verstanden: Kausale Mechanismen verweisen auf Prozesse, die sich nur aus dem jeweiligen Kontext erschließen, zugleich aber begrenzt über diesen hinausweisen. Werden Erkenntnisse über kausale Mechanismen in typologische Theorien überführt (hierzu ausführlicher George/Bennett 2005: 233–262), sind begrenzt generalisierbare Aussagen darü-ber möglich, wie kausale Mechanismen unter jeweils veränderten Kontextbedin-gungen arbeiten (George/Bennett 2005: 235–237).57 Sie können folglich die Grundlage von theoretischen Ansätzen mittlerer Reichweite bilden.

Zweitens unterscheiden sich kausale Mechanismen von kausalen Effekten (hierzu George/Bennett 2005: 137–145). Dem Prinzip des kausalen Effektes liegt in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein korrrelationales Verhältnis von Ursache und Wirkung zugrunde. Dabei wird dieser Zusammenhang nicht explizit zum Gegenstand der Analyse gemacht, sondern diese beschränkt sich auf die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den entsprechenden Variablen besteht. Dagegen thematisiert die Betonung kausaler Mechanismen nicht alleine ob, sondern wie der entsprechende Zusammenhang strukturiert ist. Hierbei haben Fallstudiende-signs mit kleinen Fallzahlen einen komparativen Vorteil:

“The in-depth-analysis of a single unit is useful in elucidating causal mechanisms because its characteristic style of evidence-gathering – over-time and within-unit

57 Damit ist der methodologische Zugang über kausale Mechanismen zugleich verbunden mit den

theoretischen Annahmen dieser Arbeit (Kapitel 3).

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188 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

variation – is likely to provide clues into what connects a purported X to a particular Y” (Gerring 2004: 349).

Um in der Konsequenz nicht auf der Ebene der reinen Beschreibung kausaler Zusammenhänge zu verharren, ist jedoch die analytische Abstraktion kausaler Mechanismen notwendig. Es gilt demnach für theorieorientierte Fallstudien, vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand zumindest begrenzt zu abstrahieren und identifizierte Mechanismen in allgemeiner Form zu formulieren (Blatter et al. 2007: 135). Insbesondere bei vergleichenden Fallstudien bearbeitet eine auf kausale Mechanismen abzielende Herangehensweise auch die Problematik von Multi- und Equifinalität (hierzu George/Bennett 2005: 157–158), die bei einer auf Korrelationen abzielenden Betrachtung weitgehend ungelöst bleibt (Ben-nett/George 2001: 138).

Aus dieser Betonung kausaler Mechanismen gegenüber kausalen Effekten leiten sich unmittelbar zwei weitere Merkmale kausaler Mechanismen ab. So ist drittens die ausgeprägte Mikrofundierung einer solchen Perspektive hervorzuhe-ben. Wenn kausale Mechanismen mehr als „als-ob-Erklärungen“ darstellen, müssen zeitliche Sequenzen und Prozesse analysiert werden, die auf der analyti-schen Mikroebene angesiedelt sind. „Thus, the commitment to explanation via mechanisms differs from more general ‚as if‘ assumptions in that it pushes in-quiry to the outer boundaries of what is observable and urges us to expand those boundaries rather than stop with demonstrably false ‚as if‘ assumptions at higher levels of analysis“ (George/Bennett 2005: 143; vgl. Bennett/George 2001: 138–143). Kausale Mechanismen zielen folglich auf eine Öffnung der „black box“ zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen, indem sie auf die Identifika-tion konkreter Wirkungszusammenhänge abzielen. Der entsprechende Wir-kungsmechanismus wird insofern nicht alleine theoretisch-abstrakt, sondern empirisch-konkret benannt (Blatter et al. 2007: 133; George/Bennett 2005: 137–145). Daraus leiten sich im Rahmen von Fallstudien insofern auch methodische Implikationen und spezifische Anforderungen an das verwendete Datenmaterial ab, als dass diese der Herangehensweise einer entsprechenden Mikroanalyse gerecht werden müssen (vgl. Davis 2005: 176–181).58

Viertens wird durch die bisherigen Definitionsmerkmale das Prozessbezo-gene kausaler Mechanismen deutlich. Renate Mayntz (2003) betont in diesem Zusammenhang die Dimension der „kausalen Rekonstruktion“, die nicht auf statistische Verbindungen, sondern auf die Erklärung sozialer Phänomene durch die Identifizierung der entscheidenden Prozesse verweist. Während nomolo-gisch-deduktive Erklärungen Aussagen über Faktoren liefern, zielen kausale 58 Auf diesen Punkt kommt Unterkapitel 4.2 zurück, in dem die methodische Herangehensweise

und das im Rahmen dieser Arbeit verwendete Material erläutert werden.

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4.1 Forschungsdesign 189

Mechanismen auf wiederkehrende Prozesse. Diese können streng fallbezogen sein und insofern lediglich spezifische Erklärungen für konkrete Untersuchungs-gegenstände liefern. Kausale Mechanismen können aber in einer theoretisch anspruchsvolleren Variante im Sinne generalisierter Prozessaussagen über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinausreichen. Erst unter dieser Prämisse liefern sie einen Betrag zur Theoriebildung mittlerer Reichweite. Im Sinne einer theorieorientierten Fallstudie ist die Identifikation kausaler Mechanismen für den Untersuchungsgegenstand gerade von der Prämisse angeleitet, dass diese auch Implikationen für andere Fälle haben (McKeown 2004: 163).

Schließlich kann es sich bei kausalen Mechanismen fünftens sowohl um be-obachtbare als auch nicht beobachtbare Prozesse handeln (vgl. George/Bennett 2005: 143; Bennett/George 2001: 139; Manow/Ganghof 2005: 13). Allerdings deutet die oben dargestellte Mikroorientierung darauf hin, dass für eine auf Plau-sibilitätsannahmen beruhende Identifikation unbeobachtbarer Mechanismen eindeutige Indizien auf der Mikroebene herausgearbeitet werden müssen.59 Diese müssen insofern beobachtbar und damit intersubjektiv nachvollziehbar sein, während die aus ihnen abgeleiteten Mechanismen in gewisser Weise unbeob-achtbar und theoretisch konstruiert sein können.

Mit einer solchen Fokussierung auf kausale Mechanismen und theoretische Ansätze mittlerer Reichweite gehen zugleich methodologische Beschränkungen einher:

Erstens ist auf den von Fritz Scharpf (2000: 52–60) betitelten „rückblicken-den Charakter“ einer solchen Perspektive im Gegensatz zu „vorwärtsblickender Forschung“60 zu verweisen. Wenn keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, son-dern bestenfalls „manchmal wahre Theorien“ mittlerer Reichweite erreichbar sind, ist auch der Transfer der gewonnenen Erkenntnisse beschränkt. Es lassen sich folglich zwar Ursachen und Prozessen zugrundeliegende kausale Mecha-nismen identifizieren, aber daraus folgen keine unmittelbar prognostischen Po-tentiale über den jeweiligen Gegenstand hinaus. Insofern resultieren aus der weitgehend induktiven Identifikation kausaler Mechanismen keine Aussagen über allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Vielmehr ist genau diese erkenntnistheoreti-sche Beschränkung eine zentrale Grundannahme von Ansätzen, die sich auf die Identifikation kausaler Mechanismen stützen:

59 Kritisch anzumerken ist, dass bei der Herleitung unbeobachtbarer Mechanismen über

Plausibilitätsannahmen der Unterschied zu einem korrelativen Kausalitätsverständnis in Teilen eingeebnet wird.

60 Ein herausragendes Beispiel für einen ausgeprägten prognostischen Anspruch im Sinne vorwärtsblickender Forschung sind die spieltheoretischen Arbeiten von Bruce Bueno de Mesquita (jüngst 2009).

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190 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

“Skepticism regarding the status of general laws leads to the suggestion that science should at least show as much concern for the identification of the particular as it does for the general” (Davis 2005: 159).

Zweitens gilt es mit Blick auf die vorliegende Studie, eine weitere Einschrän-kung vorzunehmen: Aufgrund der Anlage dieser Arbeit als Einzelfallstudie kön-nen zwar kausale Mechanismen für den untersuchten Fall identifiziert werden. Ob diese jedoch auch für andere Fälle des gleichen Gegenstandsbereichs Rele-vanz besitzen, kann bestenfalls in Form erster Hypothesen formuliert werden. Ihre tatsächliche Existenz müsste entsprechend in weiteren, möglicherweise vergleichend angelegten Fallstudien überprüft werden. Erst auf dieser Grundlage wäre dann die Bildung einer typologischen Theorie zu Wandel und Stabilisie-rung von Institutionen der Regierungsorganisation möglich.

Mit Blick auf den formulierten theoretischen Anspruch dieser Arbeit ist folglich in einem Zwischenfazit festzuhalten: Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, einen Beitrag zur Theoriebildung zu leisten. In einem ersten Schritt ging es zunächst um die induktive, aber analytische und theorieorientierte Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes (vgl. Kapitel 3). Dieser formuliert ein vor allem heuristischen Zwecken dienendes Modell unterschiedlicher Modi institutionellen Wandels und institutioneller Stabilisierung. Um jedoch nicht auf der Ebene der Beschreibung dieser Modi entlang des Untersuchungsgegenstan-des zu verbleiben, zielt die weitere empirische Analyse auf die ebenfalls indukti-ve Identifikation dahinterliegender kausaler Mechanismen. Diese zu identifizie-renden kausalen Mechanismen sind zunächst auf den konkreten Untersuchungs-gegenstand bezogen. Um jedoch einen Beitrag zur weiteren Theorieentwicklung leisten zu können, gilt es, erste Hypothesen zur fallübergreifenden Bedeutung dieser kausalen Mechanismen zu destillieren. Ihre Relevanz kann dann im Zuge weiterer Analysen für weitere Fälle des Gegenstandsbereiches getestet werden. Damit wird letztlich ein weitergehende Theoriebildung im Sinne typologischer Theorien mittlerer Reichweite möglich.

Für diese Arbeit sind jedoch zunächst noch zwei weitere methodologische Fragen zu klären: Zum einen gilt es, die konkrete Fallauswahl zu begründen. Zum anderen folgen aus den bisherigen Überlegungen konkrete methodische Konsequenzen. Beide Aspekte werden in den nachfolgenden Unterkapiteln the-matisiert.

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4.1 Forschungsdesign 191

4.1.2.3 Einzelfalldesign: Theoretische Generalisierung über den Einzelfall hinaus

Wie bereits thematisiert, stellen Fallstudien nicht Variablen, sondern Fälle in den Mittelpunkt. Damit geht die spezifische Perspektive einher, Fälle als kontextuell verankerte Phänomene, komplexe Konfigurationen und Zusammenspiel unter-schiedlicher Einflussfaktoren und Variablen zu betrachten. Fälle werden folglich verstanden als „meaningful but complex configurations of events and structures” und behandelt als “singular, whole entities purposefully selected, not as ho-mogenous observations drawn from a pool of equally plausible selections” (Ragin 2004: 125; vgl. George/Bennett 2005: 17–18).61

Die an anderer Stelle geäußerte Grundsatzkritik an Studien mit kleinen Fall-zahlen und Einzelfallstudien (King et al. 1994; vgl. Gerring 2004) lässt sich auf dieser Verständnisgrundlage zurückweisen oder zumindest weitgehend relativie-ren. Der theoretische Nutzen und Erkenntnisgewinn von Fallstudien ist gerade nicht primär abhängig von der Zahl der untersuchten Fälle (McKeown 2004: 151). Im Gegenteil, es können folgende drei Kernargumente für den erkenntnis-theoretischen Gewinn von Einzelfallstudien angeführt werden:

Erstens muss die Gleichsetzung eines Falles mit einer „Beobachtung“ für qualitativ angelegte Fallstudien zurückgewiesen werden. Fälle beinhalten gerade mehr als eine Beobachtung, nämlich im oben genannten Verständnis eine Viel-zahl komplexer Kausalitätsbeziehungen. Variablen werden zugleich nicht iso-liert, sondern in ihrem Zusammenspiel betrachtet (George/Bennett 2005: 28–30). Da Fallstudien die untersuchten Fälle zudem in Serien von Beobachtungen und Ereignissen aufteilen (Davis 2005: 176) und kausale Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Kongruenz-Methode und Prozessanalysen ziehen62, sind sie ge-rade nicht darauf angewiesen, die Zahl der Fälle im Vergleich zu den untersuch-ten Variablen möglichst hoch zu halten (Blatter et al. 2007: 174–175). Im Sinne eines induktiven Forschungsdesigns entlang theoretischer Vorannahmen löst sich das methodologische Problem kleiner Fallzahlen auf, wie Rueschemeyer (2003: 318) zusammenfasst:

“Good historical analysis that is analytically oriented goes through frequent itera-tions of confronting explanatory propositions with many data points. (…) And it gains its credibility precisely from the fit between theoretical ideas and their com-

61 Für eine weitergehende Kategorisierung von „Fällen“ siehe ausführlicher Ragin 2000d. Vgl.

auch Merkens 2007: 297. 62 Zu dem hier gewählten methodologischen Zugang der Prozess-Analyse siehe das nachfolgende

Unterkapitel.

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192 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

plex implications, on the one hand, and the best empirical evidence, on the other” (hierzu auch Davis 2005: 160–166).

Das hier geteilte Verständnis von Fallstudien wendet sich zweitens gegen eine Perspektive, die untersuchte Fälle als Stellvertreter einer Gruppe von Fällen versteht und ihre Auswahl im Sinne dieser unterstellten Repräsentationsfunktion bewertet. Vielmehr beinhaltet das oben formulierte Verständnis von Fällen be-reits, dass diese sich aufgrund der Struktur sozialwissenschaftlicher Gegenstände entlang zahlreicher Aspekte voneinander unterscheiden und gerade diese Diffe-renz einen besonderen Erkenntnisgewinn nach sich ziehen kann. Dies gilt umso mehr, wenn Kontextfaktoren auch aus theoretischen Gründen explizit in die Betrachtung einbezogen werden und der Blick sich von der Isolation weniger Variablen ab- und deren komplexem Zusammenspiel zuwendet.

“Conceiving of cases as being constructed by judgements of similarity, family re-semblance, prototype effects, and fuzzy borders acknowledges that members of any given set will differ on a number of dimensions, some of which may have implica-tions for the operation of previously documented relationships and mechanisms. Hence, the qualitative investigation of individual cases is recognized to be as im-portant to the scientific enterprise as is the search for general laws across cases” (Davis 2005: 168).

Entlang dieser Argumentationslinie relativieren sich für qualitativ angelegte Fallstudien auch einige der Auswahlprobleme, die mit Blick auf quantitative Forschungsdesigns thematisiert werden (hierzu Collier et al. 2004a: 209–213; Blatter et al. 2007: 135–136). Stattdessen rücken jeweils spezifische Abwä-gungsprozesse zwischen theoretischer Sparsamkeit, der erklärenden Tiefe ein-zelner Fälle und die Frage nach der notwendigen Zahl zu untersuchender Fälle in den Mittelpunkt (George/Bennett 2005: 30–32). Für die vorliegende Arbeit wur-de diesbezüglich bereits der Anspruch formuliert, sowohl einen Beitrag zur kau-salen Rekonstruktion des untersuchten Einzelfalles als auch zur Erarbeitung darüber hinausgehender theoretischer Erkenntnisse zu leisten. In erkenntnistheo-retischer Hinsicht zielt die Arbeit dabei auf die Identifikation kausaler Mecha-nismen und auf erste Hypothesen zu deren Bedeutung über den konkreten Unter-suchungsgegenstand hinaus. Die angestrebte Generalisierung bezieht sich folg-lich auf die im Zuge der Analyse gewonnenen Erkenntnisse. Es handelt sich also um eine Form der theoretischen Generalisierung oder des theoretischen Samp-lings, welche nicht von der Repräsentativität und mithin quantitativen Generali-sierung der untersuchten Fälle abhängt (Merkens 2007: 290–291; Blatter et al. 2007: 135–136). Oder anders ausgedrückt: “In the words of an ethnographer, a good case is not necessarily a ‘typical’ case, but rather a ‘telling’ case (…)”

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4.1 Forschungsdesign 193

(McKeown 2004: 153). Der Sinn qualitativer Fallstudien mit kleinen Fallzahlen liegt darin, über diesen Fall hinausgehende Erkenntnisse zu erreichen, ohne dass es sich beim Untersuchungsgegenstand um einen im repräsentativen Sinne typi-schen Fall handelt. Diese Form der theoretischen Generalisierung liegt bei-spielsweise Max Webers Idee der Idealtypen zugrunde, die sich entlang typischer Charakteristika und nicht aufgrund ihrer statistischen Repräsentativität von exis-tierenden „Normaltypen“ definieren (McKeown 2004).

Weitet man diese Überlegungen aus, relativiert sich schließlich drittens eine weitere mögliche Grundsatzkritik an der vorliegenden Analyse eines Einzelfal-les. Denn auch vergleichende Analysen mehrerer Fälle haben, wenn man die Idee der Repräsentativität nicht prinzipiell aufgibt, mit fundamentalen methodo-logischen Problemen zu kämpfen. Vergleichende Fallstudien stützen sich zu-meist auf die Idee des kontrollierten Vergleichs (nachfolgend George/Bennett 2005: 151–158; Davis 2005: 160–166; Blatter et al. 2007: 141–144). Entlang der auf John Stuart Mill in „A System of Logic“ (1843) zurückgehenden Überlegun-gen bedienen sich vergleichende Fallstudien dabei entweder eines „most-simi-lar-“ oder eines „most-different“-Fallstudiendesigns. Beide beruhen auf einem kontrollierten Vergleich unabhängiger und abhängiger Variablen. Ohne eine Abkehr von der dabei unterstellten quantitativen Repräsentativität der so ausge-wählten Fälle ist jedoch auch dieser vergleichende Fallstudienzugang mit metho-dologischen Problemen behaftet. Da weder alle Variablen kontrolliert werden können, noch sicher von der Bekanntheit aller relevanten Variablen ausgegangen werden kann, handelt es sich immer um einen unperfekten Vergleich. Die auf dieser Grundlage gewonnenen Erkenntnisse sind daher möglicherweise invalide, da sie zwei inhärente Probleme nicht auflösen: Auf der einen Seite können, das bezeichnet das Phänomen der Equifinalität, gleiche Ergebnisse auf unterschiedli-chen Pfaden erreicht werden. Auf der anderen Seite beschreibt das Problem der Multifinalität, dass gleiche kausale Prozesse aufgrund unterschiedlicher Kon-textbedingungen und intervenierender Variablen zu unterschiedlichen Ergebnis-sen führen können. „Precisely because what happens in the present is a function of what happened in the past and not the other way around, we cannot treat two seemingly equivalent cases as if they where interchangeable" (Davis 2005: 166).

Diese Probleme resultieren jedoch nicht aus der Anzahl der untersuchten Fälle, sondern aus der methodologischen Vorstellung quantitativer Repräsentati-vität. Folglich stellen Einzelfallstudien kein fundamentales methodologisches Problem für Analysen mit theoretischem Anspruch dar, geht man von der Vor-stellung einer theoretischen Generalisierung aus. Vielmehr lassen sich auf der Grundlage von Einzelfallstudien ebenfalls theoretische Schlussfolgerungen im Sinne kausaler Mechanismen ableiten. Zugleich verschiebt die oben diskutierte Abgrenzung kausaler Mechanismen und typologischen Theorien einerseits von

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allgemeinen sozialen Gesetzmäßigkeiten andererseits den erkenntnistheoreti-schen Fokus auch mit Blick auf die Zahl der untersuchten Fälle: „Skepticism regarding the status of general laws leads to the suggestion that science should at least show as much concern for the identification of the particular as it does for the general" (Davis 2005: 159). Damit geht die Einschätzung einher, dass gerade das Besondere interessanter als das Generelle ist. Gleichwohl verweisen beson-dere Einzelfälle häufig auf allgemeine Phänomene, Prozesse und Mechanismen (vgl. Munck 2004: 112–114).

Nichtsdestotrotz kommt in der Konsequenz den Kriterien der Fallauswahl eine herausragende Bedeutung zu, denn weniger die Ausweitung der Fallzahl als vielmehr die sorgfältige Auswahl und Begründung der untersuchten Fälle rücken damit ins Zentrum (Thomas 2005: 859). Für die vorliegende Arbeit gilt es inso-fern besonders zu begründen, warum es sich bei dem ausgewählten Untersu-chungsgegenstand im oben formulierten Sinne um einen „telling case“ handelt. 4.1.2.4 Fallauswahl: Pragmatischer Mittelweg zwischen Stringenz und

Relevanz

“When students learn research methods, they typically start by learning principles of case selection. Like them, we resist this point of departure. As have many of our students, we too have been impelled to 'do social science' by our fascination with particular cases [...]. In effect, our cases selected us, rather than the other way around” (Bates et al. 1998: 13).

Die in dieser bereits oben angeführten Bemerkung formulierte, radikale Abkehr von standardisierten Fallauswahlkriterien verweist implizit auf einen scheinbar unüberwindbaren Graben zwischen praktischer Relevanz und methodologischer Stringenz politikwissenschaftlicher Forschung. Letztere bezieht sich dabei im klassischen Sinne auf die systematische Anwendung von Methoden und Theo-rien, methodologische Standards und Anforderungen dominieren. Erstere wiede-rum betont die praktische Relevanz und damit die Transfermöglichkeiten sowie die Anwendungsbezüge gewonnener Erkenntnissen in der politischen Praxis (Dodge et al. 2005: 288)63. Bezogen auf die Frage der Fallauswahl zieht diese Dichotomie möglicherweise widersprüchliche Anforderungen nach sich. Wäh- 63 Grundsätzlicher wird in diesem Zusammenhang der weitgehende Entfremdungsprozess

sozialwissenschaftlicher Forschung und ihre anwendungsbezogene (Ir-)Relevanz beklagt. Dies wird auf eine Überbetonung methodologischer Stringenz und die primäre Fokussierung auf forschungssystematische Fragen zurückgeführt, während anwendungsbezogene und praxisorientierte Forschung eine deutlich untergeordnete Rolle spielen. Hierzu ausführlicher Davis 2005: 154–187, Streeck 2008 und George/Bennett 2005: 263–285.

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4.1 Forschungsdesign 195

rend im Sinne forschungssystematischer Stringenz die Auswahl geeigneter Fälle alleine von der methodologischen Anlage der Untersuchung abhängt, bleiben möglicherweise interessante Gegenstände von praktischer Relevanz und grund-sätzlichem politischen Interesse außen vor. Die konventionelle Antwort, die von einer beinahe automatischen Verbindung zwischen Stringenz und Relevanz aus-geht, erscheint insofern problematisch. Die hier gezogene Konsequenz besteht vielmehr darin, beide Dimensionen als verbundene Herausforderung zu begrei-fen und zu gleichwertigen Kriterien für die Fallauswahl zu machen. Anders als in der radikalen Abkehr von Stringenzkriterien bei Bates u.a. wird hier in diesem Sinne ein pragmatischer Mittelweg beschritten.

“Achieving a balance between these two intersections requires researchers to com-mit to (…) ‘pragmatic science’. (…) In other words, it successfully addresses two dimensions of scholarly quality: rigor and relevance” (Dodge et al. 2005: 288).

Für die vorliegende Einzelfallstudie lassen sich entlang dieser groben Strukturie-rung unterschiedliche Kriterienbündel zur Begründung der Fallauswahl heran-ziehen. Von herausragender Bedeutung ist dabei erstens die Auswahl entlang des formulierten Erkenntnisinteresses und theoretischer Vorüberlegungen (Geor-ge/Bennett 2005: 83–84). Daher geht es auch nicht um die Auswahl eines mög-lichst typischen Falles, sondern um die Erfüllung von theoretisch und empirisch entwickelten Vorannahmen für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand (vgl. Scharpf 2000; Pierson 2004: 7; Blatter et al. 2007: 176–177).

Entlang dieses ersten Kriterienbündels strukturiert sich die Fallauswahl fol-gendermaßen: Das zu erklärende Spannungsverhältnis von Stabilität und Wandel von Institutionen der Regierungsorganisation sollte sich insbesondere im Zuge eines „kompletten Machtwechsels“ (Korte 2001a: 32–33) zeigen. Dieser meint die vollständig veränderte parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung nach Wahlen, während die bisherigen Regierungsparteien nun die Opposition bilden. Diesem Kriterium entspricht der Regierungswechsel im Zuge der Land-tagswahl 2005 in NRW. Entlang der zugrundeliegenden Typologie war es in NRW zuletzt 195864 zu einem vollständigen Machtwechsel gekommen. Zwar vollzogen sich zuletzt auch 1995, 1999 und 2002 Regierungswechsel. Dabei handelte es sich jedoch um „dosierte“ und „selbsterneuernder Machtwechsel“ (Korte 2001a: 32–33), also die Bildung einer neuen Koalitionsregierung unter Beteiligung einer vormaligen Regierungspartei oder um den Austausch des Re-

64 Eine von der CDU geführte Regierung mit dem Ministerpräsidenten Franz Meyers löste 1958

die vorhergehende Koalition aus SPD und FDP unter Führung von Ministerpräsident Fritz Steinhoff ab. Seitdem war in NRW immer eine bisherige Regierungspartei an der jeweils nachfolgenden Regierungsformation beteiligt (vgl. ausführlicher Nonn 2009; Gösmann 2008).

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196 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

gierungschefs während der Legislaturperiode ohne Veränderungen der parteili-chen Zusammensetzung der Landesregierung.

Warum führen diese Überlegungen zu einem theoretisch begründeten Aus-wahlkriterium? Können die im Analyserahmen zusammengefassten, theoretisch hergeleiteten Vorannahmen zu institutionellem Wandel und institutioneller Sta-bilisierung Geltung beanspruchen, so sollte sich ihre Wirkung im Zuge eines kompletten Machtwechsels besonders deutlich zeigen. Denn dieser stellt in theo-retischer Hinsicht einen gravierenden exogenen Schock und damit einen vom entwickelten Analyserahmen abweichenden Einflussmechanismus dar. Zeigt sich trotz dieser veränderten externen Kontextbedingungen die Wirkungsmacht endo-gener institutioneller Stabilisierungs- und Wandlungsfaktoren im Sinne der for-mulierten theoretischen Vorannahmen, so liegt die Vermutung nahe, dass dies bei anderen Formen von Macht- und Regierungswechseln ebenfalls der Fall ist. Denn diese sind weniger stark von grundsätzlich veränderten Kontextbedingun-gen, sondern vielmehr von regierungsformationsinternen Wandlungsprozessen geprägt und ermöglichen folglich per definitionem größeren Einfluss endogener Mechanismen.

Insofern folgt diese erste Dimension der Fallauswahl der Idee des „theoreti-schen Samplings“ (Flick 2006: 97–116; Blatter et al. 2007: 31–32). Damit ist weniger die einmalige Auswahl von zu untersuchenden Fällen, als vielmehr das oben ansatzweise skizzierte Wechselspiel zwischen Fallauswahl und theoreti-scher Konzeptualisierung gemeint (Ragin 2004: 125–128; Flick 2006: 97–98). Die Fallauswahl folgt dabei jeweils spezifischen Kriterien, hier insbesondere einem theoriegeleiteten Bezug zum jeweiligen Erkenntnisinteresse, verschließt sich aber einer allgemeinen Standardisierung über unterschiedliche Forschungs-fragen hinweg (Blatter et al. 2007: 24).

Mit Blick auf eine solche Fallauswahl entlang theoretischer Vorannahmen kommt für die vorliegende Arbeit noch ein weiterer Aspekt hinzu (hierzu Blatter et al. 2007: 148–155): Zwar liegen empirische Studien zu Regierungswechseln vor, aber der Wandel von Institutionen der Regierungsorganisation ist in institutionentheoretischer Hinsicht noch ein weitgehend neues Feld. Während in etablierten Forschungsfeldern mit klarer theoretischer Konturierung weitere Auswahlkriterien zur Verfügung stehen – die deduktiv begründbare Auswahl von „crucial“, „least-likely“ und „most-likely-cases“ (Eckstein 1975: 96–123; George/Bennett 2005: 249–253) –, ist dies für den vorliegenden Untersuchungs-gegenstand nicht der Fall. Vielmehr ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, über die Analyse des Falles erst zur Theoriebildung beizutragen.

Mit dieser ersten Begrenzung auf den typologisch konstruierten Unterfall (George/Bennett 2005: 77–78) eines kompletten Machtwechsels geht eine Ein-grenzung der potentiell verfügbaren Fälle einher. Denn komplette Machtwechsel

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4.1 Forschungsdesign 197

sind nicht nur in NRW, sondern auf Länderebene insgesamt die Ausnahme. Zur Auswahl des konkreten Untersuchungsgegenstandes aus der verbleibenden Zahl möglicher Fälle wird hier ein zweites Kriterienbündel herangezogen, welches sich mit dem Stichwort der politischen und historischen Relevanz überschreiben lässt. Anders als Bates u.a., die vor allem persönliches Interesse zu einem Aus-wahlkriterium erheben, nennt Ragin die historische, politische, kulturelle oder sonstige Relevanz zu untersuchender Fälle als weiteres Selektionskriterium qua-litativer Fallstudien (2004: 127). Solange die entsprechende Fallauswahl mit theoretischen Überlegungen verknüpft ist - wie das für den vorliegenden Fall dargestellt wurde - und es sich folglich nicht um das dominante oder gar einzige Kriterium zur Fallauswahl handelt, steht einem Heranziehen solcher Auswahl-faktoren nichts im Wege (hierzu auch Blatter et al. 2007: 176–177).

Zwar lässt sich über die Objektivierbarkeit politischer Relevanz trefflich streiten, aber einige entsprechende Hinweise können hier zur Begründung des gewählten Untersuchungsgegenstandes angeführt werden: Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das einwohnerstärkste deutsche Bundesland, sondern fände sich entlang politischer und ökonomischer Kriterien als eigenständiger Mitgliedsstaat der EU im oberen Drittel wieder. Politische Ereignisse in NRW ziehen die Auf-merksamkeit der deutschen Öffentlichkeit auf sich. Landtagswahlen und Regie-rungsbildungen in ihrer Folge werden als bundespolitische Ereignisse wahrge-nommen. Die Landtagswahl 2005 mit ihren bundespolitischen Auswirkungen noch am Wahlabend war hierfür ein besonders eindrückliches Beispiel. Zudem gelten Richtungsentscheidungen in NRW als Indikatoren künftiger Entwicklun-gen im Bund. So war NRW oftmals Trendsetter für Koalitionsbildungen, Regie-rungsstile und Grundströmungen des Parteienwettbewerbs. Schließlich stand der Regierungswechsel 2005 unter besonderen Vorzeichen, die unmittelbar auf Fra-gen der Regierungsorganisation einwirkten: Nach 39 Jahren SPD-geführter Lan-desregierungen im vermeintlichen „Stammland“ der Sozialdemokratie (Korte et al. 2006: 46–59) übernahm die CDU erstmals wieder das Amt des Ministerpräsi-denten. Auch die FDP war erstmalig seit 1980 wieder an einer nordrhein-westfälischen Landesregierung beteiligt. Hieraus ergaben sich besondere Rah-menbedingungen, die, so eine Vorannahme, maßgeblich auf das institutionelle Gefüge der Regierungsorganisation einwirkten.

Das dritte Kriterienbündel zur Fallauswahl schließlich ist geprägt von er-gänzenden forschungspraktischen Überlegungen. Die hier relevanten Aspekte speisen sich erstens aus dem theoretischen Rahmen dieser Arbeit. Dieser betonte u.a. Kontextfaktoren und längerfristige Entwicklungstrends, das Wechselspiel zwischen formalen und informellen Institutionen sowie das Spannungsfeld zwi-schen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung einerseits und graduellen Wandlungsprozessen und Steuerungseinflüssen politischer Akteure andererseits.

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198 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Um diese theoretischen Annahmen auch im Rahmen einer Fallstudie mit Leben zu füllen, ist entsprechendes empirisches Material und ein hinreichender Zugang zum Forschungsfeld65 zwingend erforderlich. Dieser Feldzugang wird damit zu einem wichtigen praktischen Kriterium für die Fallauswahl. Wie das nachfol-gende Kapitel 4.2 ausführlicher zeigen wird, war ein solcher Zugang zum For-schungsgegenstand für den vorliegenden Fall gegeben. Erst dieser Zugang als teilnehmender Beobachter zum Arkanbereich der Kernexekutive über einen Zeitraum von mehreren Monaten hinweg ermöglichte das Sammeln von Daten und Material, um den theoretischen und empirischen Anspruch des Forschungs-projekts einlösen zu können. Erst damit waren auch in forschungssystematischer Hinsicht die Voraussetzungen gegeben, um im Zuge der vorliegenden Fallstudie fundiert „Within-Case-Analysis“ und „Process-Tracing“ vornehmen zu können.

Hinzu tritt abschließend noch ein zweiter forschungspraktischer Umstand für die Auswahl des Gegenstandes: Ein vorhergehendes Forschungsprojekt (Kor-te et al. 2006) diente gewissermaßen auch als inhaltliche „Pilotstudie“ und empi-rischer Anknüpfungspunkt. Bereits bei den hier analysierten Prozessen des Poli-tikmanagements in NRW hatte ein besonderes Augenmerk der Regierungsorga-nisation im Sinne ihrer institutionellen Ausgestaltung gegolten. Damit standen für die vorliegende Arbeit auch längerfristige Vergleichsmöglichkeiten zur Ver-fügung, an die die vorliegende Arbeit anschließen kann. Insbesondere mit Blick auf längerfristige Entwicklungen der Regierungsorganisation stellen die Ergeb-nisse dieses Projekts eine wichtige und notwendige Ergänzung der vorliegenden Arbeit dar. Oder anders formuliert: Ohne diese Vorarbeiten wären wichtige Teile des hier erzählten „Episodenfilms“ verkürzt, ohne systematische Einordnung und ohne Bezüge zur Rahmenhandlung geblieben. 4.1.2.5 Methodische Konsequenzen: „Process-Tracing“ in der Einzelfallstudie Aus den bislang formulierten Überlegungen zum Forschungsdesign und zur Anlage der vorliegenden Studie folgen in einem letzten Schritt methodische Konsequenzen. Denn nur wenn Erkenntnisinteresse und Methodenauswahl auf die jeweilige Fragestellung bezogen und in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden, sind die theoretischen und empirischen Ziele im Sinne des formulierten Erkenntnisinteresses erreichbar.

65 Der Begriff des „Forschungsfelds“ stellt die Verbindung zur methodischen Herangehensweise

dieser Arbeit dar, die von der Methode der teilnehmenden Beobachtung als Primärmethode geprägt ist. Der Begriff des Forschungsfeldes beinhaltet seine Definition als natürliches soziales Handlungsfeld im Gegensatz zu künstlichen situativen Arrangements (hierzu Wolff 2007: 335). Ausführlicher hierzu Kapitel 4.2.

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4.1 Forschungsdesign 199

Die hier gewählte methodische Antwort auf diese Herausforderungen be-steht in der kombinierten Bezugnahme auf die Instrumente der „Within-Case-Analysis“ und des „Process-Tracing“ (vgl. George 1979; George/Bennett 2005: 205–232; Davis 2005: 175–181; Bennett/George 2001; Blatter et al. 2007: 157–170). Erstere ergibt sich zwangsläufig aus der Beschränkung auf einen Fall. Damit geht eine Abkehr von der Untersuchung von Variablen über mehrere Fälle hinweg einher, es erfolgt vielmehr eine Hinwendung zu kausalen Prozessen und Pfaden innerhalb des ausgewählten Falles (George/Bennett 2005: 178–179). Bei der Prozessanalyse handelt es sich um eine Makromethode66, die insbesondere für auf induktive Theoriebildung ausgerichtete Fallstudien geeignet ist:

“In process-tracing, the researcher examines histories, archival documents, interview transcripts, and other sources to see whether the causal process a theory hypothesiz-es or implied in a case is in fact evident in the sequence and values of the interven-ing variables in that case. (…) Process-tracing can perform a heuristic function as well, generating new variables or hypotheses on the basis of sequences of events ob-served inductively in case studies” (George/Bennett 2005: 6–7).

Es geht folglich darum, kausalen Prozessen, die den Zusammenhang zwischen Ausgangsbedingungen und Ergebnissen erklären, sequentiell nachzuspüren und darüber zur Identifikation kausaler Mechanismen zu gelangen.

Mit der Makromethode der Prozessanalyse verbinden sich folgende Charak-teristika und Vorteile, die ihre Anwendung für die vorliegende Arbeit begründen (George/Bennett 2005: 207–209):

Erstens handelt es sich um eine durch temporale Aspekte geprägte Makro-methode, die zeitliche Abläufe bewusst einbezieht und der sequentiellen Abfolge von Ereignissen eine besondere Bedeutung beimisst. Sie greift insofern explizit die im theoretischen Rahmen betonte temporale Dimension und Kontextsensiti-vität auf, als dass sie auf die Identifikation von Kausalprozessen abzielt.

Zweitens ermöglicht die Prozessanalyse eine Verbindung von historischer Rekonstruktion des konkreten Falles und darüber hinausgehender analytischer Abstraktion im Sinne von Theorieentwicklung. Sie ähnelt in ihrer grundständi-gen Ausprägung als „detailliertes Narrativ“ historischen Erklärungen. Mit ihrer Anwendung verbindet sich aber zugleich der Anspruch, in einem theoretischen Sinne über diese Form der konkreten Rekonstruktion hinauszugehen.

“What differentiates a purely historical account or description of a given event or outcome from a social science explanation is that the latter converts historical data

66 Mit der Klassifikation als Makromethode geht die Notwendigkeit einher, eine

mikromethodische Ausdifferenzierung vorzunehmen. Dazu dient Kapitel 4.2, in dem die konkreten Methoden zur Ausgestaltung der Prozessanalyse skizziert werden.

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200 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

into a suitable theoretical or ‘analytical’ vocabulary that, at least in principle, can be applied to other cases” (Davis 2005: 176).

In diesem Sinne lassen sich Variationen der Prozessanalyse unterscheiden (George/Bennett 2005: 210–211). Die Form des detaillierten Narrativs setzt auf die chronologische Rekonstruktion kausaler Prozesse im jeweiligen Einzelfall. Es liefert eine Beschreibung, die dann ggf. für weitere theoretische Überlegun-gen genutzt werden kann. Insofern ist diese Form der Beschreibung nicht prinzipiell atheoretisch:

“Such atheoretical narratives may be necessary or useful steps toward the develop-ment of more theoretically oriented types of process-tracing. A well-constructed de-tailed narrative may suggest enough about the possible causal processes in a case so that a researcher can determine what types of process-tracing would be relevant for a more theoretically oriented explanation” (George/Bennett 2005: 210).

Auf einer nächsten Ebene wird von diesem Narrativ insofern abstrahiert, als dass Hypothesen zur Erklärung der beschriebenen Kausalprozesse formuliert werden. Diese gehen über die Beschreibung hinaus und stellen insofern eine erste Ab-straktionsebene dar. Sie sind jedoch noch im engeren Sinne auf den Gegenstand begrenzt. Erst in der Form analytischer Erklärungen geht es in einem dritten Schritt um eine weitere Transformation zu einer analytischen Erklärung in einer explizit theoretischen Form. Diese führt auf der höchsten Abstraktionsebene wiederum unter bestimmten Umständen zu allgemein theoretischen Erklärungen. Insofern eröffnet die Prozessanalyse einen Aufstieg auf die jeweils nächste Stufe der „Abstraktionsleiter“ (Sartori 1994).

Drittens macht „Process-Tracing“ eine induktive Form der Theoriebildung möglich. So werden einerseits kausale Mechanismen identifiziert, die möglicher-weise über die Grenzen des konkreten Untersuchungsgegenstandes hinaus gene-ralisiert werden können. Zum anderen kann ein prozessanalytisches Vorgehen neue Variablen und Einflussfaktoren überhaupt erst aufdecken (George/Bennett 2005: 215). In diesem Sinne funktioniert Theoriebildung dann als „bottom-up“-Prozess, der sich durch ein Wechselspiel von Prozessanalyse und theoretischer Abstraktion auszeichnet (Davis 2005: 175-178). Der Forschungsprozess ähnelt insofern detektivischer Arbeit, als dass ausgehend von theoretischen Ausgangs-überlegungen die gewonnenen Erkenntnisse immer wieder neu bewertet und damit auch die zugrundeliegenden „Theorien“ rekonfiguriert werden (Geor-ge/Bennett 2005: 219).

Viertens gibt sich ein prozessanalytischer Zugang nicht mit einer „reinen“ Korrelation möglicher Ursachen und Wirkungen zufrieden, sondern zielt auf dahinter liegende kausale Mechanismen (Elman/Elman 2001: 29–32). Damit

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4.1 Forschungsdesign 201

erhöht sich zugleich die Validität der auf Prozessanalysen beruhenden Erklärun-gen.

Schließlich kann die induktive Theoriebildung über Prozessanalysen fünf-tens zur Generierung typologischer Theorien beitragen (hierzu George/Bennett 2005: 233–262). Typologische Theorien identifizieren sich wiederholende kau-sale Mechanismen, entwickeln Typologien derselben und beinhalten zudem Hypothesen, wie und unter welchen Bedingungen diese Typen bestimmte Wir-kungen und Effekte erzielen. Typologische Theorien stellen folglich einen Mit-telweg zwischen idiographischer Erklärung einerseits und der Identifikation allgemeiner Gesetzmäßigkeiten andererseits dar.

“In opting for this more flexible strategy, the investigator seeks to gradually build a typology and a typological theory via empirical analysis of cases within a theoretical framework. Whiles this strategy relies on induction, it is analytical, theory-driven induction” (Bennett/George 2001: 159).

Für die vorliegende Arbeit beschreibt dies jedoch zugleich die Grenzen der theo-retischen Reichweite. Ein Voranschreiten zur Abstraktionsebene einer typologi-schen Theorie auf der Grundlage einer Einzelfallstudie ist nicht möglich. Zwar kann von der Beschreibung institutioneller Wandlungs- und Stabilisierungspro-zesse der Regierungsorganisation im theoretischen Sinne abstrahiert werden. Aber neben der Identifikation kausaler Mechanismen ist auf der Grundlage einer Prozessanalyse bestenfalls die Formulierung erster Hypothesen zu ihrer Rele-vanz über den untersuchten Fall hinaus möglich. Die Überführung der Erkennt-nisse in eine typologische Theorie kann dann erst auf der Grundlage ergänzender Fallstudien erfolgen. 4.1.2.6 Zwischenfazit: Das Forschungsdesign in der Übersicht Wie lässt sich das dieser Arbeit zugrundeliegende Forschungsdesign nun in ei-nem Zwischenfazit zusammenfassen? Die hier formulierte Ausrichtung kann beinahe als Gegenposition zu den von King, Keohane und Verba (1994; vgl. George/Bennett 2005: 11–14) formulierten Grundsätzen verstanden werden. Während dort Theorietest, Variablenorientierung, standardisierte Kriterien der Fallauswahl und Designs mit großen Fallzahlen dominieren, betont das vorlie-gende Forschungsdesign die Bedeutung kausaler Mechanismen, den Beitrag von Fallstudien zur Theorieentwicklung und -modifikation, die Bedeutung kausaler Mechanismen zur Erfassung kausaler Komplexität, theorieinduzierte Kriterien zur Fallauswahl und den makromethodischen Ansatz des „Process-Tracing“. Diese Arbeit beschreitet damit einen

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202 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

“epistemological middle ground [that] consists of the assertation that causal mecha-nisms and causal effects are both essential to causal explanation. The methodologi-cal middle ground is the use of process tracing to identify and test hypothesized causal mechanisms in historical cases. The theoretical middle ground centers on ty-pological theories. These theories allow for equifinality, path dependency, interac-tion effects, and nonlinear relations” (Bennett/George 2001: 165).

4.2 Methodischer Zugang: Teilnehmende Beobachtung als Primärmethode

und methodische Triangulation Die vorangehende Begründung der Prozessanalyse als dieser Arbeit zugrunde-liegende Makromethode schließt die Notwendigkeit ein, diese nun in eine kon-krete Auswahl geeigneter Mikromethoden zu überführen. Zugleich sind mit dem entwickelten theoretischen Analyseansatz und dem spezifischen Forschungsde-sign bereits fünf zentrale methodische Anforderungen angelegt, die es einzulösen gilt:

Die verwendeten Methoden müssen erstens temporale Abläufe und Kon-textfaktoren einbeziehen und erfassbar machen. Insofern geht es um die bewuss-te methodische Integration zeitlicher Prozesse und Abläufe, wie sie bereits im theoretischen Rahmen als kritische Größen herausgearbeitet wurden.

Zweitens gilt es, sowohl formale als auch informelle Institutionen erfassen zu können. Letzteres stellt per definitionem eine besondere methodische Heraus-forderung dar, zeichnen sie sich im Allgemeinen durch einen geringeren Grad der Kodifizierung und Normierung aus.

Hinzu tritt die dritte Anforderung, nicht nur institutionelle Regeln, sondern auch deren Anwendung in den Blick zu nehmen. Es geht also nicht alleine um die Identifikation formaler und informeller institutioneller Regelstrukturen, son-dern um ihre konkrete Handhabung durch die beteiligten Akteure.

Damit rücken eine besondere Beachtung von Akteuren und ihr Wechsel-spiel mit den institutionellen Rahmenbedingungen als vierte Herausforderung in den Fokus. Institutionelle Transformationsprozesse vollziehen sich in einem interaktiven Wechselspiel von Akteuren und Institutionen und folglich muss die methodische Anlage auch diese Interaktionsprozesse erfassen können. Dabei spielt insbesondere die Rollendefinition der relevanten Akteure im Sinne von „Change-Agents“ und als individuelle Repräsentanten korporativer Akteure eine zentrale Rolle.

Fünftens schließlich geht es in theoretischer Hinsicht um die induktive Ent-wicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes. In methodischer Hin-sicht verbindet sich damit die Anforderung, das Abstraktionsniveau schrittweise vom Konkreten zum Abstrakten zu verschieben. Während also die methodische

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4.2 Methodischer Zugang 203

Anlage zunächst die Rekonstruktion des untersuchten Falles ermöglichen muss, gilt es, darüber hinaus abstrakte Schlussfolgerungen ebenso anzubahnen. Die Methode muss folglich Daten liefern, die einen solchen Aufstieg auf der „Ab-straktionsleiter“ ermöglichen.

Mit dem induktiven Zugang der Arbeit verbindet sich in methodologischer Hinsicht die Vorstellung eines Wechselspiels zwischen empirischer Analyse einerseits und theoretischer Konstruktion andererseits. Dabei handelt es sich um ein qualitatives Unterfangen (Thomas 2005). Insbesondere qualitative Forschung ist gekennzeichnet durch einen kontinuierlichen Austauschprozess zwischen Theorie und Empirie. Dieses qualitative Bemühen geht notwendigerweise dem Testen theoretischer Annahmen voraus:

“Before we can elaborate our theoretical arguments, we need to conceptualize what we are talking about. This begins from our understanding of the world, and it is an essentially qualitative project” (Thomas 2005: 858–859; vgl. Flick et al. 2007: 24; Flick 2006: 27).

Damit verbindet sich auch die Vorstellung eines nicht-linearen, sondern zirkulä-ren Forschungsprozesses. Ausgehend von dem formulierten Erkenntnisinteresse ergibt sich daraus das wiederholte („zirkuläre“) Abgleichen theoretischer Voran-nahmen, empirischer Analyse und konzeptioneller Abstraktion (Flick 2006: 67–68).

Diesen hier kurz skizzierten Anforderungen entspricht der hier unter ande-rem gewählte methodische Zugang der teilnehmenden Beobachtung in besonde-rer Weise.67 Wie nachfolgend aufgezeigt wird, setzt diese methodische Herange-hensweise auf einen fortwährenden Prozess von empirischer Analyse und theore-tischer Präzisierung. Diese Dynamik ist gewissermaßen konstitutiv für diese Methode. Zugleich greift sie die oben zusammengefassten, theoretischen Anfor-derungen auf: Teilnehmende Beobachtung ist eine kontextsensitive Methode, die zeitlichen Abläufen und Prozessen ebenso breiten Raum einräumt wie der Vor-stellungs- und Handlungsebene politischer Akteure und informellen Praktiken und Strukturen (hierzu allgemeiner Fenno 1986: 4–6; Schöne 2003; Schöne 2009: 25 u. 44; Merkens 1989: 10).

Als wissenschaftliche Methode muss die Beobachtung grundsätzlich drei Kriterien entsprechen: Erstens muss es sich um intentionales, auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtetes Beobachten handeln („Absicht“). Zweitens geht es um die 67 Für eine ausführliche Darstellung der Methode, ihren Möglichkeiten und Grenzen vgl. u.a.

Aster et al. 1989; Wiedemann 2007a; Bachmann 2009; Bogdan 1972; Browne 1999; Denzin/ Lincoln 2007; Eckl 2008; Fenno 1978; 1986; 1992; Friedrichs/Lüdtke 1973; Girtler 2004; Goffman 1996; Gubrium 1989; Lindner 1981; Lüders 2007; Schöne 2005; Schöne 2005; Schöne 2009; Spradley 1980; Warneken/Wittel 1997; Whyte 1989.

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204 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Auswahl relevanter Beobachtungsgegenstände („Selektion“) und drittens darum, diese Beobachtungen einzuordnen, zu strukturieren und zu interpretieren („Aus-wertung“) (Behnke et al. 2006: 247; Schöne 2009: 27). Zugleich stellt die teil-nehmende Beobachtung jedoch nur eine Variante wissenschaftlicher Beobach-tungsverfahren dar. Es können fünf Dimensionen zur methodischen Strukturie-rung unterschieden werden (Tabelle 6): Tabelle 6: Fünf Formen der wissenschaftlichen Beobachtung 1. verdeckt – offen Inwieweit wissen die Beobachteten, dass sie beobach-

tet werden? 2. nicht-teilnehmend –

teilnehmend Inwieweit nimmt der Beobachter am Feldgeschehen teil?

3. systematisch – unsystematisch

Inwieweit ist die Beobachtung durch vorgefertigte Schemata standardisiert?

4. natürlich – künstlich Erfolgt die Beobachtung im natürlichen Feld oder unter hergestellten Bedingungen?

5. selbst – fremd Inwieweit werden Fremde, inwieweit der Beobachtete selber zum Gegenstand der Beobachtung?

Quelle: Schöne 2009: 27; vgl. auch Flick 1995: 153; Flick 2006: 200–201; Fried-richs/Lüdtke 1973 Die hier angewandte Variante der offenen, teilnehmenden und in natürlichem Setting verlaufende Fremdbeobachtung entspricht der in der sozialwissenschaft-lichen Forschung am weitesten verbreiteten (Schöne 2009: 27). Die dahinter stehende Grundidee ist vergleichsweise einfach:

„Will man etwas über andere Menschen herausfinden, geht man einfach zu ihnen, bleibt eine Weile, macht das mit, was diese Menschen dort normalerweise treiben, und lernt sie so durch eigene Erfahrung besser kennen" (Bachmann 2009 248).

Zugleich zeigen sich hiermit Bezüge zu allgemeinen Grundannahmen qualitati-ver Forschung, denen teilnehmende Beobachtungsverfahren zuzuordnen sind (Flick et al. 2007: 14): Diese setzt darauf, „Lebenswelten ‚von innen heraus’“ zu verstehen, und somit zu „einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beizutragen“. Dabei stehen zeitliche „Abläufe, Deutungsmuster und Struktur-merkmale“ im Mittelpunkt des Interesses. Die der Methode der teilnehmenden Beobachtung zugrundeliegende Annahme ist, dass diese Strukturen Nichtmit-gliedern verschlossen bleiben und zugleich „den in der Selbstverständlichkeit des Alltags befangenen Akteuren selbst in der Regel nicht bewusst“ sind. Insofern ist es möglich, sowohl Akteure und ihre Interaktion, als auch diese Interaktionen

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4.2 Methodischer Zugang 205

strukturierende Regelsysteme im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung zu analysieren. Dies ist angesichts der bestehenden Anforderung, sowohl die Hand-lungs- als auch die Strukturebene bei der Analyse der kernexekutiven Transfor-mationsprozesse einzubeziehen, eine wichtige methodische Anforderung.

Insbesondere anhand der begrifflichen Rahmung im Sinne kultureller „Le-benswelten“ und „alltäglicher Praktiken“ zeigt sich die Prägung der Methode durch die Disziplinen der Ethnologie, Sozialanthropologie und Soziologie (hier-zu Büger/Gadinger 2008). Allerdings kann die Methode auch für politikwissen-schaftliche Fragestellungen eine herausragende Rolle spielen, denn

„[a]uch der Politikwissenschaftler versucht durch direktes Miterleben die organisati-onstypischen Konventionen, Regeln und alltagspraktischen Verhaltensweisen zu verstehen, welche die kulturellen Grundlagen für das Funktionieren politischer Insti-tutionen bilden. Dem Feldforscher geht es um das Verstehen von politischen Institu-tionen aus einer Innenperspektive, also aus sich selbst heraus" (Schöne 2009: 44).

Zugleich gilt es, Clifford Geertz’ Erinnerung an die Grenzen teilnehmender Be-obachtung im Auge zu behalten: „Im Land der Blinden (…) ist der Einäugige nicht König, sondern Zuschauer“ (Geertz 2003: 293).

In Ergänzung dieser Definitionsmerkmale lassen sich einige prägende Cha-rakteristika teilnehmender Beobachtung identifizieren. Erstens ermöglicht sie die Annäherung an die jeweilige Weltsicht und Wahrnehmung der Beobachteten. Zweitens ermöglicht die Methode die Entdeckung alltäglicher Muster und Routi-nen. Drittens lassen sich auf diesem Wege nicht nur kognitive, sondern auch affektive Muster für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand identifizieren. Damit ist das „Verstehen“ sozialer Prozesse, Regeln und Strukturen von innen heraus das leitende Erkenntnisprinzip. Insofern verbindet sich in doppelter Hin-sicht ein besonderer Prozesscharakter mit dieser Methode: Einerseits soll der Forscher im Laufe des Forschungsprozesses mehr und mehr zum Teilnehmer werden und erweiterte Zugänge zum jeweiligen Forschungsobjekt erhalten. An-dererseits geht es um eine im Zuge der Beobachtung voranschreitende Konkreti-sierung, Fokussierung und schließlich theoretische Abstraktion der gewonnenen Erkenntnisse (Schöne 2009: 27–29). Insbesondere letztere Prozessdimension macht den Bezug zu den hier formulierten theoretischen und forschungssystema-tischen Anforderungen deutlich (Flick 1995: 157–158).

Allerdings folgt aus diesen Merkmalen die bestenfalls begrenzte Möglich-keit einer methodischen Standardisierung und Formalisierung (Flick 2006: 216). Bachmann spricht gar von einer inhärenten „Methodenfeindlichkeit“ (Bachmann 2009: 250) der teilnehmenden Beobachtung, da sie keinem klaren Verlaufsplan folgt, die für ihre Anwendung generalisierbare wären. Sie kann vielmehr „in einem weiter gefassten Sinn als eine flexible, methodenplurale kontextbezogene

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206 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Strategie“ verstanden werden, in der unterschiedliche Verfahren miteinander kombiniert werden (Lüders 2007: 388–389). Sie wird damit zu einer „Feldstrate-gie, die gleichzeitig Dokumentenanalyse, Interviews mit Interviewpartnern und Informanten, direkte Teilnahme und Beobachtung sowie Introspektion kombi-niert“ (Flick 1995: 157–158).

Allerdings ist, darauf weist Helmar Schöne (2009: 26) hin, eine „planvolle Systematisierung“ möglich. Dazu werden in den nachfolgenden Abschnitten einige methodische Grundfragen der teilnehmenden Beobachtung diskutiert und in einem zweiten Schritt für die vorliegende Arbeit konkretisiert, diskutiert und reflektiert. Von besonderer Bedeutung hierbei sind die Auswahl konkreter Beo-bachtungsgegenstände, der Zugang zum Forschungsfeld sowie die Rollenwahr-nehmung während der Feldforschungsphase, die Verwendung von Beobach-tungsinstrumenten, Ablauf und Interaktion während der Datenerhebung und schließlich die Verbindung der Beobachtung mit weiteren Mikromethoden und der Analyse ergänzender Daten. Zunächst gilt es jedoch, die bisherige Anwen-dung der Methode für politikwissenschaftliche Fragestellungen zu diskutieren, um daraus Konsequenzen für die vorliegende Arbeit abzuleiten. 4.2.1 Zur teilnehmenden Beobachtung als politikwissenschaftliche Methode Die Befunde zur Anwendung der Methode der teilnehmenden Beobachtung und damit indirekt auch ihrer Akzeptanz in den Sozialwissenschaften sind durchaus widersprüchlich. Während es sich in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen – insbesondere der Soziologie, der Ethnologie und der Psychologie, aber auch den Wirtschaftswissenschaften - um eine etablierte und zahlreiche Arbeiten prä-gende Methode handelt, wird sie in der Politikwissenschaft bislang seltener an-gewandt. Die Zurückhaltung ist hier sogar eine Doppelte: Zum einen bedienen sich nur wenige Arbeiten überhaupt dieses methodischen Instruments. Zum an-deren fehlen in denjenigen Studien, die sich zumindest in Teilen der Analyse auf eine teilnehmende Beobachtung ihres Gegenstandes stützen, meist weitergehen-de methodische Reflexionen (z.B. Neumann 2005; Neumann 2007). Stattdessen wird die teilnehmende Beobachtung hier häufig als Hilfskonstruktion verstanden, die wiederum nur die Hintergrundfolie für weitere Methoden und Zugangswei-sen bildet (Schöne 2009: 22). Daran hat sich trotz der Plädoyers u.a. von Richard Fenno (1986: 14) und William Browne (1999: 67) für einen verstärkten Einsatz wenig geändert.

Was sind die Gründe für diese politikwissenschaftliche Reserviertheit? Die Antworten bewegen sich zwischen methodeninhärenten, forschungspraktischen und epistemologischen Gründen:

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4.2 Methodischer Zugang 207

Erstens sind entsprechende Arbeiten oftmals mit einem hohen Personal-, Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Insofern bestehen forschungspraktische Einschränkungen.

Zweitens offenbaren sich mit Blick auf politikwissenschaftliche Fragestel-lungen häufig Restriktionen eines entsprechenden Feldzugangs - ein Aspekt, auf den nachfolgend näher eingegangen werden muss, zumal er ein wichtiges Argu-ment hinsichtlich der hier vorgenommenen Fallauswahl ist. Es handelt sich bei zahlreichen politikwissenschaftlichen Studien ja gerade nicht um Forschungsbei-träge zu alltagspraktischen Gegenständen mit entsprechend niedrigen Zugangs-schranken. Allgemeiner weist Blatter auf dieses gegenstandsinduzierte Zugangs-problem hin:

„In politischen Kontexten sind insbesondere diejenigen Entscheidungsgremien kaum zugänglich, in denen unter Ausschluss der Öffentlichkeit oder im Rahmen einer ge-wissen Vertraulichkeit verhandelt und entschieden wird“ (Blatter et al. 2007: 69).

Drittens trägt der geringe Formalisierungsgrad der Methode zu einer gewissen Zurückhaltung bei. Mit dem Mangel an Formalisierung gehen Einschränkungen einher, die für andere Forschungsmethoden nicht in gleicher Weise gelten und insofern einen „Wettbewerbsnachteil“ bedeuten, orientiert sich die Beurteilung des wissenschaftlichen Ertrages nicht zuletzt an der methodischen Stringenz (Schöne 2009: 26).

Viertens mag gerade ein von Richard Fenno vorgebrachtes Argument für die Methode die Zurückhaltung zulasten der teilnehmenden Beobachtung erklä-ren: In seinen hierzu vorlegten Arbeiten (1978; 1986; 1992) wählt Fenno einen bewusst akteurzentrierte Zugang. Ambitionen, Ziele, Motivationen, Erfahrungen und Werte politischer Akteure stehen im Fokus (hierzu Fenno 1992: 1–3; vgl. Neumann 2005). Diese Akteurzentrierung widerspricht jedoch einer häufig stär-ker an Prozessen, Strukturen und Mechanismen interessierten Disziplin.

Fünftens zieht die ethnologische Prägung und ursprüngliche Verwendung der Methode eine mangelnde Akzeptanz in der Politikwissenschaft nach sich. So zeichnen sich die beiden Disziplinen durch eine, vereinfacht formuliert, wider-sprüchliche epistemologische Orientierung aus. Als Beispiel kann hier der von Clifford Geertz hervorgehobene besondere Wert „dichter Beschreibung“ ange-führt werden, der einem politikwissenschaftlichen Verständnis von Generalisie-rung diametral entgegensteht: „Die Allgemeinheit, die sie möglicherweise er-reicht, verdankt sich der Genauigkeit ihrer Einzelbeschreibungen, nicht dem Höhenflug ihrer Abstraktionen“ (Geertz 2003: 35). Wenn die teilnehmende Be-obachtung in diesem Sinne als Instrument der dichten Beschreibung verstanden

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208 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

wird, so erklärt das die Zurückhaltung mit Blick auf das politikwissenschaftliche Methodenrepertoire.

Schließlich besteht ein sechster Hemmschuh in einem mutmaßlichen Vorteil der teilnehmenden Beobachtung: So wird insbesondere in von der „Grounded Theory“ (Glaser/Strauss 1967) geprägten Methodenbeiträgen die weitgehende theoretische und forschungssystematische Offenheit der Methode als Vorteil hervorgehoben. Das schließt u.a. die Konkretisierung von Fragestellung und Erkenntnisinteresse erst während des Forschungsprozesses ein, was aus politik-wissenschaftlicher Perspektive unmittelbaren Widerspruch hervorruft (u.a. Flick 2006: 69 u. 76-77).

Dennoch finden sich politikwissenschaftliche Arbeiten, die sich der Metho-de der teilnehmende Beobachtung bedienen (u.a. Fenno 1978, 1986, 1992; Raschke/Tils 2006; Patzelt 1998; Neumann 2005; Neumann 2007; ergänzend die Literaturschau in Behnke et al. 2006: 253–254; Schöne 2009: 22–25). Diese zeichnen sich indessen nicht alleine durch ihre Verwendung, sondern insbeson-dere dadurch aus, dass aus einer methodischen Reflexion weitergehende Einsich-ten hinsichtlich des Erkenntnisinteresses abgeleitet werden. Insbesondere das damit verbundene Anliegen, die methodische Reflexion zu Erkenntniszwecken zu nutzen, spielt für die weitere Darstellung der hier gewählten methodischen Herangehensweise eine herausragende Rolle. Dies gilt sowohl für die Auswahl der Beobachtungsgegenstände, den Feldzugang, die Beobachtungsinstrumente, die konkrete Datenerhebung im Forschungsfeld sowie die Auswertungsinstru-mente. 4.2.2 Methodische Diskussion und fallbezogene Reflexion von Grundfragen

teilnehmender Beobachtung 4.2.2.1 Auswahl der konkreten Beobachtungsgegenstände Von besonderer Bedeutung ist zunächst die Auswahl der konkreten Beobach-tungsgegenstände im Zuge der teilnehmenden Beobachtung. Aus der Perspektive der zusammenfassenden Methodenliteratur, aber auch von Anwendern der teil-nehmenden Beobachtung, wird in dieser Hinsicht oftmals eine besondere „Of-fenheit“ des Beobachtungsprozesses betont. So beantwortet beispielsweise Ri-chard Fenno die Frage nach den zu beobachtenden Gegenständen im Zuge seiner Forschung so:

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4.2 Methodischer Zugang 209

“My answer at the beginning was, I don’t know; my answer today is, I’m not sure. Nothing better characterizes the open-ended, slowly emerging, participant observa-tion research than this admission” (Fenno 1992: 59).

Diese Betonung von Offenheit und fortgesetzter Suche während des Forschungs-prozesses wird von einem Teil der Methodenliteratur in Bezug gesetzt zu allge-meinen Grundsätzen qualitativer Forschung. Hier gilt das „Prinzip der Offen-heit“ als konstitutiv für die Abgrenzung von quantitativen Zugängen (z.B. Flick et al. 2007: 24). Dies gilt einerseits für die Frage der Datenerhebung, die von größerer Flexibilität geprägt sei als bei quantitativen Methodenanwendungen (Blatter et al. 2007: 32–33). Andererseits erstreckt sich dieses Postulat allgemei-ner auf das Verhältnis von systematischem Zugang auf der einen und For-schungsfeld auf der anderen Seite. So verweist beispielsweise Uwe Flick auf die Priorität von Daten und Feld gegenüber theoretischen Vorannahmen. Theorien sollten folglich nicht an den Gegenstand herangetragen werden, sondern erst im Feld „entdeckt“ werden. Dies schließt zwar die vorhergehende Formulierung einer Fragestellung und eines umgrenzten Erkenntnisinteresses nicht aus, aber die theoretische Strukturierung des Gegenstandes erfolgt erst im Laufe des For-schungsprozesses (Flick 2006: 69; vgl. Meinefeld 2007: 266–267). Die daraus abgeleitete Konsequenz besteht in einer „progressiven Feldzugangsstrategie“, deren Fragestellung nur begrenzt konkretisiert ist und folglich nicht auf die Um-setzung der „anspruchsvollsten Erhebungsverfahren“ setzt. Daher steht weniger die „Durchsetzung eines Forschungsplans, sondern die Sicherung und Gestaltung eines angemessenen situativen Kontexts für den Forschungsprozess im Vorder-grund“ (Wolff 2007: 348).

Die Gegenposition versteht diese im Sinne theoretischer Voraussetzungslo-sigkeit verstandene Offenheit als reine Fiktion. Diese sei lediglich der methodi-schen Abgrenzung von quantitativen Zugängen geschuldet, forschungspraktisch jedoch irrelevant (Meinefeld 2007: 269). Hier wird vielmehr die Orientierung von Beobachtungen an theoretischen Vorannahmen und die Annäherung an das Forschungsfeld entlang eines theoretischen Vorverständnisses betont. Dies schließt zwar eine fortgesetzte Flexibilität gegenüber dem Feld keineswegs aus, aber zugleich ist die Feldarbeit an den bestehenden Erkenntnisstand, theoretische Vorannahmen und daraus resultierende vorstrukturierte Vorstellungen des For-schers gebunden (Merkens 1989: 10–13; Meinefeld 2007: 271–272).

Für die teilnehmende Beobachtung ergeben sich daraus zwei grundsätzliche Wege der Stichprobenauswahl (Schöne 2009: 30–31): Einerseits besteht die Möglichkeit einer klaren Vorabfestlegung der Stichprobenstruktur entlang theo-retischer Vorüberlegungen. Diese strukturieren von Beginn an das zu untersu-chende Material und damit auch die konkreten Beobachtungsgegenstände. Ande-

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210 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

rerseits eröffnet sich die Option einer schrittweisen Bestimmung der Beobach-tungsstichprobe im Zuge des Forschungsprozesses. Die Konsequenz besteht lediglich in einer groben Strukturierung möglicher Beobachtungszugänge und der anschließenden Konkretisierung.

Für diese Arbeit hat sich, wie auch von Schöne für die Parlamentarismus-forschung betont, das „Verfahren einer nach theoretischen Kriterien vorab aus-gewählten Stichprobe bewährt, die aber offen genug gestaltet war, um im For-schungsprozess erweitert und modifiziert zu werden“ (Schöne 2009: 31). Kon-kretisiert heißt das: Zentrales Instrument für eine erste Vorauswahl der Beobach-tungsstichprobe waren die theoretischen Vorüberlegungen entlang des formulier-ten Erkenntnisinteresses. Damit rückten die im Zuge der Literaturauswertung als grundsätzlich relevant identifizierten Institutionen der Kernexekutive in den Mittelpunkt. Dazu zählt beispielsweise die Staatskanzlei, für die eine zentrale Koordinations- und Steuerungsfunktion im kernexekutiven Sinne unterstellt wurde. Diese auf den Ministerpräsidenten ausgerichtete Organisation vereint die Repräsentanz von „verschiedenen polyarchisch überformten Organisationen, die zusammen eine Regierungsformation konstituieren“ (Grunden 2009: 67). Daraus folgte die Konsequenz, die teilnehmende Beobachtung dort zu beginnen und anschließend in konzentrischen Kreisen auf weitere relevante Institutionen der Regierungsorganisation auszuweiten. Analytische Prämisse hierfür war, dass in der Staatskanzlei eine gewisse Strukturierung und Bündelung dieser Koordinati-onsinstitutionen erfolgt, welche einen Zugang von dort sinnvoll erscheinen lie-ßen. Eine weitere Konkretisierung der Stichprobenauswahl war zu Beginn des Forschungsprozesses nicht möglich, da der Zugang zu weiteren Feldern der Re-gierungsorganisation nicht vollständig abzuschätzen war. Die Ausweitung der Beobachtungsgegenstände ist insofern eng mit ergänzenden Fragen nach dem Feldzugang und ergänzenden methodischen Zugängen verbunden. Im Zuge der weiteren Feldforschung wurden dann schrittweise die formalen und informellen Regelsysteme der intraexekutiven Abstimmung, das Zusammenspiel exekutiver und parlamentarischer Organisationseinheiten und Akteure, die Institutionen des Koalitionsmanagements sowie weitere für die Fragestellung relevante Regelsys-teme der Kernexekutive erschlossen. 4.2.2.2 Zugang zum Forschungsfeld

„Klassische Zugangsschilderungen lesen sich wie Heldengeschichten, in denen nach einer Phase der Mühen, der Irritationen und des Suchens der Forscher letztendlich doch das angestrebte ‚Herz der Finsternis‘ (Joseph Conrad) erreicht“ (Wolff 2007: 336).

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4.2 Methodischer Zugang 211

Mit dieser Charakterisierung verbindet sich die Vorstellung eines Feldzugangs, der vor allem gegen allerlei Hindernisse zu erstreiten ist. Diese Form des Hel-denepos speist sich zumeist aus ethnologischen Anwendungsbeispielen, aber ähnliche Charakterisierungen finden sich auch in der Politikwissenschaft. Mit Blick auf den hier im Mittelpunkt stehenden Untersuchungsgegenstand der Re-gierungsorganisation sprach Wilhelm Hennis (1967: 295) vom für die Forschung beinahe unerreichbaren „Heiligtum des Bundeskanzleramtes“. Fritz Ossenbühl wiederum verwies auf den forschungspraktischen Nutzen von Berichten aus der Praxis, solange Forschern der „Wunsch (…) unerfüllt bleibt, zur ‚Sakristei des Staates‘, zu den ‚heiligen Hallen‘ der Staatskanzlei (Knöpfle) zugelassen zu werden“ (Ossenbühl 1969: 503).

Jenseits solcher praktischer Probleme der teilnehmenden Beobachtung ver-stellt dieses methodische Narrativ jedoch den Blick auf einen ebenso zentralen Aspekt: Die Erfahrungen mit dem möglicherweise problembehafteten Zugang zum Forschungsfeld stellen für sich bereits ein zentrales Wissensreservoir und damit eine wichtige Datenquelle dar. Der „Weg ins Feld“ selbst eröffnet wichtige Einsichten in Strukturen, Abläufe, Regeln und Mechanismen des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes (Wolff 2007: 336; Schöne 2009: 33). So können für den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand der Kernexekutive über die Erschließung des Zugangs beispielsweise zu informellen Gremien Rückschlüsse über ihre Bedeutung, ihre Rolle und den sie prägenden institutionellen Regeln gezogen werden. Auch lassen sich zentrale Akteure mit informeller Entschei-dungsmacht identifizieren. Zudem sind erste Rückschlüsse auf das jeweilige Rollenverständnis bestimmter Organisationseinheiten möglich. Dementspre-chend könnte beispielsweise die vergleichsweise große Offenheit einer Presseab-teilung gegenüber einem teilnehmenden Beobachter ihren qua Funktion nach außen gerichteten Charakter unterstreichen, während höhere Zugangshürden zu einer Planungs- und Grundsatzabteilung eine stärkere Abschottung nach außen und ihren auf das Innenleben einer Regierungszentrale zielenden Funktionsberei-che dokumentieren würde. Vermeintlich methodische Fragen des Feldzugangs werden damit zu wichtigen inhaltlichen Daten- und Erkenntnisquellen.

Darüber hinaus stellen sich jedoch praktische Fragen des Feldzugangs. Die Aushandlung eines solchen Zugangs als teilnehmender Beobachter ähnelt dabei weniger einem Informationsproblem, sondern vielmehr der „Herstellung einer Beziehung, in der so viel Vertrauen in die Personen der Forscher und ihre Anlie-gen bestehen, dass sich die Institutionen - trotz allem, was dagegen sprechen könnte - auf die Forschung einlässt“ (Flick 2006: 89–91). Mit Blick auf die Her-stellung einer solchen Vertrauensbeziehungen stellen sich u.a. folgende Fragen (hierzu Aster/Repp 1989: 124–128; Bachmann 2009: 251–253; Browne 1999: 68; Fenno 1992: 64–67; Wolff 2007: 339–346): Erfolgt der Einstieg ins Feld von

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212 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

„oben“ oder von „unten“? Kann und muss eine „Gegenleistung“ für den Feldzu-gang angeboten werden? Wie viel vom konkreten Forschungsinteresse muss preisgegeben werden? Welche Vertraulichkeitsregeln erschweren möglicherwei-se später die Darstellung von Ergebnissen des Forschungsprozesses? Wer kann als Türöffner dienen, welche Gatekeeper gilt es zu überwinden?68

Gatekeeper spielen insbesondere dann eine wichtige Rolle, „wenn von ei-nem hohen Politisierungsgrad des organisatorischen Entscheidungsverhaltens auszugehen ist. Dann muss die Zustimmung einer Koalition von Entscheidungs-trägern, im schlimmsten Fall von verschiedenen, sich gegenseitig bekriegenden Koalitionen, gesucht werden" (Wolff 2007: 342). Alleine die Identifikation sol-cher „Türsteher“ kann in dynamischen Forschungsfeldern eine zentrale Heraus-forderung darstellen. Allerdings gilt auch hier, dass diese Erfahrungen wieder als inhaltliche Erkenntnis genutzt werden können. Insbesondere für den vorliegen-den Gegenstand ist davon auszugehen, dass bereits diese Fragen zentrale Struk-turmerkmale der Kernexekutive deutlich werden lassen.

In seiner methodischen Reflexion von Praxiserfahrungen mit teilnehmende Beobachtung benennt Helmar Schöne (2009: 32–36) fünf Faktoren, die den Feldzugang angesichts dieser Rahmenbedingungen erleichtern: So gilt es, Be-harrlichkeit zu zeigen, Hierarchien und Vermittlungspersonen zu nutzen, Mento-ren zu gewinnen, Sinn in das Forschungsvorhaben zu vermitteln und Professio-nalität zu zeigen. Damit wird zugleich deutlich, dass das Rollenverständnis und die Rollenwahrnehmung des teilnehmenden Beobachters eine zentrale Größe im Forschungsprozess darstellt (Flick 2006: 87). Das gilt insbesondere, weil neben dem allgemeinen Zugang zu Organisationen und Institutionen der Zugang zu individuellen Akteuren im Forschungsfeld als weitere Herausforderung hinzu-kommt. Während sich in institutioneller Hinsicht vor allem die Frage der grund-sätzlichen Bereitschaft, teilnehmende Beobachtung zuzulassen, stellt, ist es bei Akteuren zumeist eine Frage der Erreichbarkeit. „Auch hier spielen Prozesse der Aushandlung, Strategien der Verweisung im Sinne des Schneeballsystems und vor allem die Fähigkeit der Herstellung von Beziehungen eine zentrale Rolle“ (Flick 2006: 92–93).

Jenseits einer allgemeinen Bestätigung dieser Befunde im Rahmen der vor-liegenden Arbeit können folgende strukturelle Aspekte zum Feldzugang ange-führt werden:

Der allgemeine Zugang zur nordrhein-westfälischen Staatskanzlei erfolgte über eine entsprechende Grundsatzentscheidung des Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers. Konkret vereinbart wurde der Zugang zur Staatskanzlei für den Zeit-raum vom 1. Oktober 2005 bis 30. September 2006 im Rahmen einer „wissen- 68 Fenno liefert einige praxisbezogene Antworten auf diese Herausforderung, die sich aus seinen

Felderfahrungen speisen. Hierzu ausführlicher Fenno 1992: 68–75.

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4.2 Methodischer Zugang 213

schaftlichen Begleitstudie“. Zugesichert wurden Möglichkeiten zur Begleitung des Ministerpräsidenten, Gespräche und Interviews mit Akteuren der Landesre-gierung sowie Zugang zu ergänzenden Dokumenten. Zugleich wurden allgemei-ne Vertraulichkeitsgrundsätze vereinbart, die eine Nutzung der Erkenntnisse für wissenschaftliche Zwecke jedoch explizit ermöglichten. Die institutionelle und räumliche Anbindung erfolgte über die Abteilung III Politische Planung. Hier waren zugleich die zentralen Ansprechpartner für weitere organisatorische Ab-sprachen während des Forschungsprojekts lokalisiert. Für die weitere Ausgestal-tung der Feldforschung spielten diese Vermittlungspersonen und Mentoren eine wichtige Rolle. Sie ermöglichten über die allgemeinen Vereinbarungen hinaus u.a. Zugang zu regierungsinternen Abstimmungsgremien (z.B. Ressortkoordina-tion auf Arbeitsebene der Ressorts, Staatssekretärskonferenzen), zu Treffen un-terschiedlicher Organisationseinheiten innerhalb der Staatskanzlei (z.B. Abtei-lungsbesprechungen, Referatsleiterrunden) und parlamentarischen Gremien (z.B. Fraktionssitzungen, Arbeitskreissitzungen). Weitere Details zu diesen Organisa-tionseinheiten und weiteren Institutionen der Regierungsorganisation fließen, im Sinne des oben skizzierten eigenständigen Erkenntnisgewinns von Zugangser-fahrungen, in die empirische Analyse ein. 4.2.2.3 Feldarbeit und Beobachtungsinstrumente Die konkrete Feldarbeit im Zuge der teilnehmenden Beobachtung teilt sich ideal-typisch in drei Phasen (vgl. Spradley 1980; Flick 2006: 207; Schöne 2009: 28). In einem ersten Schritt dominiert die deskriptive Beobachtung, die auf die all-gemeine Orientierung im Feld, die Erfassung des Kontextes sowie die Konkreti-sierung der Fragestellung(en) abzielt. Die zweite Phase einer fokussierten Be-obachtung engt die Beobachtungsgegenstände zunehmend ein und konzentriert sich auf bestimmte Prozesse. Die abschließende Phase der selektiven Beobach-tung orientiert den weiteren Beobachtungsprozess dann an den bislang entwi-ckelten Hypothesen und theoretischen Überlegungen und sucht nach weiteren diesbezüglichen Belegen und Hinweisen. Diese Phasenabfolge macht deutlich, dass es über das von Richard Fenno bezeichnete „soaking und poaking“ (Fenno 1992: 55–58) hinaus in einem weitergehenden Sinne um „playing and palling around“ (Browne 1999: 67) geht. Zumindest implizit ist damit auch ein Voran-schreiten von stark deskriptiven Elementen zu stärker theoretisch und analytisch orientierten Arbeitsschritten vorgezeichnet. Dies führt von einer zunächst chro-nologischen Darstellung beobachteter Abläufe und Prozesse zu einer Identifika-tion und Analyse einzelner Variablen und Mechanismen (Blatter et al. 2007: 180–182; Flick 2006: 207).

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214 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Für die vorliegende Arbeit ist diese Phasenabfolge ebenfalls von herausra-gender Bedeutung: Über die Rekonstruktion der konkreten Wandlungs- und Stabilisierungsprozesse von Institutionen der Regierungsorganisation hinaus ging es im weiteren Verlauf immer stärker um die Entwicklung eines gegen-standsbezogenen Analyseansatzes und die Identifikation dahinter liegender kau-saler Mechanismen. Die Phasenabfolge der Methode hat insofern ihre Entspre-chung in den vorangehenden Überlegungen zum Forschungsdesign sowie An-knüpfungspunkte an den theoretischen Rahmen der Arbeit. Sie drückt sich zu-dem in der Struktur der empirischen Darstellung (Kapitel 5) aus: Ausgehend von einer weitgehend chronologischen Darstellung des politischen und zeitgeschicht-lichen Kontextes (Kapitel 5.1) erfolgt im nächsten Schritt eine Konkretisierung mit Blick auf den institutionellen Rahmen durch die unmittelbare Bezugnahme von empirischer Analyse und theoretischer Abstraktion (Kapitel 5.2).

Mit Browne’s „playing and palling around“ ist zugleich angedeutet, dass es sich bei der teilnehmenden Beobachtung insofern um eine interaktive Methode handelt, als dass Forscher und Feld in einen direkten Zusammenhang treten. Dies äußert sich in unterschiedlichen Rollen als „vollständiger Teilnehmer“, „Teil-nehmer als Beobachter“, „Beobachter als Teilnehmer“ oder „vollständige Be-obachter“ (Schöne 2009: 38).69 In den oben skizzierten unterschiedlichen Phasen der Feldarbeit ist zudem angelegt, dass es im Verlauf der Feldforschung zu Wechseln dieser Rollen kommen kann. Wichtiger noch ist jedoch, dass diese Interaktion in der teilnehmenden Beobachtung nicht als methodische Störvariab-le, sondern als Möglichkeit des Erkenntnisgewinns konzeptualisiert wird (vgl. Bachmann 2009: 266; Flick 2006: 19; Fenno 1986: 3–4). Dies setzt jedoch zu-gleich eine entsprechende Reflexion dieser Interaktionen voraus. In seinem me-thodischen Vergleich der teilnehmenden Beobachtung in Ethnologie und Poli-tikwissenschaft geht Julian Eckl (2008: 193–198) sogar noch einen Schritt wei-ter: Er argumentiert, die Vorstellung einer methodischen Nicht-Intervention sei per se eine Fiktion. Insofern gehe es notwendigerweise um eine methodische Reflexion solcher Interaktionsprozesse statt eines Plädoyers für nicht-interven-tionistische methodisch Herangehensweisen.

Für die Methode der teilnehmenden Beobachtung hat diese interaktive bzw. interventionistische Dimension eine besondere Bedeutung. Sie konstituiert nach Rolf Lindner eine „Angst des Forschers vor dem Feld“ (1981). Diese ergibt sich

69 Flick (2006: 94) differenziert alternativ zwischen den Rollen als „Fremder“, „Besucher“,

„Initiant“, „Eingeweihter“. Im Zuge der Feldforschung für diese Arbeit dominierte die Rolle des „Beobachters als Teilnehmer“. Während der Beobachterstatus überwog, bestanden teil-nehmende Elemente in gelegentlichen Terminvorbereitungen, der Lieferung von inhaltlichen Einschätzungen und Expertisen, Beiträgen für Reden des Ministerpräsidenten sowie der aktiven Teilnahme an Besprechungen und Sitzungen.

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4.2 Methodischer Zugang 215

durch die reziproke Rollenzuschreibung von Feldforscher einerseits und Akteu-ren des Forschungsfeldes andererseits. Wird diese Interaktion nicht bewusst aufgenommen, so verstellt dies zum einen den Blick für die darin angelegte Da-tenfülle und den möglichen Erkenntnisgewinn über das Forschungsfeld. Zum anderen schränkt es den Prozess der teilnehmenden Beobachtung aufgrund der damit einhergehenden Selbstbeschränkung des Beobachters ein. Bernd Warneken und Andreas Wittel (1997) wiederum machen in Ergänzung dieser Überlegungen für Gegenstände politikwissenschaftlicher Forschung eine „neue Angst“ des Forschers vor dem Feld aus: Anders als bei der klassischen ethnolo-gischen oder soziologischen Forschung, die sich im Sinne von „research-down“ mit kulturell, soziologisch oder materiell „benachteiligten“ Gruppen beschäftigt, widmet sich die politikwissenschaftliche Forschung im Sinne eines „research-up“ machtvollen politischen Akteuren und soziologisch privilegierten Status-gruppen. Daraus ergeben sich wiederum eine vollkommen veränderte Interakti-onsdynamik, eine veränderte Rollenzuschreibung zwischen teilnehmendem Be-obachter und Akteuren des Feldes und damit die Notwendigkeit, diese während der teilnehmenden Beobachtung besonders zu reflektieren (hierzu auch Eckl 2008: 193–198; Bachmann 2009: 253–254).70

Ein weiteres potentielles Problem im Zuge der Feldarbeit stellt das „Going Native“ dar:

„Damit wird der Prozess bezeichnet, in dessen Verlauf ein Beobachter unhinterfragt die im Feld geteilten Sichtweisen übernimmt, weil er durch sein intensives Verwei-len unter den Beforschten die Außenperspektive des Fremden verliert" (Schöne 2009: 39–40).

Diese potentielle Schwierigkeit ergibt sich aus einem der Methode innewohnen-den Dilemma: Einerseits betont sie die zunehmende Teilnahme am Feldgesche-hen, aus der heraus erst weitergehende Erkenntnisse resultieren. Andererseits droht die Gefahr, die zugleich wichtige Außenperspektive zu verlieren und damit die Innensicht des Forschungsfeldes zu stark zu übernehmen (Flick 1995: 163–164; Flick 2006: 209).71 Zur Vorbeugung und als Korrektiv diente für die vorlie-gende Arbeit der zeitweise Rückzug aus dem Forschungsfeld. Das bewusste und regelmäßige Einnehmen der Position eines Außenstehenden kann dazu beitragen, erneut Abstand vom Beobachtungsgegenstand zu suchen und damit die notwen- 70 Für die vorliegende Arbeit folgt daraus jedoch nicht die explizite Reflexion im Rahmen der

weiteren Darstellung. Vielmehr sind die Interaktionsprozesse vor allem für die Interpretation der gewonnenen Daten zu problematisieren und insofern implizit in die Darstellung zu integrieren. Hierzu auch Flick 2006: 95.

71 Für betont praxisrelevante Reflexionen dieses Problems vgl. auch Fenno 1992: 77–78, Baring 1982: 13–18.

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216 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

dige Distanz zu finden. Hinzu kam der bereits im Forschungsprozess angelegte Kontakt zu unterschiedlichen Akteursgruppen während der Feldarbeit. So schloss die teilnehmende Beobachtung sowohl einen Zugang zu Akteuren der politischen Führungsebene als auch zur regierungsinternen und parlamentari-schen Arbeitsebene ein. Durch die mit dieser unterschiedlichen Positionierung verbundene Rollendifferenzierung der Akteure wurde ein „Going Native“ von Beginn an erschwert, da die unterschiedlichen Akteursgruppen von durchaus unterschiedlichen „Weltsichten“ und Rollenverständnissen geprägt sind.

Nicht zuletzt der methodischen Reflexion dienen auch Beobachtungsproto-kolle oder Feldnotizen, die gleichzeitig eine zentrale Datenquelle der teilneh-menden Beobachtung bilden (Schöne 2009: 36–38). Die Aufzeichnung und das Protokollieren von Beobachtungen sind eine wichtige Tätigkeit und zugleich zentrale Herausforderung während des Forschungsprozesses. Dabei handelt es sich nicht um die objektive Wiedergabe von Fakten, sondern bereits um interpre-tierte und subjektive verdichtete Einschätzungen des Autors (Lüders 2007: 396–399). Unterschieden werden können einerseits klar strukturierte Beobachtungs-leitfäden, die bereits zur Vorstrukturierung der Beobachtungen im Vorfeld der teilnehmenden Beobachtung entwickelt werden. Andererseits können solche Feldprotokolle erst im Zuge der konkreten Beobachtungstätigkeit entwickelt und verfeinert werden. Der zweite Weg wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit beschritten. Allerdings bildeten sich im Zuge des Forschungsprozesses Beobach-tungsschemata heraus, welche für einen Großteil sich wiederholender Beobach-tungssituationen Anwendung fanden.72

Jenseits der oben beschriebenen Möglichkeiten und Vorteile gehen mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung jedoch auch Begrenzungen und Nach-teile einher, die sich insbesondere aus ihrer betonten Mikroorientierung ergeben. Speziell bei einer nur von einem Forscher vorgenommenen teilnehmenden Be-obachtung reduzieren sich die beobachtbaren Ausschnitte des Feldgeschehens. Zudem sind parallel ablaufende Prozesse nicht unmittelbar erfassbar. Diese Form der Mikroanalyse ermöglicht daher keinesfalls einen umfassenden Eindruck (Blatter et al. 2007: 67–68), insbesondere wenn es sich wie beim vorliegenden Fall um ein dynamisches und hochkomplexes Feld, bestehend aus zahlreichen formalen und informellen Institutionen der Regierungsorganisation, handelt. In Reaktion auf diese Beschränkung wurde für die vorliegende Arbeit ein besonders

72 Bewusst verzichtet wurde auf den Einsatz von Aufnahmegeräten. Insbesondere mit Blick auf

die vereinbarte Vertraulichkeit sowie das Annähern und direkte Eintauchen in Routineabläufe hätte der Einsatz entsprechender Geräte eine hemmende Wirkung für die Gesprächsverläufe entfaltet. Die Protokollierung von Beobachtungen erfolgte daher entweder in Stichworten parallel zum Geschehen oder auf der Grundlage kurzer Notizen unmittelbar im Anschluss. Vgl. hierzu die praxisbezogenen Überlegungen von Fenno 1992: 81–91 und Schöne 2009: 40–41.

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4.2 Methodischer Zugang 217

langer Beobachtungszeitraum von einem Jahr gewählt. Die Annahme war, dass sich insbesondere in der Entwicklung dieser Zeitspanne Möglichkeiten zur wie-derholten Beobachtung ähnlicher Abläufe und Prozesse ergeben würden, die die oben genannte Begrenzung zumindest abmildern können. Damit ergibt sich jen-seits der theoretischen Begründungen für eine längerfristige Betrachtung auch ein entsprechender methodischer Begründungszusammenhang.

Hinzu kommen weitere Einschränkungen: Nicht alle auf das vorliegende Erkenntnisinteresse bezogene Phänomene sind direkt beobachtbar (Flick 1995: 164–166; Flick 2006: 214–215). Zudem können das mitgebrachte Vorwissen den Blick auf neue Erkenntnisse verstellen oder weitergehende Feldbeobachtungen an mangelndem Kontextwissen scheitern. Schließlich sind ganz profane Ein-schränkungen auf Seiten des Beobachters - zum Beispiel die jeweilige „Tages-form“ - anzuführen (Schöne 2009: 40–41). Diese Probleme lassen sich nur be-grenzt durch methodische Anpassungen des Beobachtungsprozesses eingrenzen. Die Lösung besteht vielmehr in dem bereits oben skizzierten Verständnis der teilnehmenden Beobachtung als „flexible, methodenplurale kontextbezogene Strategie“ (Lüders 2007: 388–389). Die Kombination von Beobachtungsergeb-nissen mit weiteren Methoden der Datenerhebung ist insofern konstitutiv für die teilnehmende Beobachtung und ermöglicht es, die oben kurz genannten Proble-me konstruktiv zu bearbeiten. Zudem besteht in der darin anschließenden Form der Methodentriangulation ein Weg zur Validierung der gewonnenen Erkennt-nisse. 4.2.2.4 Methodenvielfalt, Material und Triangulation

„Teilnehmende Beobachtung ist eine Feldstrategie, die gleichzeitig Dokumentenana-lyse, Interviews mit Interviewpartnern und Informanten, direkte Teilnahme und Be-obachtung sowie Introspektion kombiniert" (Flick 2006: 206–207; auch Lüders 2007: 393–396).

Jenseits der reinen Beobachtungstätigkeit fanden die damit benannten Mikrome-thoden Anwendung im Zuge der Datenerhebung für die vorliegende Fallstudie:

Für die Rekonstruktion des politischen und zeitgeschichtlichen Kontextes war insbesondere eine breit angelegte Auswertung der Tages- und Wochenpresse hilfreich. Eine systematische Presseauswertung eignet sich in besonderer Weise zum Erschließen wichtigen Kontextwissens (Blatter et al. 2007: 183; Grunden 2009: 75), worauf u.a. auch Arnulf Baring im Zuge seiner zeitgeschichtlichen Forschung hingewiesen hat:

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218 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

„Wenn man Zeitungen nicht nur halb verschlafen beim Kaffeetrinken überfliegt und dann wegwirft, sondern systematisch und vergleichend auswertet, dann liefert eine solche Analyse das Rückgrat jeder zeitgeschichtlichen Darstellung" (Baring 1982: 16).

Für die vorliegende Arbeit standen dazu neben einschlägigen Datenbanken zu den insgesamt etwa 20 verwendeten regionalen und überregionalen Zeitungen auch die tägliche Presseschau der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Verfügung. Schließlich lieferte auch die in weiten Teilen auf einer systemati-schen Presseauswertung bestehende Studie zum „Regieren in Nordrhein-West-falen“ (Korte et al. 2006) wichtiges Hintergrundmaterial und insbesondere eine längerfristige, gegenstandsbezogene Vergleichsmöglichkeit.

Insbesondere in der zweiten und dritten Phase der teilnehmenden Beobach-tung kamen zahlreiche Gespräche und Interviews mit diversen landespolitischen Akteuren hinzu. Dazu zählten neben dem landespolitischen Führungspersonal insbesondere zahllose Akteure innerhalb der Regierungsbürokratie, Journalisten und Fachkollegen. Dabei handelte es sich weniger um vorstrukturierte Interviews mit langer Vorlauf- und Planungszeit und strukturiertem Fragenkatalog, als um manchmal sehr kurzfristig oder auch zufällig zustande gekommene „Feldgesprä-che“ am Rande des normalen Beobachtungsprozesses (Flick 2006: 141–142). In der Anbahnung solcher Feldinterviews lag der besondere Vorteil der Methode der teilnehmenden Beobachtung: Erst durch den längerfristigen Kontakt und die dauerhafte Begleitung konnten Kontakte zu bestimmten Akteuren hergestellt werden. Diese Kontakte konnten im Verlauf des Forschungsprozesses genutzt werden, um im Rahmen geplanter Interviews weitere Fragen zu diskutieren und zu vertiefen. Insbesondere boten diese Feldgespräche auch eine erste Möglich-keit, theoretische Überlegungen und Beobachtungen mit Akteuren aus dem Feld zu spiegeln.

Drittens schließlich wurde auf ergänzende Dokumente wie Aktenmaterial, Terminvorbereitungen, Vermerke, Plenarprotokolle und Landtagsdrucksachen zurückgegriffen. Dabei handelte es sich sowohl um öffentlich zugängliches Ma-terial als auch um regierungsinterne Dokumente, die im Rahmen der Beobach-tungstätigkeit erschlossen werden konnten. Wie bei der Anbahnung der Feldge-spräche erwies sich der besondere methodische Zugang hier als wichtiger Tür-öffner, um auf dieses Datenmaterial zurückgreifen zu können.

Diese unterschiedlichen methodischen Zugriffen und Datenquellen lieferten zugleich die Grundlage für sich ergänzende Validierungsstrategien über unter-schiedliche Formen der Triangulation (Flick 2007b). Das damit verbundene Ziel ist, fundamentale Gütekriterien qualitativer Forschung – insbesondere die Indika-tion des Forschungsprozesses, reflektierte Subjektivität, empirische Verankerung und Kohärenz – zu erfüllen (Steinke 2007: 323–331; vgl. Bachmann 2009: 260).

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4.2 Methodischer Zugang 219

Mit dem Begriff der Validierung verbindet sich die Vorstellung, über die mög-lichst klare Herstellung von Transparenz zu den einzelnen Analyseschritten im Rahmen des Forschungsprozesses zur Validierung der Erkenntnisse beizutragen, statt sich an klaren und standardisierten Validitätskriterien zu orientieren (Flick 2006: 329; ausführlicher Steinke 2007: 319–321; Blatter et al. 2007: 137–138; Vaus 2001: 27–29).

Es können unterschiedliche Formen von Triangulation unterschieden wer-den (Denzin 1989; Flick 2006: 330–332), von denen hier zwei von besonderer Bedeutung sind. Zum einen geht es bei der „Datentriangulation“ darum, unter-schiedliche Datenquellen zur Analyse des gleichen Gegenstandes heranzuziehen. Für die vorliegende Arbeit äußerte sich diese Form der Triangulation darin, Da-ten aus der teilnehmenden Beobachtung, dem vertiefenden Aktenstudium, Feld-interviews sowie der Auswertung der Presseberichterstattung miteinander in Beziehung zu setzen und daraus weitergehende Erkenntnis abzuleiten. Zum an-deren erfolgt durch die Verwendung unterschiedlicher Mikrotheorien eine „Me-thodentriangulation“, die eine sich ergänzende und überlagernde Datensammlung ermöglichte. Dabei handelte es sich sowohl um eine implizite Form der Triangu-lation durch die parallele Verwendung unterschiedlicher Methoden als auch um eine explizite Variante, die gezielt bereits gewonnene Erkenntnisse im Zuge alternativer Methodenzugänge zu erhärten oder zu widerlegen suchte (Flick 2007b: 314). So wurden beispielsweise erste Zwischenergebnisse thesenartig zugespitzt im Rahmen von Feldinterviews diskutiert. Mit diesen beiden Formen der Triangulation verband sich eine erste Validierungsstrategie (Lüders 2007: 400). Ergänzt wurde diese durch den darüber hinausgehenden Versuch einer „kommunikativen Validierung“. Diese besteht darin, die Akteure des For-schungsfeldes im Anschluss an die Datenerhebung und ihre Auswertung noch einmal zu den abgeleiteten Ergebnissen zu befragen. „Der Gewinn an Authenti-zität liegt hier darin, dass einerseits die inhaltliche Zustimmung des befragten Subjekts zu seinen Aussagen eingeholt wird. Andererseits nimmt das Subjekt die Strukturierung der Aussagen im Sinne des gesuchten komplexen Zusammenhän-ge (…) selbst vor“ (Flick 2006: 325). Konnte dieses Verfahren auch nicht annä-hernd mit allen Akteuren vorgenommen werden, so stellten nach Abschluss des eigentlichen Forschungsprozesses durchgeführte Interviews mit Schlüsselakteu-ren der untersuchten Regierungsformation73 doch eine wichtige Ergänzung im

73 Diese abschließenden Interviews wurden im Dezember 2011 und Januar 2012 geführt. Als

Vorteil für die inhaltliche Offenheit der Gesprächspartner erwies sich nicht zuletzt der Umstand, dass im Zuge der Landtagswahl 2010 die Regierungsverantwortung erneut gewechselt hatte und insofern die meisten Interviewpartner nicht mehr unmittelbar in die Regierungsarbeit involviert waren. Damit stieg auch die Bereitschaft, bislang nicht artikulierte Einschätzungen preiszugeben. Vgl. hierzu grundsätzlich auch Grunden 2009: 73.

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220 4 Forschungsdesign und methodischer Zugang

Sinne einer methodischen Absicherung dar. Hierbei wurden gewonnene Er-kenntnisse und Einschätzungen sowie darauf abgeleitete Schlussfolgerungen diskutiert und auch die theoretischen Schlussfolgerungen vorgestellt. Nicht zu-letzt ermöglichten diese vorstrukturierten Interviews eine weitere inhaltliche Zuspitzung der zentralen Gegenstandsbereiche für die Darstellung im nachfol-genden Kapitel. Die dabei im Mittelpunkt stehenden institutionellen Transforma-tionsprozesse konnten nicht zuletzt durch die abschließende Reflexion dieser interviewten Akteursgruppe in Bezug zu den dahinter verborgenen kausalen Mechanismen gesetzt werden.

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5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive: Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse in der Analyse

Die nachfolgende Darstellung und theoretisch angeleitete Analyse der Transfor-mationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive im Anschluss an den Regierungswechsel 2005 verbindet die drei grundsätzlichen Ziele dieser Arbeit miteinander:

In empirischer Hinsicht geht es im Verlauf dieses Kapitels darum, Einsich-ten in institutionelle Transformationsprozesse entlang des untersuchten Falles zu gewinnen. Diese Analyse liefert damit konkretes Anschauungsmaterial für insti-tutionelle Stabilisierungs- und Wandlungsprozesse einer Kernexekutive und zugleich Innenansichten des Politikmanagements auf Landesebene. Sie vertieft insofern die Kenntnisse zum Regieren in den Ländern und erweitert damit das Wissen über ein neuentdecktes Forschungsfeld.

In theoretischer Hinsicht gilt es den Beweis anzutreten, dass der entwickelte gegenstandsbezogene Analyseansatz tatsächlich heuristisches Potential für die empirische Analyse entfaltet. Dabei zielt die weitere Verwendung dieser Heuris-tik in zwei Richtungen. Zum einen lenkt der Analysezugang den Blick fokussiert auf den Untersuchungsgegenstand. Er strukturiert damit sowohl die Suche nach konkreten Gegenstandsbereichen der Kernexekutive als auch nach Erklärungen für die beobachtbaren Transformationsprozesse und liefert folglich das analyti-sches Grundgerüst für die weitere Darstellung. Zum anderen muss der Analyse-ansatz seinerseits im Rahmen der empirischen Analyse einer kritischen Evaluati-on unterzogen werden, um die spezifischen Stärken und verbleibenden Defizite im Sinne der weiteren Theoriebildung offenzulegen. Die bisherige Darstellung des theoretischen Rahmens in Kapitel 3 hatte bewusst auf vertiefende empirische Illustrationen verzichtet. Diese weitere Verdichtung von theoretischer und empi-rischer Darstellung steht daher nachfolgend im Zentrum und macht entlang des konkreten Untersuchungsmaterials das konstruktive Zusammenspiel von empiri-scher Analyse und Theoriebildung deutlich. Denn: "Ultimately, the arguments we have put forward can only be evaluated through the analysis of concrete cases and actual episodes of institutional change" (Mahoney/Thelen 2010: 32).

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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222 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

In methodischer Hinsicht gilt es, die epistemologisch begründeten Ansprü-che der Prozessanalyse nun auch mikromethodisch einzulösen. Insofern spielen die spezifischen methodischen Vorteile der teilnehmenden Beobachtung sowie die daran anschließende methodische Tringulation insofern eine besondere Rolle, als aus diesen spezifische Erkenntnisse für die empirische Analyse gewonnen werden. Diese fließen explizit in die weitere Darstellung ein, ist doch die teil-nehmende Beobachtung aufgrund ihrer Defizite bei der Herstellung von Inter-subjektivität in besonderer Weise auf eine Reflexion ihrer Anwendung angewie-sen. Gewissermaßen als weiterführende Zielsetzung steht dahinter der Anspruch, diese Methode stärker als bislang für die Regierungsforschung zu erschließen.

Die weitere Darstellung gliedert sich in zwei Teilkapitel, die im Sinne vo-ranschreitender analytischer Abstraktion konzipiert sind:

In einem ersten Schritt (Kapitel 5.1) geht es darum, den zeitgeschichtlichen Kontext, die spezifischen Rahmenbedingungen der nordrhein-westfälischen Re-gierungsorganisation im Jahr 2005, die politischen Herausforderungen sowie die unmittelbare Startphase der neuen Regierungsformation zu skizzieren. Damit ist mehr gemeint als die analytische Verengung des politischen Kontextes auf poli-tische Vetostrukturen und ein eng gefasstes Verständnis des institutionellen Kon-textes im Sinne verbleibender Ermessensspielräume für politische Akteure in-nerhalb institutioneller Regelsystemen (vgl. Mahoney/Thelen 2010: 18–22). Es geht vielmehr um eine zeitgeschichtliche Einbettung der anschließend im Mittel-punkt stehenden Transformationsprozesse der Kernexekutive (ähnlich Grunden 2009: 69–70). Dazu gehören eine kurze Darstellung des Landtagswahlkampfes, des Wahlergebnisses 2005 und der längerfristigen landespolitischen Entwick-lungstrends (Kapitel 5.1.1) genauso wie ein Überblick über den Verlauf der an-schließenden Koalitionsgespräche (Kapitel 5.1.2). Ergänzend dargestellt werden Wegmarken der formalen Regierungsbildung wie die Wahl des Ministerpräsi-denten, die Entscheidungen zur Ressortverteilung und die personelle Zusammen-stellung des Kabinetts im Sinne der formalen Organisations- und Personalent-scheidungen des Ministerpräsidenten (Kapitel 5.1.3). Den letzten Punkt dieser einleitenden Darstellung bildet eine kurze Analyse der ersten Regierungserklä-rung des neuen Ministerpräsidenten, liefert sie doch einen Einblick in die Wahr-nehmung der anstehenden politischen Herausforderungen sowie der Schlüssel-themen und landespolitischen Herausforderungen für die neue Regierungsforma-tion (Kapitel 5.1.4). Die für die weitere Analyse zentralen Aspekte werden dann in einem Zwischenfazit zusammengefasst (5.1.5).

Im zweiten Schritt (Kapitel 5.2) steht dann die analytisch verdichtete Ana-lyse der institutionellen Transformationsprozesse der Kernexekutive entlang einzelner Gegenstandsbereiche im Mittelpunkt. Zumindest implizit erfolgt dies

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5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 223

zunächst durch einen Rückgriff auf die drei bereits bei der Darstellung des For-schungsstandes eingeführten Kategorien Zeit, Institutionen und Akteure:

Die zeitliche Dimension spielt insofern eine Rolle, als dass hinsichtlich der jeweils untersuchten institutionellen Regelsysteme unterschiedliche Zeithorizon-te für die Analyse identifiziert werden. Daraus ergeben sich beispielsweise län-gerfristige Rückgriffe auf institutionelle Regelsysteme vorhergehender nordrhein-westfälischer Regierungsformationen oder aber die erweiterte Vor-schau auf die weitere Institutionenentwicklung bis 2010. Diese im Zuge der empirischen Analyse zu begründende zeitliche Ausweitung ist vor allem not-wendig, um längerfristige Entwicklungstrends im Sinne von Pfadabhängigkeiten, sequentiellen Abfolgen und relevanten Kontexteinflüssen erfassbar zu machen und damit der zeitlichen Dimension im Sinne ihrer theoretischen Zuspitzung Rechnung zu tragen.

Die institutionelle Dimension findet insofern Beachtung, als über die bereits erfolgte abstrakte Identifikation relevanter institutioneller Regelsysteme hinaus zu begründen ist, welche Institutionen die Kernexekutive im untersuchten Fall tatsächlich konstituierten. Alle in der nachfolgenden Analyse berücksichtigten Gegenstandsbereiche müssen dahingehen begründet werden, als dass sie tatsäch-lich eine funktionale Rolle im Sinne der Regierungskoordination ausfüllen. Inso-fern trägt diese definitorische Aufgabenstellung im Zuge der empirischen Dar-stellung der Tatsache Rechnung, dass es nicht eine Kernexekutive, sondern je-weils unterschiedliche institutionelle Ausprägungen einer solchen funktionalen Struktur gibt.

Drittens schließlich müssen relevante Akteure der Kernexekutive identifi-ziert werden. Dabei geht es zum einen um die Frage, welche korporativen von individuellen Akteuren vertreten werden und inwieweit diese Vertretungsmacht eingeschränkt oder umstritten ist. Auch diese Frage ist nicht abstrakt zu beant-worten, sondern Bestandteil der empirischen Analyse. Zum anderen ergeben sich aus der spezifischen Rollenwahrnehmung der Akteure sowie den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich ihres Potentials zur Institutionengestaltung. Die Frage nach der Ausprägung unterschiedlicher Typen von Change-Agents ist folglich nicht alleine eine akteursspezifische Frage, sondern rückgebunden an die institutionelle Rahmen-bedingungen, unter denen Akteure operieren.

Die in diesem Dreiklang als relevant identifizierten institutionellen Regel-systeme der Kernexekutive werden prozessanalytisch untersucht. Zu diesem Zweck werden Regelsysteme der Kernexekutive analytisch voneinander getrennt und entlang des heuristischen Rahmens untersucht. Kernbestandteile dieser wei-teren Darstellung sind die Staatskanzlei als gewissermaßen „natürlicher“ Kern der Kernexekutive (Kapitel 5.2.1), die Institutionalisierung des Koalitionsmana-

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224 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

gements über formale und informelle Institutionen (Kapitel 5.2.2), der formale Exekutivverbund von Kabinett, Staatssekretärskonferenz und weiteren Regelsys-temen der regierungsformationsinternen Koordination einerseits und die etablier-ten Koordinationsinstitutionen zwischen Exekutive und Mehrheitsfraktionen der Regierungsformation sowie die parteiinternen institutionellen Regelsysteme, soweit ihnen für die Regierungsformation als Ganzes eine funktionale Bedeutung zukommt (Kapitel 5.2.3).

Wo immer möglich, erfolgt die Darstellung chronologisch, um Entwick-lungspfade, Veränderungen und Stabilisierungstrends, zentrale Wegmarken und zeitliche Zusammenhänge im Sinne der Prozessanalyse deutlich zu machen. Wenngleich eine idealtypische Trennung der oben genannten Gegenstandsberei-che für die Darstellung vorgenommen wird, existieren doch vielfältige Wechsel-beziehungen und Überschneidungen. Wann immer möglich, werden diese herge-stellt, so dass im Einzelfall die chronologische Darstellungsweise zurückgestellt wird.

Die entwickelten heuristischen Kategorien des Analyserahmens finden inso-fern unmittelbar Anwendung, als dass die entsprechenden Begrifflichkeiten mit der weiteren Darstellung direkt verbunden werden. Fokuspunkt sind dabei die Modi institutioneller Transformation, die zur übergreifenden Erfassung der je-weiligen Entwicklungstrends genutzt werden und das Ergebnis des Zusammen-spiels von institutionellen und akteursspezifischen Einflussfaktoren sind. Jenseits dieser heuristisch angeleiteten Darstellung geht es bei der prozessanalytischen Darstellung vor allem darum, kausale Mechanismen zu identifizieren, mit denen die beobachtbaren Transformationsprozesse erklärbar werden. 5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext: Politische

Herausforderungen und die Startphase der Regierungsformation74

„Die Bürgerinnen und Bürger haben […] am 22. Mai 2005 der Koalition der Mitte aus CDU und FDP ein klares Mandat für einen Politikwechsel gegeben. Sie wollen nicht, dass unser Land noch weiter zurückfällt. Sie erwarten einen Kurswechsel und eine Wende zum Besseren“ (Koalitionsvertrag 2005: 1).

So proklamierte die neue nordrhein-westfälische Regierungsformation aus CDU und FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Juni 2005 das Ziel eines Poli-tikwechsels nach der Landtagswahl 2005. Hintergrund dieses selbstdefinierten

74 Als Basis der nachfolgenden Darstellung in Kapitel 5.1 dient insbesondere Korte et al. 2006:

insb. 327-379. Hierbei handelt es sich, obwohl nicht entsprechend ausgewiesen, um einen in alleiniger Urheberschaft entstandenen Text des Autors.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 225

Arbeitsauftrages für die nächsten fünf Jahre war der Befund einer landespoliti-schen Vertrauenskrise in Folge der mutmaßlichen Handlungsdefizite der Vor-gängerregierungen. Seit 1995 hatten in Nordrhein-Westfalen rot-grüne Koalitio-nen regiert, zuletzt unter der Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsi-denten Peer Steinbrück. Für die nach der Landtagswahl 2005 nun stärkste Land-tagsfraktion der CDU ergab sich erstmals nach 39 Jahren wieder die Gelegenheit zur Übernahme von Regierungsverantwortung im größten deutschen Bundes-land. Seit der Wahl von Heinz Kühn zum Ministerpräsidenten im Jahr 1966 hatte sich die SPD schrittweise als dominante landespolitische Kraft etabliert und bis zur Landtagswahl 2005 mit Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinb-rück alle nachfolgenden Ministerpräsidenten des Landes gestellt (vgl. Brunn/ Reulecke 1996; Korte et al. 2006; Alemann 1985; Alemann/Brandenburg 2000).

Das Ruhrgebiet war dabei gewissermaßen die „Herzkammer“75 und strate-gisches Reservoir des landespolitischen Erfolgs der SPD gewesen. In den Groß-städten des Reviers hatte die SPD über Jahrzehnte hinweg Wahlergebnisse von deutlich über 50 Prozent erreichen können. Allerdings zeigt der Blick auf das nordrhein-westfälische Parteiensystem, dass Nordrhein-Westfalen keinesfalls als natürliches „Stammland“ der SPD zu bezeichnen war. Andere Regionen des Landes wie Ostwestfalen, der Niederrhein oder das Münsterland waren auch in den Zeiten absoluter sozialdemokratischer Mehrheiten im Land nahezu unein-nehmbare Hochburgen der CDU geblieben. Selbst im Ruhrgebiet hatte sich die SPD ihre dominante Position im Lauf der 1950er und 1960er Jahre zunächst mühsam gegen die katholische Arbeiterbewegung und weitere politische Mitbe-werber erkämpfen müssen. Vom medial häufig beschworenen „Stammland der SPD“ konnte also keineswegs pauschal die Rede sein. Anders als der CSU als über Jahrzehnte hinweg dominanter Regionalpartei in Bayern fehlten der SPD trotz ihrer seit den 1980er Jahren unangefochtenen landespolitischen Führungs-rolle alle strukturellen Merkmale einer echten Hegemonialpartei (vgl. Cou-manns/Kremer 2001; Kießling 2004: 224–243).

Erst ab 1980 hatte sich die SPD in der „Hegemonialphase“ (Korte et al. 2006: 52–55) des nordrhein-westfälischen Parteiensystems unter Führung von Johannes Rau in die dominante Landespartei verwandelt. Ihr Aufstieg war ge-bunden an die Abschwächung konfessioneller Konfliktlinien, die Strukturkrise der klassischen Industrien, eine optimale Mobilisierung der wachsenden Kern-wählerschaft und die Auswirkungen der sozialdemokratischen Bildungs- und Sozialpolitik. Ergänzend kam die überragende Popularität Johannes Raus als

75 Diese Formulierung wird Willy Brandt zugeschrieben. Zur Entwicklung des nordrhein-

westfälischen Parteiensystems und der Landesparteien siehe ausführlicher Korte et al. 2006: 39–59; vgl. hierzu weiterführend Rohe 1985; Bick 1985; spezifischer zur CDU in Nordrhein-Westfalen auch Hitze 2010; Neumann 2012: 193–293.

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226 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Ministerpräsident hinzu. Er hatte 1978 die Nachfolge Heinz Kühns angetreten und konnte angesichts stetig wachsender Popularität auch CDU-Sympathisanten bei Landtagswahlen auf die Seite der SPD ziehen. Die daraus resultierenden Wählerkoalitionen ließen die SPD bei den Landtagswahlen 1980, 1985 und 1990 absolute Mehrheiten erreichen. Zugleich hielt die SPD jedoch am „Prinzip der Akkommodierung“ fest, das auf Interessenausgleich, Proporz und Kompromiss auch unter Beteiligung der Opposition angelegt war (hierzu ausführlicher Alemann 2001; Alemann 2005a; Korte et al. 2006: 26–39).

Spätestens mit Beginn der 1990er Jahre jedoch begann der gesellschaftliche Strukturwandel, die bisherige Erfolgsbasis der SPD zu unterminieren. In einer Phase der zunehmenden „Lagerpolarisierung“ (Korte et al. 2006: 55–57) wurde die SPD 1995 zur Koalitionsbildung mit den Grünen gezwungen. Dieses Bünd-nis erwies sich weniger als Liebesheirat als vielmehr als „rot-grüne Zwangsro-manze (FAZ v. 16. Mai 1995; vgl. ausführlich Korte et al. 2006: 168ff). Trotz zwischenzeitlicher Avancen der SPD an die FDP, die vor allem von Wolfgang Clement als strategische Option ausgetestet wurden, verstärkte sich ab 1995 nicht zuletzt angesichts bundespolitischer Einflüsse die Lagerbildung von rot-grüner Landtagsmehrheit auf der einen und CDU und FDP als oppositionellem Gegenpol auf der anderen Seite. Der SPD gelang es zugleich immer weniger, ihre Stammwählerschaft zu mobilisieren und die heterogenen Mittelschichten wirksam zu integrieren.

Trotz dieses schleichenden Erosionsprozesses erschien der Wahlausgang 2005 wie ein Schockerlebnis: „Das ist mehr als ein Regierungswechsel, wie er in der Demokratie normal ist, möchte man meinen. Es ist eine Wende“ (Schmale 2005). Wenn nicht als „Herzstillstand“, um im Bild zu bleiben, so doch zumin-dest als „Kammerflimmern“ erschien das Abschneiden der SPD in der „Herz-kammer“ der Sozialdemokratie und die anschließende Übernahme der Regie-rungsverantwortung durch CDU und FDP. 5.1.1 Die Landtagswahl 2005: Wahlkampf und Wahlausgang76 5.1.1.1 Ausgangslage und Wahlkampf Der Landtagswahlkampf der SPD war ganz auf die Person ihres Ministerpräsi-denten zugeschnitten, denn Peer Steinbrück war der letzte verbliebene Trumpf, den die Sozialdemokraten in der Hand hatten. Kurz vor der Landtagswahl lagen 76 Zum Wahlsystem in Nordrhein-Westfalen siehe Korte 2009. Für Analysen zur Landtagswahl

vgl. u.a. Feist/Hoffmann 2006; Korte 2009: 78–79; Oberndörfer et al. 2005; Neu 2005; Forschungsgruppe Wahlen 2005; Infratest dimap 2005.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 227

seine persönlichen Zustimmungswerte deutlich vor denen des CDU-Herausfor-derers Jürgen Rüttgers. Laut Analyse der Forschungsgruppe Wahlen (2005: 31) konnte sich Steinbrück einen klaren Vorteil in der persönlichen Einschätzung gegenüber seinem Herausforderer erarbeiten. Auf einer Skala von +5 bis -5 wur-de der amtierende Ministerpräsident von den Befragten mit 1,7 bewertet, Rütt-gers erreichte einen Zustimmungswert von 0,7.

Mit dieser Bewertung korrespondierte der Wählerwunsch hinsichtlich der Person des Ministerpräsidenten. Steinbrück wünschten sich 49 Prozent der Wäh-ler als Ministerpräsidenten. Für Rüttgers sprachen sich hingegen 35 Prozent der Bürger aus (Forschungsgruppe Wahlen 2005: 30).77 Allerdings fiel der Amtsbo-nus Peer Steinbrücks im Vergleich zu anderen amtierenden Ministerpräsidenten geringer aus. Dies war zum einen auf die gesunkenen Zustimmungswerte für die SPD als Regierungspartei insgesamt zurückzuführen. Seit 2001 hatte die Landes-CDU in allen Umfragen stabil vor der nordrhein-westfälischen SPD gelegen (vgl. Neu 2005: 3). Zum anderen hatte Steinbrück nach der Übernahme des Mi-nisterpräsidentenamtes von seinem Vorgänger Wolfgang Clement nur etwa zweieinhalb Jahre Zeit gehabt, einen nennenswerten Amtsbonus und persönli-ches Prestige als Ministerpräsident aufzubauen. Insbesondere der Beginn seiner Amtszeit war dabei von koalitionsinternen Auseinandersetzungen zwischen SPD und Grünen bestimmt gewesen (hierzu ausführlicher Korte et al. 2006: 290–307; vgl. Florack 2010a: 164–165). Zudem hatten sich die Persönlichkeitswerte seines Herausforderers Rüttgers gegenüber der Wahl von 2000, bei der er erstmals für die Union als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten angetreten war, verbessert. Noch fünf Jahre zuvor hatten sich nur 24 Prozent der Bürger für ihn als Ministerpräsidenten ausgesprochen (Feist/Hoffmann 2001: 128) und der Abstand zum damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement betrug etwa 36 Prozentpunkte (Neu 2005: 5).

Unabhängig von der positiven Einschätzung Steinbrücks wurde die Arbeit der rot-grünen Landesregierung im Mai 2005 deutlich negativ bewertet. Entspre-chend der für die beiden Spitzenkandidaten herangezogenen Skala erreichte sie nur einen Wert von -0,3 Punkten. Wenngleich die Einschätzung der SPD mit -0,1 etwas besser war als die Gesamtbewertung der Regierungsarbeit, zeichnete sich damit eine klare Wechselstimmung ab. Verstärkt wurde dieser Trend durch die niedrigen Zustimmungswerte zur Performanz der Grünen, die mit -0,8 eine deut-lich negative Bewertung erfuhren (Forschungsgruppe Wahlen 2005: 25). Ledig-lich ein knappes Drittel der Wählerschaft zeigte sich am Wahltag noch mit der Arbeit der rot-grünen Koalition zufrieden (vgl. Daten in Neu 2005).

77 Infratest dimap ermittelte im Ländertrend 05/2005 eine Zustimmung von 45 Prozent für

Steinbrück und 29 Prozent für Rüttgers.

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228 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Neben der Arbeit der Landesregierung wurde auch die wirtschaftliche Lage des Landes eindeutig pessimistisch eingeschätzt. Angesichts der führenden Be-deutung dieses Themenfeldes im Vorfeld der Landtagswahl verstärkte sich damit die negative Ausgangssituation für die amtierende Landesregierung. Gefolgt von Arbeitsmarkt-, Schul- und Bildungspolitik sowie Fragen der sozialen Gerechtig-keit hatte für die Wähler die Wirtschaftspolitik in der „Bedeutungshierarchie die Spitze eingenommen“ (Feist/Hoffmann 2006: 169). Eine Mehrheit von 55 Pro-zent der Wähler hielt die wirtschaftliche Lage für „schlecht“ (2000: 15 Prozent). Weitere 40 Prozent konnten sich nur zu einer gemischten Einschätzung durch-ringen (2000: 59 Prozent). Lediglich vier Prozent und damit deutlich weniger Wähler als 2000 (2000: 23 Prozent) nannten die wirtschaftliche Lage hingegen „gut“ (Forschungsgruppe Wahlen 2005: 36). Diese Beurteilung stand im direkten zeitlichen Zusammenhang zur heftig umstrittenen Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Bundesregierung. Aufgrund der im Januar 2005 in Kraft getretenen Zu-sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wies die offizielle Arbeitslo-senstatistik zu Beginn des Wahljahres bundesweit fünf Millionen und in NRW über eine Millionen Erwerbslose aus. Der symbolischen Kraft dieser Zahlen hatten SPD und Grüne wenig entgegenzusetzen, wenngleich die direkten Steue-rungsmöglichkeiten des Landes in diesem Zusammenhang bestenfalls begrenzt waren.

Anders als bei der Bewertung der Spitzenkandidaten von SPD und CDU zeigte sich inhaltlich eine deutliche Kompetenzbeimessung der Wähler zuguns-ten der CDU und zulasten der SPD. Lediglich bei der Schaffung sozialer Gerech-tigkeit behauptete die SPD einen Kompetenzvorsprung gegenüber der CDU (44 zu 31 Prozent), wobei selbst hier der SPD von Seiten der erstmals zu einer Land-tagswahl antretenden Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) neue Kon-kurrenz erwuchs. In allen anderen als wichtig für die Wahlentscheidung einge-stuften Themenfeldern lag die CDU klar vorn. So trauten ihr 47 Prozent zu, den Wirtschaftsstandort NRW voranzubringen (SPD: 32 Prozent), 46 Prozent erwar-teten von der Union eine gute Schul- und Bildungspolitik (SPD: 34 Prozent) und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen war der Abstand in der Kompetenzbeimes-sung zwischen CDU (45 Prozent) und SPD (26 Prozent) noch größer. In den drei wahlentscheidenden inhaltlichen Themenfeldern zeigte sich folglich ein klarer Kompetenzvorsprung der größten Oppositionspartei. Der langfristige Trend zeigte hier zum Teil zweistellige Kompetenzverluste der SPD seit der Landtags-wahl 2000 (Feist/Hoffmann 2006: 170).

Verstärkt wurde diese landespolitisch schwierige Ausgangslage für die Landesregierung durch den bundespolitischen Stimmungstrend. Auch hier lag die Union deutlich vor der SPD und es zeichnete sich eine klare Ablehnung der rot-grünen Regierungspolitik ab. Die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte im

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 229

Politikbarometer vom 29. April 2005 bundesweit 48 Prozent Zustimmung für die Unionsparteien, die SPD kam hingegen nur auf 28 Prozent. Die von der rot-grünen Bundesregierung als wichtiger Stimmungstest angesehene Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 20. Februar 2005 brachte einen überraschenden Vor-sprung der CDU gegenüber der SPD und verstärkte damit den negativen Gesamt-trend noch weiter. Angesichts der Ausgangslage, dass in Nordrhein-Westfalen letztmalig vor der regulären Bundestagswahl im Jahr 2006 eine rot-grüne Lan-desregierung zur Wiederwahl antrat, zeigte sich vor diesen bundespolitischen Vorzeichen eine klare Orientierung auf einen „Lagerwahlkampf“ zwischen Rot-Grün auf der einen und Schwarz-Gelb auf der anderen Seite in Nordrhein-Westfalen (Feist/Hoffmann 2006: 164).

Der Opposition in NRW gelang es vor diesem Hintergrund, eine eindeutige Wechselstimmung zu erzeugen, die sich in einer „Rückkopplungsschleife zwi-schen öffentlicher und veröffentlichter Meinung“ (Feist/Hoffmann 2006: 165) immer weiter verstärkte. So sprachen sich kurz vor der Wahl am 22. Mai 2005 61 Prozent für einen Wechsel der Landesregierung aus. Nur 35 Prozent befür-worteten eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition (Ruhland 2005: 56). Über den gesamten Wahlkampfverlauf hinweg sprachen sich stets 50 Prozent und mehr für einen politischen Wechsel aus. Die von den Wählern erwarteten Aus-sichten für die SPD verschlechterten sich zudem kontinuierlich. Kurz vor der Wahl schätzten nur noch 12 Prozent der Wähler die Stimmung für die SPD als günstig ein (Feist/Hoffmann 2006: 165; vgl. ähnlich lautende Daten von Infratest dimap bei Neu 2005). Als Gesamtbild zeigte sich damit ein „rot-grünes Sünden-register ohne Beschönigung oder relativierende Entlastung“ und eine „schlechte Leistungsbilanz“ vor allem in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sowie eine kräftiger bundespolitischer Gegenwind aus Berlin (Feist/Hoffmann 2006: 168). Die Wahlkampfauseinandersetzung las sich damit „wie die Chronik eines angekündigten Machtwechsels“ (Feist/Hoffmann 2006: 170).

Die NRW-SPD reagierte auf diese Rahmenbedingungen, indem sie ihren Wahlkampf personalisiert auf Peer Steinbrück ausrichtete. Allerdings gelang es den Sozialdemokraten nicht, die guten persönlichen Werte für Steinbrück in einen positiven Trend für die Partei umzusetzen. Die wirtschaftspolitischen Re-formen der rot-grünen Bundesregierung im Rahmen der „Agenda 2010“ erweck-ten in der Kernklientel der Sozialdemokratie den Eindruck, die Partei hätte sich von ihren Werten und Grundsätzen fundamental abgewandt. Peer Steinbrück, der sich lange Zeit als „empathischer Modernisierer“ zu profilieren suchte, war für diese Wählergruppen keine Identifikationsfigur, da auch er in seiner inhaltlichen Ausrichtung als Vertreter dieser bundespolitischen Linie gesehen wurde. Auch der Versuch des SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering, mit der Warnung vor „Heuschreckenschwärmen“ internationaler Finanzinvestoren eine „Antikapi-

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230 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

talismus-Kampagne“ zu starten, konnte daran nichts mehr ändern. Zwar be-herrschte die Debatte über Wochen die mediale Agenda, aber der erhoffte Mobil-isierungseffekt für die SPD in NRW blieb weitgehend aus. Auch die beiden TV-Duelle der CDU- und SPD-Spitzenkandidaten brachten keine gravierende Ver-änderung der latenten Wechselstimmung (Feist/Hoffmann 2006: 170–171).

Diese Wechselstimmung erlaubte es dem CDU-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers vielmehr, einen harten Sparkurs, die schrittweise Streichung der Kohle-subventionen und den Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst anzu-kündigen, ohne Zustimmungsverluste hinnehmen zu müssen. Lediglich in der Bildungspolitik versprach der Herausforderer zusätzliche Ausgaben. Er betonte zugleich die Verbindung von „wirtschaftlicher Vernunft“ und „sozialer Gerech-tigkeit“ und positionierte die CDU damit unter expliziter Bezugnahme auf sozi-aldemokratische Grundwerte in der politischen Mitte. Inhaltlich beklagte die CDU die Leistungsbilanz mit einer „Trias von Zahlen als Sinnbild für das Ver-sagen der rot-grünen Landesregierung“ (Feist/Hoffmann 2006: 166): sie verwies immer wieder auf die Zahl von einer Million Arbeitslosen in NRW, fünf Millio-nen Stunden Unterrichtsausfall an den Schulen des Landes und die Schuldenlast des Landes von 110 Milliarden Euro. Wenngleich damit keine eindeutige Positi-onierung zu allen landespolitischen Fragen einherging, so demonstrierte die CDU unter Rüttgers Führung doch den klaren Anspruch, in einer Koalition mit der FDP die Regierungsverantwortung nach der Wahl zu übernehmen.

Die FDP mit ihrem Spitzenkandidaten Ingo Wolf und Parteichef Andreas Pinkwart konzentrierte sich auf Attacken auf die Grünen und nutzte den Frei-heitsbegriff als zentrales Motiv, um eine Abgrenzung von der amtierenden Lan-desregierung zu erreichen. Wie die CDU sprach sich auch die FDP mit einer offiziellen Koalitionsaussage für die Bildung einer schwarz-gelben Landesregie-rung aus und akzentuiere damit die an der Lagerpolarisierung ausgerichtete Wahlkampfführung. Die Grünen wiederum befanden sich in der Defensive. Das Führungs- und Ministerduo Bärbel Höhn und Michael Vesper setzte auf die Leistungsbilanz der Landesregierung, die allerdings durch die negative Bewer-tung der grünen Regierungsarbeit überschattet wurde. Zudem hatte sich die SPD nicht explizit auf die Bildung einer Neuauflage der rot-grünen Landesregierung festgelegt, sollte diese nach der Wahl rechnerisch möglich werden. Die Bilanz der bisherigen Regierungskoalition erwies sich insofern noch stärker als belas-tende Hypothek denn als Unterstützung, zeigte sich doch bei der SPD eine expli-zite Konkurrenzorientierung gegenüber dem bisherigen Regierungspartner.

Gleichzeitig erwuchs der SPD auf der linken Seite ein neuer Konkurrent um Wählerstimmen. Vor allem Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokraten gründeten die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die zwar keine realistische Chancen auf Landtagsmandate besaß, aber der SPD ent-

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 231

scheidende Prozentpunkte abzunehmen drohte. Sie griff das von der SPD in den Augen vieler Anhänger nicht mehr ausreichend besetzte Feld der sozialen Ge-rechtigkeit auf und sorgte für eine weitere Dynamik zugunsten der landespoliti-schen Herausforderer (Feist/Hoffmann 2006: 166–167). 5.1.1.2 Das Wahlergebnis, seine Bewertung und politische Konsequenzen Der Wahlabend des 22. Mai 2005 führte zu einem „doppelten Paukenschlag“ (Oberndörfer et al. 2005): Nicht nur bedeutete das Wahlergebnis das Ende der fast 39jährigen Regierungszeit der SPD im Land. Die größte Überraschung be-stand vielmehr in der Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Franz Münteferings noch am Wahlabend, vorgezogene Bundestagswahlen herbeiführen zu wollen. Fortan spielte das nordrhein-westfälische Wahlergebnis kaum mehr eine Rolle und wurde von der überraschenden bundespolitischen Dynamik politisch und medial vollkommen überlagert.

Dennoch stellte das Wahlergebnis vor allem eine landespolitische Zäsur dar. Das Ergebnis bedeutete einen triumphalen Sieg vor allem für die Union und ihren Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers. Mit 44,8 Prozent der Stimmen erzielte die CDU ihr bestes Ergebnis seit der Landtagswahl 1975, bei der sie 47,1 Pro-zent erhalten hatte. Gegenüber der Landtagswahl von 2000 konnte die Union 7,8 Prozentpunkte hinzugewinnen. Die SPD hingegen verlor 5,7 Prozentpunkte und erreichte lediglich noch 37,1 Prozent Stimmen. Die Sozialdemokraten erzielten damit das schlechteste Ergebnis bei einer nordrhein-westfälischen Landtagswahl seit 1954, wenngleich sie sich gegen den noch deutlich negativeren Bundestrend in Teilen immunisieren konnte. Auch die FDP verlor mit ihrem Spitzenkandida-ten Ingo Wolf 3,6 Prozentpunkte gegenüber dem herausragend guten Ergebnis von 2000 und erreichte nur noch 6,2 Prozent. Gleichauf lagen nun die Grünen, deren Verluste mit 0,9 Prozentpunkten geringer ausfielen. Die erstmals zur Landtagswahl angetretene WASG erreichte mit 2,2 Prozent ein durchaus beach-tenswertes Ergebnis, verpasste den Einzug in den Landtag gleichwohl deutlich.

Die Wahlbeteiligung stieg gegenüber der von 2000 an. Nach 56,7 Prozent fünf Jahre zuvor machten nun 63 Prozent der Wähler von ihrem Wahlrecht Ge-brauch. Vor allem die CDU profitierte von diesem deutlichen Anstieg der Wäh-lerstimmen. Sie erreichte nun mit 3.696.506 Stimmen insgesamt 984.330 Stim-men mehr als bei der vorhergehenden Landtagswahl. Die Zahl der absoluten Stimmen für die SPD hingegen blieb beinahe stabil. Sie verlor lediglich 84.191 Stimmen gegenüber ihrem Ergebnis von 2000. Angesichts der gestiegenen Wahlbeteiligung bedeutete diese Stagnation dennoch gravierende relative Ver-luste. Auch die Grünen blieben mit Blick auf die absoluten Wählerstimmen

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232 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

weitgehend stabil. Sie büßten lediglich 9002 Stimmen gegenüber ihrem vorher-gehenden Wahlergebnis ein. Die Stimmenverluste für die Liberalen fielen hinge-gen deutlich aus. 213.292 Wähler weniger sprachen ihnen das Vertrauen aus als noch bei der vorangegangenen Landtagswahl (Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW 2005a: 9). Tabelle 7: Landtagswahlergebnis 2005 für Nordrhein-Westfalen

(und Vergleich mit Landtagswahl 2000) CDU SPD FDP Grüne WASG

Stimmen in % 44,8 (+7,8)

37,1 (-5,7)

6,2 (-3,6)

6,2 (-0,9)

2,2

Stimmen in absoluten Zahlen

3.695.806 (+983.630

)

3.059.074 (-84.105)

508.354 (-213.204)

509.219 (-9.076)

181.886

LT-Mandate 89 (+1)

74 (-28)

12 (-12)

12 (-5)

0

Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW Waren im Wahljahr 2000 viele CDU-Sympathisanten unter dem Eindruck des CDU-Parteispendenskandals den Wahllokalen fern geblieben oder zur FDP ge-wechselt, gewann die Union 2005 laut Wählerwanderungsanalyse (siehe Feist/Hoffmann 2006: 175) per saldo 580.000 Stimmen ehemaliger Nichtwähler hinzu. Hinzu kamen etwa 270.000 ehemalige SPD-Wähler. Schließlich gelang es der CDU, im Jahr 2000 an die FDP verloren gegangene Wähler zurückzugewin-nen. Im Saldo ca. 170.000 Wähler, die fünf Jahre zuvor noch die Liberalen ge-wählt hatten, wechselten nun zur Union. Auch die SPD konnte von der gestiege-nen Wahlbeteiligung profitieren, jedoch nicht im gleichen Ausmaß wie die CDU. Aus dem Lager der Nichtwähler gewannen die Sozialdemokraten gut 130.000 Stimmen hinzu, weitere 74.000 ehemalige Grünen-Wähler wechselten ebenfalls zur SPD. Allerdings wanderten etwa 270.000 Wähler zur Union ab und machten damit ein Viertel der Unionszugewinne aus.

Trotz des klaren Sieges der Union konnte die SPD ihr absolutes Stimmen-ergebnis aus dem Jahr 2000 mit dem Verlust von nur etwa 80.000 Wählerstim-men weitgehend stabil halten. Allerdings offenbarte der Blick auf ihr Wählerpo-tenzial die ganze Dramatik des Wahlergebnisses aus Sicht der Sozialdemokraten. Nach Berechnungen der „Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg“ konnte die SPD nur noch 60 Prozent ihres Wählerpotenzials mobilisieren. Das Wahlergebnis zeigte „eine tiefe Entfremdung breiter Teile der städtischen Arbeiterschaft“ (Oberndör-fer et al. 2005: 2) von ihrer ehemaligen Partei. „Der Verlust der Landtagswahl

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 233

(…) geht in erster Linie auf die gezielte Distanzierung der Sozialdemokraten von ihrem traditionellen Politikansatz zurück“ (Oberndörfer et al. 2005: 4).

Dem Trend bei vorangegangenen Wahlen seit 1999 entsprechend, verloren die Sozialdemokraten vor allem bei ihren Stammwählern, der unteren Mittel-schicht. Die Verluste von jeweils elf Prozentpunkten bei Arbeitern und Arbeits-losen fielen fast doppelt so hoch aus wie die Stimmenverluste insgesamt. Zwar schnitt die SPD bei ihrer Stammklientel der Gewerkschaftsmitglieder mit 54 Prozent weiterhin überdurchschnittlich ab, aber auch hier verlor sie sieben Pro-zentpunkte gegenüber 2000. Nur bei der Gruppe Selbständigen konnte sie auf um 6 Prozentpunkte auf 23 Prozent zulegen, was aber die Verluste in den ande-ren Wählergruppen nicht ausgleichen konnte. Die CDU wiederum gewann vor allem in der Gruppe der Arbeiter mit neun Prozentpunkten deutlich zu und er-reichte hier nun 39 Prozent. Bei den Arbeitslosen gewann die Union mit eben-falls neun Prozentpunkten deutlich hinzu und rückte mit 34 Prozent nah an die SPD heran, die hier 36 Prozent der Stimmen erreichte. In fast allen Wählergrup-pen legte die Union zum Teil deutlich zu und gewann sogar bei den Gewerk-schaftsmitgliedern in nennenswerten Umfang Unterstützung (Forschungsgruppe Wahlen 2005).

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Analyse des Wahlergebnisses nach Altersgruppen. Auch hier konnte die CDU in fast allen Altersgruppen Stimmen hinzugewinnen. Besonders stark waren die Zuwächse mit elf Prozent-punkten bei den 35- bis 45-Jährigen. Lediglich bei den 18- bis 25-Jährigen verlor die Union einen Prozentpunkt und lag in dieser Altersgruppe hinter der SPD. Klar überdurchschnittlich schnitten die Christdemokraten bei den über 60-Jährigen ab, wo sie 52 Prozent der Stimmen erreichten (vgl. Landesamt für Da-tenverarbeitung und Statistik NRW 2005a: 8).

Schließlich gelang es der Union, bei den Wählerinnen erfolgreich zu sein. Mit 51,3 Prozent stellten die Frauen die Mehrheit unter den CDU-Wählern und bei den Wählerinnen wurde die CDU mit 43,6 Prozent zur stärksten Kraft vor der SPD, die 38,4 Prozent der Frauen für sich gewinnen konnte (Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW 2005a).

Regional betrachtet konnte die SPD lediglich im Ruhrgebiet ihre traditionel-len Hochburgen halten. Jedoch büßte sie auch in den meisten Revierstädten an Stimmen ein. Die CDU hingegen konnte landesweit in allen Wahlkreisen zule-gen. Sie hielt ihre ländlichen Hochburgen, konnte die SPD aber auch in einigen Großstädten auf Distanz halten. Neben dem Ruhrgebiet blieb die SPD nur in Bielefeld (Wahlkreis I), Köln und dem Wahlkreis Minden-Lübbecke II stärkste Partei. Während die SPD im Wahlkreis von Peer Steinbrück mit 55,9 Prozent das beste Ergebnis landesweit erzielte, erreichte die CDU in sieben Wahlkreisen

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mehr als 60 Prozent (Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW 2005b: 160–165).

Hinsichtlich der Mandatsverteilung im Landtag gab es nicht alleine auf-grund des Wahlergebnisses gravierende Verschiebungen. Der Landtag hatte bereits im März 2002 die Zahl der Wahlkreise von 151 auf 128 verringert, was im Lichte des Wahlergebnisses von 2005 zu einer Verringerung der Gesamt-mandate auf 187 (2000: 231 Mandate) führte. Die CDU gewann 89 Direktman-date und erreichte damit drei Überhangmandate, die durch die gleiche Zahl an Ausgleichsmandaten für die SPD kompensiert wurde. Die SPD, die bei der Wahl 2000 noch 102 der 151 Wahlkreise direkt für sich entscheiden konnte, gewann nur noch auf 39 Direktmandate. Die verbleibenden 35 Sitze wurden folglich über die Reserveliste vergeben. FDP und Grüne kamen auf jeweils 12 Mandate, wo-mit sich die Zahl der über die Reservelisten besetzten Mandate für die Grünen um fünf verringerte und die der FDP gar halbierte (Landesamt für Datenverarbei-tung und Statistik NRW 2005b: 150). CDU und FDP erreichten damit im Land-tag eine komfortable Mehrheit von 15 Mandaten.

Trotz der deutlichen Verkleinerung des Landtages gelang es der Union, ein Mandat hinzuzugewinnen. Allerdings führten der Wahlerfolg und der Gewinn der zahlreichen Direktmandate zu erheblichen personellen Konsequenzen inner-halb der CDU-Fraktion. Das in der vorangegangenen 13. Legislaturperiode durch 19 Abgeordnete vertretene Ruhrgebiet wurde nun lediglich noch durch drei Mandatsträger repräsentiert. Einigen prominenten Landespolitikern der CDU, die kein Direktmandat erringen konnten, blieb der Einzug in den Landtag verwehrt. So gelang weder dem Landesschatzmeister und bislang stellvertretenden Frakti-onsvorsitzenden Lothar Hegemann, noch dem ehemaligen Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Regina van Dinther oder der designierten Wirtschaftsministerin Christa Thoben der Einzug in den Landtag. In der Fraktion gab es bereits kurz nach der Wahl Befürchtungen, zahlreiche Kabinettsposten müssten nun als Kompensation für die Unterrepräsentation in der Fraktion mit Ruhrgebietsvertretern besetzt werden (GA v. 24.05. 2005). Zudem waren die Frauen mit elf Abgeordneten in der Frak-tion deutlich unterrepräsentiert. Die Frauenunion beklagte dieses Ergebnis und zeigte sich „geschockt“, was den Wahlsieger Rüttgers in der ersten Sitzung der neu gewählten Fraktion am 24. Mai 2005 dazu veranlasste, den Frauen eine an-gemessene Kompensation in Aussicht zu stellen, ohne dabei allerdings konkrete Vorschläge zu machen (taz v. 25.05.2005).

Insgesamt war das Wahlergebnis vor allem ein herausragender Triumph für die CDU. Diese drückte sich in der entsprechenden publizistischen Kommentie-rung aus: „Das Erdbeben vom Rhein“ (SZ v. 23.05.2005) führte zu einer „Zei-tenwende an Rhein und Ruhr“ (Welt v. 23.05.2005). „Der Tag, an dem das rote

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 235

Herz stehen blieb“ (Tagesspiegel v. 23.05.2005) schleifte „die wichtigste Basis-station der deutschen Sozialdemokraten“ (BZ v. 23.05.2005). Die FAZ titelte folglich: „Eine Ära geht zu Ende“ (FAZ v. 24.05.2005).

Durch die Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering noch am Wahlabend, Bundestagsneuwahlen anzustreben, war zudem die unmittelbare bundespolitische Bedeutung der Landtagswahl offensichtlich geworden. Die Signalwirkung ergab sich insbesondere aus der Tatsache, dass mit der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nun das letzte rot-grüne Regierungs-bündnis auf Landesebene abgewählt worden war. Lediglich auf Bundesebene war die Mehrheitsfähigkeit des Bündnisses aus SPD und Grünen formal noch gewährleistet. Allerdings versetzten die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen der Regierungskoalition in Berlin einen schweren Schlag.

Die beiden Spitzenkandidaten von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen unterstrichen diese bundespolitische Signalwirkung nachdrücklich. Sowohl Jür-gen Rüttgers als auch Andreas Pinkwart verwiesen explizit auf die bundespoliti-sche Bedeutung Nordrhein-Westfalens und bezogen sich damit implizit auf die Rolle Nordrhein-Westfalens als „Vorbote und Testgelände“ (FAZ v. 23.05.2005) bundespolitischer Entwicklungen seit den 1960er Jahren.78

Mit Blick auf die Landespolitik erklärte Rüttgers am Wahlabend:

„Mir kommt es darauf an, dass Nordrhein-Westfalen ein Land der neuen Chancen wird, ein Land der neuen Chancen bei Arbeit, (…) bei Bildung, aber auch bei Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, also beim Abbau von Bürokratie. Das werden die drei Schwerpunkte unserer Arbeit in den nächsten Monaten sein“ (ZDF heute-Journal v. 22.05.2005).

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens seiner Partei bei der Wähler-gruppe der Arbeiter erklärte Rüttgers zudem selbstbewusst: „Der Vorsitzende der Arbeiterpartei bin ich“ (zit. nach Handelsblatt v. 24.05.2005). Rüttgers machte sich damit implizit ein sozialpolitisches Versprechen seines designierten Arbeits- und Sozialministers Karl-Josef Laumann zu eigen, der vor der Wahl erklärt hatte, NRW müsse wieder „zum sozialen Gewissen“ der Bundesrepublik werden (Welt kompakt v. 24.05.2005).

Wenngleich der Wahlsieg der CDU nur begrenzt auf die Person Jürgen Rüttgers zurückzuführen war, verband sich der Wahlerfolg der CDU doch unmit-telbar mit der Person ihres Spitzenkandidaten und designierten Ministerpräsiden-

78 Zahlreiche bundespolitische Entwicklungen wurden in NRW vorweggenommen. Dazu

gehörten insbesondere die Vorwegnahme bundespolitischer Koalitionsformate wie die Bildung einer sozialliberalen Koalition 1966 und einer rot-grünen Koalition 1995.

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236 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

ten. Zwar gaben nur 19 Prozent der Wähler an, der Kandidat sei ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung gewesen. Eine deutlich größere Zahl von 46 Prozent nannte die Programmatik als entscheidendes Kriterium für ihre Stimmabgabe (Infratest dimap 2005). Die „Auferstehung der CDU“ war aber trotzdem zugleich „die Auferstehung eines Mannes, den viele auch in der eigenen Partei nach sei-ner Niederlage bei der Landtagswahl 2000 längst abgeschrieben hatten“ (SZ v. 23.05.2005). Der Wahlerfolg stärkte Rüttgers innerparteilich den Rücken. Ange-sichts der bundespolitischen Bedeutung Nordrhein-Westfalens wurde Rüttgers darüber hinaus beinahe automatisch zu einem wichtigen bundespolitischen Machtfaktor innerhalb seiner Partei.

Aus dem Wahlergebnis ließen sich erstens Konsequenzen für das künftige Regierungsprogramm ableiten. Mit der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, der Schulpolitik und dem Ziel des Bürokratieabbaus hatte die CDU mit ihrem Spit-zenkandidaten Rüttgers drei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, bei denen sie auch in der Wahrnehmung der Wähler einen klaren Kompetenzvorsprung gegenüber der SPD besaß. Diese Policy-Akzentuierung war durch das Wählervotum nach-drücklich unterstützt worden. Zudem hatte Rüttgers die Programmatik eng mit seiner Person und einer Betonung sozialpolitischer Kompetenz der CDU verbun-den. Dies hatte er durch die Nominierung des Sozialpolitikers und CDA-Vorsitzenden Laumanns als Arbeits- und Sozialminister auch in personalpoliti-scher Hinsicht unterstrichen. Wenngleich bei den zentralen inhaltlichen Fragen große Übereinstimmung mit der FDP vorherrschte, so stellte sich doch die Frage nach der inhaltlichen Verträglichkeit einer sozialpolitischen Akzentuierung mit der deutlich wirtschaftsliberaler ausgerichteten FDP.

Zweitens hatte das Ergebnis der Landtagswahl koalitionsdemokratische Im-plikationen für die Regierungsbildung. Sowohl CDU als auch FDP waren mit einem klaren Bekenntnis zu einer schwarz-gelben Koalition in den Wahlkampf gezogen. Beide Parteien waren zudem bemüht gewesen, sich deutlich von der konfliktbeladenen rot-grünen Vorgängerkoalition abzugrenzen. Der Wahlerfolg des schwarz-gelben „Gegenmodells“ verpflichtete beide Parteien nun dazu, die-sem selbstgesteckten Anspruch auch gerecht zu werden. Die Gewichte zwischen beiden Parteien hatten sich durch das Wahlergebnis jedoch gegenüber der voran-gegangenen Legislaturperiode verschoben. Die Wähler hatten die CDU eindeutig auf Kosten der FDP gestärkt, die Union hatte sich gegenüber der FDP damit zunächst einen klaren strategischen Vorteil erarbeitet.

Drittens hatte das Wahlergebnis Implikationen für die parteiinterne Macht-architektur der künftigen Regierungsparteien. Wie schon sein Amtsvorgänger Johannes Rau und anders als Wolfgang Clement und Peer Steinbrück konnte Rüttgers nun den Vorsitz seiner Partei und das Ministerpräsidentenamt auf sich vereinigen. Nicht zuletzt daraus erwuchs eine besondere parteiendemokratische

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 237

Legitimation des künftigen Regierungshandelns sowie des designierten Regie-rungschefs. Diese erschien umso bedeutsamer, als Rüttgers bis 2004 auch in der eigenen Partei nicht unangefochten gewesen war. Zugleich beinhaltete das Wahlergebnis parteiendemokratische Imperative, die im Zuge der Regierungs-bildung nicht ignoriert werden konnten. Hierzu gehörten beispielsweise innerpar-teiliche Proporzaspekte, die es zu berücksichtigen galt. Die unmittelbar im An-schluss an die Landtagswahl aufkommende Problematisierung der Unterreprä-sentation von Frauen und Vertretern der Ruhrgebiets-CDU innerhalb der CDU-Landtagsfraktion sowie das Austarieren der unterschiedlichen Parteiflügel waren entsprechende Vorboten.

Viertens schließlich brachte der Wahlausgang eine entscheidende Verände-rung der politischen Rahmenbedingungen für die anstehende Regierungsbildung mit sich. Durch die Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen wurde die Startphase der neuen Landesregierung bundespolitisch überlagert. Die Landespo-litik, durch die Landtagswahl zunächst in den Mittelpunkt bundespolitischer Debatten gerückt, fand nur noch am Rande Beachtung. Der Bundestagswahl-kampf wurde noch am Wahlabend eingeläutet, was die Handlungsmöglichkeiten der neuen Landesregierung unmittelbar beeinflusste. Die neue Regierungsforma-tion sah sich mit einem veränderten Zeitplan, grundlegend veränderten Rahmen-bedingungen und der weitgehenden Nichtbeachtung der Landespolitik in den kommenden Wochen und Monaten konfrontiert. 5.1.2 Die Bildung der Regierungsformation: Koalitionsverhandlungen und

Ansätze des Koalitionsmanagements 5.1.2.1 Phasen des Koalitionsbildungsprozesses Ergebnis der Landtagswahl war eine deutliche Mehrheit für ein Regierungs-bündnis aus CDU und FDP. Im Sinne eines vollständigen Machtwechsels ergab sich die rechnerische Möglichkeit zur Bildung einer Regierungsformation allein dieser beiden vormaligen Oppositionsparteien. Zugleich waren beide Parteien mit genau diesem Vorhaben angetreten und hatten bereits im Wahlkampf klare Koalitionsaussagen im Sinne einer künftigen Zusammenarbeit abgegeben. Damit war die Koalitionsbildung faktisch bereits vor der Landtagswahl eingeleitet wor-den. In Anlehnung an eine Systematisierung der Koalitionsforschung (Kropp 2001a: 59) lassen sich für den vorliegenden Fall skizzenhaft drei unterschiedli-che Phasen bei der Koalitionsbildung unterscheiden: Eine erste Phase umfasst sowohl die Vorstellung der jeweiligen programmatischen Grundsätze der kon-kurrierenden Parteien als auch mögliche Erklärungen zu Koalitionsabsichten.

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238 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Eine zweite Phase beinhaltet informelle Sondierungsgespräche und innerparteili-che Vorbereitungen von Koalitionsgesprächen, bevor diese in einer dritten Phase offiziell geführt und im Regelfall durch die schriftliche Vereinbarung eines ge-meinsamen Regierungsprogramms abgeschlossen werden. Phase 1: Koalitionsaussagen und informelle Vorabsprachen Sowohl CDU als auch FDP waren mit einer durch Beschlüsse von Landespartei-tagen abgesicherten Koalitionsaussage in die heiße Wahlkampfphase gegangen. Der CDU-Landesvorsitzende Jürgen Rüttgers hatte bereits im April 2004 und damit mehr als ein Jahr vor dem Landtagswahltermin erklärt, sein Ziel sei die Bildung einer schwarz-gelben Koalition. Diese sei im Gegensatz zu einer mögli-chen Großen Koalition mit der SPD ein eindeutiges Zeichen für den seines Er-achtens notwendigen politischen Wechsel im Land (Ruhland 2005: 27). Im An-schluss an die Landtagswahl 2000 war die damit artikulierte Wunschkoalition für die CDU allerdings noch keine gesicherte Option gewesen. Unter der Führung ihres damaligen Landesvorsitzenden Jürgen Möllemanns hatte sich die FDP die Koalitionsbildung mit der SPD als Option offengehalten und auch auf Seiten der SPD hatte es durch Wolfgang Clement wiederholt entsprechende Avancen gege-ben (ausführlicher Korte et al. 2006: 248–255). Anders als in der lagerpolarisier-ten Wahlkampfauseinandersetzung 2005 hatte Clement als amtierender Minis-terpräsident 2000 offensiv mit einer sozial-liberalen Bündnisoption gespielt, sich dann aber nicht zuletzt unter Gesichtspunkten der bundespolitischen Signalwir-kung doch für die Fortsetzung der bestehenden rot-grünen Koalition entschlos-sen. Nach dem Rücktritt Möllemanns als FDP-Landesvorsitzender im Oktober 2002 hatte Jürgen Rüttgers daher die Gelegenheit genutzt, enge und direkte Kon-takte zur FDP unter der Führung ihres neuen Landesvorsitzenden Andreas Pinkwart aufzunehmen. Wenngleich der CDU-Landesvorsitzender parallel auch immer wieder den Kontakt zu den Grünen als weiterem potentiellen Bündnis-partner gesucht hatte, deutete sich schon früh eine Präferenz für die FDP als Bündnispartner an (Kronenberg 2009: 171). Konkretisiert wurden diese Planun-gen durch ein Treffen der beiden Landesparteivorsitzenden Anfang Juli 2004. In Anwesenheit der CDU-Bundesvorsitzenden Angela Merkel und des FDP-Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle vereinbarten Jürgen Rüttgers und And-reas Pinkwart Anfang Juli 2004 in Berlin schließlich informell die Zielsetzung einer schwarz-gelben Koalition nach der Landtagswahl 2005, sollte das Ergebnis dies ermöglichen (WamS v. 19.06.2005). Ganz in diesem Sinne sprach sich auch Landesparteitage beider Parteien für die Bildung einer schwarz-gelben Koalition aus, obwohl es aus der FDP durchaus kritische Stimmen zu dieser strategischen

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 239

Ausrichtung gab (Ruhland 2005: 44). In der Wahrnehmung der beteiligten Ak-teure handelte es sich dabei keineswegs um eine Selbstverständlichkeit, sondern vielmehr um einen wechselseitigen Vertrauensvorschuss, der auch die weitere Arbeit der Koalition prägen sollte (Florack 2006b: Frage 7). Angesichts der posi-tiven Stimmungslage in den Monaten vor der Landtagswahl trafen sich die Spit-zen beider Parteien am Vorabend der Landtagswahl 2005 zu einem weiteren vertraulichen und informelle Vorgespräch. Für die CDU nahmen Rüttgers und der Parlamentarische Geschäftsführer der Landtagsfraktion und zugleich enge Vertraute Rüttgers‘, Helmut Stahl, an diesem Treffen teil. Die FDP wurde von ihrem Spitzenkandidaten Ingo Wolf und Parteichef Pinkwart vertreten (Kronen-berg 2009: 185–186). Das Ergebnis der Landtagswahl am nachfolgenden Tag machte es dann möglich, die bei dieser Gelegenheit konkretisierten Planungen in die Tat umzusetzen. Phase 2: Kurze Sondierungsgespräche Die zweite Phase der Koalitionsbildung, der Beginn informeller Sondierungsge-sprächen zur Vorbereitung von Koalitionsverhandlungen, wurde noch am Wahl-abend eingeleitet. Erneut in der Viererrunde des Vortages verabredeten die Ver-treter beider Parteien die Aufnahme von Koalitionsgesprächen in den folgenden Tagen (Kronenberg 2009: 185–186). Im Sinne einer Vorsondierung für die ei-gentlichen Verhandlungen trafen sich die Parteispitzen drei Tage nach der Wahl erneut, um die allgemeinen Verhandlungspositionen beider Parteien sowie den Zeitplan der anstehenden Koalitionsgespräche zu besprechen (WN v. 26.05.2005).

Die kurzfristige Vereinbarung dieser Auftakttermine war nicht zuletzt bun-despolitischen Einflussfaktoren geschuldet. Die Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen setzte die Parteien unter zusätzlichen Druck, das avisierte Regierungsbündnis in Düsseldorf im Sinne symbolischer Politik kurzfristig auch für Berlin zu einem Modell zu machen. Rüttgers erklärte nicht zuletzt mit Blick auf diesen Vorbildcharakter Nordrhein-Westfalens, „bis zur Bundestagswahl schon einiges vorweisen“ zu wollen (GA v. 26.05.2005; vgl. NRZ v. 24.05.2005; WDR 5 v. 23.05.2005). Ein zweiter Grund für den eng getakteten Zeitplan lag in der bewussten Abgrenzung beider Parteien von der Vorgängerregierung. SPD und Grüne hatten sowohl 1995 als auch 2000 lange und streitige Koalitionsver-handlungen geführt und dabei auch öffentlich große inhaltliche Differenzen offenbart. CDU und FDP ging es folglich auch darum, sich von diesen Vorbil-dern zu distanzieren und symbolisch Handlungsfähigkeit und Einigkeit zu de-monstrieren.

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240 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Ganz in diesem Sinne betonten beide Seiten nach den ersten Gesprächen die gute und partnerschaftliche Atmosphäre (NRZ v. 26.05.2005; WA v. 26.05.2005; Handelsblatt v. 26.05.2005; NRZ v. 24.05.2005; bestätigend auch Florack 2006b: Frage 7). Um sich darüber hinaus von den konfliktgeladenen rot-grünen Koalitionsverhandlungen abzugrenzen, verwiesen CDU und FDP auf das hohe Maß an programmatischer Übereinstimmung. So erklärte Jürgen Rüttgers: „In den zentralen Bereichen Arbeit, Wirtschaft, Finanzen, Bildung und Sicherheit gibt es zwischen den beiden Parteien keine unüberwindbaren Schwierigkeiten“ (FTD v. 24.05.2005).

Ein landespolitischer Dissens zwischen beiden Parteien bestand jedoch in der Frage nach der zukünftigen Ausrichtung der Kohlepolitik. Die FDP forderte den vollständigen Abbau der Kohlesubventionen und in der Folge ein schnelles Auslaufen des Steinkohlebergbaus. Die CDU nahm hier eine weniger offensive Position ein, wenngleich sie im Grundsatz eine ähnliche Positionierung vorge-nommen hatte. Darüber hinaus gab es Differenzen in Fragen der Stammzellen-forschung, über die Zahl der einzustellenden Lehrer, über die künftige Polizei-struktur des Landes und über den weiteren Umgang mit den Gewerkschaften (vgl. NOZ v. 26.05.2005; NRZ v. 24.05.2005; WDR 5 v. 23.05. 2005).

Trotz dieser bestehenden Differenzen verständigte man sich im Rahmen der Sondierungsgespräche auf einen sehr ambitionierten Zeitplan zum Abschluss der Koalitionsgespräche. Die Koalitionsverhandlungen sollten bereits am 27. Mai 2005 und damit fünf Tage nach der Wahl beginnen und nach zehn Verhand-lungsrunden abgeschlossen sein. Landesparteitage von CDU und FDP sollten, so das Vorhaben, am 18. Juli 2005 über die erarbeitete Koalitionsvereinbarung entscheiden.

Neben diesen organisatorischen Vorarbeiten nutzten die Verhandlungspart-ner die Zeit, um ihre Verhandlungspositionen abzustimmen. So verwies Jürgen Rüttgers angesichts der Zugewinne für seine Partei und der Einbußen der FDP auf die relative Stärke der CDU gegenüber dem künftigen Koalitionspartner. Explizit wies er zudem darauf hin, dass die CDU alleine mehr Mandate im Land-tag errungen habe als SPD und Grüne zusammen (FTD v. 24.05.2005). Zudem markierte er inhaltliche Leitlinien für die Verhandlungen. Rüttgers verwies auf den Reformwillen der Koalition und erklärte: „NRW bleibt, was es ist, aber nicht, wie es ist“ (zit. nach GA v. 26.05.2006). Mit diesem Bekenntnis zu Konti-nuität und Veränderung zugleich gab der designierte Ministerpräsident zudem einen Vorgeschmack auf seinen künftigen Regierungsstil. Er nutzte die Sondie-rungsphase, den schon im Wahlkampf formulierten sozialpolitischen Anspruch der CDU zu erneuern und unmittelbar mit seiner Person zu verbinden. Rüttgers verwies darauf, man wolle „wirtschaftliche Vernunft mit sozialer Gerechtigkeit verbinden“ (zit. nach Handelsblatt v. 24.05.2006), und dass er persönlich für

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 241

diese Verbindung stehe. Konkrete inhaltliche Vorgaben für die weiteren Gesprä-che machte aber keine Seite im Rahmen der Sondierungsphase. Lediglich die künftige Aufspaltung des bisherigen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit wurden bereits in Aussicht gestellt (Handelsblatt v. 24.05.2005). Phase 3: Zügige Koalitionsverhandlungen Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und FDP begannen wie geplant am 27. Mai 2005. Als Ort für die Gespräche wählten die Verhandlungspartner auf-grund ihrer „landespolitischen Bedeutung“ die Villa Horion aus (RP v. 03.06. 2005), in der bis zur Amtsübernahme Wolfgang Clements als Ministerpräsident die Staatskanzlei lokalisiert war. Im Sinne einer symbolpolitischen Aussage war diese Entscheidung zum einen als Zeichen der landespolitischen Kontinuität zu verstehen, stand doch die Villa Horion angesichts der Vorgeschichte als Staats-kanzlei für „das alte NRW“ (SZ v. 27.05.2005).Wenn auch nicht unbedingt ein Zeichen für landespolitische Nostalgie, so war es doch zumindest eine Reminis-zenz an den langjährigen Ministerpräsidenten Johannes Rau (SZ v. 17.06.2005). Zum anderen passte „die Wiederentdeckung der alten Regierungszentrale zu dem angekündigten Regierungsstil einer neuen Sachlichkeit und Bescheidenheit. Mehr Rau als Clement, das ist das Motto des künftigen CDU-Ministerpräsiden-ten Rüttgers“ (SZ v. 27.05.2005; vgl. KStA v. 28.05. 2005).

Im Sinne der Abgrenzung der neuen Regierungsformation von den sozial-demokratisch dominierten Vorgängerregierungen musste die Wahl des aufgrund seiner Lage als „Pförtnerhäuschen von Mannesmann“ verspotteten Gebäudes aber zugleich „wie eine ‚feindliche Übernahme‘ auf Sozialdemokraten“ wirken. Denn genau zehn Jahre nach der Bildung der ersten rot-grünen Landesregierung in NRW fand an ebenderselben Stelle die „neue Farbenlehre“ Anwendung (NRZ v. 28.05.2005).

Gegenstand der ersten Runde der Koalitionsverhandlungen war neben ers-ten inhaltlichen Verhandlungen über die Themenfelder Wirtschaft und Arbeit die Besprechung der konkreten Zeitplanung. Beide Seiten einigten sich darauf, Son-derparteitage am 18. Juni 2005 über das zu erarbeitende Verhandlungspaket abstimmen zu lassen. Somit blieben rund drei Wochen, um die anstehenden Gespräche zu einem für beide Seiten befriedigenden Ergebnis zu führen. Die offizielle Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung sollte dann am 20. Juni erfolgen (WR v. 28.05.2005). Insofern verständigte man sich auf eine detaillierte Zeitplanung für die weiteren Gespräche, stimmte die Teilnehmerschaft für die unterschiedlichen Verhandlungsformationen ab und einigte sich auf den weiteren Umgang mit der Öffentlichkeit während der laufenden Koalitionsverhandlungen.

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242 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.1.2.2 Merkmale und zentrale Wegmarken der Koalitionsverhandlungen In Struktur, Ablauf und inhaltlicher Gestaltung zeigten sich in der weiteren Folge einige typische Charakteristika von Koalitionsverhandlungen (Kropp 2001b: 65–67):

Erstens verständigten sich CDU und FDP auf eine klar abgegrenzte Teil-nehmerschaft sowohl der Verhandlungskommission als auch der zugeordneten Facharbeitsgruppen. Dabei wurde unterschieden zwischen der eigentlichen Ver-handlungsgruppe aus jeweils sechs Vertretern beider Parteien und nachgelager-ten Arbeitsgruppen, die sich mit fachlichen Fragen auseinandersetzen sollten. Nicht zuletzt von der FDP wurde dabei als prägend für die weitere Koalitionsar-beit wahrgenommen, dass es eine Einigung auf das „Prinzip der gleichen Reprä-sentanz“ (Interview Pinkwart: Frage 1) beider Parteien gab. CDU und FDP soll-ten sich auf Augenhöhe begegnen, was auch durch die entsprechende Anlage der Verhandlungen unterstrichen wurde.

Zweitens einigten sich die Verhandlungspartner auf klare Zeit- und Ablauf-pläne der weiteren Gespräche. Bereits während der Sondierungsphase und wäh-rend des anschließenden Auftaktgesprächs wurden zehn Verhandlungsrunden vereinbart (WN v. 28.05.2005). Auch die Beschlussfassung der Landesparteitage sowie die offizielle Unterzeichnung des Koalitionsvertrages am 20. Juni 2005 waren Gegenstand dieser Verabredungen (WR v. 28.05.2005).

Drittes Merkmal der Verhandlungen war die Verständigung auf eine zentra-le Verhandlungskommission zur Diskussion aller wichtigen inhaltlichen Fragen und zur Herbeiführung von Grundsatzentscheidungen. Diese Verhandlungs-kommission wurde mit sechs Vertretern für jede Partei vergleichsweise eng ein-gegrenzt besetzt, um eine arbeitsfähige Größe von maximal 12 Mitgliedern zu erreichen. Diese personelle Begrenzung fand ihren Nachhall auch in der nachfol-genden Konzeption des Koalitionsausschusses, der sich durch eine auf sechs Mitglieder beschränkt Zusammensetzung auszeichnete (Interview Pinkwart: Frage 1; vgl. hierzu weitergehend Kapitel 5.2.2). In dieser zentralen Verhand-lungsrunde wurden alle verbindlichen Vereinbarungen getroffen.

Beide Parteien hatten sich schon in der Sondierungsphase auf ihre jeweili-gen Verhandlungsdelegationen geeinigt. Für die CDU führte Jürgen Rüttgers, der Parteivorsitzende und designierte Ministerpräsident, die Verhandlungen. Weite-res Mitglied der CDU-Delegation war der schon in der Sondierungsphase direkt beteiligte Helmut Stahl in seiner Funktion als Parlamentarischer Geschäftsführer der Landtagsfraktion. Hinzu kamen die von Rüttgers bereits ins „Schattenkabi-nett“ aufgenommenen Christa Thoben, Helmut Linssen und Karl-Josef Lau-mann. Vervollständigt wurde das CDU-Verhandlungsteam durch Eckhard Uhlenberg. Für die FDP übernahm zunächst der Spitzenkandidat und Fraktions-

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 243

vorsitzende Ingo Wolf die Verhandlungsführung. Hinzu kamen der Parteivorsit-zende und Bundestagsabgeordnete Andreas Pinkwart, NRW-Generalsekretär Christian Lindner, die stellvertretende Landesvorsitzende Angela Freimuth, die Bundestagsabgeordnete und ebenfalls stellvertretende Landesvorsitzende Gisela Piltz und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Marianne Thomann-Stahl (WA v. 26.05.2005; NRZ v. 26.05.2005).

In der Zusammensetzung beider Verhandlungsdelegationen zeigt sich die besondere Bedeutung von „Grenzstellenakteuren“ (Benz 1995: 92) oder – stärker im Sinne der bisherigen theoretischen Überlegungen ausgedrückt – individueller Repräsentanten korporativer Akteure im Rahmen von Koalitionsverhandlungen. Gemeint sind damit Akteure, die in ihrer politischen Rollenwahrnehmung eine Schnittstellenfunktion zwischen unterschiedlichen strukturellen Arenen einneh-men und/oder als individuelle Repräsentanten korporativer Teilakteure agieren. Neben der Rolle als Parteivertreter deckten die 12 Unterhändler der beiden Par-teien in unterschiedlichen Konstellationen zugleich die parlamentarische Arena, unterschiedliche Parteiströmungen sowie die föderale Mehrebenenstruktur ab. So waren beispielsweise die künftigen Regierungsfraktionen über die Fraktionsfüh-rung von CDU und FDP eingebunden. Neben landespolitischen Vertretern fand auch die bundespolitische Ebene personell Eingang in die Verhandlungskommis-sion. Schließlich wurden Vertreter unterschiedlicher Parteiströmungen an den Gesprächen beteiligt, was insbesondere für die Repräsentation der CDU eine wesentliche Rolle spielte. Die Akteure repräsentierten dabei durchaus mehrere korporative Teilakteure zugleich. Jürgen Rüttgers beispielsweise war sowohl in seiner Eigenschaft als Landesvorsitzender, als auch als bis zum Wahltag amtie-render CDU-Fraktionsvorsitzender und nun designierter Ministerpräsident an den Gesprächen beteiligt. Trotz der Begrenzung auf einen vergleichsweise klei-nen Verhandlungskreis wurde damit sichergestellt, dass keine Repräsentations-defizite entstanden.

Als institutionelle Ergänzung dieser zentralen Verhandlungsrunde wurden viertens nachgelagerte Fach- und Arbeitsgruppen eingerichtet. In diesen wurden konkrete Details und weiterführende sachpolitische Fragen diskutiert, die nicht von unmittelbarer politischer Bedeutung für eine der beiden Seiten waren. Zu Beginn der Koalitionsverhandlungen verständigten sich beide Parteien auf die Einrichtung von sechs solcher themenbezogenen Arbeitsgruppen, die sich mit den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Arbeit, Umwelt, Inneres und Finanzen befas-sen sollten (GA v. 31.05.2005). Im Gegensatz zur Verhandlungskommission hatten diese Arbeitsgruppen aber „kein eigenes Verhandlungsmandat, sondern sie waren beauftragt, den jeweiligen Fachsprechern innerhalb der Verhandlungs-kommission zuzuarbeiten“ (Interview Pinkwart: Frage 1). Diese Arbeitsgruppen wurden durch die Fraktionen und Parteien vorbereitet, aber an den eigentlichen

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Koalitionsverhandlungen waren keine Vertreter der Arbeitsgruppen unmittelbar beteiligt. Die Facharbeitsgruppen tagten vielmehr zeitlich abgestimmt und er-gänzend zu den zehn großen Verhandlungsrunden und tauschten sich bei rele-vanten Sachfragen und inhaltlichen Überschneidungen untereinander aus. Sie fungierten insofern als Unterstützungseinheiten, die den Parteiführungen und Fachzuständigen zuarbeiteten. Aus dieser Konstellation ergab sich nach Ein-schätzung des FDP-Verhandlungsführers Andreas Pinkwart eine herausgehobene Bedeutung der eigentlichen Verhandlungskommission, verfügte sie doch alleine über ein „ausgeprägtes“ und „auch ein sehr abschließendes Verhandlungsman-dat“ (Interview Pinkwart: Frage 1). Den Arbeitsgruppen hingegen kam eine rein vorbereitende Funktion zu. Sacheinigungen konnten hier mitunter schnell her-beigeführt werden, die endgültige Entscheidung über den Abschluss inhaltlicher Diskussionen fiel jedoch ausnahmslos in der zentralen Verhandlungskommission (vgl. übereinstimmend auch NRZ v. 28.05.2005; KSta v. 03.06.2005).

Diese Arbeitsgruppen wurden jeweils von einem CDU- und einem FDP-Vertreter geleitet (KStA v. 30.05.2005). So standen beispielsweise dem Arbeits-kreis Finanzen der designierte Finanzminister Linssen und die FDP-Finanz-expertin Angela Freimuth vor (WN v. 28.05.2005), während die Fachgruppe Umwelt, ländlicher Raum, Verkehr und Städteplanung unter der Führung von Eckhard Uhlenberg (CDU) und Holger Ellerbrock (FDP) tagte (WN v. 28.05.2005; KStA v. 30.05.2005).

Im Sinne der Herstellung von Arbeitsfähigkeit wurde ergänzend auch ver-fahrenstechnischer Sachverstand jenseits der Landesgrenzen eingeholt. Nicht zuletzt aufgrund der langen Oppositionszeit der neuen Regierungsparteien in Nordrhein-Westfalen waren nicht alle Beteiligten mit Kenntnissen zur Führung von Koalitionsverhandlungen vertraut. Daher ließen sich Vertreter beider Partei-en von sachkundigen Vertretern aus anderen Ländern über gängige Verfahren und Vorgehensweise unterrichten (Spiegel v. 30.05.2005).

Als fünftes Merkmal der Verhandlungen zeigte sich, dass sich aus dem Zu-schnitt der Arbeitsgruppen nicht notwendigerweise der künftige Ressortzuschnitt ableiten ließ. Vielmehr handelte es sich um politikfeldübergreifend angelegte Arbeitsgruppen, bei denen beispielsweise im Zusammenhang mit Bildungsfragen sowohl die Schulpolitik als auch die künftige Hochschulpolitik der Regierungs-formation diskutiert wurden. Zudem wurde von Seiten der Verhandlungspartner explizit darauf hingewiesen, dass die Besetzung der Arbeitsgruppen und ihrer Leitung keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die anstehende Besetzung von Kabinettsposten zuließen. So war beispielsweise der in der Öffentlichkeit als Minister gehandelte ehemalige Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke nicht als Vorsitzender einer Arbeitsgruppe, sondern lediglich als einfa-ches Mitglied in die Fachgespräche eingebunden (KStA v. 30.05.2005). Auf

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 245

Seiten der FDP wiederum leitete der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP Gerhard Papke für seine Partei die Arbeitsgruppe Wirtschaft und Energie, war jedoch wider Erwarten nicht zugleich auch als Mitglied der zentralen Verhand-lungskommission vertreten (KStA v. 26.05.2005; Eyermann 2005a: 5).79

Schließlich waren CDU und FDP sechstens bemüht, größtmögliche Ver-traulichkeit und Diskretion der Koalitionsverhandlungen zu gewährleisten. Le-diglich die jeweiligen Verhandlungsführer sollten sich öffentlich zu den erzielten Zwischenergebnissen äußern. Die übrigen Verhandlungsteilnehmer verpflichte-ten sich wiederum zu striktem Stillschweigen (NW v. 03.06.2005).

Die Abfolge der in den Koalitionsverhandlungen behandelten Themen drückte die politische Prioritätensetzung der künftigen Regierungspartner aus. Erste behandelte Themenfelder waren die wenig konfliktträchtigen Bereiche Wirtschaft und Arbeit und bereits nach Abschluss der ersten Verhandlungsrunde am 27. Mai 2005 wurden erste Vereinbarungen öffentlich gemacht. Dazu gehörte die Einigung, die Landesförderprogramme neu zu regeln und die Mittelstandsförderung künftig in den Mittelpunkt der künftigen Wirtschaftspoli-tik des Landes zu stellen (WR v. 28.05.2005; WN v. 28.05.2005). In den nach-folgenden Verhandlungsrunden standen die Themen Bürokratieabbau und Wirt-schaftsförderung, Umweltpolitik, die Zukunft der Windenergie und die Ver-kehrspolitik auf der Agenda. Auch hier herrschte weitgehende Übereinstimmung in der Positionierung beider Parteien, so dass vergleichsweise schnell gemeinsa-me Zwischenergebnisse erzielt wurden. Strittige und weitergehend zu diskutie-rende Themenfelder wie die Schul- und Hochschulpolitik, die Eckpfeiler der von beiden Parteien in Aussicht gestellten Verwaltungsreform und die Zukunft der Steinkohle wurden auf die zweite Hälfte der Koalitionsverhandlungen verscho-ben, auch um den Arbeitsgruppen Gelegenheit zu weiteren Vorarbeiten und Klärungen zu geben.

Unterbrochen wurden die Verhandlungen durch parteiinterne Zwischenbe-ratungen am 11. und 12. Juni 2005. Dort konnten strittige Punkte entschärft wer-den, sodass die Chancen auf Einhaltung des eng gesteckten Verhandlungszeit-plans stiegen (KR v. 14.06.2005). Diese zeitliche Struktur wurde im Verlauf der Verhandlungen nicht mehr alleine von der politischen Prioritätensetzung beider Parteien, sondern auch von der Dauer der Kompromissfindung in den einzelnen Sachfragen bestimmt. Während weitgehend konsensual zu behandelnde Themen-felder vergleichsweise schnell abgearbeitet wurden, wurden strittige Fragen am Ende der Koalitionsverhandlungen platziert (NRZ v. 11.06.2005). Dies zeigte sich beispielsweise in der Kohlepolitik, die erstmals am 3. Juni 2005 Gegenstand der Verhandlungen war. Da eine konkrete Einigung zwischen den Parteien nicht 79 Zu den Konsequenzen dieser Personalie für die weitere Entwicklung der Institutionen des

Koalitionsmanagements ausführlicher Kapitel 5.2.3.

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246 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

absehbar erschien, einigte man sich vor der Fortsetzung der Verhandlungen da-rauf, die Facharbeitsgruppe Energie mit den offenen Punkten zu befassen und überdies Gespräch mit Vertretern der RAG zur weiteren Sachverhaltsklärung zu führen (taz v. 04.06.2005). Beigelegt werden konnten die Differenzen schließlich am späten Abend des 14. Juni 2005 (WN v. 15.06.2005). Neben der Kürzung der Landesbeihilfen bis 2010 im Umfang von 750 Millionen Euro einigten sich die künftigen Koalitionäre auf die Sprachregelung eines „Auslaufbergbaus“ (GA v. 15.06.2005; DLF v. 15.06.2005). Während die CDU sich dem Drängen der FDP nach einem vollständigen und sofortigen Ausstieg damit erfolgreich widersetzt hatte, ließ diese Formulierung der FDP ausreichend Interpretationsmöglichkei-ten, um die vor der Wahl erhobenen Forderungen erfüllt zu sehen.

Ein ähnlicher Verlauf der Koalitionsverhandlungen zeigte sich in der Dis-kussion über die künftige Gestaltung der Schulpolitik. Auch hier konnte im Rahmen einer ersten Verhandlungsrunde am 9. Juni 2005 keine Einigung in allen Punkten gefunden werden. Die zwischenzeitliche Unterbrechung der Gespräche am 11. und 12. Juni 2005 sowie die parteiinternen Vorklärungen in diesem Zu-sammenhang führten dann dazu, dass auch in der Schulpolitik am 13. Juni 2005 die verbleibenden Differenzen beigelegt werden konnten (RN v. 14.06.2005).

Damit wurden zugleich die letzten inhaltlichen Hürden für eine Einigung überwunden, zumal auch in Fragen der Verwaltungsstrukturreform sowie der künftigen Polizeistruktur des Landes nur noch letzte Details zu klären waren. Dies geschah im Rahmen der beiden abschließenden Verhandlungsrunden am 15. und 16. Juni 2005 (AN v. 16.06.2005; „Morgenecho“/ WDR 5 v. 16.06.2005), so dass der verabredete Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit noch am selben Tag vorgestellt werden konnte.

Jenseits der sachpolitischen Auseinandersetzungen spielten personalpoliti-sche Diskussionen im Rahmen der Koalitionsverhandlungen eine wichtige Rolle. Allerdings fanden diese weniger zwischen den Koalitionspartnern, als vielmehr innerhalb der FDP statt. Im Gegensatz zur CDU, in der es Rüttgers erfolgreich gelungen war, Personaldiskussionen in der Öffentlichkeit zu verhindern, hatten bei den Liberalen schon im Umfeld der Landtagswahl Personalspekulationen begonnen (Welt v. 23.05.2005). Dabei zeigten sich insbesondere Konfliktlinien zwischen Landespartei und Landtagsfraktion, die zunächst einen sachpolitischen Auslöser hatten. Während sich die Fraktion unter Führung von Ingo Wolf ten-denziell für die Übernahme des Innenministeriums sowie eines weiteren Ressorts im Bereich Technologie aussprach, befürworteten die Landespartei und nicht zuletzt der Bundesvorsitzende Westerwelle die Übernahme des Wirtschaftsmi-nisteriums. Die Übernahme des Wirtschaftsressorts erschien Teilen der Partei geeigneter, den liberalen Markenkern der FDP auch in der Regierungsarbeit deutlich erkennbar herauszuarbeiten und zu stärken. Während im ersten Falle die

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 247

Übernahme des Innenministeriums durch Ingo Wolf festzustehen schien, wurden für die zweite Version andere Namen genannt. So tauchten in der Diskussion der Name des wirtschaftspolitischen Sprechers der Fraktion, Gerhard Papke, ebenso auf wie der des ehemaligen FDP-Generalsekretärs Andreas Reichel (AN v. 27.05.2005). Allerdings hatte Jürgen Rüttgers für die CDU noch im Wahlkampf Christa Thoben als Kandidatin für das Amt der Wirtschaftsministerin präsentiert. Eine Besetzung des Ressorts durch die FDP wäre insofern nach Einschätzung des FDP-Generalsekretärs Christian Lindner nur mit „hohen politischen Kosten“ durchsetzbar gewesen (Florack 2006g: Frage 1) und wurde daher von der FDP nicht weiter verfolgt.

Darüber hinaus geriet Spitzenkandidat Wolf innerparteilich zunehmend in die Kritik, die Interessen der FDP in den Koalitionsverhandlungen nicht nach-drücklich genug zu vertreten (RP v. 09.06.2005). Die Neuwahl des FDP-Fraktionsvorstandes am 8. Juni 2005 stellte eine zusätzliche empfindliche Schwächung Wolfs dar. Die Wahl war zunächst verschoben worden, um die weitere Regierungsbildung abzuwarten (FAZ v. 25.05.2005). Als aussichts-reichster Kandidat galt unmittelbar nach der Landtagswahl Generalsekretär Christian Lindner (NRZ v. 24.05.2005). Auf Initiative Wolfs ließ sich der Abge-ordnete Robert Orth als Kandidat für den Fraktionsvorsitz aufstellen, woraufhin Lindner auf seine Kandidatur verzichtete, da er sich „das notwendige politische Gewicht zur Integration“ der Fraktion nicht zutraute (Florack 2006g: Frage 1). Stattdessen kandidierte nun jedoch der wirtschaftspolitische Sprecher der Frakti-on, Gerhard Papke, für das Amt und setzte sich in einer Kampfabstimmung ge-gen Orth mit sieben zu fünf Stimmen durch.80

Dieses Ergebnis wurde als klare Niederlage für Ingo Wolf gewertet, der in der Konsequenz auch in den Koalitionsverhandlungen geschwächt wurde (vgl. Welt v. 10.06.2005; GA v. 09.06.2005; KR v. 09.06.2005). Parteiintern wurde sukzessive der Ruf nach einer stärkeren landespolitischen Rolle des Parteivorsit-zenden und Bundestagsabgeordneten Andreas Pinkwart lauter, sodass dieser schließlich seinen Eintritt in das Kabinett und den damit verbundenen Wechsel von Berlin nach Düsseldorf ankündigte. Mit dieser „Demontage Wolfs“ (NRZ v. 13.06.2005) war auch die Übernahme des Amts des stellvertretenden Minister-präsidenten durch Pinkwart verbunden, so dass die Zeit einer FDP-Doppelspitze, die sich nach dem landespolitischen Abschied Möllemanns gebildet hatte, been-det wurde (FAZ v. 14.06.2005). Insofern war Andreas Pinkwart zum dominanten Repräsentanten der FDP geworden und stellte folglich der Öffentlichkeit am 16. Juni 2005 an der Seite von Jürgen Rüttgers die Ergebnisse der Koalitionsver-handlungen vor. 80 Zu seinen beiden Stellvertretern wurden Christian Lindner und Christian Rasche gewählt. Das

Amt des Fraktionsgeschäftsführers übernahm Ralf Witzel.

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248 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.1.2.3 Koalitionsvereinbarung und Beschlussfassungen zur Koalitionsbildung Koalitionsvereinbarungen können in analytischer Hinsicht als institutionelle Regelsysteme verstanden werden. Sie konstituieren einerseits institutionelle Rahmenbedingungen künftiger Kooperation und strukturieren andererseits die Interaktion von Akteuren. Anders ausgedrückt folgen aus einem Koalitionsver-trag institutionelle Handlungsanreize und -begrenzungen, Regeln, Routinen und Praktiken und das durch sie hiermit konstituierte Regelsystem dient Akteuren als Berufungsgrundlage im Rahmen ihrer künftigen Interaktion. Dabei kommen Koalitionsvereinbarungen über ihre sachpolitische Aussagekraft hinaus drei grundlegende Funktionen im Sinne der Institutionalisierung von Regelhaftigkeit zu (Kropp 2001b: 68–70):

Erstens stellen sie Berechenbarkeit und Vertrauen zwischen den Koalitions-partnern her. Sie konstituieren Erwartungssicherheit auf Seiten der Beteiligten, indem Gemeinsamkeiten definiert, Unterschiede markiert und Konfliktlösungs-mechanismen etabliert werden. Insbesondere für den kleineren Partner der Re-gierungsformation, im vorliegenden Falle die FDP, stellt die Koalitionsvereinba-rung damit ein Regelsystem dar, welches notwendige Sicherungsmechanismen beinhaltet und angesichts unterschiedlicher politischer Größenverhältnisse eine ausreichende Positionierung des kleineren Koalitionspartners gewährleistet (vgl. König 2001: 24; Kropp 2001a).

Zweitens senken Koalitionsverträge Kooperations- und Transaktionskosten der künftigen Kooperation, indem sie gemeinsame sachpolitische Vorhaben definieren, diese weitgehend dem fortgesetzten, aber dosierten Parteienwettbe-werb der Koalitionspartner entziehen und entsprechende Kooperationsverfahren zur Durchsetzung dieser Vereinbarungen bereithalten. Verhandlungssituationen werden insofern über einzelne Kooperationsprozesse hinaus institutionalisiert.

Drittens fungieren Koalitionsverträge als Berufungsgrundlage für die weite-re Kooperation und entfalten damit eine anhaltende Bindungswirkung im Sinne der getroffenen Beschlüsse. Sie sichern damit nicht zuletzt die Handlungsfähig-keit beider Partner nach außen. Darüber hinaus dienen Koalitionsvereinbarungen als disziplinierendes Instrument in die Regierungsformation hinein. Sowohl in der parlamentarischen als auch exekutiven Arena können der Koalitionsvertrag als Berufungsgrundlage herangezogen und sachpolitische Abweichungen im Sinne von Illoyalität gegenüber der gesamten Regierungsformation markiert werden. Insbesondere Fraktionsführungen steht damit ein Disziplinierungsin-strument zur Sicherung notwendiger Geschlossenheit der eine Regierung tragen-den Fraktionen zur Verfügung (Interview Stahl: Frage 17).

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 249

In der Konkretisierung dieser drei allgemeinen Funktionen zeichnen sich Koalitionsverträge wiederum durch drei Elemente aus, die sich auch für die Ver-einbarung zwischen CDU und FDP 2005 nachweisen lassen:

Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag steckte erstens den sachpolitischen Rahmen der künftigen Kooperation ab. Die unterschiedlichen inhaltlichen Inte-ressen beider Partner wurden somit in ein austariertes Verhältnis gebracht und zumindest vorübergehend stabilisiert. Sachlich ging es um eine Dosierung des Parteienwettbewerbs mit dem Ziel, gemeinsame Handlungsfähigkeit in den als zentral identifizierten Feldern herzustellen. Politischer Bezugspunkt dieser sach-politischen Festlegungen war eine Analyse der landespolitischen Ausgangslage. Hier formulierten die beiden neuen Regierungsparteien, Nordrhein-Westfalen habe es bisher verpasst, die „Herausforderungen der Globalisierung, der Wis-sensgesellschaft und der demographischen Entwicklung anzunehmen“. Insbe-sondere sei es „kein leichter Weg“, die aktuelle Krisensituation in der Wirt-schafts- und Arbeitsmarktpolitik zu überwinden. Weder seien Geschenke zu erwarten, noch gebe es Geld für Konjunkturprogramme oder „staatlich finanzier-te Großprojekte“. Ziel sei vielmehr eine „Politik der Ehrlichkeit“, die sich an drei Grundsätzen orientiere: "Freiheit vor Gleichheit, Privat vor Staat, Erarbeiten vor Verteilen, Verlässlichkeit statt Beliebigkeit" (Koalitionsvertrag 2005: 1–2).

Die im Hauptteil des Koalitionsvertrages formulierten sachpolitischen Vor-haben zur Umsetzung dieser Ziele waren auf ein programmatisches Leitmotiv ausgerichtet, welches schon im Titel der Koalitionsvereinbarung seinen Nieder-schlag fand. CDU und FDP betonten den Anspruch, NRW zu einem „Land der neuen Chancen zu machen“. Die konkreten inhaltlichen Absichtserklärungen des 65 Seiten starken Dokuments griffen dieses Motto entlang von vier politikfeld-übergreifenden Themenfeldern auf und forderten „neue Chancen für Wachstum, Arbeit und Soziales“, „neue Chancen für Bildung“, „neue Chancen für Selbstbe-stimmung und Sicherheit“ sowie „neue Chancen für eine menschliche Lebens-welt“ (Koalitionsvertrag 2005: 3). Das Ergebnis der Landtagswahl verstanden die Regierungspartner als „klares Mandat für einen Politikwechsel“ und leiteten daraus ihr Selbstverständnis als „Koalition der Erneuerung“ ab (Koalitionsver-trag 2005: 1).

Wenngleich die nachfolgenden sachpolitischen Absichtserklärungen alle diesem programmatischen Grundgerüst zugeordnet waren, so zeigte sich doch eine für Koalitionsvereinbarungen typische Vielzahl unterschiedlicher Formen von Sachvereinbarungen (vgl. Kropp 2001b: 77–79). Dies lässt sich exempla-risch an folgenden Beispielen aufzeigen:

Erstens beinhaltete der Koalitionsvertrag „Leitkriterien“, welche eine grundsätzliche Richtung vorgaben und künftige Verhandlungen der Koalitions-partner strukturieren sollten. Hinsichtlich der künftigen Schulpolitik formulierten

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die Koalitionspartner beispielsweise: „Wir wollen ein gerechtes Schulwesen, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche unabhängig von seiner Herkunft seine Chancen und Talente nutzen und entfalten kann“ (Koalitionsvertrag 2005: 32). Als Konkretisierung sah der Koalitionsvertrag (Koalitionsvertrag 2005: 32–36) beispielsweise das Vorziehen des Einschulungsalters sowie den Ausbau des Ganztagsangebot vor.

Zweitens wurden „Formelkompromisse“ gefunden, welche die Positionen beider Parteien widerspiegelten, ohne allzu konkrete inhaltliche Aussagen zu treffen. Beispielshaft können hier die Vereinbarungen zur Kohlepolitik angeführt werden, die zwar die Positionen beider Parteien widerspiegelten, aber in der Ausgestaltung größtmögliche Flexibilität für künftige Entscheidungen eröffne-ten. So wurde einerseits zwar die Halbierung der Steinkohlesubventionen bis 2010 vereinbart, zugleich jedoch auf die Rechtsverbindlichkeit von Zuwen-dungsbescheiden bis 2008 verwiesen. Beide Seiten formulierten das Ziel, „den sozialverträglichen Auslauf des subventionierten Bergbaus“ zu erreichen (Koali-tionsvertrag 2005: 8). Einen konkreten Termin für den Ausstieg nannte der Koa-litionsvertrag aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen zum Zeithorizont gleichwohl nicht. Vielmehr wurde auf die Notwendigkeit weiterer Gespräche mit allen „Beteiligten einschließlich der Anteilseigner über die Rahmenbedingun-gen“ der Ausstiegsszenarien avisiert (Koalitionsvertrag 2005: 8).

Anders als „Formelkompromisse“ stellten „Konfliktmarkierungen“ als drit-ter Typus von Sachvereinbarungen den fortgesetzten Dissens der beiden Regie-rungspartner in den Mittelpunkt. Sie dokumentierten den fortgesetzten Wettbe-werb zwischen den nun vor allem auf gemeinsame Handlungsfähigkeit ausge-richteten Regierungsparteien. Ein Beispiel für eine solch offene Konfliktmarkie-rung stellte die Absichtserklärung zur Flexibilisierung des Ladenschlusses dar. CDU und FDP einigten sich zwar im Grundsatz auf eine entsprechende Erweite-rung der gesetzlichen Möglichkeiten zur Ladenöffnung, „zu weitergehenden Öffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen bekräftig[t]en die Koalitionspartner [jedoch] ihre unterschiedlichen Auffassungen“ (Koalitionsvertrag 2005: 12).

Als fünftes Element schließlich fand sich das Instrument, sachpolitische Entscheidungen im Sinne erweiterter Entscheidungsformate auszulagern. So griffen die Koalitionspartner insbesondere in der Haushaltspolitik auf die Ein-richtung von „Sachverständigengremien“ und „gutachterlichen Verfahren“ zu-rück. Jenseits des unstrittigen gemeinsamen Ziels, die Haushaltskonsolidierung in den Mittelpunkt der künftigen Budgetpolitik zu stellen, einigten sich beiden Parteien beispielsweise, „eine Kommission mit hochrangigen Finanzexperten mit einer grundlegenden Bestandsaufnahme der Haushaltssituation des Landes [zu] beauftragen und ein Haushaltssicherungskonzept“ vorzulegen (Koalitionsvertrag 2005: 13).

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 251

Neben diesen inhaltlichen Vorstellungen beinhaltete die Koalitionsvereinba-rung zweitens Vereinbarungen über die künftige Ämter- und Ressortverteilung innerhalb der neuen Regierungsformation. Zwar beinhaltete der Koalitionsver-trag noch keine Nennung der endgültigen Ressortbezeichnungen, aber die ge-nannten Geschäftsbereiche entsprachen in der Systematik bereits dem letztlich gewählten Ressortzuschnitt. Festgehalten wurde das „Vorschlagsrecht zur Er-nennung der Minister und der Staatssekretäre“ (Koalitionsvertrag 2005: 64) für die CDU für insgesamt neun der elf Geschäftsbereiche. Während der FDP das Vorschlagsrechte für das Innenressort und den Bereich Innovation zugesprochen wurde, erhielt die CDU das Nominierungsrecht für die Bereiche Wirtschaft, Finanzen, Arbeit, Justiz, Schule, Umwelt, Generationen, Bauen und Verkehr sowie Bundes- und Europaangelegenheiten. Die konkrete Besetzung der von der Union geführten Ressorts blieb auch nach Abschluss der Koalitionsgespräche offen. Allerdings hatte Jürgen Rüttgers bereits im Wahlkampf Helmut Linssen als Finanzminister, Christa Thoben als Wirtschaftsministerin und Karl-Josef Laumann als künftigen Arbeits- und Sozialminister präsentiert und damit erste Vorfestlegungen getroffen. Auf Seiten der FDP hatte sich die künftige Ressort-besetzung noch während der Koalitionsverhandlungen geklärt. Der ehemalige Ingo Wolf sollte das Amt des Innenministers übernehmen und Parteichef Andre-as Pinkwart entschied sich für einen Wechsel aus Berlin nach Düsseldorf, um das neu geschaffene Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie (MIWFT) zu übernehmen (GA v. 14. Juni 2005).

Als drittes Element schließlich beinhaltete die Koalitionsvereinbarung ver-bindliche Kooperations- und Entscheidungsregeln der künftigen Regierungsfor-mation. Aus diesen ergaben sich über die existierenden exekutiven Verfahrens-regeln hinaus, wie sie in den einschlägigen Geschäftsordnungen formal festge-legt waren, wichtige institutionelle Regelstrukturen der künftigen Zusammenar-beit (Koalitionsvertrag 2005: 63–64): Ein erster Block von Kooperationsregeln betraf die künftige parlamentarische Zusammenarbeit. So sah der Koalitionsver-trag den Ausschluss wechselnder Mehrheiten und die Abgabe einheitlicher Vo-ten in Plenum und Ausschüssen vor. Zudem verständigte man sich, bei parla-mentarischen Verfahrensfragen „Einvernehmen zwischen den Koalitionsfraktio-nen“ herzustellen und Anträge, Gesetzesinitiativen und Große Anfragen eben-falls nur im Einvernehmen einzubringen. Zweitens sah dieser Abschnitt die Ein-richtung eines „paritätisch besetzten“ Koalitionsausschusses vor, der zur „Klä-rung der als wesentlich erachteten Angelegenheiten“ dienen sollte. Als Sitzungs-turnus wurden regelmäßige Treffen in den Plenarwochen und weitere Sitzungen auf expliziten Wunsch eines Koalitionspartners vereinbart. Zudem wurde die strukturelle Zusammensetzung dieses Gremiums im Koalitionsvertrag geregelt. Mitglieder waren der Ministerpräsident und sein Stellvertreter, jeweils ein weite-

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res Regierungsmitglied beider Parteien und die Partei- und Fraktionsvorsitzen-den von CDU und FDP. Den Vorsitz sollte der Ministerpräsident führen, Ent-scheidungen einstimmig fallen. Durch die faktische Verschränkung von Regie-rungs- und Parteiämtern zeichnete sich damit eine kleine Besetzung des Koaliti-onsausschusses von nur sechs Vertretern ab. Ein letztes Feld von Kooperations-vereinbarungen betraf schließlich Verfahrensregeln bei Bundesratsangelegenhei-ten. Zum einen wurde die personelle Mitgliedschaft in der Länderkammer fest-gehalten. Die sechs Regierungsmitglieder mit Stimmrecht waren demnach der Ministerpräsident sowie die Ressortminister für Justiz, Bundes- und Europaange-legenheiten, Innovation, Finanzen sowie Arbeit und Soziales. Man vereinbarte eine Vertretung durch die übrigen Fachminister „je nach Sachgebiet“. Für die Beteiligung des Landes an der Bundesgesetzgebung hielt der Koalitionsvertrag als Grundsatz fest, Nordrhein-Westfalen werde „sachbezogen und konstruktiv“ mitwirken. Grundlage des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat sollten aus-schließlich übereinstimmende Entscheidungen zwischen beiden Koalitionspart-nern sein. Im Falle einer Nichteinigung sollte „sich das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat der Stimme enthalten“. Als Mitglied des Vermittlungs-ausschusses wurde der Ministerpräsident bestimmt, der gegebenenfalls durch seinen Stellvertreter vertreten werden sollte.

Der ausgehandelte Koalitionsvertrag von CDU und FDP wurde von den Mitgliedern der zwölfköpfigen Verhandlungskommission unterzeichnet und am 20. Juni 2005 der Öffentlichkeit vorgestellt. Am 18. Juni 2005 hatten Landespar-teitage beider Parteien der Vereinbarung mit großen Mehrheiten zugestimmt. Zuvor wiederum hatten bereits die Landesvorstände von CDU und FDP ein posi-tives Votum abgegeben, wenngleich es im CDU-Landesvorstand vereinzelte Kritik an den Vereinbarungen zur Schulpolitik gegeben hatte. Insbesondere die von der FDP forcierte Abschaffung der Grundschul- und Berufsschulbezirke und die Einrichtung eines Rankings von Schulen stießen auf Kritik (Westfalenpost v. 18.05.2005). auf dem Landesparteitag in der Dortmunder Westfalenhalle präsen-tierte sich Andreas Pinkwart als neues landespolitisches Schwergewicht der FDP (RP v. 20.06.2005). Den inhaltlichen Vereinbarungen mit der Union stimmten die 400 Delegierten ohne große inhaltliche Diskussion und ohne Gegenstimme zu (Aktuelle Stunde/WDR-Fernsehen v. 18.06.2005).

Auch der Parteitag der CDU verlief ohne inhaltliche Auseinandersetzungen über das künftige Regierungsprogramm, sondern glich eher einem „Jubeltreffen“ (Westfalenpost v. 18.05.2005; vgl. Aktuelle Stunde/WDR-Fernsehen v. 18.06. 2005). Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung stimmten die insgesamt 672 Delegierten dem Koalitionsvertrag zu. In seiner Rede wies Parteichef Rüttgers zwar darauf hin, die Koalitionsbildung sei „der Aufgalopp des Bundestagswahl-kampfes“ (zit. nach Welt kompakt v. 20.06.2005), seine 70minütige Rede geriet

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 253

jedoch eher zur „staatsmännisch-bedächtigen“ Grundsatz-, als zur mitreißenden Wahlkampfrede (WZ v. 20.06.2005; KStA v. 20.06.2005; RN v. 20.06.2005; Westfalenpost v. 20.06.2005).

Zur feierlichen Unterzeichnung des Koalitionsvertrages wählten die Regie-rungspartner, wie schon mit der Villa Horion für die Verhandlungen selbst, einen symbolträchtigen Ort der Landespolitik aus. Rund 300 Gästen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wurden in den ehemaligen Sitz des nordrhein-westfälischen Landtages, das Düsseldorfer Ständehaus, geladen (GA v. 21.06.2005; WZ v. 20.06.2005). Die selbsternannte „Koalition der Erneuerung“ zielte darauf, die avisierten Veränderungen in den kommenden fünf Jahren im Sinne symbolischer Politik mit den landespolitischen Traditionen Nordrhein-Westfalens zu verbinden und damit staatstragende Kontinuität zu betonen (RN v. 21.06.2005). Diese darstellungspolitische Inszenierung hatte im Zuge der Koali-tionsgespräche wiederholt eine besondere Rolle gespielt. Schon die Kürze der Koalitionsverhandlungen und der eng gesteckte Zeitplan waren als erste Abgren-zung von den vorhergehenden rot-grünen Koalitionsverhandlungen gedacht gewesen. Hatten die Verhandlungen zwischen SPD und Grünen 1995 noch sechs Wochen gedauert und waren wiederholt vom drohenden Scheitern der Gespräche überschattet worden, brachten CDU und FDP die Gespräche nach insgesamt knapp drei Wochen zu einem Abschluss. Zugleich waren beide Parteien darauf bedacht gewesen, während der Koalitionsgespräche demonstrativ Harmonie zur Schau zu stellen. So hatten beide Seiten schon während der Sondierungsgesprä-che die gute Atmosphäre betont (WA v. 26.05.2005; vgl. WAZ v. 01.06. 2005) und wiederholten diese Darstellung im Laufe der nachfolgenden Verhandlungen. Diese Charakterisierung der Gespräche führten zu der gleichlautenden öffentli-chen Einschätzung, die „kurze[n], geräuschlose[n] Koalitionsverhandlungen“ (Feist/Hoffmann 2006: 180) seien „reinste Harmonieveranstaltungen im Gegen-satz zu den früheren rot-grünen Koalitionszirkeln“ gewesen (Parlament v. 20.06.2005; vgl. KStA v. 17.06.2005; WZ v. 17.06.2005; WAZ v. 17.06.2005). Diese stark auf Konsens angelegte Verhandlungsstruktur drückte sich zudem im Verhältnis beider Koalitionspartner in Sachfragen aus. Insbesondere Jürgen Rüttgers überließ dem Koalitionspartner immer wieder Gelegenheiten zur Selbstdarstellung und zeigte damit eine betont kooperative Interaktionsorientie-rung gegenüber dem künftigen Regierungspartner. Verstärkt wurde diese darstel-lungspolitische Komponente durch die Inszenierung sachpolitischer Symbolthe-men. Die von der Vorgängerregierung als Einsparmaßnahme beschlossene Ab-schaffung der Polizeireiterstaffel wurde rückgängig gemacht, die zwischen den politischen Lagern umstrittene Benotung des Sozialverhaltens auf Schulzeugnis-sen wieder eingeführt. Diese Vorgehensweise führt zu der Einschätzung, insbe-sondere die CDU habe „während dieser zweieinhalb Wochen Koalitionsverhand-

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254 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

lungen in ganz großem Umfang mit Symbolentscheidungen zu Symbolthemen Stimmung für sich gemacht“ (Morgenecho/WDR 5 v. 16.06.2005). 5.1.3 Die formale Regierungsbildung: Wahl des Ministerpräsidenten,

Ressortverteilung und Kabinettsbildung Weniger symbolhaft, sondern vielmehr als wichtige organisatorische und perso-nalpolitische Weichenstellungen stellte sich im Anschluss an die Koalitionsver-handlungen die Aufgabe der formalen Regierungsbildung. Zentrale Bestandteile dieses Regierungsbildungsprozesses waren die Wahl des Ministerpräsidenten, die Ressortverteilung und sich daraus ergebende formale Organisationsverände-rungen der Geschäftsbereiche sowie die Entscheidungen über die personelle Besetzung der exekutiven Schlüsselpositionen. Ausgangspunkt hierfür waren die Vorgaben der nordrhein-westfälischen Landesverfassung (Schümer 2006; Butzer 1996; Dästner 2002). Die verfassungsrechtliche Rahmensetzung zielt dabei ins-besondere darauf, der Landesregierung die Möglichkeiten zur exekutiven Füh-rung zur Verfügung zu stellen:

„Dieser Zielsetzung trägt die nordrhein-westfälische Landesverfassung dadurch Rechnung, dass sie – generaliter – die verfassungsrechtlichen Vorgaben gänzlich fehlen oder zumindest immer offener werden lässt, je politischer die Regelungsebe-ne ist. Organisations- und Personalgewalt sowie die (...) Geschäftsleitungsgewalt fallen so dem Regierungschef zu und geben im rechtlich weitgehend freie Hand zur Binnenstrukturierung der Gubernative“(Butzer 1996: 214; Hervorhebung im Origi-nal).

Die sich hieraus ergebende herausgehobene Stellung des Ministerpräsidenten bei der Regierungsbildung zeigt sich insbesondere in seiner formalen Organisations-gewalt, der ihm verfassungsrechtlich zugeschriebenen Richtlinienkompetenz sowie der Fähigkeit, die maßgeblichen Entscheidungen über die personelle Zu-sammensetzung der Landesregierung treffen zu können. Die Regierungsbildung ist verfassungsrechtlich damit alleine dem Ministerpräsidenten vorbehalten (Butzer 1996: 210): Er verfügt über die formale Kompetenz, die Mitglieder des Kabinetts zu ernennen und zu entlassen, ohne auf die Zustimmung des Landtages angewiesen zu sein. Die verfassungsrechtlich normierte Organisationsgewalt ermächtigt ihn, die Organisationsstruktur der Landesregierung und damit die Zahl der Ministerien festzulegen. Zugleich ist die Amtszeit der übrigen Kabi-nettsmitglieder unmittelbar an die des Ministerpräsidenten gebunden. Lediglich im Sinne eines Informationsanspruches des Parlaments ist der Ministerpräsident verpflichtet, dem Landtag organisatorische und personelle Veränderungen der

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 255

Landesregierung mitzuteilen. Wenngleich damit weitgehend angelehnt an die entsprechenden Vorgaben des Grundgesetzes, sind die Bestimmungen der nordrhein-westfälischen Landesverfassung dennoch nicht deckungsgleich (Schümer 2006: 161; vgl. Korte et al. 2006: 71–80). Insbesondere hinsichtlich der Wahl des Regierungschefs zeigt sich eine politisch wichtige und relevante Abweichung von den entsprechenden Vorgaben des Grundgesetzes. 5.1.3.1 Die Wahl des Ministerpräsidenten „Die Landesregierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Landesmi-nistern“, stellt Art. 51 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung fest. Aller-dings wird alleine der Ministerpräsident unmittelbar vom Landtag gewählt und verfügt damit sowohl „über einen Legitimationsvorsprung gegenüber den weite-ren Regierungsmitgliedern“ als auch „in politischer Hinsicht eine herausgehobe-ne Stellung“ im exekutiven Binnenverhältnis (Schümer 2006: 9). Das Mehrheits-erfordernis einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang entspricht ebenfalls den Vorgaben des Grundgesetzes bei der Wahl des Bundeskanzlers. Abweichend hiervon sieht Art. 52, Abs. 2 der Landesverfassung jedoch für einen zweiten Wahlgang, sollte er erforderlich sein, lediglich das Erreichen einer relativen Mehrheit vor (ausführlicher Schümer 2006: 4–7). Eine singuläre Sonderregel im Vergleich zu den übrigen Ländern stellt darüber hinaus die Mandatspflicht des Ministerpräsidenten nach Art. 52, Abs. 1 der Landesverfassung dar (Butzer 1996: 208–209) . Demnach erfolgt die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag „aus seiner Mitte in geheimer Wahl ohne Aussprache“.

Diese zentrale Mindestanforderung erfüllte Jürgen Rüttgers, der das Di-rektmandat im Rhein-Erft-Kreis I mit 47,6 Prozent der Erststimmen gewonnen hatte und direkt in den Landtag eingezogen war.81 Folglich wurde er erwartungs-gemäß am 22. Juni 2005 auf Vorschlag der Fraktionen von CDU und FDP ohne Gegenkandidat zum neunten Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens gewählt. Allerdings verweigerten ihm mindestens zwei Abgeordnete der schwarz-gelben Regierungskoalition, die insgesamt über 101 Mandate verfügte, ihre Stimme. Den 99 Ja-Stimmen standen 87 Gegenstimmen und eine Enthaltung gegenüber. Dennoch erreichte Rüttgers damit die Mehrheitsanforderung einer absoluten

81 Von besonderer Bedeutung war die Mandatspflicht bei der Wahl des nordrhein-westfälischen

Ministerpräsidenten im Jahr 2002. Der eigentlich parteiintern als Nachfolger für Wolfgang Clement vorgesehene Harald Schartau, der 2001 zum SPD-Landesvorsitzenden gewählt worden war, war zwar Mitglied der Landesregierung, besaß jedoch kein Landtagsmandat. Gewissermaßen als Notlösung wurde dann der damalige Landesfinanzminister Peer Steinbrück zum Ministerpräsidenten gewählt. Hierzu ausführlicher Korte et al. 2006: 272–276.

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Mehrheit im ersten Wahlgang und konnte unmittelbar nach seiner Wahl als Mi-nisterpräsident vereidigt werden.

Rüttgers nutzte ganz im Sinne der bereits während der Koalitionsverhand-lungen ausgesandten Signale die Wahl zum Ministerpräsidenten für ein erneutes darstellungspolitisches Signal: Gleich im Anschluss an seine Vereidigung be-suchte er das Grab des ersten CDU-Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold. Demonstrativ stellte er sich damit in die sozialpolitische Tradition seines Amtsvorgängers und unterstrich damit erneut symbolisch seine eigene sozialpolitische Schwerpunktsetzung (vgl. SZ v. 23.06.2005; WAZ v. 23.06.2005; Westfalenpost v. 23.06.2005).

Bedeutsam für den weiteren Prozess der Regierungsbildung war der Zu-sammenhang zwischen der Wahl des Ministerpräsidenten und der Ernennung der Kabinettsmitglieder. Rüttgers hatte es vor der Wahl am 22. Juni 2005 vehement abgelehnt, seine Pläne zur künftigen Kabinettszusammensetzung öffentlich zu machen. Lediglich die drei Mitglieder des im Wahlkampf präsentierten Schat-tenkabinetts waren angesichts der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorschlags-rechte für die Ressorts nun auch faktisch als Minister gesetzt. Die über die Per-sonalien Thoben, Linssen und Laumann hinausreichenden Personalentscheidun-gen auf Seiten der CDU ließ Rüttgers jedoch im Unklaren.

Als Begründung für dieses Vorgehen waren von Rüttgers selbst verfas-sungsrechtliche und formelle Bedenken öffentlich geäußert worden. So erklärte er am Tag seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, es widerstrebe ihm, „vorher schon so zu tun, als ob ich Ministerpräsident wäre“ (zit. nach Interview/WDR-Fernsehen v. 22.06.2005; vgl. taz v. 22.06.2005). Daher wolle er auch erst im Anschluss an seine Wahl das Kabinett bilden.

Maßgeblicher als diese artikulierten Bedenken für diesen bereits vor Beginn der Koalitionsverhandlungen beschlossenen Zeitplan schienen jedoch vor allem taktische Überlegungen gewesen zu sein. Rüttgers wollte die Wahl ins Amt des Ministerpräsidenten abwarten, um die Gefahr abzuwehren, über die Kabinettsbe-setzung enttäuschte Abweichler in den Regierungsfraktionen könnten ihm bei der Wahl ihre Stimme vorenthalten (u. a. Spiegel v. 30.05.2005; Westfalenpost v. 20.06.2005; RP v. 20.06.2005; Parlament v. 06.06.2005). Stattdessen wollte Rüttgers sein personalpolitisches Patronagepotential als Disziplinierungsinstru-ment gegenüber seiner Partei nutzen und hielt diese „am kurzen Zügel“ (KStA v. 22.06.2005). So hatte er vor möglichen Personalspekulationen bereits frühzeitig mit den Worten gewarnt: „Wer als Minister reingeht, kommt als einfacher Ab-geordneter wieder raus“ (zit. nach WAZ v. 24.06.2005).

Die Gründe für diese personalpolitische Vorsicht lagen nicht zuletzt in den personellen Konsequenzen des Landtagswahlergebnisses begründet. Paradoxer-weise hatte das gute Abschneiden der CDU zu nichtintendierten Verzerrungsef-

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 257

fekten in der Mandatsverteilung geführt, die nun wiederum auf die Zusammen-setzung des Kabinetts ausstrahlten. In der CDU-Fraktion waren sowohl Frauen als auch Vertreter des Ruhrgebiets deutlich unterrepräsentiert (vgl. KStA v. 30.05.2005; Spiegel v. 30.05.2005; taz v. 22.06.2005). Die direkten Auswirkun-gen dieses Umstandes waren bereits bei der Wahl des Landtagspräsidiums am 8. Juni 2005 deutlich geworden. Rüttgers hatte schon in der ersten CDU-Fraktionssitzung nach der Landtagswahl angekündigt, Frauen bei der Besetzung von Ämtern besonders zu berücksichtigen. Daher wurde erwartet, dass er der Fraktion eine Kandidatin für das Amt der Landtagspräsidentin vorschlagen wür-de (GA v. 06.06.2005; Parlament v. 06.06.2005). Hierfür standen aus der Frakti-on vier potentielle Kandidatinnen bereit.82 Rüttgers entschied sich jedoch für einen überraschenden personalpolitischen Schachzug, indem der CDU-Abgeordnete Günter Kozlowski überzeugt werden konnte, sein Mandat zu Guns-ten von Regina van Dinther niederzulegen, die vom dritten Platz der CDU-Reserveliste in den Landtag nachrückte. Im Gegenzug für seinen Mandatsver-zicht wurde Kozlowski das Amt eines Staatssekretärs im Bauministerium zuge-sagt (FAZ v. 07.06.2005; AN v. 11.06.2005). Van Dinther wiederum wurde auf Vorschlag der CDU am 8. Juni 2005 mit 148 Stimmen zur Nachfolgerin des ausgeschiedenen Landtagspräsidenten Ulrich Schmidt (SPD) gewählt.

Mit van Dinther erhöhte sich zugleich die Zahl der Frauen in der CDU-Fraktion zumindest um ein Mandat. Angesichts ihrer Wahl in das protokollarisch höchste Amt des Landes Nordrhein-Westfalen wurde diese bestenfalls marginale Verbesserung zugleich symbolisch aufgewertet. Verstärkt wurde das Signal durch ihre Funktion als Vorsitzende der Frauen-Union. Zugleich stärkte diese personalpolitische Rochade die Vertretung des Ruhrgebiets in der CDU-Fraktion, hatte van Dinther doch in dem im Süden des Ruhrgebiets gelegenen Wahlkreis Hattingen kandidiert. Wichtiger mit Blick auf die Kabinettsbildung war jedoch, dass van Dinther trotz anderslautender Spekulationen im Vorfeld damit nicht mehr als Fachministerin in Frage kam (Schumacher 2005a; Wiede-mann 2005). 5.1.3.2 Ressortverteilung und Kabinettsbildung Die Fragen der künftigen Ressortverteilung und des Zuschnitts der Geschäftsbe-reiche waren weitgehend während der Koalitionsverhandlungen entschieden worden. Die koalitions- und parteiendemokratischen Imperative überlagerten erwartungsgemäß die Verfassungsfiktion, die von einer umfassenden Organisati- 82 Genannt wurden insbesondere die Namen Hannelore Brüning, Marie-Luise Fasse, Monika

Brunert-Jetter und Ilka Keller (GA v. 06.06.2005).

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258 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

ons- und Personalgewalt des Ministerpräsidenten ausgeht (Butzer 1996: 208–212; Schümer 2006: 10–26). Dementsprechend beinhaltete die Landesverfassung kaum Vorgaben hinsichtlich der Regierungsbildung und räumte dem Minister-präsidenten formal „umfassende Befugnisse bei der organisatorischen und der personellen Regierungsbildung“ ein (Butzer 1996: 210). Lediglich die Notwen-digkeit zur Berufung eines Finanzministers und die Benennung eines stellvertre-tenden Ministerpräsidenten ergaben sich unmittelbar aus den Vorgaben der Lan-desverfassung (Butzer 1996: 208–209).

In politischer Hinsicht folgte der Zuschnitt der Geschäftsbereiche jedoch aus den während der Koalitionsverhandlungen getroffenen Vereinbarungen und orientierte sich die Kabinettsstruktur eng an den im Koalitionsvertrag genannten Geschäftsbereichen. Aus der verfassungsrechtlich abgesicherten Organisations-gewalt des Ministerpräsidenten folgte lediglich die Anforderung, die künftige Ressortverteilung durch einen entsprechenden Organisationserlass formal abzu-sichern (nachfolgend Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005a).

Eine zentrale Weichenstellung bestand in der Auflösung des von Wolfgang Clement gebildeten „Superministeriums“ für Wirtschaft und Arbeit. Damit ging eine größere Umressortierung einher, ergaben sich doch auch in den anderen Ressorts als Konsequenz gravierende Veränderungen:

Das vormalige Ministerium für Verkehr, Energie und Landesplanung erhielt die Bezeichnung des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Energie (MWME). Es war keine Überraschung, dass Rüttgers am 23. Juni 2005 Christa Thoben zur neuen Wirtschaftsministerin berief, hatte sie doch bereits in seinem „Schattenkabinett“ als Kandidatin für das Wirtschaftsressort fungiert. Mit Tho-ben berief Rüttgers zudem eine bundespolitisch erfahrene Politikerin in sein Kabinett, die als ehemalige Staatssekretärin eines Bundesministeriums auch über exekutive Erfahrung verfügte. Gleichzeitig band er mit ihr eine ehemalige inner-parteiliche Widersacherin unmittelbar in die Kabinettsdisziplin ein. Wie Helmut Linssen hatte Thoben im Jahr 1999 gegen Rüttgers für den CDU-Landesvorsitz kandidiert. Zwar war sie Jürgen Rüttgers bei der Wahl unterlegen, hatte sich jedoch durch ihre Wahl zur stellvertretenden Landesvorsitzenden der CDU in-nerparteilichen Einfluss gesichert.83 Neben der Zuständigkeit für allgemeine Wirtschaftsfragen, Wirtschaftsförderung, Mittelstandspolitik, Industriepolitik sowie die Energiewirtschaft erhielt das neue Wirtschaftsministerium unter ande-rem auch die fachliche Zuständigkeit für Raumordnung und Landesplanung. Ende 2005 gewann das MWME zudem die Zuständigkeiten für den Laden-

83 Für Rüttgers wiederum war die Wahl zum Landesvorsitzenden der Auftakt zur langfristigen

Vorbereitung landespolitischen Neuausrichtung der CDU. Hierzu ausführlicher Neumann 2012: 193–293; Kronenberg 2009: 161–164; vgl. für die längerfristige Entwicklung der CDU in NRW auch Hitze 2010.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 259

schluss hinzu, zu dem die Landesregierung neue gesetzliche Regelungen ausar-beitete (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005b).

Allerdings wurde der Bereich der Innovations- und Technologiepolitik aus dem ehemaligen Wirtschafts- und Arbeitsministerium nicht in Thobens neues Wirtschaftsministerium transferiert. Vielmehr gingen die Zuständigkeiten für die Innovations- und Technologieförderung, technologische Zukunftsfelder wie die Mikro- und Nanotechnologie, den Wissenschaftstransfer, die Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft sowie andere technologiepolitische Felder in das neu zugeschnittene Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie (MIWFT) unter Führung von Andreas Pinkwart über. Von der FDP wurde dieser Zuständigkeitstransfer als Zugewinn an Gestaltungsmacht und als zentrale Aufwertung des nun vom stellvertretenden Ministerpräsidenten geführ-ten MIWFT verstanden. Zudem ergab sich aus dieser institutionellen Verände-rung ein dauerhaftes Spannungsverhältnis zwischen beiden Ressorts. Dieses prägte in den folgenden Monaten insbesondere die Ressortkoordination zwischen beiden Ministerien, da das Wirtschaftsministerium aus Sicht des MIWFT Versu-che unternahm, die formal verloren gegangenen Kompetenzen durch Interventi-onen auf dem Weg interministeriellen Aushandlungsprozesse zumindest ansatz-weise auszugleichen (Interview Zimmermann: Frage 17). Insgesamt ging mit der Zuständigkeit für Technologie und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen eine Schwerpunktverschiebung des vormaligen Wissenschaftsministeriums ein-her. Zum einen drückte der in der Öffentlichkeit geführte Titel des „Innovati-onsministers“ eine inhaltliche Akzentverschiebung aus. Angesichts der bereits im Koalitionsvertrag avisierten Stärkung der Hochschulautonomie durch die neue Landesregierung waren von Seiten des MIWFT künftig weniger starke Impulse zur hochschulpolitischen Detailsteuerung zu erwarten. Insofern stellte das Feld der Innovationspolitik auch einen neuen Betätigungsbereich für das Ressort dar. Die FDP besetzte damit zudem einen wichtigen fachlichen Schwer-punkt der neuen Regierungsformation und Andreas Pinkwart wurde über seine Funktion als FDP-Landesvorsitzender hinaus damit auch zu einem „zentralen Anker in der neuen Regierung“ (KStA v. 20. Mai 2006). Zum anderen erfuhr das MIWFT eine besondere Aufwertung dadurch, dass hier nun auch die FDP-interne Koordination für das künftige Koalitionsmanagement geleistet werden musste. In seiner Funktion als stellvertretender Ministerpräsidenten kam dem von Pinkwart geführten Ressort nachfolgend auch die Aufgabe zu, die koaliti-onsinterne Kooperation von FDP und CDU institutionell abzusichern.

Als beinahe automatischer Gegenpol zum Wirtschaftsministerium fungierte das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS), welches formal aus dem vormaligen Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie hervorging. Transferiert wurden hierher die vorher im fusionierten Wirtschafts-

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und Arbeitsministerium verankerten Zuständigkeiten für die Arbeitsmarktpolitik, das Tarif- und Schlichtungswesen sowie das Arbeitsrecht. Hinzu traten sämtliche Bereiche der Gesundheitspolitik sowie die fachliche Verantwortung für Sozial-recht und die Sozialversicherung. Auch die Berufung des Sozialexperten Karl-Josef Laumann in das Amt des Arbeits- und Sozialministers hatte Rüttgers vor der Wahl angekündigt. Mit dem Bundesvorsitzenden der Christlich-Demokrati-schen Arbeitnehmerschaft (CDA) band Rüttgers einen Exponenten des sozialpo-litischen Flügels der CDU in sein Kabinett ein. Er unterstrich damit zudem die bereits im Wahlkampf angekündigte Policy-Akzentuierung, Wirtschafts- und Sozialpolitik eng miteinander verknüpfen zu wollen. Gemeinsam mit Rüttgers sollt Laumann „das soziale Gewissen in NRW werden“ (Spiegel v. 30.05.2005).

Formal zum Nachfolger des alten „Superministeriums“ für Wirtschaft und Arbeit wurde das nun in Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration (MGFFI) umbenannte Ressort, welches künftig von Armin Laschet geführt wurde. Der bisherige CDU-Europaabgeordnete galt als Nachwuchshoff-nung seiner Partei. Mit dieser Personalie wurde die bereits im neuen Ressortzu-schnitt angelegte Policy-Akzentuierung unterstrichen, die das MGFFI in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Integrationsministerium erscheinen ließ. Laschet galt insbesondere hinsichtlich seiner gesellschaftspolitischen Orien-tierung als Vertreter des liberalen Flügels seiner Partei. Von ihm erhoffte sich die CDU insbesondere Impulse in dem auf Landesebene zunehmend bedeutsamen Feld der Integrationspolitik. Allerdings erhielt Laschet auch die Zuständigkeiten für die Kinder- und Jugendpolitik, Gleichstellungsfragen, die Familienpolitik inklusive der Kinder- und Jugendhilfe sowie Seniorenpolitik.

Im Gegensatz zu dieser fundamentalen Neustrukturierung des MGFFI blieb das Finanzministerium (FM) in seiner Struktur unverändert. Auch die Berufung von Helmut Linssen war keine Überraschung, hatte er doch wie Thoben und Laumann von Beginn an als sicheres Kabinettsmitglied für die CDU gegolten. Der vor allem landespolitisch erfahrende Linssen war dem Unternehmerflügel der CDU zuzurechnen. Als ehemaliger CDU-Generalsekretär, Fraktionsvorsit-zender und CDU-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen band Rüttgers damit erneut einen vormaligen innerparteilichen Konkurrenten in die Kabinettsdisziplin ein. Seine Berufung hatte Rüttgers noch am Wahlabend mit den Worten begrün-det, er „brauche erfahrene Leute“ und „nicht irgendwelche Leute, denen ich erst mal erklärten muss, wo Bielefeld liegt“ (Interview/WDR-Fernsehen v. 22.05.2005). Angesichts des von den Koalitionären formulierten Schwerpunkts der Haushaltskonsolidierung kam Linssen eine fachpolitische Schlüsselrolle im Kabinett zu. Von ihm erhoffte sich Rüttgers daher besondere finanzpolitische Durchsetzungsfähigkeit, zumal Linssen angesichts seines Erfahrungshintergrun-des nicht mehr auf weitere persönliche Profilierung angewiesen war.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 261

Schon erwartet worden war ebenfalls die Berufung von Eckhard Uhlenberg als Minister für Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (MUNLV). In der Partei war Uhlenberg bis zur Landtagswahl Rüttgers’ „dreifa-cher Vize“ (GA v. 02.07.2005) als stellvertretender Fraktions- und Parteivorsit-zender sowie als Zweiter der CDU-Reserveliste gewesen. Fachlich hatte sich Uhlenberg durch sein Amt als umwelt- und landwirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion empfohlen. Bei den Koalitionsverhandlungen hatte er für die CDU die entsprechende Arbeitsgruppe geleitet. Bis auf die Verschiebung der fachlichen Zuständigkeit für die Chemiepolitik ins MWME und der Eine-Welt-Politik ins MGFFI blieb das MUNLV strukturell weitgehend unverändert.

Das vormalige Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport wiederum erfuhr gravierende Veränderungen in seinem Zuschnitt. Als neues Ministerium für Bauen und Verkehr (MBV) erfolgte eine inhaltliche Profilierung und Konzentration auf diese beiden Kernbereiche. Die Verkehrsplanung, der öffentliche Nahverkehr, der Straßenbau und die Zuständigkeiten für die Liegen-schaften des Landes fielen ebenso in den Verantwortungsbereich des Ministeri-ums wie Fragen der Stadtentwicklung und des Denkmalschutzes. Zum Minister berief Rüttgers den ehemaligen Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke. Er hatte das kommunale Amt nach nur einer Amtsperiode von 1999 bis 2004 wieder an den SPD-Kandidaten Frank Baranowski verloren. Mit ihm stärk-te der Ministerpräsident zum einen die Vertretung der Ruhrgebiets-CDU in der Landesregierung. Zum anderen wurde mit dem seit 2001 als stellvertretendem CDU-Landesvorsitzenden amtierenden Wittke ein weiterer Vertreter der CDU-Parteiführung in die Kabinettsdisziplin eingebunden. Zudem stellte Wittke als junger Minister ein Gegengewicht zu den erfahrenen Kabinettsmitgliedern wie Thoben und Linssen dar (hierzu RP v. 23.06.2005).

Eine personelle Überraschung gelang Rüttgers bei der Berufung Barbara Sommers zur neuen Schulministerin. Das ehemalige Ministerium für Schule, Jugend und Kinder war als neues Ministerium für Schule und Weiterbildung (MSW) auf diese beiden Kernbereich ausgerichtet worden und hatte die anderen Zuständigkeiten insbesondere an das MGFFI abgegeben. Demgegenüber stand ein Zugewinn an fachlicher Zuständigkeit für die Weiterbildung, die vormals im Wirtschafts- und Arbeitsministerium angesiedelt gewesen war. Sommers Beru-fung war zum einen eine Reaktion auf die ungleiche Geschlechterverteilung in der CDU-Fraktion und die männliche Dominanz im Kabinett. Zum anderen be-tonte Rüttgers Sommers Erfahrungshintergrund als Schulamtsdirektorin und formulierte das inhaltliche Ziel, „mit einem hohen Maß an Pragmatismus, keine ideologischen Schuldebatten, sondern konkrete Veränderungen im Interesse der Schulen“ herbeiführen zu wollen (Vor Ort/Phoenix-Fernsehen v. 23.06.2005). Zugleich zeigte Rüttgers von Beginn an, Schulpolitik gewissermaßen zur Chef-

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sache machen zu wollen. Die politische Unerfahrenheit der neuen Fachministerin sollte damit gewissermaßen durch den besonderen Einfluss des Ministerpräsi-denten in diesem Politikfeld kompensiert werden (hierzu ausführlicher Korte et al. 2006: 367–373).

Ähnlich wie Barbara Sommer konnte auch die neue Justizministerin (JM), Roswitha Müller-Piepenkötter kaum landespolitische Erfahrung aufweisen. Fachliche Expertise jedoch brachte sie als Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Richterbundes in dieses klassische Fachressort ein. Hinzu kam der wichtige Nebeneffekt einer weiteren weiblichen Ressortbesetzung im Kabinett.

Schon während der Koalitionsverhandlungen war klar geworden, dass Ingo Wolf das Innenministerium des Landes für die FDP übernehmen würde. Zu den bereits vorhandenen Arbeitsbereichen des Ressorts kamen im Zuge der Neuressortierung 2005 zwei weitere Aufgabenfelder hinzu. Die in den Koaliti-onsverhandlungen als wichtiges Handlungsfeld markierte Verwaltungsmoderni-sierung wurde genauso ans Innenministerium delegiert wie der Sport als gesell-schaftspolitischer Aufgabenbereich.

Schließlich erstreckte sich der Organisationserlass strukturell auch auf die Staatskanzlei, obwohl ihr grundsätzlich nicht die Rolle eines Fachressorts zu-kam. Das ergab sich zum einen durch die Einbindung des Ministeriums für Bun-des- und Europaangelegenheiten in den Geschäftsbereich des Ministerpräsiden-ten. In diesen durch einen Minister vertretenden Zuständigkeitsbereich fielen insbesondere die Landesvertretungen in Brüssel und Berlin, die Koordination der Bundesratsangelegenheiten sowie die Europapolitik des Landes. Neben der fach-lichen Relevanz dieser Themenfelder beinhaltete dieser Aufgabenbereich folg-lich besondere Koordinations- und Abstimmungsaufgaben für die gesamte Re-gierungsformation. In das Amt des Bundes- und Europaministers berief Rüttgers mit Michael Breuer einen engen persönlichen Vertrauten aus der CDU-Landtagsfraktion. Zunächst war spekuliert worden, Breuer solle das Amt des CDU-Fraktionsvorsitzenden übernehmen. Er war jedoch in der Fraktion offen-sichtlich nicht durchsetzbar gewesen (GA v. 29.08.2005; AN v. 23.05.2005; Florack 2006e: Frage 1). Breuer kam als Minister durch sein Landtagsmandat einerseits sowie sein enges Vertrauensverhältnis zu Rüttgers andererseits nun eine besondere Scharnierfunktion zwischen Landesregierung und CDU-Landtagsfraktion zu (KStA v. 20. Mai 2006).

Zum anderen hatte sich Rüttgers entschieden, die Fachzuständigkeit für Kulturangelegenheiten unmittelbar in die Staatskanzlei zu integrieren. Die im vormals von Michael Vesper (Grüne) geführten Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport verankerten Kompetenzbereiche wurden, durchaus entgegen anders lautenden Ratschlägen (Florack 2005c), in die Staatskanzlei transferiert und dort fachlich dem neu berufenen Kulturstaatssekretär Hans-

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 263

Heinrich Grosse-Brockhoff unterstellt. Dieser übernahm zudem im Rang eines Staatssekretärs das Amt des Chefs der Staatskanzlei (CdS). Der Ministerpräsi-dent und die Staatskanzlei als seine administrative Unterstützungseinheit gewan-nen damit in der Kulturpolitik unmittelbare Fachzuständigkeiten hinzu. Hinter-grund dieser Entscheidung war eine bewusste Schwerpunktsetzung Jürgen Rütt-gers‘. Er verstand Kultur als potentielles Vehikel, um langfristig auch gesell-schaftliche und ökonomische Strukturen des Landes zu verändern. Im Sinne einer weichen Steuerungsfunktion spielte die Kultur damit aus Sicht der neuen Regierungsformation eine politikfeldübergreifende Rolle, die mit der Veranke-rung der in der Staatskanzlei gefestigt werden sollte. Zudem sollte die Durchset-zungsfähigkeit von Kulturangelegenheiten dadurch gestärkt werden, dass der Ministerpräsident dazu persönlich im Kabinett vortrug und er sich hiervon nicht zuletzt bei Haushaltsverhandlungen größere Durchsetzungsmöglichkeiten ver-sprach. Nach Auffassung Rüttgers’ ließen sich einige kulturpolitische Maßnah-men nur so durchsetzen (Interview Rüttgers: Frage 10). Tabelle 8: Das nordrhein-westfälische Landeskabinett 2005

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie; stellvertretender Ministerpräsident

Andreas Pinkwart (FDP)

Finanzminister Helmut Linssen (CDU) Ministerin für Wirtschaft, Mittelstand und Energie Christa Thoben (CDU) Minister des Inneren Ingo Wolf (FDP) Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales Karl-Josef Laumann (CDU) Ministerin für Schule und Weiterbildung Barbara Sommer (CDU) Minister für Bauen und Verkehr Oliver Wittke (CDU) Ministerin für Justiz Roswitha Müller-Piepenkötter

(CDU) Minister für Umwelt und Naturschutz, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz

Eckhard Uhlenberg (CDU)

Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration

Armin Laschet (CDU)

Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten Michael Breuer (CDU) Quelle: Feist/Hoffmann 2006: 180 In der Ressortverteilung fanden damit sowohl fachliche Überlegungen als auch die in den Koalitionsverhandlungen vorgenommenen Schwerpunktsetzungen der Regierungsformation ihren Niederschlag. Bei der Besetzung der exekutiven Schlüsselpositionen wiederum zeigte sich ein austariertes Proporzverhältnis ent-lang parteien- und koalitionsdemokratischer Imperative. Besondere Beachtung fand der regionale Proporz. Rüttgers erkläre hierzu explizit, wie wichtig es ihm

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war, „dass alle Regionen des Landes in diesem Kabinett repräsentiert“ waren (Echo des Tages/WDR 5 v. 23.06. 2005). Hinzu trat der Wunsch nach einer exekutiven Vertretung aller CDU-Bezirksverbände. Als weitere wichtige Ein-flussfaktoren kamen die Geschlechterverteilung, der innerparteilicher Proporz unterschiedlicher Parteiflügel, konfessionelle Überlegungen sowie eine ausgegli-chene Altersverteilung hinzu (Interview Stahl: Frage 25). Zugleich zeigte sich eine herausgehobene Rolle des Ministerpräsidenten. Rüttgers war hinsichtlich seines Bekanntheitsgrades und seiner politischen Erfahrung der „einzige Leucht-turm“ der neuen Landesregierung (GA v. 24.06.2005). Hinzu kam, dass er als einziges Kabinettsmitglied nach 39 Jahren SPD-dominierter Landesregierungen nennenswerte Regierungserfahrung aus seiner Zeit als Bundesminister vorweisen konnte (Interview Rüttgers: Frage 13). Schließlich führte der parallel zur Regie-rungsbildung beginnende Bundestagswahlkampf dazu, dass das Landeskabinett nicht „mit prominenten Namen optisch auf Hochglanz“ getrimmt wurde (AN v. 24.06.2005), sondern sich „statt farbiger Paradiesvögel emsige Arbeitsbienen“ (AN v. 24.06.2005) und damit die „zweite und dritte Reihe“ (taz v. 24.06.2005) im Kabinett wiederfanden. Es ging darum, bis zum Bundestagswahltermin schon erste inhaltliche Ziele zu erreichen. Zugleich machte die Kabinettszusammenset-zung deutlich, warum Rüttgers die Bekanntgabe der Namen auf die Zeit nach der Wahl des Ministerpräsidenten durch die neuen Regierungsfraktionen verschoben hatte: Sechs der elf Kabinettsmitglieder stammten nicht aus den Regierungsfrak-tionen (GA v. 24.06.2005).

Die künftige Führung der CDU-Fraktion hatte sich ebenfalls im Zusam-menhang mit der Kabinettsbildung entschieden. Für dieses Amt schlug Rüttgers im Rahmen der offiziellen Kabinettsvorstellung mit Helmut Stahl einen seiner engsten Vertrauten und bisherigen Parlamentarischen Staatssekretär der CDU-Landtagsfraktion vor. Gemeinsam hatten beide alle zentralen Personalentschei-dungen für die CDU getroffen (Florack 2006e: Frage 1). Mit Stahl hatte sich der Ministerpräsident für einen „guten Organisierer im Hintergrund“ entschieden, „auf den sich Rüttgers unbedingt verlassen“ konnte (Westblick/WDR 5 v. 23.06. 2005). Die Wahl des CDU-Fraktionsvorsitzenden, bei der Helmut Stahl am 28. August 2005 mit 84 von 89 Stimmen gewählt wurde, war bewusst aufgeschoben geschoben worden, um über den Fraktionsvorsitz im Paket mit der Kabinettsbe-setzung entscheiden zu können (FAZ v. 25.05.2005). Stahl sollte in seiner neuen Funktion auf der einen Seite die Fraktion als Akteur stärken und dieser im Regie-rungsalltag ausreichend Gehör verschaffen. Zum anderen gab es an seiner Loya-lität gegenüber dem Ministerpräsidenten keinen Zweifel (RP v. 29.06.2005; GA v. 29.08.2005). Ihm fiel insofern die Aufgabe zu, eine wichtige koordinierende und steuernde Rolle zwischen der größten Regierungsfraktion und der Landesre-gierung auch im Sinne des Regierungschefs zu spielen.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 265

Die Wahrnehmung interner Koordinationsaufgaben wurde auch von den Staatssekretären in den Fachressorts und der Staatskanzlei erwartet. Gewisser-maßen eine Sonderrolle spielte der als Parlamentarischer Staatssekretär ins In-nenministerium berufene Manfred Palmen (CDU). Diese Personalentscheidung wurde unmittelbar Jürgen Rüttgers zugerechnet (FAZ v. 24.06.2005; WAZ v. 28.06.2005). Im Gegensatz zu den beamteten Staatssekretären, deren Ernennung erst am 30. Juni 2005 erfolgte, wurde Palmen bereits am 23. Juni 2005 gemein-sam mit den Ressortministern vereidigt. Von besonderer politischer Bedeutung war, dass der CDU-Parlamentarier Palmen im Sinne eines „Kreuzstichverfah-rens“ (Eschenburg 1983) künftig im FDP-geführten Innenministerium für die Verwaltungsstrukturreform und die Sportpolitik verantwortlich zeichnen sollte. Als einziges Ressort verfügte damit das Innenministerium mit Palmen und dem beamteten Staatssekretär Brendel (FDP) über zwei Staatssekretäre. Zudem si-cherte sich die CDU so zumindest indirekten Einfluss auf einen wichtigen Teil der Ressortzuständigkeiten des IM (vgl. RP v. 24.06.2005; WamS v. 26.06.2005).

Eine ähnliche koalitionsdemokratisch bedingte Konstellation ergab sich im Justizministerium, wo der CDU-Ministerin Müller-Piepenkötter der bisherige FDP-Abgeordnete Jan Söffing als Staatssekretär zugeordnet wurde (KR v. 01.07.2005).84 Diese Praxis spiegelte auch das besondere Gewicht der beiden Ressorts als Verfassungsressorts wider, stand doch nach §21 der Geschäftsord-nung der Landesregierung sowohl dem Innen- als auch dem Justizministerium bei allen Kabinettsentscheidungen die Möglichkeit des Widerspruchs zu.

Jenseits solcher koalitionsarithmetischer Überlegungen waren vor allem die fachlichen Qualifikationen und die Verwaltungserfahrung der Maßstab für die Auswahl der Staatssekretäre (Westblick/WDR 5 v. 22.06.2005; WAZ v. 28.06.2005). In gewissem Umfang konnten damit auch politische Erfahrungslü-cken ausgeglichen werden, wie sich das beispielsweise bei der personellen Er-gänzung der unerfahrenen Schulministerin Sommer durch den verwaltungserfah-renden Güner Winands als Staatssekretär des MSW zeigte.

84 Sowohl Brendel als auch Söffing verzichteten nach ihrer Ernennung auf ihre Landtagsmandate,

so dass Holger Ellerbrock und Norbert Engels für die FDP in den Landtag nachrücken konnten.

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266 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Tabelle 9: Die nordrhein-westfälischen Staatssekretäre 2005 Staatskanzlei Hans-Heinrich Grosse-

Brockhoff (CdS und StS für Kultur Thomas Kemper (StS für Medien)

Ministerium für Innovation, Wissenschaft, For-schung und Technologie; stellvertretender Minister-präsident

Michael Stückradt

Finanzministerium Angelika Marienfeld Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie Jens Baganz Ministerium des Inneren Manfred Palmen (Parl. StS)

Karl-Peter Brendel Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Stefan F. Winter Ministerium für Schule und Weiterbildung Günter Winands Ministerium für Bauen und Verkehr Günter Kozlowski Ministerium für Justiz Jan Söffing Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz

Alexander Schink

Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration

Marion Gierden-Jülich

Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten Karsten Beneke Dieser Vorrang fachlicher Qualifikationen vor parteilichen Erwägungen zeigte sich in besonderer Weise im Fall des Finanzministeriums. Dort wurde mit der Sozialdemokratin Angelika Marienfeld die ehemalige Chefin der Staatskanzlei unter Ministerpräsident Steinbrück zur neuen Staatssekretärin berufen. Rüttgers verwies dabei auf das Selbstverständnis einer neuen „Landesregierung, die auch Wege geht, die nicht immer zu den üblichen gehören“ (zit. nach Bau 2005; vgl. Schumacher 2005b). Während die Maßgabe „Qualifikation vor Parteibuch“ hier ihren symbolhaften Niederschlag fand (Westfalenpost v. 01.07.2005), war mit dieser Personalentscheidung auch ein darstellungspolitischer Impuls verbunden: Trotz des Regierungswechsels sollte landespolitische Kontinuität betont werden und die Regierungsübernahme nicht als gravierende Pfadabweichung von etab-lierten Routinen des Parteienausgleiches markiert werden.

Solche Signale der Kontinuität fanden sich darüber hinaus in den Fachres-sorts bei weiteren Personalentscheidungen. So wurde der ehemalige Sprecher des SPD-Kultusministers Schwier und spätere Leiter des Landespresseamtes unter Ministerpräsident Clement, Joachim Neuser, Sprecher des Wirtschaftsministeri-ums. Innenminister Wolf übernahm den Sprecher seine Ministeriums, Ludger Harmeier, von seinem SPD-Amtsvorgänger Fritz Behrens (WamS v.

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 267

03.07.2005). Insofern fand personalpolitisch die in Nordrhein-Westfalen etab-lierte „Politik der Akkommodierung“ auch unter den neuen Mehrheitsverhältnis-sen grundsätzlich Anwendung.85 5.1.4 Regierungserklärung und landespolitische Herausforderungen 5.1.4.1 Die Regierungserklärung 2005 Die erste Regierungserklärung des neu gewählten Ministerpräsidenten Rüttgers am 13. Juli 2005 bildete gewissermaßen den Abschluss des eng gefassten Regie-rungsbildungsprozesses. Die Regierungserklärung zeigte sich grundsätzlich als „Mischungsverhältnis von Visitenkarte und Führungsinstrument“ (Korte 2002: 15). Als „Visitenkarte“ war sie insofern nach außen gerichtet, als dass sie die politischen Absichtserklärungen bündelte, politische Prioritäten deutlich machte und konkrete Vorhaben der neuen Regierungsformation skizzierte. Im Sinne einer inhaltlichen Richtschnur diente sie dazu, das landespolitische Programm zu Beginn der Legislaturperiode zu umreißen. Als „Führungsinstrument“ war die Regierungserklärung unmittelbar rückgebunden an die dem Ministerpräsidenten in Art. 55, Abs. 1 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung zugewiesene Richtlinienkompetenz.86 Diese verfassungsrechtliche Normierung konnte dabei allerdings „nur die rechtliche Grundlage schaffen, auf der politische Führung ausgeübt werden“ konnte (Schümer 2006: 67). Die Regierungserklärung stellte für den Ministerpräsidenten eine wichtige Gelegenheit dar, um von seiner Richt-linienkompetenz im Sinne eines politischen Führungsinstruments Gebrauch zu machen und zugleich Aspekte seines spezifischen Regierungsstils zum Ausdruck zu bringen. Gleichwohl bestanden die Rahmensetzung durch die Koalitionsver-einbarung einerseits und die sonstigen parteien- und koalitionsdemokratischen Limitierungen, die sich im Zuge der Kabinettsbildung gezeigt hatten, anderer-seits fort (König 2001: 25). Trotz dieser Einschränkungen war die Regierungser-klärung im Sinne einer nach innen gerichteten Botschaft auch ein machtpoliti-sches Führungsinstrument. Einerseits als „Ausdruck des wechselseitigen Ver-

85 Ebenfalls übernommen wurde der so genannte „Arnold-Schlüssel“ bei der Besetzung der

Regierungspräsidien. Die Präsidien der drei Regierungsbezirke Köln (Hans Peter Lindlar), Münster (Jörg Twenhöven) und Arnsberg (Helmut Diegel) von CDU-Parteimitgliedern besetzt und das Regierungspräsidium Detmold ging an die FDP (Marianne Thomann-Stahl). Der SPD-Regierungspräsident in Düsseldorf, Jürgen Büssow, blieb im Amt (GA v. 22.07.2005; WAZ v. 22.07.2005). Zu den politisch-kulturellen Konstanten in Nordrhein-Westfalen vgl. Korte et al. 2006: 26–32; Alemann/Brandenburg 2000; Alemann 2001; Alemann 2005a; Dörner 2001; Rohe 1984.

86 Zum verfassungsrechtlichen Vergleich mit anderen Ländern siehe Schümer 2006: 38–69.

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trauens zwischen dem Parlament und der Regierung“ (Korte 2002: 11) band die Regierungserklärung andererseits die Mehrheitsfraktionen und die Exekutive für die kommenden Monate an die in ihr zusammengefassten politischen Prioritäten.

Die zeitlichen Rahmenbedingungen für die Abgabe der Regierungserklä-rung 2005 wurden, wie bereits die vorhergehenden Koalitionsgespräche, maß-geblich durch bundespolitische Einflüsse geprägt. Unmittelbar nach der Land-tagswahl war die Abgabe der Regierungserklärung noch für einen Zeitpunkt nach der parlamentarischen Sommerpause erwartet worden (WN v. 26.05.2005). Im Verlauf der Koalitionsverhandlungen kristallisierte sich aber die Entscheidung heraus, diese auf den 13. Juli 2005 vorzuziehen (KStA v. 22.06.2005; AN v. 13.07.2005). Der ursprünglich avisierte Zeitplan hätte bedeutet, dass die Regie-rungserklärung in das zeitliche Umfeld des geplanten Bundestagswahltermins am 18. September 2005 gerückt wäre. Dies wollte Jürgen Rüttgers verhindern und stattdessen den landespolitischen Zielen der neuen Landesregierung ausrei-chend Aufmerksamkeit ohne bundespolitische Überlagerung verschaffen. Zudem ergab sich angesichts des erfolgten Machtwechsels die Notwendigkeit, den Fach-ressorts konkrete politische Vorgaben in Form einer Regierungserklärung zu machen. Sollte die Sommerpause nicht ohne klare inhaltliche Leitlinien und damit landespolitisch weitgehend ungenutzt verstreichen, musste die Abgabe der Regierungserklärung geradezu zwangsläufig vor der Sommerpause erfolgen.

Ein erster Entwurf der Regierungserklärung basierte auf aus den Ressorts vorgelegten Aufstellungen der zentralen landespolitischen Vorhaben. Diese be-ruhten wiederum zuvorderst auf den im Koalitionsvertrag festgelegten Maßnah-men und wurden durch die Ressorts weitergehend konkretisiert. Die aus den Ministerien übermittelten Textteile wurden in ergänzenden Abstimmungsprozes-sen zwischen Staatskanzlei und den Ressorts weiterentwickelt. Die Bündelung dieser Bausteine oblag alleine der Staatskanzlei, den Ministerien wurden zur Rücksprache lediglich die jeweils relevanten Textteile und nicht die gesamte Regierungserklärung übermittelt. Eine vorläufige Endfassung der Regierungser-klärung wurde allerdings Andreas Pinkwart als Parteivorsitzendem des Koaliti-onspartners FDP zur Kenntnisnahme zugeleitet. Eine weitergehende inhaltliche Abstimmung mit dem Koalitionspartner erfolgte allerdings nicht, die Regie-rungserklärung war eindeutig politisches Hoheitsgebiet des Ministerpräsidenten.

Einen ersten Einblick in die Regierungserklärung ermöglichte Rüttgers am 11. und 12. Juli 2005 im Rahmen einer Klausurtagung der CDU-Fraktion auf dem Bonner Petersberg. „Wir wollen ein neues Kapitel der Landesgeschichte aufschlagen“, erklärte Rüttgers gegenüber den Abgeordneten, die in diesem Rahmen auch über die inhaltlichen Vorhaben der CDU-Ressorts diskutierten (zit. nach WA v. 13.07.2005; NW v. 13.07.2005). Damit nahm Rüttgers den Einstieg in seine Regierungserklärung vorweg (Rüttgers 2005: 139). Die knapp

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 269

100minütige Regierungserklärung vor dem Plenum des Landtags einen Tag später stellt er unter den Titel „Nordrhein-Westfalen kommt wieder: Mehr Selbstbestimmung wagen“. Den Beginn nutze der Ministerpräsident, um die ideologisch-programmatischen Grundlagen sowie politische Leitlinien der neuen Regierungsformation deutlich zu machen. Die Regierungserklärung wollte er nicht als „Maßnahmenkatalog“, sondern als „Programm der Solidarität und der Leistungsbereitschaft“ verstanden wissen (Rüttgers 2005: 140). Rüttgers konsta-tierte einen Mangel an „Klarheit und Verlässlichkeit“ unter der Vorgängerregie-rung und stellte „ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Landes“ in Aus-sicht (Rüttgers 2005: 139). Neben der Beschreibung Nordrhein-Westfalens als ein „Land der Vielfalt“, „Herz Europas“ und „Deutschlands starke Schultern“ betonte Rüttgers das Ziel, Nordrhein-Westfalen solle wieder ein „Land der neuen Chancen“ werden (Rüttgers 2005: 140). Daraus abgeleitet formulierte er:

„Unser Ziel ist die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und die Rückbe-sinnung auf das christlich-jüdisch-abendländische Wertefundament, das ihr zugrun-de liegt. Deshalb wollen wir die Proportionen wieder zurechtrücken, die aus dem Lot geraten sind: Freiheit vor Gleichheit, Privat vor Staat, Erarbeiten vor Verteilen, Verlässlichkeit statt Beliebigkeit“ (Rüttgers 2005: 140).

Das Motto einer „Belebung der sozialen Marktwirtschaft“ leitete dann über zu den künftigen Prioritätensetzungen der neuen Regierungsformation. Im Sinne einer „Ordnung der Freiheit“ sowie einer „Ordnung der Solidarität und Subsidia-rität“ sollte die als wirtschaftliche Strukturpolitik entwickelte soziale Marktwirt-schaft um eine „soziale Ordnungspolitik“ ergänzt werden (Rüttgers 2005: 141). Hieraus leitete Rüttgers eine deutliche Prioritätensetzung hinsichtlich der Haus-haltspolitik des Landes ab und formulierte als politisches Ziel die „Sanierung des Landeshaushaltes“. Dazu gehörten eine kontinuierliche Reduktion der Neuver-schuldung und das mittelfristige Zwischenziel eines verfassungskonformen Haushaltes (Rüttgers 2005: 143).

Der zweite Teil der Regierungserklärung (Rüttgers 2005: 143–157) orien-tierte sich weitgehend an den im Koalitionsvertrag festgehaltenen Vorhaben (vgl. GA v. 14.07.2005; FAZ v. 14.07.2005; NW v. 14.07.2005; Westblick/WDR 5 v. 13.07.2005). Neben konkreten Absichtserklärungen zur Haushaltskonsolidierung – unter anderem der Planung eines Nachtragshaushaltes für 2005, einem jährlich 1,5prozentigen Stellenabbau in der Landesverwaltung, der Kürzung von Leis-tungsgesetzen und Förderprogrammen, der Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung eines Haushaltssicherungskonzepts – war die Regierungserklärung dabei auf die bisherigen sachpolitischen Prioritätensetzungen der Regierungs-partner ausgerichtet. Das Bekenntnis zum Industriestandort Nordrhein-Westfalen ergänzte Rüttgers durch das Vorhaben einer verstärkten Mittelstandsförderung.

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Eine Flexibilisierung der Wirtschaftspolitik wurde durch Privatisierungsvorha-ben, den Vorrang freiwilliger Selbstverpflichtungen, eine Liberalisierung des Ladenschlusses und eine Neuausrichtung der öffentlichen Verwaltung angepeilt. Den geplanten Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau verband Rüttgers wiederum mit der Ankündigung einer „Initiative Zukunft Ruhr“ zur Förderung des Ruhrgebiets.

Neben der Haushals-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik stellte die Bil-dungspolitik einen zweiten Schwerpunkt der in der Regierungserklärung formu-lierten politischen Absichtserklärungen dar. Rüttgers erklärte den Willen der Koalition, am gegliederten Schulsystem festhalten zu wollen. Gleichzeitig stellte er die Schaffung von 4.000 zusätzlichen Lehrerstellen in der anstehenden Legis-laturperiode in Aussicht, 1.000 Stellen sollten bereits bis August 2005 bereitge-stellt sein. In der Schulpolitik gab Rüttgers ein Bekenntnis zum Ausbau der Ganztagsangebote ab und verband dies mit strukturellen Reformvorschlägen zur künftigen Schulentwicklung. In der Hochschulpolitik betonte die Regierungser-klärung die Absicht, ein „Hochschulfreiheitsgesetz“ (Rüttgers 2005: 151) mit weitgehender Autonomie der Hochschulen vorzulegen und den Hochschulen des Landes die Möglichkeit zur Erhebung von Studienentgelten zu eröffnen.

Weitgehend entlang des Koalitionsvertrages beinhaltete die Regierungser-klärung schließlich Absichtsbekundungen zur künftigen Innovationspolitik, dem Umgang mit dem demographischen Wandel, der Kinder- und Jugendpolitik, einer verstärkten Integrationspolitik sowie weiteren Vorhaben in der Innen- und Rechtspolitik. Zum Abschluss seiner Ausführungen zum künftigen Regierungs-programm griff Rüttgers die Kultur als „Grundlagenarbeit“ (Rüttgers 2005: 157) auf und begründete über diese herausragende Stellung die organisatorische Integ-ration der Fachzuständigkeit in die Staatskanzlei.

Den Schluss der Regierungserklärung bildete dann gewissermaßen ein kur-zer rhetorischer Brückenschlag zu den etablierten Traditionslinien der Landespo-litik. Mit einem erkennbaren Bezug zu SPD-Kampagne „Wir in NRW“ der 1980er Jahre erklärte Rüttgers:

„Wir in Nordrhein-Westfalen haben viel erreicht. Wir in Nordrhein-Westfalen wer-den noch viel erreichen. Nordrhein-Westfalen kommt wieder. Dessen bin ich mir ganz sicher“ (Rüttgers 2005: 158).87

87 „Wir in NRW“ war Wahlkampfslogan der SPD im Landtagswahlkampf 1985 gewesen. In

seiner Regierungserklärung nach Gewinn der absoluten Mehrheit erklärte Ministerpräsident Johannes Rau: „Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir lieben in einem schönen und starken Land.“ (hierzu ausführlicher Hebecker 1995).

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 271

Anders als von der Opposition gewünscht, fand im Anschluss an die Regie-rungserklärung keine Aussprache statt. Auf Antrag von CDU und FDP hatte der Ältestenrat des Landtages zuvor beschlossen, der Opposition erst am Folgetag die Gelegenheit zu einer Replik zu geben. Begründet wurde dieser Antrag damit, dass der Regierungswechsel eine bedeutende Zäsur in der Landesgeschichte darstelle und insofern die Abgabe der Regierungserklärung ohne Aussprache dieser Tatsache Rechnung tragen sollte (RP v. 07.07.2005; WA v. 13.07. 2005).

Nicht zuletzt daher war die Parlamentsdebatte am 14. Juli 2005 von großer Schärfe im Ton und in der Sache geprägt (Westblick/WDR 5 v. 14.07.2005; Westfalenpost v. 15.07.2005; WAZ v. 15.07.2005). Insbesondere die neu ge-wählte SPD-Fraktionsvorsitzende Hannelore Kraft als Oppositionsführerin griff die neue Landesregierung und den Ministerpräsidenten frontal an. Sie warf Rütt-gers vor, in der Beschreibung des Regierungswechsels „mit viel Pathos einen normalen demokratischen Vorgang moralisch“ überhöht zu haben. Sie unterstell-te ihm ein „überhöhtes Sendungsbewusstsein“ und kritisierte, Rüttgers habe „ein höheres moralisches Recht, dieses Land zu regieren“, formuliert. Der Minister-präsident habe einen „Nebel von Politiklyrik“ verbreitet und die „Regierungser-klärung wie ein Hochamt“ zelebriert. Während einer Regierungserklärung ei-gentlich eine „bedeutende verfassungspolitische Verbindlichkeit für Parlament und Regierung“ zukomme, habe Rüttgers sich als ‚Mister Unverbindlich‘ präsen-tiert. Angesicht der bewussten Bezüge Rüttgers‘ auf Willy Brandt und Johannes Rau erklärte Hannelore Kraft zudem, Rüttgers werde als Ministerpräsident „nicht mehr sein als eine blasse Raubkopie“ dieser beiden SPD-Politiker (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005d: 247–248). Anders als zunächst geplant sah sich Ministerpräsident Rüttgers genötigt, persönlich auf diese Angriffe zu reagieren (WAZ v. 15.07.2005; WR v. 15.07.2005). Während die Debatte den Auftakt der parlamentarischen Auseinandersetzung unter neuen landespolitischen Vorzei-chen markierte wurde vor allem deutlich, dass der nächste Wahlkampf mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl bereits begonnen hatte. 5.1.4.2 Politische Herausforderungen in der Startphase „Wir haben im Land zunächst versucht, wie der Frosch, der in die Milch gefallen ist, Quark unter die Füßen treten, um stehen zu können“, so beschrieb Helmut Stahl rückblickend die landespolitische Situation am Wahlabend des 22. Mai 2005. Die Ankündigungen von Bundestagsneuwahlen habe eher als störend und „einstrahlend, denn befördernd“ für die weitere landespolitische Arbeit in Düs-seldorf gewirkt (Interview Stahl: Frage 30), waren doch sowohl der ursprünglich avisierte Zeitplan als auch die landespolitische Agenda nun durch die bundespo-

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litischen Entwicklungen überlagert. Anlässlich der Halbzeitbilanz im Dezember 2005 erklärte der CDU-Fraktionsvorsitzende rückblickend zur Performanz der Landesregierung:

„Man kann nicht eine Politik der Erneuerung wollen, sie betreiben, und dann hoffen, dass das alles mit Riesen-La-Ola-Wellen, Beifall aller Beteiligten über die Bühne geht. Nach 39 Jahren ist Veränderung angesagt. Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht“ (Lauscher 2005).

Ähnlich sahen das auch Jürgen Rüttgers und Andreas Pinkwart bei der Presse-konferenz anlässlich der Halbzeitbilanz ihrer Regierung. Beide betonten, zentrale Projekte der Landesregierung und wichtige Veränderungsprozesse seien auf dem Weg gebracht worden. An dieser Einschätzung änderte sich auch nach Ablauf der fünf Jahre nichts. Andreas Pinkwart betonte vielmehr, man habe ein „an-spruchsvolles Regierungsprogramm“ vorgelegt, welches „über die gesamte Le-gislaturperiode hinweg“ getragen habe und „auskömmlich genug war, um das Regierungshandeln auch wirklich am Laufen zu halten“ (Interview Pinkwart: Frage 21).

Zum Teil abweichende Einschätzungen zeigten sich in der medialen Beglei-tung der ersten Amtsmonate der neuen Regierungsformation. Die FAZ stellte fünf Monate nach Amtsantritt fest, das Land scheine „noch immer auf die neue Regierung zu warten“. Das Regierungsgeschäft laufe nur langsam, die Ungeduld wachse (Schilder 2005). Dabei wurde auch auf mögliche Probleme mit dem Beamtenapparat als mögliche Begründung hingewiesen. Die Ministerien seien „durchwirkt mit Beamten, die die neue Regierung nicht unbedingt unterstützten“ (Schilder 2005). Gerade einmal 15 Staatssekretäre habe die Landesregierung austauschen können, die übrigen etwa 4000 Beamten und Angestellten seien fast ausnahmslos zu sozialdemokratischen Regierungszeiten eingestellt worden. Auch wenn daraus keine grundsätzliche Illoyalität abzuleiten sei, so stelle dies doch ein potentielles Hemmnis für die neue Regierungsformation dar (Schmale 2005). Dazu passend war noch nach der Landtagswahl gemutmaßt worden, die abgewählte Landesregierung von Peer Steinbrück habe in einer ‚Aktion Abend-sonne‘ über Beförderungen verdienter Regierungsbeamter zusätzliche Fakten geschaffen (Tutt 2005a: 3). Ganz in diesem Sinne hatte auch der von Rüttgers neu in die Staatskanzlei berufene Chef vom Dienst des Landespresseamtes, Nor-bert Neß, erklärt: „Wir stürmen die Burg, in der noch die Köche sitzen, die für die alte Herrschaft gekocht haben“ (zit. nach Nitschmann 2005).

Allerdings wollten sich die wenigsten aus dem Kreis des neues exekutiven Führungspersonals an einen „harten Fall von Illoyalität“ (Interview Krautscheid) erinnern (so übereinstimmend Interview Krautscheid; Interview Berger; Inter-view Pinkwart: Frage 10; Interview Beneke: Frage 9; vgl. abweichend Interview

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 273

Stahl: Frage 28; Interview Rüttgers: Frage 9). Vielmehr wurde hier vor allem als Problem gesehen, dass zwar die politischen Vorhaben der neuen Landesregie-rung ausdifferenziert in den Schubladen lagen und über weitere Programmvor-schläge beider Regierungsparteien konkretisiert worden waren, es allerdings nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Regierungserfahrung einiger Monate bedurfte, um diese Pläne in praktisches Regierungshandeln umzusetzen.

Die landespolitischen Herausforderungen waren jedenfalls klar umrissen. Entweder ergaben sie sich direkt aus den landespolitischen Erfordernissen oder beide Regierungspartner waren bereits mit klar formulierten und entlang pro-grammatischer Kernvorstellungen entwickelten Reformvorschlägen im Wahl-kampf angetreten. Als zentrale landespolitische Baustellen zeigten sich die Haushaltspolitik und die künftige Ausrichtung der Schulpolitik (Goebels 2005: 4). Erstere ergab sich beinahe automatisch aus der angespannten Lage des Lan-deshaushaltes. Letztere wiederum war Gegenstand des Landtagswahlkampfes gewesen und beide neuen Regierungspartner waren mit klaren bildungspoliti-schen Vorstellungen angetreten.

In einer Zwischenbilanz Ende 2006 (hierzu Tutt 2006g: 8) zeigte sich hin-sichtlich der selbst gesteckten Ziele ein differenziertes Bild. Insbesondere in der Schul- und Hochschulpolitik hatte die Landesregierung ihre beiden zentralen Vorhaben anderthalb Jahre nach Amtsantritt weitgehend umgesetzt. Die geplante Novellierung des Schulgesetzes war bereits im Verlauf des Jahres 2005 verab-schiedet worden (hierzu Korte et al. 2006: 367–373). Im Oktober 2006 folgte mit der Verabschiedung des „Hochschulfreiheitsgesetzes“ das zentrale hochschulpo-litisches Vorhaben der schwarz-gelben Regierungsformation (Florack 2011a: 210–219). Bereits mit Wirkung zum Wintersemester 2006/07 war die Möglich-keit zur Einführung von „Studienbeiträgen“ durch die Hochschulen des Landes vom Landtag beschlossen worden. Auch in der Haushaltspolitik waren die selbstgesteckten Ziele in Reichweite gerückt. Der für das Jahr 2007 vorgelegte Landesetat war verfassungskonform und steigende Steuereinnahmen ließen die finanzpolitischen Ziele realistisch erscheinen. Den durch die Föderalismusreform neu gewonnenen Regelungsspielraum hatte die Landesregierung zudem für eine Flexibilisierung der Ladenschlussregelungen genutzt.

Noch ungeklärt war jedoch die Zukunft des Steinkohlebergbaus. Angesichts der Notwendigkeit einer Einigung mit der Bundesregierung blieb der konkrete Weg zum avisierten „Auslaufbergbau“ noch unklar. Auch die angekündigte Verwaltungsstrukturreform mit einer Reduzierung der Regierungsbezirke war noch nicht vorangekommen. Einige andere kleinere Maßnahmen zum Bürokra-tieabbau waren angegangen worden, aber ein wirklicher Durchbruch war nicht erkennbar. Gravierende Abweichungen von den selbstgesteckten Zielen zeigten sich schließlich auch in der Verkehrspolitik und hinsichtlich der Polizeireform.

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274 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.1.5 Zwischenfazit Welche Konsequenzen für das Institutionengefüge der Regierungsorganisation lassen sich aus der bisherigen Darstellung des zeitgeschichtlichen Kontextes ableiten? Welche Folgen ergeben sich für die im weiteren Verlauf detaillierter zu analysierenden Transformationsprozesse der Kernexekutive und welche wichti-gen Einfluss- und Erklärungsfaktoren zeichnen sich ab, die für die weitere Ana-lyse eine wichtige Rolle spielen? Entlang der gewählten inhaltlichen Strukturie-rung lassen sich hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen und besonde-ren Umstände des Regierungswechsels 2005 vier zentrale Schlussfolgerungen identifizieren:

Erstens führte das Wahlergebnis von 2005 die Möglichkeit eines komplet-ten Machtwechsels herbei und damit zur Bildung einer alleine von vormaligen Oppositionsparteien gebildeten Regierungsformation. CDU und FDP hatten mit dem Wahlergebnis ein klares Regierungsmandat erhalten. Die CDU wurde erst-mals seit 1975 wieder stärkste Kraft im Landtag und trotz der Verluste der FDP gegenüber der Landtagswahl 2000 reichte es zu einer deutlichen Regierungs-mehrheit. Jenseits der daraus ableitbaren Unterstützung für das programmatische und personelle Angebot der neuen Landesregierung folgte aus der Landtagswahl in der Akteurswahrnehmung eine gravierende Pfadabweichung von den prägen-den landespolitischen Konstanten der vergangenen Jahrzehnte. Beispielhaft machte das der neue FDP-Fraktionsvorsitzende Papke deutlich, der von der Notwendigkeit einer „geordneten Revolution“ sprach, um die sozialdemokrati-schen „Machtkartelle“ der vergangenen 39 Jahre aufzubrechen (zit. nach Frigelj 2007a). Damit ging zumindest implizit die Erwartung einher, dass der Regie-rungswechsel auch auf organisatorischer und personeller Ebene gravierende Auswirkungen nach sich ziehen würde. Die Wahrnehmung und Kommentierung des Wahlergebnisses weist damit in institutioneller Hinsicht zunächst deutlich in Richtung des einleitend skizzierten Veränderungsnarrativs. Ebenso deuteten sich mit dem Wahlergebnis aber auch die Hemmnisse und Schwierigkeiten auf dem Weg zu solch umwälzenden Änderungen an. Die bundespolitische Überlagerung der Landespolitik durch die vorgezogenen Bundestagswahlen erwies sich als überraschende Begleitmusik für den weiteren Regierungsbildungsprozess. Zu-gleich war es zwar Jürgen Rüttgers seit der Übernahme des CDU-Landes-vorsitzes 1999 gelungen, sich in der nordrhein-westfälischen CDU eine unange-fochtene Führungsposition und ein großes Maß an innerparteilichem Einfluss zu erarbeiten. Allerdings hatte sich kein wirkliches strategisches Zentrum innerhalb der Union herausgebildet (so Neumann 2012: 205–207), welches nun zumindest ansatzweise in die Regierungsverantwortung transferiert werden konnte. Eine ähnliche Konstellation zeigte sich auf Seiten der FDP, bei der sich die Frage

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5.1 Der Regierungswechsel 2005 im zeitgeschichtlichen Kontext 275

nach der künftigen landespolitischen Führung erst im Nachgang zur Landtags-wahl beantwortete. Erst im Zuge der Koalitionsverhandlungen entschied sich der Wechsel von Parteichef Andreas Pinkwart in die Landespolitik und damit eine veränderte Personalkonstellation der FDP.

Zweitens ergab sich im Zuge des Koalitionsbildungsprozesses eine erste, weitgehend geräuschlose „Institutionalisierung eines dosierten Parteienwettbe-werbs“ (Florack 2010a) zwischen beiden Regierungspartnern. Bereits durch die beiderseitigen Koalitionsaussagen vor der Landtagswahl war eine wichtige Wei-chenstellung zugunsten harmonischer und wenig konfliktärer Koalitionsverhand-lungen erfolgt. Neben der vergleichsweise schnellen Einigung auf ein gemein-sames Handlungsprogramm für die gemeinsame Regierungsarbeit kristallisierten sich während der Koalitionsgespräche zudem informelle Regelsysteme zum künftigen Konfliktmanagement und zur weiteren interparteilichen Koordination ab. Die Zentrierung der Entscheidungsfindung auf einen engen Kreis von Akteu-ren mit umfassendem Vertretungspotential und die Konstituierung eines Koaliti-onsausschusses als regulär tagendes Routinegremium boten einen Ausblick auf die künftigen institutionellen Strukturen des Koalitionsmanagements. Zugleich zeichnete sich die Absicht vor allem auf Seiten der CDU ab, der FDP trotz des beachtlichen politischen Größenunterschieds auf Augenhöhe zu begegnen und damit eine gleichberechtigte Regierungspartnerschaft zu etablieren. Gleichwohl stellte sich die Frage nach der weiteren Akzeptanz dieses Arrangements, sollten Differenzen in der künftigen Regierungsarbeit auftreten. Die weitere Krisenfes-tigkeit der institutionellen Regelsysteme des Koalitionsmanagements musste sich erst erweisen. Zudem musste erst noch eine Rückbindung der koalitionsinternen Abstimmungsarrangements an die sonstigen exekutiven Koordinations- und Steuerungsinstanzen der Regierungsformation erfolgen.

Der Zuschnitt der Ressorts und der Kabinettsbildungsprozess waren drittens mit durchaus größeren organisatorischen Veränderungen der Exekutive verbun-den. Besonders stach die Trennung des vormaligen „Superministeriums“ für Wirtschaft und Arbeit hervor. Aber auch durch die Bildung des neuen Generati-onen- und Integrationsministeriums als Querschnittsressort sowie den neuen Zuschnitt des vormaligen Wissenschaftsministeriums, welches nun als „Innova-tionsministerium“ ausgewiesen wurde, deuteten sich veränderte inhaltliche Schwerpunktsetzungen der neuen Regierungsformation ab.

Für die künftige Regierungskoordination von besonderer Bedeutung waren zudem die organisatorischen Neuerungen in der Staatskanzlei. Insbesondere die Übernahme der Fachzuständigkeit für die Kulturpolitik veränderte den Charakter der Regierungszentrale. Die Personalunion von Kulturstaatssekretär und Chef der Staatskanzlei deutete diese Akzentverschiebung in der Rollenbeschreibung der Staatskanzleiführung auch in personalpolitischer Hinsicht an. Zudem kam

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276 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

dem Innovationsministerium als Hilfsinstrument des stellvertretenden Minister-präsidenten eine gegenüber einem reinen Fachressort veränderte Bedeutung zu. Hier mussten angesichts der koalitionsdemokratischen Erfordernisse künftig auch Koordinationsleistungen für die Regierungsformation insgesamt erbracht werden. Das MIWFT wurde damit gewissermaßen zu einer Staatskanzlei im Kleinen, welcher insbesondere für die FDP-interne Koordination und Steuerung eine besondere Bedeutung zukam.

Die weitere personelle Kabinettszusammensetzung wurde ebenfalls durch das Wahlergebnis sowie die besonderen landespolitischen Rahmenbedingungen unmittelbar beeinflusst. Angesichts der langen Oppositionszeit beider Regie-rungsparteien war die Regierungserfahrung der neuen Ministerriege sehr be-grenzt. Trotz der Berufung landespolitisch erfahrener Ressortchefs wie Helmut Linssen und Christa Thoben zeichnete sich damit auf Unionsseite jenseits des Ministerpräsidenten kein einflussreiches Machtzentrum innerhalb der Regie-rungsformation ab. Die in der Landespolitik besonders ausgeprägte Ministerprä-sidentendominanz (hierzu Korte et al. 2006: 87–91) erfuhr damit indirekt eine weitere Stärkung.

Viertens schließlich sandte der Ministerpräsident durch die Anlage seiner Regierungserklärung widersprüchliche Signale hinsichtlich der künftigen Aus-richtung der Regierungspolitik aus. Während einerseits vor der Hintergrundfolie der gemeinsamen politischen Vorhaben ein Bild gravierender landespolitischer Neuerungen gezeichnet wurde, die in Richtung der von Gerhard Papke angekün-digten „geordneten Revolution“ wiesen, betonte Rüttgers gleichzeitig Kontinui-tät und die Orientierung an etablierten Kernelementen nordrhein-westfälischer Politik. Dieser Spagat deutete die Probleme des neuen Ministerpräsidenten in der folgenden Legislaturperiode an, „sich in seine Rolle authentisch einzufügen“. Jürgen Rüttgers weckte somit durchaus „divergierende Erwartungen“: Während einerseits der Anspruch formuliert wurde, „ein fast 40 Jahre lang SPD-regiertes Bundesland binnen kurzer Zeit neu auszurichten und sowohl politisch als auch in wirtschaftsliberaler Hinsicht zu verändern“, „gab sich der Ministerpräsident als soziales Gewissen der CDU (…) und weckte so die Hoffnung, dass sich in Nordrhein-Westfalen doch nicht allzu viel verändern werde“ (Neumann 2012: 222–223). Dieses Spannungsverhältnis erwies sich gewissermaßen als Vorschau auf die auch in organisatorischer Hinsicht bedeutsamen Widersprüche zwischen kernexekutiver Stabilität einerseits und institutionellen Veränderungsprozessen andererseits. Auch hier zeigten sich in den folgenden Monaten widersprüchliche Entwicklungslinien: weitgehende organisatorische Stabilität und Kontinuität standen weitreichenden Veränderungen und institutionellen Umbaumaßnahmen gegenüber. Diese durch die Modi institutioneller Transformation analytisch ab-gebildeten Entwicklungsdynamiken gilt es, in der weiteren Analyse und entlang

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 277

des entwickelten gegenstandsbezogenen Analyseansatzes präziser in den Blick zu nehmen.

5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive: Theoretisch angeleitete Struktur- und Prozessanalyse formaler und informeller Regelsysteme

„Ich bin nicht der Ansicht, Politik sei Organisation“

(Interview Rüttgers: Frage 15). 5.2.1 Die Staatskanzlei: Koordinations- und Steuerungsinstanz der

Kernexekutive 5.2.1.1 Institutionendesign und begrenztes Displacement:

Die Neustrukturierung der Staatskanzlei im Zuge des Regierungswechsels 2005

‚Wir brauchen 100 neue Stellen in der Staatskanzlei und den Ministerien, wir brauchen frisches Blut von außen, wir brauchen unsere Vertrauten auf den Lei-tungsstellen. (...) Das ist unsere einzige Chance, den Regierungsapparat zu steu-ern‘, so wurde der neu berufene Minister für Europa- und Bundesangelegenhei-ten Breuer in einer der ersten CDU-Fraktionssitzungen kurz nach der Landtags-wahl 2005 hinsichtlich des künftigen Umgangs mit der Staatskanzlei und dem Exekutivapparat insgesamt zitiert (zit. nach Steinkühler 2005a). Darin drückte sich die Einschätzung aus, die Übernahme der Regierungsorganisation durch die neue Regierungsformation stelle sich vordringlich als personalpolitische Aufga-be dar. Jenseits der exekutiven Leitungspositionen zielte Breuer hiermit primär auf die politisch-administrativen Schaltstellen wie die Staatssekretäre, die Leiter der Minister- und des Ministerpräsidentenbüros, die persönliche Referenten und weitere unmittelbar den neuen Kabinettsmitgliedern zugeordnete Stabsstellen. Der Staatskanzlei als Nukleus der Kernexekutive kam dabei wiederum eine her-ausgehobene Stellung zu: Hier fand formal die Bündelung der Ressortvorhaben, die Vorbereitung der Kabinettssitzungen und die regierungsinterne Abstimmung statt. Insofern galt dieser Organisationseinheit der Regierungsformation von Beginn an größte Aufmerksamkeit.

Die Einschätzung Breuers zur Notwendigkeit personeller Veränderungen insbesondere in der Staatskanzlei, um eine angemessene Funktionserfüllung nach dem Regierungswechsel zu erreichen, deckte sich durchaus mit der Wahrneh-mung erfahrener Regierungsbeamter innerhalb des Regierungsapparats. Auch

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278 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

hier wurde personellen Weichenstellungen insbesondere in der Staatskanzlei eine herausgehobene Bedeutung beigemessen, um die künftige Funktionsfähigkeit der Staatskanzlei unter den veränderten politischen Mehrheitsbedingungen gewähr-leistet zu sehen. Michael Henze, der bereits unter Ministerpräsident Rau Mitar-beiter in der Staatskanzlei und seither in unterschiedlichen Funktionen zu einem intimen Kenner der Regierungszentrale geworden war, drückte es so aus:

„Sie brauchen bei einem Regierungswechsel (…) im Wesentlich vier Funktionen, um so ein Haus zu übernehmen: Chef der Staatskanzlei, Regierungssprecher, Perso-nalchef und Büroleiter. Diese vier. Ob die es dann schaffen, das Haus instrumentell in den Griff zu bekommen und die Integration zwischen dem normalen Verwal-tungsbetrieb und der politischen Steuerung hinzubekommen, das hängt erstens von den Personen ab und dem Faktor Vertrauen“ (Interview Henze: Frage 1).

Damit einher ging die Einschätzung einer besonderen Prägekraft des Minister-präsidenten hinsichtlich der Staatskanzlei. Aus Sicht der politisch-administra-tiven Praktiker zeigte sich die Staatskanzlei eindeutig als „Haus des Ministerprä-sidenten“. Wenngleich diese manchmal unterschätzten, „wie sehr es auf sie sel-ber ankommt“, werde gerade die Arbeit der Staatskanzlei in besonderer Weise durch „ihre Kultur, die sie mitbringen, und ihre Art zu denken“ geprägt. Zwar zeige sich auch der Einfluss des Regierungsapparats auf den Regierungschef im Sinne einer inhaltlichen, rechtlichen und politischen Beschränkung der verblei-benden Ermessensspielräume, aber dieser Einfluss gelte mindestens im gleichen Ausmaß in die andere Richtung: „Die Präferenzen, die Mentalität, die Kultur, die einer mitbringt, die färben ab aufs Haus“, was sich insbesondere langfristig im Sinne einer sich verfestigenden Organisationskultur ausdrücke (Interview Henze: Frage 19).

Diese Deutung einer in organisatorischer und personeller Hinsicht alleine auf den Ministerpräsidenten ausgerichteten Regierungszentrale wiederum wurde innerhalb der neuen Regierungsformation auch vom liberalen Koalitionspartner uneingeschränkt geteilt und akzeptiert. Sowohl der neue stellvertretende Minis-terpräsident Pinkwart als auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Papke zeigten für die besonders personenbezogene Arbeitsweise der Staatskanzlei Verständnis und sahen hier über das übliche Ressortprinzip hinaus eine besondere institutionelle Ausrichtung der Staatskanzlei auf die Person des Ministerpräsidenten (gleichlau-tend Interview Papke: Frage 9; Interview Pinkwart: Frage 9). Zugleich wurde aus dieser Zuschreibung die Erwartungshaltung abgeleitet, dass institutionelle Trans-formationsprozesse sich angesichts dieser schwächer als in den Fachressorts ausgeprägten strukturellen Prägefaktoren deutlich schneller, abrupter und umfas-sender vollzögen, als dass dies in den Ministerien der Fall war (Interview Henze: Frage 19; Interview Pinkwart: Frage 9). Entlang dieser Einschätzungen erschien

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 279

der Ministerpräsident auf den ersten Blick als intentional und strategisch han-delnder Change-Agent im Sinne des „Aufständischen-Typus“: als Konsequenz aus der personenzentrierten Arbeitsweise der Staatskanzlei ließ sich die Annah-me ableiten, dass von den alten Amtsinhabern etablierte Regeln und Strukturen beseitigt und neue, auf den neuen Ministerpräsidenten ausgerichtete institutionel-le Regelsysteme etabliert würden. Im Sinne eines vergleichsweise schnellen Displacements war insofern ein umfassender, schneller und transformativer insti-tutioneller Transformationsprozess der Staatskanzlei in den ersten Wochen zu erwarten.

Der neue Ministerpräsident Jürgen Rüttgers fand bei der Amtsübernahme jedoch keinesfalls eine bereits entlang stabiler Muster und langfristig eingeübter Praktiken operierende Staatskanzlei vor. Hierfür waren insbesondere zwei Fakto-ren verantwortlich.

Zum einen war sein Vorgänger Peer Steinbrück am 6. November 2002 ins Amt gewählt worden und insofern erst knapp zweieinhalb Jahre Ministerpräsi-dent gewesen. Die Zeit, die Staatskanzlei organisatorisch und personell auf seine Person auszurichten, war damit begrenzt gewesen, zumal sein Amtsvorgänger Wolfgang Clement seinerseits zahlreiche Änderungen in der Organisation der Regierungszentrale vorgenommen hatte (Korte et al. 2006: 220ff). Gleichwohl hatte Steinbrück die Amtsübernahme 2002 zu einigen durchaus gravierenden eigenen Umbaumaßnahmen sowohl des Kabinetts als auch der Regierungszent-rale genutzt (hierzu Korte et al. 2006: 276–283): Erstens waren einige vormals direkt in der Staatskanzlei angesiedelten Fachzuständigkeiten in die Ressorts zurück verlagert worden. Lediglich die Medienpolitik verblieb angesichts ihrer besonderen landespolitischen Stellung und föderalen Verflechtungen als fachpo-litische Aufgabe weiterhin im Zuständigkeitsbereich der Staatskanzlei. Zudem machte Steinbrück mit Wolfram Kuschke einen erfahrenen „Vollblutpolitiker“ mit Verwaltungserfahrung zum Chef der Staatskanzlei im Rang eines Ministers. Im Gegenzug entfiel das unter Wolfgang Clement von Hannelore Kraft geführte Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten. Die Zuständigkeit für Angelegenheiten des Landes beim Bund übernahm fortan die Wolfram Kuschke zugeordnete Staatssekretärin Ange-lika Marienfeld. Die mit Medien und Telekommunikation befasste Gruppe MTK, die Abteilung für Europa- und internationale Angelegenheiten sowie die Zustän-digkeit für die Vertretung des Landes bei der Europäischen Union verblieben wiederum im Aufgabenbereich der bereits 2001 von Wolfgang Clement in die Staatskanzlei berufenen Staatssekretärin Miriam Meckel. Allerdings verlor diese ihre bislang ausgeübte Funktion als Regierungssprecherin. Dieses Amt im Rang eines Staatssekretärs übertrug Steinbrück zu Jahresbeginn 2003 dem ehemaligen Zeitungsjournalisten Oliver Schumacher, der damit auch institutionellen Zugriff

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280 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

auf das Landespresse- und Informationsamt erhielt. Auch wenn die sonstige Abteilungsstruktur des Hauses mit den drei Abteilungen Recht und Verwaltung, Landespolitik und Ressortkoordination sowie Regierungsplanung weitgehend unangetastet blieb (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2004), waren all diese personellen und organisatorischen Umbaumaßnahmen der zentra-le Grund, warum zahlreiche Praktiken und Routinen noch nicht so dauerhaft eingespielt waren, dass sie zum Zeitpunkt des Regierungswechsels 2005 unange-fochten Anwendung fanden.

Zum anderen hatte Steinbrück im März und Oktober 2004 und damit weni-ge Monate vor der Landtagswahl vor der Landtagswahl 2005 ungeplant erneut personelle und organisatorische Änderungen in der Staatskanzlei vornehmen müssen. Auslöser des Revirements im Frühjahr waren Vorwürfe gegen einen Abteilungsleiter der Staatskanzlei, im Rahmen der Entwicklung einer „Image-kampagne“ für das Land NRW Regierungs- und Parteiangelegenheiten nicht ausreichend sorgfältig getrennt zu haben (vgl. ausführlicher Landtag Nordrhein-Westfalen 2005c; Landtag Nordrhein-Westfalen 2005c). Dies führte zunächst zu einem personellen Wechsel auf Abteilungsleitungsebene. Mit Wirkung zum 15. Oktober 2004 übernahm darüber hinaus die bisherige Staatssekretärin Marien-feld das Amt der Chefin der Staatskanzlei von Wolfram Kuschke, der fortan „nur“ noch als Minister für Bundes-, Europaangelegenheiten und Medien im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten angesiedelt war. Er übernahm in dieser Funktion auch die vorherige Aufgabe Marienfelds im Bereich der Bund-Länder-Koordination, während Marienfeld sich künftig als Amtschefin im Rang einer Staatssekretärin um alle Angelegenheiten der Staatskanzlei kümmerte (vgl. Mi-nisterpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2004 (Fortschreibung 2004); Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005 (Fortschreibung 2006). Nicht zuletzt diese personellen Veränderungen hinterließen in der Öffentlichkeit den Eindruck von Schwächen in der Regierungskoordination. Die Staatskanzlei als „starkes Steuerungsinstrument, das die Regierungsarbeit ziemlich diskret koordinierte, und dafür sorgte, dass im komplizierten Regierungsapparat die Weichen in die gewünschte Richtung gestellt wurden", verlor „viel von ihrem Nimbus“ (Horn 2004).

Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass Rüttgers keine langfristig von sei-nem Amtsvorgänger geprägte Organisationskultur in der Staatskanzlei vorfand. Vielmehr zeigte sich die Staatskanzlei als eine Institution, die in vergleichsweise kurzen Abständen wiederholten organisatorischen und personellen Anpassungs- und Veränderungsimpulsen durch die beiden Amtsvorgänger Clement und Steinbrück ausgesetzt gewesen war. Von zahlreichen Mitarbeitern der Regie-rungszentrale wurde überdies der Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten von Clement zu Steinbrück als besonders einschneidend für die Arbeitsabläufe inner-

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 281

halb der Staatskanzlei beschrieben (Florack 2005-2006). Hierdurch ergaben sich darüber hinausreichend organisationskulturelle Brüche in der Anwendung insti-tutioneller Routinen und Regeln.

Der wiederum besondere Charakter des vollständigen Regierungswechsels 2005 zeigte sich bereits bei den Vorbereitungen zur Übergabe der Regierungs-zentrale. Diese waren unmittelbar nach der Landtagswahl angelaufen. Lediglich Rüttgers selbst sowie der neue CDU-Fraktionschef Helmut Stahl verfügten aller-dings über nennenswerte Regierungserfahrung und damit auch Erfahrungen über den Umgang mit dem Regierungsapparat. Folglich spielte insbesondere Stahl in den ersten Tagen und Wochen eine besondere Rolle, kam ihm doch die Aufgabe zu, die grundsätzlichen Modalitäten zur Übernahme der Regierungszentrale mit der bisherigen Amtschefin Marienfeld zu besprechen (Tutt 2005a: 3).

Jenseits dieser exekutiven Leitungsebene galt es, den Regierungswechsel auf Arbeitsebene organisatorisch vorzubereiten. Beinahe automatisch hatte sich noch zu Oppositionszeiten aus dem Kreis der CDU-Fraktionsmitarbeiter und der CDU-Landesgeschäftsstelle eine Gruppe von Akteuren herausgebildet, die nun in Positionen innerhalb der Staatskanzlei wechseln sollten (Kronenberg 2009: 169–170). Dazu gehörten Axel Emenet, bislang persönlicher Referent Rüttgers im Amt des Fraktionsvorsitzenden, und der Wahlkampfleiter und Abteilungslei-ter in der CDU-Landesgeschäftsstelle, Boris Berger. Hinzu kamen Rüttgers Bü-roleiter in der Fraktion, Edmund Heller, sowie der Sprecher der CDU-Fraktion, Norbert Neß. Kennzeichnend für alle waren ihr vergleichsweise junges Alter und der beinahe vollständige Mangel an Regierungserfahrung. Diese „Boygroup“ (Teigeler 2006; ähnlich auch Interview Emenet: Frage 1) hatte zudem keinerlei Erfahrung mit sonstigen Verwaltungen ähnlicher Größenordnungen, so dass sich in der Eigenwahrnehmung des neuen Leiters des Ministerpräsidentenbüros Axel Emenet die ersten Wochen und Monate vor allem als „learning-by-doing oder learning-on-the-job“ zeigten.88 Für diesen Kreis spielte Helmut Stahl als Ratge-ber nach innen ebenfalls eine wichtige Rolle, indem er Impulse als „Vorsprecher und Helfer“ beisteuerte (Interview Emenet: Frage 1). Auch der designierte Chef der Staatskanzlei, Grosse-Brockhoff, war aufgrund seiner kommunalen Verwal-tungserfahrung wichtiger Hinweisgeber und bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Übernahme der Staatskanzlei eingebunden (Interview Emenet: Frage 2).

Zentraler Akteur bei der Entscheidung über den künftigen Zuschnitt der Staatskanzlei war jedoch Rüttgers selbst. Hinsichtlich der zentralen Organisati-onsentscheidungen zeigt sich eindeutig seine herausragende Rolle als Change-

88 Emenet beispielsweise schilderte die unmittelbar im Anschluss an die Landtagswahl erfolgte

Kontaktaufnahme zu Steinbrücks Büroleiterin, Brigitte Mandt. Er habe sich von ihr „wirklich coachen lassen“, indem er alle praktischen Fragen der Büroorganisation und -abläufe unmittelbar mit seiner Vorgängerin besprochen habe (Interview Emenet: Frage 23).

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282 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Agents im Sinne der formalen Organisationsgewalt des Ministerpräsidenten. Allerdings prägte weniger der Wunsch nach umfassenden organisatorischen Ver-änderungen als vielmehr nach organisatorischer Stabilität die Organisationsent-scheidungen zu Beginn der Amtsperiode. Für Rüttgers, der insofern gewisserma-ßen in der Rolle eines organisatorischen „Stabilisierungs-Agenten“ agierte, wa-ren hierfür zwei Motive ausschlaggebend:

Erstens führte er seinen politischen Erfahrungshintergrund im Umgang mit Institutionen der Regierungsorganisation auf Bundesebene an. Dieser habe ihn zu der Einschätzung gebracht, dass allzu große organisatorische Veränderungen lediglich zu Unruhe innerhalb der Administration und damit zu einer Ablenkung von der inhaltlichen Arbeit führten: „Man überlegt sich sehr genau, wie viel an Veränderung man macht. Was nicht unbedingt sein muss, macht man nicht.“ Die problematischen Konsequenzen organisatorischer Neuerungen seien weniger nach außen sichtbar, als im Binnenklima einer Institution spürbar. Denn „organi-satorische Änderungsideen“ seien „in kürzester Zeit in den Häusern bekannt“ und dann „werde wochenlang nichts anderes diskutiert, anstatt die Konzentration auf die inhaltliche Arbeit zu legen“ (Interview Rüttgers: Frage 13). Diese Ein-schätzung wurde auch von Andreas Krautscheid geteilt, der 2006 als Regie-rungssprecher in die Staatskanzlei wechselte. Auch er sah in der „Aufbruch-situation“ 2005 rückblickend die Gefahr, dass organisatorische Veränderungen zu einem „halben Jahr Stillstand der Rechtspflege“ geführt hätten (Interview Krautscheid: Frage 2). Hinzu kam nach Darstellung des 2005 eng in die Planun-gen eingebundenen neuen Leiters der Abteilung Regierungsplanung, Boris Ber-ger, die weitgehende Unkenntnis der „Newcomer“ über die praktischen Ent-scheidungsabläufe in der Staatskanzlei jenseits des Organisationsplanes. Dieser sei mit seinen formalen Zuordnungen bestenfalls eine erste Orientierung für die Planung gewesen. Man habe aber schlichtweg nicht einschätzen können, ob, „wenn da jetzt Ressortkoordination drauf steht, dort auch Ressortkoordination gemacht“ worden sei (Interview Berger: Frage 4). Auch hier habe Rüttgers‘ Erfahrung im Umgang mit der Regierungsorganisation dazu geführt, dass man zunächst abwartend und ohne große organisatorische Veränderungen die Amts-geschäfte in der Regierungszentrale aufgenommen habe (übereinstimmend auch Interview Emenet: Frage 4).

Zweites Motiv des neuen Ministerpräsidenten für die Betonung institutio-neller Stabilität war nach Einschätzung eines engen Mitarbeiters die Setzung eines bewussten Signals sowohl innerhalb der Staatskanzlei als auch darüber hinaus an die landespolitische Öffentlichkeit. Angesichts der besonderen Um-stände des vollständigen Regierungswechsels 2005 habe Rüttgers „eben nicht den großen Bruch, auch in der Außenwahrnehmung“ haben wollen. Trotz des in NRW als einschneidend empfundenen Regierungswechsels sollte gerade, anders

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 283

als von anderen Vertretern der Regierungsformation artikuliert, keine wie auch immer geartete landespolitische „Revolution“ stattfinden.89 Entsprechend mode-rat äußerte sich Rüttgers daher auch in einer Personalversammlung gegenüber den Mitarbeitern der Staatskanzlei, indem er vor allem die Erwartung zu vertrau-ensvoller Zusammenarbeit äußerte und an den Beamtenethos parteipolitischer Neutralität appellierte (Florack: 2. Juni 2006). 5.2.1.1.1 Änderungen der Formalstruktur: Begrenztes Displacement Ganz ohne organisatorischen Gestaltungwillen hinsichtlich der Regierungszent-rale präsentierte sich der neue Ministerpräsident allerdings nicht. Insbesondere die Entscheidung, die Zuständigkeit für Kulturangelegenheiten künftig im Sinne einer direkten Ressortzuständigkeit des Ministerpräsidenten in der Staatskanzlei zu bündeln, wurde vom späteren Chef der Staatskanzlei, Karsten Beneke, als durchaus weitreichende institutionelle Veränderung mit entsprechenden Konse-quenzen empfunden (Interview Beneke: Frage 1). Hinzu kamen Veränderungen im Zuschnitt des Ministerpräsidentenbüros, die Bündelung von Medienpolitik einerseits und dem Presse- und Informationsamt der Landesregierung unter der Verantwortung des Regierungssprechers im Rang eines Staatssekretärs anderer-seits sowie einige strukturelle Anpassungen auf Abteilungs- und Referatsebene (vgl. Überblicksdarstellung in Abbildung 3).

89 Auch die Bereitschaft, dem Autor der vorliegenden Studie über Monate hinweg Einblicke in

die Staatskanzlei zu ermöglichen, weist in dieselbe Richtung. Auch diese demonstrative Offenheit gegenüber einer wissenschaftlichen Begleitung während des ersten Amtsjahres konnte als Signal verstanden werden, keine parteipolitisch motivierte Abschottung betreiben, sondern Transparenz und professionellen Umgang mit vorhandenen Strukturen demonstrieren zu wollen. Dazu passen auch die bereits oben angedeuteten Formen der „Kontinuitätsinsze-nierung“ wie die Bezugnahme auf Johannes Rau, die Rolle als wahrer „Arbeiterführer“ im SPD-Stammland und die Revitalisierung NRWs als „soziales Gewissen“ der Bundesrepublik.

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Abbildung 3: Organisationsplan der Staatskanzlei 2005

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005 Die damit im Sommer 2005 vorgenommenen formalen Organisationsverände-rungen in der Staatskanzlei können analytisch zusammengefasst als institutionell begrenztes Displacement beschrieben werden: Ein Teil der mit der vorhergehen-den Organisationsstruktur verbundenen alten Regeln wurde außer Kraft und neue institutionelle Regeln im Sinne einer veränderten Formalstruktur in Kraft gesetzt. Allerdings bezogen sich diese Änderungen ausschließlich auf die oben kurz genannten und im weiteren Verlauf detaillierter zu skizzierenden Veränderun-gen. Die die Arbeitsabläufe und Organisationsmodalitäten formal regelnde Ge-schäftsordnung der Landesregierung blieb ebenso in Kraft wie zahlreiche weitere institutionelle Merkmale der Staatskanzlei unter Steinbrück. Zudem bildeten einige der formalen Organisationsentscheidungen den Ausgangspunkt für nach-folgende Informalisierungsdynamiken und in der Konsequenz graduelle, aber durchaus weitreichende institutionelle Transformationsprozesse innerhalb der Regierungszentrale. Der institutionelle Transformationsmodus des Displace-

MinisterpräsidentDr. Jürgen RüttgersBüro des

MinisterpräsidentenDr. Axel Emenet

Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten

Michael Breuer

Chef der Staatskanzlei und Staatssekretär für KulturHans-Heinrich Grosse-Brockhoff

Staatssekretär für Bundes-und Europaangelegenheiten Bevollmächtigter des Landes

beim BundKarsten Beneke

Regierungssprecher und Staatssekretär für

MedienThomas Kemper

Landes-presse- und Information

samt

Gruppe MTK:

Medien und Telekommu-

nikation

Abt. I: Recht, Verwaltung

Bernhard Nebe(ab Ende 2005

Annette Storsberg)

Abt. II: Landespolitik, Ressortkoordination

Dr. Edmund Heller

Abt. III: Regierungs-

planung

Dr. Boris Berger

Vertretung des Landes bei der EU

Abt. IV: Kultur

Wolfgang Kral

Abt. V: Europa- und Internationale Angelegen-

heiten

Dr. Herbert Jacoby

Vertretung des Landes beim Bund

Stellvertretender Regierungssprecher

Holger Schlienkamp

Organisationsplan vom 20. September 2005

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 285

ments war folglich in seiner Reichweite beschränkt und eng verkoppelt mit der institutionellen Dynamik, die sich in den folgenden Monaten in der weiteren institutionellen Praxis ergeben sollte. a) Die „Entmachtung“ des Ministerpräsidentenbüros: Von der Stabssteuerung zur administrativen Unterstützungseinheit Ausgangspunkt für die formalen Strukturveränderungen des Ministerpräsiden-tenbüros war die Wahrnehmung Rüttgers‘, dieses habe sich unter der Minister-präsidentschaft von Peer Steinbrück zu einer „Sonderorganisationsform“ und zu einer „Staatskanzlei in der Staatskanzlei“ entwickelt (Interview Rüttgers: Frage 5). Diese Perzeption entsprach der häufig an anderer Stelle formulierten allge-meinen Rollenzuschreibung dieser Organisationseinheit: Vor allem personenge-bunden zeige sich der „Büroleiterkontext“ (Mielke 2011: 99–101) als prägendes Strukturelement einer Regierungszentrale insofern, als dass der Büroleiter als Schaltstelle „im Prinzip alles mitbekommen und steuern“ könne. Als „Informati-onsbroker“ und Gatekeeper präsentiere sich der Büroleiter klassischerweise als potentieller „Flaschenhals“, der „die Verantwortung den Chef abzuschirmen“ hat und „zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen durchkommen“ lassen müsse (Interview Mai: Frage 6). Im Sinne eines nahezu „symbiotischen Verhält-nisses“ von Büroleiter und Ministerpräsident (Mielke 2011: 99–101) wird dem Büroleiter als zentralem „Machtmakler“ (Korte 2003) eine beinahe umfassendes Interpretationsmonopol gegenüber dem Ministerpräsidenten zugeschrieben.

Hiervon abweichend war die Intention Rüttgers, das MP-Büro künftig allei-ne als administrative Schaltstelle ohne darüber hinausreichenden politischen Gestaltungsanspruch zu definieren. Hier sollte fortan keine politische Beratung oder Strategieentwicklung mehr stattfinden (Interview Emenet: Frage 8). Diese formal abzusichernde Neuausrichtung des MP-Büros entsprach zugleich der persönlichen Rollenwahrnehmung des von Rüttgers zum Büroleiter berufenen Axel Emenet, der sich nicht als politischer Berater und „Einflüsterer“, sondern als administrativer Zuarbeiter verstand (Interview Emenet: Frage 8). Insofern waren institutionelle Intention des Ministerpräsidenten und personelle Ausgestal-tung deckungsgleich.

Praktische Konsequenz dieser Absichtserklärung war die Verkleinerung des MP-Büros um ein Referat und die Beschränkung der verbleibenden drei Arbeits-bereiche auf administrativ-organisatorische Aufgaben (vgl. Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005 (Fortschreibung 2006) und Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005; entsprechend auch Interview Emenet: Frage 8). Das unter Steinbrück noch vorhandene Referat MPB 3 „Kommunikati-

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on, Information, Analysen“ wurde aus dem MP-Büro herausgelöst und dem ausgeweiteten Aufgabenbereich der Abteilung III „Regierungsplanung“ zuge-ordnet. Die Koordination von Terminangelegenheiten sowie rein repräsentative Aufgaben des Ministerpräsidenten (Grußworte und Schirmherrschaften) verblie-ben im Zuständigkeitsbereich des MP-Büros. Hinzu kamen die von Axel Emenet als Büroleiter wahrgenommenen „allgemeinen Aufgaben“ des Büros sowie die Verbindungen zu Parteien und Organisationen. Darüber hinaus fiel die Termin-koordination in seinen Zuständigkeitsbereich, wobei besondere Termine mit politischem Gestaltungsanspruch durch das Referat III.1 vorgegeben und ausge-füllt wurden. Die Rolle des Ministerpräsidentenbüros blieb folglich auf die rein administrative Zuarbeit ohne politischen Gestaltungsanspruch beschränkt. b) Kultur als Chefsache: Die Integration der Kulturabteilung in die Staatskanzlei Gewissermaßen als unmittelbares Ergebnis des formalen Regierungsbildungs-prozesses sowie der programmatischen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag wurde die Kulturpolitik institutionell in der Staatskanzlei verankert. Zu den vor-mals drei Abteilungen im Zuständigkeitsbereich des Chefs der Staatskanzlei kam damit die neue Abteilung IV für Kultur hinzu. Da der neue Chef der Staatskanz-lei, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, ein ausgewiesener Kulturpolitiker war und nicht zuletzt auf Grund dieser Qualifikation in das nun doppelt ausgerichtete Amt als Chef der Staatskanzlei und Kulturstaatssekretär berufen worden war (Interview Emenet: Frage 3)90, ergab sich jenseits der formalen Zuständigkeit eine unmittelbare inhaltliche Anschlussfähigkeit. Die Kulturabteilung sowie die inhaltliche Zuordnung war folglich die institutionelle Absicherung des von Rütt-gers selbst proklamierten Ziels, die Kulturpolitik in NRW zur Chefsache zu ma-chen. Während der Ministerpräsident formal im Kabinett zuständig war, blieb die konkrete Aufgabenwahrnehmung weitgehend dem Kulturstaatssekretär vor-behalten. Entsprechend erklärte Grosse-Brockhoff bei seinem Amtsantritt: ‚In NRW wird Kultur jetzt ‚Chefsache‘ und ich helfe im kräftig dabei‘ (zit. nach Korinthenberg 2005).

Mit dieser maßgeblich von Rüttgers selbst initiierten institutionellen Verän-derung verband sich eine entsprechend neue Rolle der Staatskanzlei. Rüttgers setzte sich dabei auch über Bedenken hinweg, welche die Integration operativer

90 Ein zweiter wichtiger Grund bestand in der personalpolitischen Absicht Rüttgers‘, die Zahl der

Staatssekretärsstellen nicht zu erhöhen. Nicht zuletzt daher übernahm Grosse-Brockhoff beide Aufgaben in Personalunion (Interview Rüttgers: Frage 11).

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 287

Aufgaben in die Staatskanzlei problematisierten.91 Ähnlich wie unter Wolfgang Clement, der dieses institutionelle Instrument zur Betonung besonderer „Chefsa-chen“ in seinem Verantwortungsbereich ebenfalls genutzt hatte, wurde eine poli-tisch für besonders wichtig erklärte Fachzuständigkeit unmittelbar im Geschäfts-bereich des Ministerpräsidenten angesiedelt. Wenngleich formal in die klassische Linienstruktur des Hauses integriert, spielte die Kulturabteilung eine Sonderrol-le. Zum einen ergab sich diese aus der fachlichen Nähe zum Chef der Staatskanz-lei und Kulturstaatssekretär. Anders als zu den sonstigen Querschnittsaufgaben der Abteilungen I bis III hatte Grosse-Brockhoff einen inhaltlichen Zugang zu den hier bearbeiteten Themen. Zum anderen nahm die neue Abteilung auch auf-grund ihrer vorherigen Zuordnung eine Sonderstellung ein. Aus dem bis 2005 von Michael Vesper geführten Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport wurde die Abteilung als eine „1:1 Umsetzung (…) ohne jegliche per-sonelle Veränderung“ vollzogen, worauf Grosse-Brockhoff im Rahmen einer Sitzung des Hauptausschusses im Landtag hinwies. Auch zwei seinem Büro als Kulturstaatssekretärs zugeordnete Stellen wurden unmittelbar aus dem ehemali-gen Ministerbüro Vespers transferiert (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 24–25). Hierdurch wurde die organisationslogisch bedingte Eigenständigkeit der Kulturabteilung trotz der Einbindung in die klassische Linienstruktur der Staats-kanzlei noch einmal besonders betont (so auch Interview Mai: Frage 10; Florack 2006f: Frage 3). Zugleich hielten sich angesichts dieser weitgehenden institutio-nellen Abschottung die Bezüge zu den sonstigen Querschnittsaufgaben der Staatskanzlei in Grenzen. Unterstützt wurde diese „Inselstellung“ der Kulturab-teilung durch das inhaltlich begründete Selbstverständnis der Mitarbeiter, wel-ches sich deutlich von dem der übrigen „Staatskanzlisten“ unterschied. c) Begrenztes Displacement auf Abteilungsebene: Die Neuausrichtung der Abteilung III als Nukleus für Strategiebildung und politische Steuerung Jenseits dieser beiden strukturellen Änderungen zeigte sich eine stärkere Konti-nuität der Organisationsstruktur insbesondere mit Blick auf die übrige Abtei-lungsstruktur der Staatskanzlei. Hier wurden auf den ersten Blick keine struktu-rellen Änderungen im Zuschnitt der bereits vorhandenen Linienstruktur vorge-nommen. Auch die Anzahl der Abteilungen blieb konstant. Allerdings erfolgt eine Neuzuordnung und stärkere Trennung von Zuständigkeiten (vgl. Minister-

91 Abgeraten wurde ihm sowohl von seinem Amtsvorgänger Steinbrück als auch von anderen

Mitarbeitern der Staatskanzlei (Florack 2005c). Rüttgers selbst verwies auf entsprechende Bedenken seines Amtsvorgängers Johannes Rau, mit dem er diese Frage besprochen habe (Interview Rüttgers: Frage 10).

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präsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005 (Fortschreibung 2006); Minis-terpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005).

Die bereits bestehenden Abteilungen für Ressortkoordination (Abt. II) und Regierungsplanung (Abt. III) gehörten ebenso wie die Zentralabteilung (Abt. I) weiterhin zum unmittelbaren Zuständigkeitsbereich des Chefs der Staatskanzlei. Einzige strukturelle Ergänzung war die Erweiterung um die Kulturabteilung.

Die unter Clement und Steinbrück wiederholt veränderten Zuständigkeiten für Bundes-, Europaangelegenheiten und Medienpolitik wurden vor allem perso-nell neu zugeordnet. In den Zuständigkeitsbereich des neuen Ministers für Bun-des- und Europaangelegenheiten, Michael Breuer, sowie des zugeordneten Staatssekretärs, Karsten Beneke, ging die Fachabteilung V für „Europa- und Internationale Angelegenheiten“ ein. Hinzu kamen die beiden Landesvertretun-gen beim Bund und bei der EU.

Das Feld der Medienpolitik wurde weiterhin in der bereits vorhandenen Gruppe MTK „Medien und Telekommunikation“ bearbeitet. Diese wurde aber nun dem neuen Regierungssprecher Michael Kemper zugeordnet, der zugleich das Amt eines Staatssekretärs für Medien übernahm. Neben der Gruppe MTK gehörte folglich das Landespresse- und Informationsamt in seinen Zuständig-keitsbereich. Insofern zeigte sich auch hier zunächst nur eine Veränderung in der Allokation personeller Verantwortlichkeiten.

Jenseits dieser vordergründigen Stabilitätsorientierung ergaben sich jedoch durch abteilungsinterne Restrukturierungen institutionelle Akzentverschiebun-gen, die sich in der Organisationspraxis der folgenden Monate weiter verdichten und als Katalysatoren für institutionelle Transformationsdynamiken wirken soll-ten. Auslöser für einen Teil dieser Verschiebungen war die veränderte Rolle des Ministerpräsidentenbüros. Insbesondere die vormals hier vermuteten politischen Beratungs- und Planungsaufgaben sollten in die Fachabteilungen zurückverlagert werden. Damit war zumindest deklaratorisch eine Dezentralisierung vormals im Ministerpräsidentenbüro zentralisierter Aufgaben intendiert (Florack 2006f: Frage 8). Allerdings zeigte sich, dass ein größerer Teil dieser Aufgaben nun wiederum in der Abteilung III für Regierungsplanung zusammengefasst wurde. Damit erfolgt zwar eine Rückverlagerung in die Linienstruktur, aber keineswegs eine Dezentralisierung im eigentlichen Sinne.

Wie Tabelle 10 zeigt, erfuhr die Abteilung III einerseits einen nennenswer-ten Aufgabenzuwachs. Mit dem Transfer des Protokollreferats, welches zuvor in der Abteilung für Europa- und Internationale Angelegenheiten verankert gewe-sen war, und der für die Ordens-, Titel- und Staatspreisvergabe zuständigen Or-ganisationseinheit aus der Zentralabteilung wurden zwei Referate in die Abtei-lung III integriert, die indirekt Außenwirkung entfalteten und vor allem die Rep-räsentationsaufgaben und die Staatsoberhauptfunktion des Ministerpräsidenten

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berührten. Insbesondere in Verbindung mit dem neu ausgerichteten Referat III.1 zeigte sich eine veränderte Aufgabe der Abteilung III, den Ministerpräsidenten jenseits der politischen Beratung und Planung stärker in darstellungspolitischer Hinsicht zu unterstützen und zugleich politische Beratungsleistungen dort zu-sammenzufassen (Interview Emenet: Frage 8).

Mit dem Referat III.1 wurde andererseits in der Abteilung III ein neuartiges „Redenschreiberreferat“ installiert, welches sich in der Praxis deutlich von der Arbeitsweise des Vorgängerreferats unterschied. Zu den dort verankerten Ar-beitsschwerpunkten erklärte die Staatskanzlei in der Antwort auf eine Kleine Anfrage eines SPD-Abgeordneten im November 2005 (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005b), diese bestünden aus der Ausarbeitung von Reden und lägen „im Bereich der Erstellung von Grundsatzpapieren und politischen Analysen“. Zu Referenzzwecken wurde auf entsprechende Vorbilder anderer Staatskanzleien verwiesen, in denen ähnliche Organisationseinheiten etabliert seien. Des Weite-ren erklärte die Staatskanzlei, bereits unter den Ministerpräsidenten Clement und Steinbrück habe es Referate gegeben, in denen ‚Reden‘ als Arbeitsschwerpunkte genannt worden seien. Tabelle 10: Änderungen in der Abteilung III Regierungsplanung*

Abteilung III Regierungsplanung

(Steinbrück)

Abteilung III Regierungsplanung

(Rüttgers 2005)

Änderung

Ref. III.1: Politische und gesellschaftliche Analysen und Doku-mentation

Ref. III.1: Reden, Tex-te, Politische und ge-sellschaftliche Analysen

Veränderung zu einem vor allem als Reden-schreiberreferat tätigen Arbeitsbereich

Ref. III.2: Arbeitspro-gramm, Ressortkoordi-nation Finanzen und Beteiligungen, Finanz- und Steuerpolitik

Ref. III.2: Arbeitspro-gramm und Control-ling; Ressortkoordinati-on Finanzen und Betei-ligungen; Finanz- und Steuerpolitik

Namensänderung ohne unmittelbare inhaltliche Konsequenzen

Ref. III.3: Längerfristi-ge Planung

Ref. III.3: Längerfristi-ge Planung; Standort-marketing

Standortmarketing als ergänzender Aufgaben-bereich

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Tabelle 10 (Fortsetzung): Änderungen in der Abteilung III Regierungsplanung*

Abteilung III Regierungsplanung

(Steinbrück)

Abteilung III Regierungsplanung

(Rüttgers 2005)

Änderung

Referat III.4: Bürger-center, CallNRW

Ref. III.4: Protokoll und Konsularwesen, Veranstaltungsorgani-sation, Empfang MP

Transferiert aus Abt. IV

Ref. III.5: Orden, Titel, Staatspreise

Transferiert aus Abt. I

Ref. III.6: Bürgercenter, CallNRW

Neue Nummerierung

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005, 2005 (Fortschreibung 2006); *Änderungen sind fett markiert Allerdings stellte sich die neu institutionalisierte Struktur in der Praxis gänzlich anders dar als bei den genannten Amtsvorgängern (übereinstimmend Interview Emenet: Frage 9; Florack 2010b; Wiedemann 2007b). Bei diesen waren Rede-entwürfe dezentral aus den Fachreferaten insbesondere der Abteilung II Ressort-koordination gekommen und dann in einem zweiten Schritt redaktionell entlang grundsatzpolitischer Erwägungen überarbeitet worden. Das Ministerpräsidenten-büro hatte oftmals als zentrale Clearing-Stelle fungiert. Die neue Organisations-struktur sah demgegenüber eine Zentralisierung dieser Aufgabe in der Abteilung III vor. Das Erstellen von Reden und Analysen wurde in Referat III.1 zusam-mengefasst und aus den Fachreferaten wurde lediglich auf Nachfrage hin inhalt-lich zugearbeitet. Auch agierte nicht mehr das Ministerpräsidentenbüro als in-haltliche Kontrollinstanz, sondern die Leitung der Abteilung III war nun erste Ansprechstation für die Redenschreiber. Dieser Zentralisierungsaspekte ent-sprach genau wie die übrigen institutionellen Veränderungen einer stärker an darstellungspolitischen Anforderungen orientierten Arbeitsweise der Abteilung III.

Zu dieser institutionellen Neuausrichtung passten die damit verbundenen personellen Konsequenzen in der Abteilung III. Gegenüber dem Landtag erklärte die Staatskanzlei hinsichtlich der im Referat angesiedelten Stellen, von den vier im November 2005 beschäftigten Referenten seinen drei neu eingestellt worden und die „Entscheidung über die Besetzung der Referatsleiterstelle und einer weiterer Referentenstelle“ sei „zurzeit offen“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005b). Angesichts des beschränkten personellen Patronagepotentials deutete sich mit dieser Konzentration personeller Neubesetzungen im Referat III.1 die

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hervorgehobene Bedeutungszuschreibung dieser Organisationseinheit innerhalb der Staatskanzlei an (Interview Mai: Frage 2). Im von der neuen Landesregie-rung vorlegten Nachtragshaushalt 2005 waren insgesamt 27 neue Stellen in der Staatskanzlei angemeldet worden. Allerdings diente nach Darstellung des Chefs der Staatskanzlei ein großer Teil nicht der personellen Neuausrichtung im Sinne politischer Präferenzen der Hausspitze, sondern der Implementation von Um- und Versetzungen, die sich aus den Veränderungen im Kabinettszuschnitt sowie aus konkreten Personalwünschen von Peer Steinbrück hinsichtlich enger Mitar-beiter bei der Amtsübergabe ergeben hatten (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 19–20).92

Anders als die Planungsabteilung blieb die Abteilung I, deren Referatszahl sich durch den Transfer des Ordensreferats lediglich um eins verringerte, institu-tionell weitgehend unverändert. Auch in der für die Ressortkoordination zustän-digen Abteilung II dominierte klar organisatorische Stabilität und die wenigen Änderungen entsprangen eher verwaltungsimmanenten Logiken. So wurde das ehemalige Großreferat II.3 aufgeteilt. Hier verblieben die Aufgaben der Ressort-koordination für die Schul-, Jugend-, Wissenschafts- und Forschungspolitik, während im neuen Referat II.7 nun eigenständig der Kontakt zu Kirchen und Religionsgemeinschaften bearbeitet wurde. Integriert wiederum als neues Referat II.6 wurde das unter Steinbrück weitgehend freischwebende Projekt „Soziale Infrastruktur und Daseinsvorsorge“. Diese Anpassung entsprach wiederum Rütt-gers Intention, möglichst alle Arbeitsbereiche systematisch in die Linienstruktur zu integrieren und Sonderorganisationsformen innerhalb der Staatskanzlei zu schleifen.

Der gleichen Logik moderaten institutionellen Displacements folgten schließlich die neuen Zuordnungen des Bereichs Medien und Landespresseamt sowie der Europaabteilung und der Landesvertretungen. Die vier Referate des Landespresse- und Informationsamtes wurden unverändert dem Zuständigkeits-bereich des Regierungssprechers unterstellt. Hinzu kam die Gruppe MTK, deren Zuschnitt sich wiederum nur in Nuancen veränderte. Die unter Steinbrück noch vorhandene Verkopplung von Medien- und Europapolitik wurde aufgelöst und dem Regierungssprecher zugleich eine unmittelbare fachpolitische Zuständigkeit zugewiesen. Im Geschäftsbereich des Ministeriums für Bundes- und Europaan-gelegenheiten unter Führung von Minister Breuer und Staatssekretär Beneke wurden lediglich kleine Anpassungen auf Referatsebene vorgenommen und die Abteilung V und die Verantwortung für die beiden Landesvertretungen in Berlin und Brüssel in eine klassische Linienstruktur überführt. 92 Eine detailliertere Aufschlüsselung der personellen Veränderung folgt im nachfolgenden Un-

terkapitel.

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5.2.1.1.2 Personelle Veränderungen und institutionelle Rückkopplungsprozesse: Neubesetzung von Schlüsselpositionen und Einfluss auf die Organisationsstruktur Die systemisch im parlamentarischen Regierungssystem angelegten Grenzen personalpolitischer Patronage nach Regierungswechseln lassen sich am Beispiel der Staatskanzlei 2005 deutlich ablesen. Jenseits der aus dem Chef der Staats-kanzlei und den Staatssekretären bestehenden politischen Leitungsebene der Regierungszentrale ergaben sich keine automatischen personellen Verände-rungsmöglichkeiten. Da die Abteilungsleiter in NRW anders als auf Bundesebe-ne nicht als „politische Beamte“ eingestuft und daher nicht aus politischen Grün-den in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten, kam gegenüber der Bundesebene eine zusätzliche Beschränkung der personalpolitischen Handlungs-freiheit des neuen Ministerpräsidenten hinzu. Personelle Änderungen waren hier nur durch Versetzungen in dem jeweiligen Besoldungs- und Aufgabenstand entsprechende Positionen möglich.

Zentral für die personellen Veränderungen im Zuge des Regierungswech-sels waren jenseits dieser strukturellen Hemmnisse aber vor allem die Verbin-dungen zu den bereits skizzierten institutionellen Veränderungen der Regie-rungszentrale. Die frühen Organisations- und Personalentscheidungen der neuen Regierungsformation waren insbesondere auf der Leitungsebene unmittelbar miteinander verflochten. Dabei zeigte sich analytisch eine jeweils wechselseitige Beeinflussung: Während auf der einen Seite bereits vorgeplante Personalent-scheidungen auf die Gestaltung der Organisationsstruktur abfärbten, ergaben sich andere Personalwechsel erst aufgrund institutioneller Transformationen bei der Übernahme der Regierungszentrale.

Als personalpolitischer Auslöser institutioneller Veränderungen stellte sich zum einen das Übergabeszenario zwischen Steinbrück und Rüttgers dar. Einige Wochen nach Aufnahme der Amtsgeschäfte durch den neuen Ministerpräsiden-ten wurden Vorwürfe laut, die neue Regierungsformation realisiere einen deutli-chen Personalzuwachs in der Staatskanzlei (vgl. Uferkamp 2005; Tutt 2005b: 7). Kritik entzündete sich insbesondere deswegen, weil die Regierung parallel dazu mit Plänen für Stellenkürzungen zur Konsolidierung des Landeshaushalts ange-treten war.93 Die neue Landesregierung wies die auch von der Opposition artiku-

93 Weiteren Nachhall fand diese Kritik in Form öffentlich gewordener Kritik des Personalrats an

der Personalpolitik der neuen Landesregierung zum Jahreswechsel 2005/06. Die inzwischen neu berufene Abteilungsleiterin Storsberg bemühte sich im Hauptausschuss des Landtages um die Darstellung, der Personalzuwachs sei eine vorübergehende Folge des Regierungswechsels und werde innerhalb der Legislaturperiode bereinigt (siehe Landtag Nordrhein-Westfalen 2006c: 17–19 ).

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lierten Vorwürfe im Rahmen einer Hauptausschusssitzung des Landtages (Land-tag Nordrhein-Westfalen 2005a: 19–27) zurück und verwies bei der Aufklärung der Sachverhalte insbesondere auf Maßnahmen, die sich aus der Fürsorgepflicht des ausgeschiedenen Ministerpräsidenten Steinbrück gegenüber seinen ehemali-gen Mitarbeitern ergeben hätten. Der Chef der Staatskanzlei erklärte, von den im Nachtragshaushalt 2005 angemeldeten 27 neuen Stellen im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten seinen zehn geschaffen worden, um Personal aus dem Um-feld Steinbrücks „auf eigenen Wunsch der betreffenden Mitarbeiter und zum Teil auf ausdrücklichen Wunsch oder Vorschlag der Vorgängerregierung“ in andere Arbeitsbereiche der Staatskanzlei oder der Ressorts zu versetzen. Hinzu seien zwei weitere Stellen für das neue Büro des ehemaligen Ministerpräsidenten ge-kommen, was ebenfalls auf den „ausdrücklichen Wunsch der Vorgängerregie-rung“ zurückzuführen gewesen sei. Angesichts weiterer personaltechnisch be-dingter Maßnahmen – u.a. der Beendung von Abordnungen in der Staatskanzlei und der Umwandlung von Beratungsleistungen in Stellen – sei „[n]ur ein gerin-ger Teil des in Aussicht genommenen Stellenzuwachses (…) tatsächlich zur Ermöglichung neuer politischer Schwerpunktbildungen“ vorgesehen (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 19–20). Steinbrück wiederum verwies seinerseits auf „die jedem ausgeschiedenen Amtsinhaber obliegende Fürsorgepflicht gegen-über Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“ und bestätigte, dies habe „zwei, maxi-mal drei Mitarbeiter/innen des Landespresseamtes und sieben oder acht aus sei-nem Ministerpräsidentenbüro“ betroffen (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 21–23; vgl. Tutt 2005a: 3; so auch Interview Emenet: Frage 7).

Zugleich machte der Chef der Staatskanzlei aber auch deutlich, dass die damit verbundenen Möglichkeiten für weitere Personalfluktuationen genutzt würden, um organisatorische Veränderungen der Staatskanzlei im Zuge des Re-gierungswechsels durch personalpolitische Neuerungen abzusichern. So sollten für die Abteilung III „aufgrund der neuen Schwerpunktbildung insgesamt sieben Stellen geschaffen werden“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 19–20). Die von Ministerpräsident Rüttgers intendierte Schwächung des Ministerpräsiden-tenbüros und die Verlagerung der entsprechenden Aufgaben in die Abteilung III, die organisatorisch bereits angelegt war, konnte damit auch in personeller Hin-sicht realisiert werden. Michael Breuer verwies offensiv darauf, dass die geplan-ten Veränderungen auf den Wählerwillen zurückzuführen seien und kam seiner-seits zu dem Fazit, die „neue Landesregierung bewege sich mit diesen Verände-rungen in der Kontinuität des Staatsverständnisses in der Bundesrepublik Deutschland, nach dem die Beamt/inn/en der jeweiligen Regierung loyal zuarbei-teten und Veränderungen nur auf besonderen Positionen erfolgten“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 24).

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Auf der politischen Leitungsebene der Staatskanzlei zeigte sich ebenfalls der Einfluss personeller Erwägungen auf die Formierung der Organisationsstruk-tur und daraus abgeleitete institutionelle Anpassungen der Regierungszentrale. Besonders deutlich wurde dies mit Blick auf die Berufung Michael Breuers zum Bundes- und Europaminister. Hier zeigte sich eine deutliche Bestätigung der Einschätzung, es komme für den engen Kreis um einen neuen Ministerpräsiden-ten, also gewissermaßen eine „Korona von Vertrauten“ (Interview Henze: Frage 3), vor allem auf das persönliche Vertrauensverhältnis und erst in zweiter Linie auf den fachlichen Hintergrund der betreffenden Personen an (Grunden 2009: 391). Dies galt in besonderer Weise für Michael Breuer, der als „verlängerter politischer Arm“ Rüttgers‘ galt (WamS v. 10. Juli 2005). Das enge persönliche Verhältnis zu Rüttgers machte institutionalisierte Abstimmungsroutinen beinahe überflüssig und prädestinierte Breuer dazu, in den unterschiedlichen Rollen eines „trouble-shooters“ und eines personalisierten Frühwarnsystems im Sinne des Ministerpräsidenten zu agieren. Hinzu kam angesichts seines Landtagsmandats als wichtiges Auswahlkriterium die enge Rückbindung an die CDU-Fraktion und die Partei, die er wiederum als Ressource zur Rückkopplung an die Staatskanzlei einbrachte (Florack 2006c: Frage 4). Ihm kam damit über die institutionelle Auf-gabenzuschreibung als Minister eine besondere Position als „Scharnier zwischen Landesregierung und CDU-Fraktion“ zu (2006b: 10). Die Zuständigkeit für alle Fragen der europapolitischen und Bundesratskoordination machte Breuer zudem zu einer zentralen Schaltstelle für die gesamte Regierungsformation. Insbesonde-re von Seiten des liberalen Koalitionspartners wurde seine Arbeit als besonders verdienstvoll und bedeutsam für die Funktionsfähigkeit der Koalition insgesamt wahrgenommen (Interview Pinkwart: Frage 12). Insofern war eine enge persön-liche Rückkopplung an den Ministerpräsidenten beinahe schon Grundvorausset-zung für die adäquate Wahrnehmung des Amtes. In gewissem Maße galt diese Rekrutierungslogik auch für den Breuer zugeordneten Staatssekretär Karsten Beneke. Auch ihn zeichnete ein Vertrauensverhältnis zur Rüttgers aus, was sich aus seiner ‚Bonner Connection‘ (Tutt 2006f: 39) aus Zeiten der gemeinsamen Arbeit in der Bundespolitik ergab. Bereits für den Bundesminister Rüttgers war Beneke als Mitarbeiter tätig gewesen (auch Schumacher 2005b).

Gänzlich anders stellte sich die Entscheidung bei der Besetzung des Amtes des Chefs der Staatskanzlei dar. Hier folgte die Personalentscheidung für Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff vor allem den organisatorischen Reformplänen, die sich in der neu etablierten Personalunion von Amtschefs und Kulturstaatssekretär ausdrückte. Mit der Entscheidung für die fachliche Integration der Kulturpolitik in die Staatskanzlei stellte sich die Aufgabe, eine „versierte Persönlichkeit zu finden, die sich in Kultursachen auskannte und auch Verwaltung kannte“ (Inter-view Emenet: Frage 3). Hinzu trat zugleich Rüttgers‘ Bestreben, trotz der Ernen-

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nung eines Kulturstaatssekretärs keine zusätzlichen Stellen im oberen Rang zu schaffen (Interview Rüttgers: Frage 11). Diese rein politische Erwägung jedoch ließ sowohl die praktischen Erfordernisse an das Amt des Chefs der Staatskanz-lei als auch die besondere Bedeutung dieser Schlüsselposition für die Regie-rungsformation insgesamt außer Acht. Nicht nur vom späteren Regierungsspre-cher Andreas Krautscheid wurde die besondere Bedeutung des Chefs der Staats-kanzlei für die Kernexekutive betont: „Die Qualität einer Regierung steht und fällt mit dem CdS" (Interview Krautscheid: Frage 2). Zu den Anforderungen zählten sowohl administrative Managementfähigkeiten als auch die Gelegenheit und Bereitschaft zur Wahrnehmung zahlreicher Termine mit unterschiedlichen Akteuren inner- und außerhalb der Regierungsformation. Rückblickend kamen maßgeblich an der Personalentscheidung beteiligte Akteure zu der Einschätzung, dies sei durch die Verkopplung mit der Zuständigkeit für die Kulturpolitik ar-beitspraktisch schlicht nicht zu leisten gewesen (Interview Rüttgers: Frage 11; Interview Stahl: Frage 25; Interview Emenet: Frage 3).

Hinzu trat jedoch noch ein weiteres Defizit der Personalauswahl: Anders als Breuer war Grosse-Brockhoff in keiner Weise in die existierenden Netzwerke des neuen exekutiven Spitzenpersonals eingebunden gewesen. Weder hatte er ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Rüttgers, noch kannte er die in der Oppositi-onszeit herausgebildeten Arbeitsweisen und Gewohnheiten. Auch die Gremien-arbeit, Abläufe und Mentalitäten innerhalb der NRW-CDU und insbesondere an der Spitze der Landespartei waren Grosse-Brockhoff weitgehend fremd (Inter-view Berger: Frage 6). Damit entfielen jedoch wichtige Voraussetzungen, um insbesondere die Funktion des Amtschefs der Staatskanzlei mit den damit ein-hergehenden Koordinations- und Steuerungsaufgaben wahrzunehmen.

Das gleiche Muster eines organisatorischen Vorrangs gegenüber nachgela-gerten Rekrutierungsüberlegungen sowie die entsprechenden Defizite in der Konsequenz zeigten sich bei der Besetzung des Regierungssprecherpostens. Hier fiel die Wahl auf Thomas Kemper, der einige Jahr zuvor Sprecher der CDU-Landtagsfraktion gewesen war. Ähnlich wie Grosse-Brockhoff gab es aber auch zwischen ihm und Rüttgers kein enges persönliches Vertrauensverhältnis. Viel-mehr ging seine Berufung auf eine Empfehlung Dritter zurück. Hier stand die Suche nach einer Person im Vordergrund, die sowohl das Amt des Regierungs-sprechers als auch die Aufgaben als Medienstaatssekretär in Personalunion wahrnehmen konnte. Zugleich fehlte Kemper jedoch der für einen Regierungs-sprecher essentielle direkte Zugang zum Ministerpräsidenten und er zeigte offen-sichtliche Mängel im Umgang mit den Anforderungen exekutiver Pressearbeit auf Landesebene (so übereinstimmend Uferkamp 2006c; WAZ v. 06. Juli 2006; Uferkamp 2006b; Tutt 2006c: 8; Tutt 2006f: 39).

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Dagegen waren wiederum die personellen Erwägungen nicht nur zentral für die Besetzung weiterer Schlüsselpositionen unterhalb der Leitungsebene, son-dern einige der oben beschriebenen formalen Organisationsveränderungen wur-den zuvorderst entlang dieser Personalüberlegungen geplant. Dies galt in beson-derer Weise für diejenigen Mitarbeiter Rüttgers‘, die er aus der bisherigen Arbeit als Oppositionschef mit in neue Regierungsfunktionen übernahm. Die entspre-chenden Erfahrungen und Rollenverteilungen prägten die Überlegungen zu ihrer künftigen Aufgabenteilung in der Staatskanzlei (Interview Emenet: Frage 8; ähnlich auch Interview Mai: Frage 3).

Dazu gehörte zum einen der neue Leiter des Ministerpräsidentenbüros Axel Emenet. Die nun auf die administrative Zuarbeit konzentrierte Ausrichtung des Büros fußte nicht zuletzt auf dieser Personalentscheidung. Emenet hatte seine Rolle bereits in der CDU-Landtagsfraktion weniger als politischer Berater oder Gestalter, sondern vor allem als administrativer Zuarbeiter verstanden. Insofern passte die veränderte Stellung seines neuen Aufgabenbereichs innerhalb der Regierungszentrale genau zu diesem Habitus (Interview Berger: Frage 8).

Diametral entgegengesetzt verhielt es sich mit dem neuen Leiter der Pla-nungsabteilung, Boris Berger. Dieser hatte sich als zentraler Wahlkampfmanager im Landtagswahlkampf 2005 profiliert und, obwohl erst vergleichsweise spät zu Rüttgers‘ Mannschaft gestoßen war, schnell als zentraler strategischer Kopf und Berater im seinem Umfeld positioniert. Er verfügte über direkten Zugang zu Rüttgers und damit über eine zentrale Ressource zur Wahrnehmung seiner künf-tigen Aufgabe in der Regierungsplanung. Die Aufwertung der Abteilung III, in der nun nicht alleine die längerfristige Planung, sondern mit dem Protokoll und dem Standortmarketing auch zusätzliche darstellungspolitische Instrumente ge-bündelt wurden, entsprach insofern organisatorisch voll der Berger in der Regie-rungszentrale zugedachten Rolle (Interview Emenet: Frage 8; auch Tutt 2006a: 9). Zudem verblieb mit der Zuständigkeit für die Koordination der Finanz- und Haushaltspolitik ein wichtiger Kompetenzbereich in der Abteilung III, der von der neuen Regierungsformation zu einem Schwerpunkt der künftigen Regie-rungsarbeit erklärt worden war (Florack 2006f: Frage 3). Der potentielle Akti-onsradius der Regierungsplanung erstreckte sich damit auch auf den neuralgi-schen Punkt der Budgetpolitik und eröffnete auch unmittelbare Einflusspotentia-le in diesem übergreifenden Politikfeld.

Die zweite Neuberufung auf Abteilungsleiterebene war Edmund Heller als Verantwortlicher für die Ressortkoordination. Seine bisherige Ausrichtung als Büroleiter in der CDU-Fraktion mit zahlreichen internen Koordinationsaufgaben und klarem Policy-Bezug prädestinierte auch ihn im Sinne der fortgesetzten Arbeitsteilung der neuen „Kernexekutivmannschaft“, künftig eine zentrale Funk-tion im Bereich der interministeriellen Koordination zu übernehmen (Florack

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2006f: Frage 3). Dieser vom ehemaligen Ministerpräsidenten Steinbrück kriti-sierte Personalwechsel (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a: 23) signalisierte zudem, dass der formal in der Abteilung II angesiedelten Aufgabe der Ressort-koordination große politische und nicht nur administrative Bedeutung beigemes-sen wurde, für die eine eindeutige politische Loyalität gegenüber der neuen Hausspitze erwartet wurde. Zugleich zeigte sich die gleichwohl notwendige fachliche Kontinuität der Abteilungsarbeit dadurch, dass es auf den Positionen der ständigen Vertreter des Abteilungsleiters personelle Kontinuität gab (Minis-terpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005).

Gleiches zeigte sich zunächst auch an der Spitze der Zentralabteilung. Der unter Wolfgang Clement zum Abteilungsleiter beförderte Bernhard Nebe blieb zunächst auf dieser Position. Insbesondere oblag ihm die Bewältigung der im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel anstehenden administrativen Auf-gaben, die weitgehend in den Arbeitsbereich der Abteilung I fielen. Allerdings wurden insbesondere personelle Fragen in den ersten Wochen des Regierungs-wechsels unmittelbar von der Hausspitze behandelt und liefen insofern häufig am normalen Dienstweg und der Zuständigkeit des Abteilungsleiters vorbei (Florack 2005c).

Im Landespresseamt schließlich vollzogen sich ebenfalls unmittelbar im Anschluss an Rüttgers Amtsübernahme zwei weitere maßgebliche Personal-wechsel. Zum einen wurde entlang der üblichen koalitionsdemokratischen Ge-pflogenheiten das Amt des stellvertretenden Regierungssprechers von einem Kandidaten der FDP übernommen. Die FDP nominierte Holger Schlienkamp für diese Aufgabe, der zuvor Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung der FDP-Landtagsfraktion gewesen war. Ganz im Sinne der besonderen Stellung der Regierungszentrale als „Haus des Ministerpräsidenten“ wurde alleine diese Posi-tion unter koalitionsarithmetischen Aspekten behandelt. Schlienkamp fungierte insofern als Frühwarnsystem der FDP innerhalb der Staatskanzlei und übernahm mit einem „feinen Gespür für sensible Felder und mögliche Probleme“ eine po-tentielle Koordinationsfunktion für das weitere Koalitionsmanagement (Florack 2006g: Frage 2). Gleichwohl wurde seine Rolle bei Amtsübernahme nicht expli-zit definiert, sondern bildete sich erst im Verlauf der ersten Wochen und Monate in der Praxis aus. Zunächst dominierte aus Sicht der eigenen Partei der Eindruck, dass „Schlienkamp zwischen allen Stühlen saß“: Für die Hausspitze war er zu Beginn kein offensichtliches Mitglied des engen Kreises der Rüttgers-Vertrauten und zugleich besaß Schlienkamp weder eine besonders enge Anbindung an den FDP-Vorsitzenden Pinkwart noch an Fraktionschef Papke (Interview Zimmer-mann: Frage 12).

Das Vertrauen des Ministerpräsidenten dagegen besaß Norbert Neß, der als neuer Chef vom Dienst eine zentrale Aufgabe im Landespresseamt übernahm. Er

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verfügte über zahlreiche Kontakte in die Landespressekonferenz hinein, galt als einer der ersten Ansprechpartner für Journalisten und war vor dem Regierungs-wechsel für die Pressearbeit der CDU-Fraktion zuständig gewesen (Teigeler 2006; Eyermann 2005b: 5). Er gehörte damit anders als der neue Regierungs-sprecher Kemper bereits vor dem Regierungswechsel zum engen Mitarbeiter-kreis um Rüttgers.

Weniger auf direkte Initiative der neuen Hausspitze hin, als vielmehr auf-grund unterschiedlicher persönlicher und politischer Motive vollzogen sich in den ersten Wochen und Monaten auch auf der Referatsebene weitere Personal-wechsel. Diese standen allerdings bereits im Zusammenhang mit parallel ablau-fenden informellen Transformationsprozessen der Organisationsstruktur. Auf sie gilt es im weiteren Verlauf einen besonderen Blick zu werfen, offenbaren sie doch insbesondere die informelle Transformationsdynamik jenseits der unmittel-bar nach dem Regierungswechsel etablierten Formalstruktur. 5.2.1.1.3 Zwischenfazit: Zeitliche Abläufe des begrenzten Displacements 2005 und Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Organisationskultur Nach der Wahl Rüttgers‘ zum Ministerpräsidenten am 22. Juni 2005 und dem Erlass zur Neuordnung der Geschäftsbereiche vom 7. Juli 2005 lag am 20. Sep-tember 2005 ein aktualisierter Organisationsplan der neu strukturierten Regie-rungszentrale vor. Darin war die neue Organisationsstruktur erstmals im Sinne einer formalen Abbildung festgehalten. Allerdings waren insbesondere noch nicht alle Personalfragen geklärt und zahlreiche zwar inhaltlich beschlossene, aber noch nicht formal vollzogene Versetzungen enthalten. Während bereits die ersten inhaltlichen Projekte der neuen Regierungsformation mit Hochdruck vo-rangetrieben wurden und beispielsweise in der Schul- und Hochschulpolitik künstlich Zeitdruck konstruiert wurde, zeigte sich nach Einschätzung einiger Regierungsbeamter hinsichtlich einer klaren Geschäftsverteilung innerhalb der Regierungszentrale damit eine durchaus ungewöhnliche zeitliche Verzögerung (Florack 2006a; Florack 2010b). Bis in den November 2005 hinein wurde staats-kanzleiintern zum Teil mit veralteten Organisationsplänen weitergearbeitet, weil diese nicht nur die Referatsleitungen, sondern auch nachgeordnetes Personal sowie entsprechende Durchwahlen innerhalb der Staatskanzlei auswiesen.

Dies zeigt, dass sich der formale Reorganisationsprozess der Staatskanzlei zwar unmittelbar im Anschluss an den Regierungswechsel anschloss, er aber keineswegs innerhalb weniger Wochen oder gar Tage abgeschlossen war. Zudem zeigten sich auch in der praktischen Arbeit der Staatskanzlei deutliche zeitliche Verzögerungen. Vielfach wurde noch einige Wochen nach Amtsantritt der neuen

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 299

Regierungsformation beklagt, es gebe kaum ressortübergreifende Aktivitäten, das Haus warte auf politische Vorgaben und die inhaltliche Arbeit sei noch nicht wieder auf den üblichen Stand angestiegen (explizit Florack 2005c).

Zugleich zeichnete der Organisationsplan nur ein Bild der neuen Formal-struktur der Staatskanzlei. Für die praktische Arbeit des „Kerns der Kernexekuti-ve“ war jedoch deutlich wichtiger, welche informellen Ausprägungen dieser Formalstruktur sich in den kommenden Monaten entwickeln sollten. Zwei dies-bezüglich relevante Schlussfolgerungen lassen sich aus der bisherigen Darstel-lung ableiten:

Erstens zeigte sich ein besonders ausgeprägter Zusammenhang von Organi-sationstruktur einerseits und der personellen Besetzung von Schlüsselpositionen andererseits. Analytisch abstrakter formuliert zeigte sich ein deutlicher Konnex zwischen Institutionen und Akteuren. Dabei waren reziproke Einflussdynamiken erkennbar. Zum einen wirkten sich Personalentscheidungen unmittelbar auf die institutionelle Struktur aus. Dies galt für den Ministerpräsident, der als Change-Agent Personalentscheidungen mit weitreichenden institutionellen Konsequen-zen fällte. Das galt aber auch für andere Akteure, die als potentielle Change-Agents die weitere Ausgestaltung des institutionellen Rahmens beeinflussen konnten. Zum anderen beeinflussten aber auch getroffene Organisationsentschei-dungen direkt die künftigen Akteurskonstellationen. Organisationsentscheidun-gen legten damit den Grundstein für unterschiedliche Einflusspotentiale relevan-ter Akteure und zeigten sich somit als Katalysator für weitere akteursinduzierte Transformationsimpulse.

Zweitens zeigt die nachfolgende Analyse, dass die weiteren informellen Transformationsdynamiken der Kernexekutive bereits in der Formalstruktur und dem dahin führenden Entscheidungsprozess angelegt waren. Sowohl institutio-nelle Regelungslücken als auch daraus resultierende Interventionsmöglichkeiten für Akteure waren vorgezeichnet, der Grundstein für künftige Akteurskoalitionen gelegt und bestimmte Pfade institutionell ausgetreten, während andere verschlos-sen wurden. Die Transformationsprozesse vollzogen sich zugleich vor unter-schiedlichen Zeithorizonten. Während einige Impulse erst durch die veränderte Formalstruktur ausgelöst wurden, waren für andere längerfristige Entwicklungs-dynamiken auschlaggebend. Institutionenentwicklung und Institutionendesign spielten folglich gleichermaßen und mit wechselseitigen Einflüssen eine Rolle für die adaptive Anpassung der Staatskanzlei in den nachfolgenden Monaten.

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300 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.2.1.2 Formalstruktur, Informalisierung und institutionelle Transformation: Adaptive Anpassung der Staatskanzlei 2005-2006

Vor dem Hintergrund der im Sommer 2005 vorgenommenen Änderungen und Anpassungen der Formalstruktur der Staatskanzlei ergab sich zunächst die Er-wartungshaltung, dem neuen Ministerpräsidenten und der neuen Regierungsfor-mation insgesamt stünde damit nun mit der Regierungszentrale eine zentrale Koordinations- und Steuerungsinstanz funktionsbereit zur Verfügung. In der allgemeinen Rollenbeschreibung waren sich sowohl die Akteure der neuen Re-gierungsformation als auch die bisher in der Staatskanzlei tätigen Regierungsbe-amten weitgehend einig: Nahezu deckungsgleich mit verwaltungswissenschaft-lich und politikwissenschaftlich etablierten Funktionskatalogen beschrieb ein langjähriger Staatskanzlist die vorrangigen Aufgaben der Regierungszentrale mit den Stichworten Informationsbeschaffung, Planung und Steuerung (Florack 2005e). Einer der Protagonisten der neuen Regierungsformation, Helmut Stahl, formulierte ebenfalls die zuvorderst „koordinierende und zusammenfassende Rolle“ der Staatskanzlei. Die politischen Vorhaben müssten verdichtet und zu-sammengeführt werden und dies sei der „Job der Staatskanzlei“ (Interview Stahl: Frage 23). Auch in der Öffentlichkeit wurde die Erwartungshaltung artikuliert, hierzu stünden nun sowohl die organisatorischen als auch personellen Vorausset-zungen zur Verfügung (Lamprecht 2005). Insbesondere die politische Planung sei ein wichtiges Instrument, welches „schon immer als Getriebe der Regie-rungsarbeit funktioniert“ habe. Hinzu komme in personeller Hinsicht der „Chef der Staatskanzlei als Verwaltungsmann, der Bundesratsminister als verlängerter politischer Arm und der Regierungssprecher als Chef-Kommunikator“ des Mi-nisterpräsidenten.

Allerdings bestätigte sich in den nachfolgenden Monaten die Erfahrung, die mit dem Organisationsplan vorgelegte Formalstruktur bilde die realen Praktiken, Routinen und Regelanwendungen der Regierungskoordination durch die Staats-kanzlei bestenfalls ansatzweise ab (so Interview Henze: Frage 15). So zeigten sich in den ersten Monaten nach Übernahme der Regierungsverantwortung insti-tutionelle Transformationsprozesse, welche die Formalstruktur informell ergänz-ten, anpassten oder gar konterkarierten. Gleichermaßen beobachtbar waren hier-bei Transformationsmodi des Layering, Drift, Conversion und Exhaustion. Von besonderer Bedeutung für die Aufgabenwahrnehmung der Staatskanzlei als Kernexekutivinstanz war die Etablierung informeller Lenkungs-, Koordinations- und Steuerungsinstitutionen innerhalb der Staatskanzlei im Sinne einer Politikbe-ratung von Innen (Grunden 2009), eines „Küchenkabinetts“ (Müller/Walter 2004), eines „strategischen Zentrums“ (Raschke 2002) oder einer institutionali-sierten Runde von „Machtmaklern“ (Korte 2003). Hinzu kamen institutionelle

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Reparaturmaßnahmen zum Ausgleich gravierender Steuerungsdefizite an der Hausspitze, sowie graduelle, aber im Gesamtbild transformative Verschiebungen der Machtarchitektur, die sich durch informelle Praktiken insbesondere zwischen den Abteilungen einerseits und in ihrer Kooperation und Kommunikation mit der Hausspitze andererseits manifestierten. Diese nachfolgend dargestellten Trans-formationsprozesse, die sich jenseits ihrer jeweiligen Entwicklungsdynamiken im Wechselspiel gegenseitig bedingten und verstärkten, zeichnen ein Bild adap-tiver Transformation, die schließlich im Sommer 2006 in der teilweisen Formali-sierung dieser informell herausgebildeten Arrangements mündeten. 5.2.1.2.1 Die Etablierung informeller Steuerungs-, Koordinations- und Abstimmungsinstitutionen: Layering, Drift und Conversion „Ich habe kein ‚Küchenkabinett‘ innerhalb meiner Behörde etabliert", erklärte Jürgen Rüttgers rückblickend auf die Frage nach der Existenz informeller Ent-scheidungszirkeln innerhalb der Staatskanzlei (Interview Rüttgers). Er verwies explizit auf die von ihm reduzierte Rolle des Ministerpräsidentenbüros und auf die Reintegration zahlreicher vormals dort zentralisierter Aufgaben in die Li-nienstruktur der Staatskanzlei gleich nach Übernahme der Amtsgeschäfte. Gleichwohl entwickelten sich unmittelbar nach Amtsübernahme informelle Ab-stimmungs-, Koordinations- und Beratungsstrukturen in der Regierungszentrale, wenngleich nicht alle auf intentionales Akteurshandeln zurückzuführen waren. Diese lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen:

Zum einen kristallisierte sich frühzeitig ein Kreis von Machtmaklern heraus, deren Beratungsleistungen und Unterstützungsaufgaben für den Ministerpräsi-denten im Rahmen der internen Entscheidungsfindung in den nachfolgenden Monaten schrittweise institutionalisiert werden sollten. Allerdings handelte es sich dabei nicht um formale Institutionalisierungsprozesse, sondern vielmehr um informelle Routinen und Praktiken, die sich zudem nicht linear entwickelten und insbesondere im ersten Amtsjahr noch größeren Anpassungsprozessen unterwor-fen waren. Zentraler Erklärungsfaktor für alle Institutionalisierungsdynamiken war das persönliche Nähe- und Vertrauensverhältnis dieses Kreises von Akteu-ren zum neuen Ministerpräsidenten. Hieran orientierten sich Teilnehmerkreis, Sitzungsturnus, Beratungsgegenstände sowie der Einfluss auf die weiteren in-formellen und formalen Entscheidungsprozesse. Insbesondere personelle Verän-derungen im Laufe des ersten Amtsjahres verhinderten eine stärkere Formalisie-rung dieses Beraterkreises.

Zum anderen kamen gleichfalls informelle Abstimmungsrunden zur hausin-ternen Kommunikation hinzu, die sich jedoch durch eine deutlich anders gelager-

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te Funktionalität auszeichneten. Hier ging es weniger um die unmittelbare politi-sche Beratung des Ministerpräsidenten, als vielmehr die funktionale Ergänzung der formalen Arbeitsprozesse innerhalb der Staatskanzlei durch informelle In-formations- und Koordinationsrunden. Sie dienten insbesondere der Rückkopp-lung von Leitungs- und Arbeitsebene im Sinne des Informationsaustausches und der Frühwarnung hinsichtlich möglicher Problemfelder (Interview Mai: Frage 9). Angesichts dieses eher administrativen Charakters zeigten sich hier auch früher Formalisierungstendenzen und weniger gravierende Transformationsprozesse in Folge personeller Wechsel im Zeitverlauf. a) Die „Hauslage“ in der Staatskanzlei Mit Blick auf die zweite Gruppe ist zunächst die Institution der hausinternen Abteilungsleiterrunde zu nennen. Als prägender Modus zur Beschreibung der institutionellen Transformation dieser informellen Abstimmungsrunde in den ersten Monaten der neuen Regierungsformation zeigte sich vor allem die schrittweise Vernachlässigung und veränderte Bedeutung alter Regeln im Sinne des Modus Drift. Bis zum Regierungswechsel 2005 hatte diese Runde zur Ab-stimmung zwischen Hausspitze und Abteilungsebene dreimal wöchentlich ge-tagt. Unter der Leitung des Chefs der Staatskanzlei diente dieses Gremium dem Informationsaustausch aller Abteilungen der Staatskanzlei (Florack 2005c). Die-se „Hauslage“ wurden nun ab Sommer 2005 im Sinne einer Vernachlässigung etablierter Regelanwendung auf ein wöchentliches Treffen am Montag reduziert. Alte Regelstrukturen blieben insofern erhalten, als dass der Teilnehmerkreis im Grundsatz weitgehend identisch blieb. Neben dem Chef der Staatskanzlei nah-men mithin die Abteilungsleiter sowie ihre jeweiligen ständigen Vertreter teil. Überdies bestand die Möglichkeit, sich bei terminlichen Überschneidungen ver-treten zu lassen. Je nach Terminlage und durchaus auch inhaltlicher Prioritäten-setzung führte das in der Folge dazu, dass mitunter auch Referatsleiter als Ver-treter ihrer Abteilungen an diesen Runden teilnahmen (Interview Henze: Frage 10; Interview Beneke: Frage 7). Während die Hauslage als Institution also im Prinzip erhalten blieb und auch keine grundsätzlich neuen Regeln für ihre Arbeit eingeführt wurden, veränderte sich durch die Reduktion auf ein wöchentliches Treffen und die veränderten Rahmenbedingungen die Rolle schrittweise. Im Vergleich zu der Vorgängerinstitution ging mit diesem Drift ein Bedeutungsver-lust einher, der vor allem personelle, aber auch strukturelle Gründe hatte.

In personeller Hinsicht ausschlaggebend war das gravierende Vertrauensge-fälle zwischen den Abteilungsleitungen. Mit Edmund Heller und Boris Berger hatten zwei Vertraute des neuen Ministerpräsidenten die Leitung der Ressortko-

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ordination und der Regierungsplanung übernommen. Ihnen gegenüber standen die beiden bereits unter der Vorgängerregierung aktiven Abteilungsleiter Bern-hard Nebe (Abt. I) und Herbert Jacoby (Abt. V). Hinzu kam in struktureller Hin-sicht die neu integrierte und auch im weiteren Verlauf kaum in die Arbeitspro-zesse der Staatskanzlei integrierte Kulturabteilung unter der Leitung Wolfgang Krals, die klar auf den neuen Kulturstaatssekretär ausgerichtet war und insofern eine Sonderrolle auf Abteilungsebene spielte. Das personelle Vertrauensgefälle dieser Akteure gegenüber dem Ministerpräsidenten wurde indirekt noch dadurch verstärkt, dass sich anders als Heller und Berger auch der neue Chef der Staats-kanzlei nicht durch ein persönliches Vertrauensverhältnis zum Ministerpräsiden-ten auszeichnete. Große-Brockhoff fungierte trotz seiner Berufung durch Rütt-gers insofern auch weniger als seine Amtsvorgänger als Transmissionsriemen zwischen Arbeitsebene und Ministerpräsident, verfügten doch Heller und Berger ihrerseits über direkten Zugang zu Rüttgers, den sie in der Praxis auch häufig nutzten. Insbesondere Boris Berger erarbeitete sich in den ersten Wochen nach Amtsübernahme nahezu jederzeitigen Zugang zum Ministerpräsidenten, der ihn wiederum zu jedem wichtigen Termin um persönliche Begleitung bat. Die Folge waren zahlreiche ad-hoc-Treffen zwischen dem Ministerpräsidenten und einem oder beiden neu berufenen Abteilungsleitern (u.a. Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006a: 3; Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006c: 1–3; Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006a: 2–3), bei denen wichtige Sachverhalte unmittelbar im kleinen Kreis geklärt wurden. Im Sinne eines Layering-Modus wurden folglich ergänzende informelle Abstimmungsrou-tinen eingeführt, die zu einer schrittweisen Marginalisierung der Hauslage bei-trugen. Dies führte wiederum mittelfristig dazu, dass insbesondere Boris Berger dieser Informations- und Abstimmungsrunde immer weniger Bedeutung beimaß und die Teilnahme an dieser Runde zunehmend an seinen Vertreter Michael Henze delegierte (Interview Henze: Frage 10). Im Sinne wechselseitiger Verstär-kung schwächte diese Praxis Bergers angesichts der herausgehobenen Stellung Bergers die Bedeutung dieses Kreises weiter (Interview Henze: Frage 11).

In der analytischen Change-Agent-Rolle eines „parasitären Symbionten“ nutzte vor allem Berger zwar im Prinzip die vorhandenen institutionellen Regel-systeme, folgte jedoch nicht allen hierin angelegten Regeln und trug als nichtin-tendierte Nebenfolge dieses Handelns maßgeblich zum institutionellen Trans-formationsprozess (Drift und Layering) bei. Zugleich spielte sich diese akteursinduzierte Abweichung von den institutionellen Regeln in der Sphäre des Informellen ab. Folglich fehlte einerseits formales Sanktionspotential zur Durch-setzung der vormaligen Regeln. Andererseits trugen diese informellen Praktiken angesichts der im weiteren Verlauf der Darstellung zu analysierenden Manage-mentdefizite auf Seiten des Chefs der Staatskanzlei gerade dazu bei, Mängel, die

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sich unter diesen Rahmenbedingungen aus der rein formalen Anwendung von Geschäftsführungsregeln der Landesregierung ergeben hätten, abzumildern. Insofern erwies sich das Akteurshandeln jenseits der Auswirkungen auf das insti-tutionelle Regelsystem als hilfreicher Versuch, drohende Defizite in der Folge formaler Arbeitsabläufe durch informelle Praktiken auszugleichen. b) Der Kreis der Machtmakler: Begrenzte Institutionalisierung in der „Morgenlage“ und ergänzende ad-hoc-Abstimmung Deutlich größeres Gewicht für die staatskanzleiinternen Steuerungs- und Koor-dinationsprozesse gewann der Kreis der Machtmakler um den neuen Minister-präsidenten herum, welcher der ersten Gruppe der direkt auf den Ministerpräsi-denten ausgerichteten politischen Beratungs- und Entscheidungshilfeinstitutio-nen zuzurechnen war. Institutioneller Ankerpunkt dieses informellen Kreises war die tägliche „Morgenlage“ in der Staatskanzlei. Als ergänzendes Regelsystem durch die Einführung neuer institutioneller Regeln (Layering) ging diese Runde unmittelbar auf die Initiative von Rüttgers zurück, fand aber meist ohne seine persönliche Teilnahme statt. Normalerweise kam dieser Kreis morgens in der Staatskanzlei, um in aller Kürze tagesaktuelle Dinge zu besprechen und sich einen Überblick über die landespolitische Presselage zu verschaffen (überein-stimmend Florack 2006c: Frage 1; Florack 2006f: Frage 4). Die Teilnehmer-schaft beschränkte sich dabei auf Akteure, die im Zusammenhang mit dem Re-gierungswechsel neu in Regierungsfunktionen berufen worden waren. Zu Beginn handelte es sich um einen kleineren Kreis, der Boris Berger, Axel Emenet, Ed-mund Heller, Norbert Neß, Michael Breuer, Hans-Heinrich Große-Brockhoff und Thomas Kemper umfasste (Florack 2005d). Im Laufe der ersten Monate erweiterte sich der Kreis unter anderem um die inzwischen zur Leiterin der Ab-teilung I berufenen Annette Storsberg, Matthias Kopp, Karsten Beneke und an-dere (Florack 2006f: Frage 4; Florack 2006c: Frage 1).94 Die Institutionalisierung dieser Runde vollzog sich analytisch formuliert im Zuge der wiederholten An-wendung informeller Praktiken. Wenngleich der Teilnehmerkreis nicht einmalig festgelegt wurde und im Zeitverlauf variierte, bildeten sich doch institutionelle Regeln heraus, welche diesen Kreis institutionalisierten. Alle Mitglieder nahmen nicht vorrangig aufgrund ihrer formalen Rolle innerhalb der Staatskanzlei, son-dern vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bedeutung teil. Daher bestand auch keine Vertretungsmöglichkeit, sondern die Zahl der Teilnehmer schwankte viel- 94 Der als potentielle Teilnehmerschaft benannte Personenkreis unterscheidet sich je nach

Gesprächspartner in Teilen voneinander. Deckungsgleich war jedoch die Nennung eines personellen Kerns, der sich erst im Laufe des Jahres 2006 herausbildete.

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mehr je nach aktueller Terminlage (Interview Beneke: Frage 7). Allerdings kris-tallisierte sich diese kurze Besprechung angesichts ihrer täglichen Wiederholung zur meist gleichen Uhrzeit gewissermaßen als informeller Pflichttermin zur in-ternen Abstimmung heraus.

Gleichwohl entwickelte sich dieser Kreis der Morgenlage keineswegs zum heimlichen „Küchenkabinett“ innerhalb der Staatskanzlei, sondern lediglich zu einem informellen Informationszirkel neben anderen. Denn auch innerhalb dieser eng begrenzten Teilnehmerschaft der Morgenlage kristallisierten sich im Verlauf des Jahres 2005 deutlich unterschiedliche politische Gewichte heraus, die auch im Kreis der Morgenlage zu deutlichen politischen Asymmetrien führten.

Vor allem Michael Breuer spielte für den Ministerpräsidenten eine heraus-ragende Rolle. Zum einen agiert er durch seine enge Anbindung an Staatskanzlei und CDU-Fraktion gleichermaßen als „emotionaler Ausputzer“, Trouble-Shooter und personifiziertes Frühwarnsystem. Das enge Vertrauensverhältnis zu Rüttgers und die regelmäßigen direkten Kontakte der beiden machten institutionalisierte Formen der Abstimmung obsolet. Vielfach trat Breuer jenseits seiner qua defini-tionem breiten fachlichen Zuständigkeit gewissermaßen als Repräsentant des Ministerpräsidenten auf, dem auch entsprechende Bedeutung innerhalb der Re-gierungsformation beigemessen wurde. Die Sonderrolle im Kabinett als instituti-onell direkt an die Staatskanzlei angebundener Bundes- und Europaminister ließ ihm alle Freiheiten, diese unterschiedlichen Rollen flexibel und den jeweiligen Umständen entsprechend angepasst auszufüllen (Florack 2006c: Frage 4; Florack 2006f: Frage 9). Breuers Bedeutung stieg zudem in dem Umfang, in welchem der neue Chef der Staatskanzlei die ihm zugedachte Koordinationsrolle im Laufe der ersten Monate immer weniger auszufüllen in der Lage war. Über das bereits vorhandene Einflusspotential hinaus trat er folglich immer stärker als Vertreter der Staatskanzlei in Erscheinung, was seinen Einfluss zusätzlich stärkte. Das änderte sich erst mit personellen Änderungen, die ab Sommer 2006 vorgenom-men wurden und den „Inner Circle“ zumindest vorübergehend erweiterten (Frigelj 2007b).

In ähnlicher Weise profitierte Boris Berger von dieser staatskanzleiinternen Entwicklungsdynamik. Ihn zeichneten ein persönliches Vertrauensverhältnis zu Rüttgers, die gemeinsame politische Arbeit in der Opposition und nicht zuletzt sein ausgeprägtes politische Gespür aus. Die neu strukturierte Abteilung III war voll auf ihn und seine Kompetenzen zugeschnitten worden und ähnlich wie Breuer war seine damit verbundene herausragende politische Bedeutung für Rüttgers ab dem ersten Tag in der Staatskanzlei angelegt gewesen. So erarbeitete er sich in den ersten Monaten die Rolle des unverzichtbaren Ratgebers für den Ministerpräsidenten und stellte damit schrittweise auch Edmund Heller in den Schatten. Die Folge war nicht nur die stetig wachsende Bedeutung als Macht-

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makler, sondern auch ein institutioneller Bedeutungszuwachs der Abteilung III. Dieser drückte sich sowohl in der Aufgabenzuweisung als auch der internen Wahrnehmung innerhalb der Staatskanzlei aus. Die Mitarbeiter der Abteilung Ressortkoordination sahen sich zunehmend marginalisiert und an den Rand ge-drängt, während Teile der Abteilung III und insbesondere ihr Leiter scheinbar unaufhaltsam an politischem Gewicht gewannen. Hinsichtlich der Abstimmungs- und Beratungsinstitutionen drückte sich das dergestalt aus, dass Berger als bei-nahe permanenter Terminbegleiter, persönlicher Repräsentant und konfliktberei-ter Bote Rüttgers‘ in Erscheinung trat und in diesen Rollen sogar mit Mitgliedern des Kabinetts auf Augenhöhe kommunizierte. Diese informelle Praxis wies ihm weit über seine eigentliche formale Funktion als Abteilungsleiter hinausreichen-de Bedeutung zu, was durchaus zu institutionellen Konflikten führte.

In gänzlich anderer Funktion, aber nichtsdestotrotz als wichtiger persönli-cher Machtmakler des Ministerpräsidenten, agierte der Büroleiter Axel Emenet. Als administrativer Zuarbeiter deckte er die Aufgabenbereiche jenseits der un-mittelbar politischen Relevanz ab und war in dieser Rolle häufig in Beratungsge-spräche eingebunden. Angesichts der vergleichsweise klaren Arbeitsteilung mit Berger bestand weder eine persönliche noch eine institutionelle Rivalität und im Sinne einer kooperativen Koexistenz sicherten beide die informellen Beratungs-strukturen rund um Rüttgers ab.

Anders als die Morgenlage wurden diese Abstimmungsroutinen aber bes-tenfalls ansatzweise institutionalisiert. Zentrales Merkmal war vielmehr der fle-xible ad-hoc-Modus der bi- und multilateralen Abstimmung im kleinen Kreis auf Zuruf. Kennzeichnend waren insofern kurzfristig anberaumte Gespräche, die dann beinahe automatisch Vorrang vor anderen hausinternen Terminen hatten. c) Jour fixe am Freitag: Conversion Dem Transformationsmodus der Conversion folgte die Institutionalisierungsdy-namik eines wiederum stärker institutionalisierten staatskanzleiinternen Ab-stimmungsformats: Der regelmäßig freitags tagende „Jour fixe“ ergab sich aus der Konversion des ursprünglich am gleichen Wochentag stattfindenden Abtei-lungsleitertreffens, das nach dem Regierungswechsel auf einen wöchentlichen Turnus jeweils am Montag beschränkt worden war. Übernommen wurden die alten Regeln eines verlässlichen wöchentlichen Turnus des Jour fixe, der termin-lich verbindliche Charakter dieses informellen Abstimmungstreffens, der ver-gleichsweise klar umrissene Teilnehmerkreis sowie die Funktionszuschreibung der hausinternen Abstimmung. Verändert wurde hingegen, dass normalerweise auch der Ministerpräsident an diesem Jour fixe teilnahm und die Transmission

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zwischen Staatskanzlei und Ministerpräsident damit nicht alleine dem Chef der Staatskanzlei oblag.

Der Jour fixe entwickelte sich zum „großen Rückspracheinstrument“ (Inter-view Emenet: Frage 11) aus Vertretern unterschiedlicher Organisationseinheiten der Staatskanzlei. Zwar war der Teilnehmerkreis weiter gefasst als in der Mor-genlage, aber auch am Jour fixe nahmen nicht die Vertreter aller zentralen Ar-beitsbereiche der Staatskanzlei teil. Abgesehen vom Ministerpräsidenten gehör-ten in den ersten Monaten in der Regel der Chef der Staatskanzlei, der Regie-rungssprecher, der Leiter des Ministerpräsidentenbüros, Michael Breuer und sein Staatssekretär sowie die Leiter der Abteilungen I, II und III zu den Teilnehmern. Hinzu kam der Chef vom Dienst des Landespresseamtes und gegebenenfalls weitere Büroleiter (beispielhaft Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rütt-gers Stand vom 2006c: 3). Insofern zeigte sich auch hier eine Beschränkung der Mitgliedschaft auf Angehörige der Staatskanzlei, die unmittelbar in Folge des Regierungswechsels in die Regierungszentrale gewechselt waren. Dass diese persönliche Qualifikation in der Tat ausschlaggebend war, zeigte sich an der Vertretung der Zentralabteilung. Erst nach der Berufung Annettes Storsbergs zur Nachfolgerin Bernhard Nebes nahm die Abteilungsleitung der Abteilung I am wöchentlichen Jour fixe teil.

Zeitlich deutlich ausführlicher als in der Morgenlage wurden im Jour fixe in der Regel für etwas zwei bis drei Stunden die Vorgänge der jeweils vorherge-henden und kommenden Woche besprochen (Florack 2006f: Frage 5; Florack 2006c: Frage 2). Nach Einschätzung von Boris Berger handelte es sich dabei aber nicht um ein „Entscheidungsgremium“, sondern vor allem um eine „Diskus-sionsrunde“. Insbesondere Vorgänge, bei denen eine Einschätzung des Minister-präsidenten gewünscht war oder die Rüttgers persönlich anschieben wollte, wur-den hier ausgetauscht. Zugleich erfüllte der Jour fixe eine soziale Funktion, da in dieser Runde alle Teilnehmer „unmittelbar mit Rüttgers reden konnten und man sich einmal in der Woche in dieser Gruppenkonstellation sah“. Rüttgers wiede-rum nutzte den Jour fixe häufig zur Erläuterung seiner Sicht auf die jeweilige politische Lage (Interview Berger: Frage 13).

Dass auch dieses Gremium kein wirkliches strategisches Zentrum oder gar „Küchenkabinett“ darstellte, lag nach Einschätzung Bergers nicht zuletzt an der heterogenen Zusammensetzung. Hier zeigten sich deutliche Asymmetrien ange-sichts des unterschiedlich ausgeprägten Näheverhältnisses der Teilnehmer zum Ministerpräsidenten. Während zu Beginn vor allem Breuer, Berger und auch Heller als starke Figuren eine Sonderrolle einnahmen, kamen im Laufe des Jah-res 2006 mit dem dann neu berufenen Regierungssprecher Krautscheid und Karsten Beneke als neuem Chef der Staatskanzlei weitere politische Schwerge-wichte hinzu. Wichtige Entscheidungen fielen nach Einschätzung der Beteiligten

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insofern eher im kleinen Kreis dieser Akteure und nicht in der größeren Freitags-runde. Folgerichtig wurde „diese Runde von den Teilnehmern nicht als sehr wichtig wahrgenommen“ (Interview Berger: Frage 13). Gleichwohl hatte diese Neuausrichtung im Sinne eines „Rückspracheinstruments“ die wichtige infor-melle Funktion, jenseits des formalen Dienstweges den regelmäßigen Austausch zwischen Hausspitze und Arbeitsebene zu organisieren. Die vorhandenen forma-len Regelsysteme des staatskanzleiinternen Austausches wurden insofern infor-mell ergänzt. Zugleich erreichte der Jour fixe mit seiner Dauer- und Regelhaftig-keit einen gewissen Formalisierungsgrad, der für die Persistenz dieser Institution wichtig werden sollte. 5.2.1.2.2 Koordinationsdefizite an der Hausspitze und informelle Reparaturversuche: Layering und Drift Die praktische Ausgestaltung der oben skizzierten informellen Leitungs- und Koordinationsinstitutionen deutete implizit gravierende Koordinationsdefizite auf Seiten der Amtsleitung der Staatskanzlei an: Deutlich wurde bereits frühzei-tig, dass der Chef der Staatskanzlei Grosse-Brockhoff in viele wichtige Vorgän-ge bestenfalls ansatzweise eingebunden war. Weder gehörte er zum engsten Kreis der Vertrauten rund um den neuen Ministerpräsidenten, noch gingen haus-interne Steuerungsimpulse im erwartbaren Maße von ihm aus. Aus Sicht des CDU-Fraktionsvorsitzenden Helmut Stahl fiel die Regierungszentrale hinsicht-lich der ihr zugedachten Aufgabenwahrnehmung als Steuerungsinstanz der Kernexekutive weitgehend aus. Im ersten Jahr habe es gravierende Defizite und interne Spannungen gegeben, die dann erst nach der Amtsübernahme Karsten Benekes als Chef der Staatskanzlei professionell angegangen worden seien (In-terview Stahl: Frage 23). Karsten Beneke wiederum machte Erfahrungsdefizite und notwendige Lerneffekte aufgrund der mangelnden Regierungserfahrung vieler Akteure während des ersten Jahres für einen Teil dieser Mängel verant-wortlich. Zum einen sei der Zuwachs durch die Kulturabteilung „schon ein ganz schönes Häppchen“ gewesen, das die internen Gewichte organisatorisch ver-schoben habe und „erst einmal ein Stück weit verdaut werden“ musste. Zum anderen habe es auf Abteilungsebene unklare Organisationstrukturen gegeben, die zu „Unklarheiten auch im Geschäftsgang“ geführt hätten. Hier wäre über das erste Amtsjahr hinweg das Sammeln praktischer Erfahrungen notwendig gewe-sen, um anschließend organisatorisch angemessen reagieren zu können (Inter-view Beneke: Frage 1).

Entsprechende Probleme vermittelten sich auch in die mediale Öffentlich-keit hinein und hier wurden zusätzliche Erklärungsfaktoren für die Steuerungs-

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und Koordinationsdefizite der Staatskanzlei identifiziert. So wurde auf die prob-lematische Doppelbelastung Grosse-Brockhoffs als Kulturstaatssekretär und Chef der Staatskanzlei verwiesen und in Frage gestellt, beide Aufgaben seien gleichermaßen professionell aus einer Hand zu erledigen. In der Außenwahr-nehmung agierte stattdessen Michael Breuer als „Feuerwehrmann“, der die ent-standenen Defizite auf Seiten der Amtsleitung auszugleichen versuchte, aber zugleich durch sein eigentliches Aufgabenfeld als Minister selber stark gebunden gewesen sei. Als personelle Schwachstelle wurde zudem Regierungssprecher Kemper dargestellt, der den Ministerpräsidenten selten begleite und daher auch kein ausreichend kompetenter Ansprechpartner in der Medienarbeit sei. Schon im März 2006 wurde daher spekuliert, diese Defizite würden sowohl zu organi-satorischen als auch personellen Veränderungen in der Staatskanzlei führen (Tutt 2006c: 8).

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellung nach den institutionel-len Transformationsprozessen auf Leitungsebene der Staatskanzlei zeigte sich in den ersten Monaten folgendes Bild: Erstens erwies sich die im Juli 2005 institu-tionalisierte Formalstruktur als bestenfalls grobe Orientierungshilfe hinsichtlich der praktischen Abläufe innerhalb der Staatskanzlei. Erweitert wurde diese For-malstruktur im Sinne des Layerings durch informelle Regelsysteme, die sich in ergänzenden informellen Praktiken, Routinen und Abläufen manifestierten. Die-se informellen Regelsysteme wiederum zeichneten sich durch unterschiedliche Formalisierungsgrade aus, was mittelfristig abweichende institutionelle Entwick-lungspfade begründete.

Zweitens änderten sich formal etablierte Regelsysteme im Sinne des Trans-formationsmodus Drift. Alte Regeln wurden nicht beseitigt und auch nicht in allen Fällen neue Regeln implementiert. Allerdings zeigten sich in der Regelan-wendung praktische Abweichungen im Sinne einer Vernachlässigung oder ver-änderten Bedeutungszuweisung durch intentional und nichtintentional handelnde Change-Agents. In der Gesamtschau zeigte sich damit neben dem Layering in-formeller Regelsysteme eine zweite Transformationsdynamik bei der Ausprä-gung informeller Organisationsstrukturen. a) Defizitäre Koordination und Steuerung durch den Chef der Staatskanzlei: Die Staatskanzlei als „defekter“ Kern der Kernexekutive 2005-2006 Bei Amtsbeginn im Juli 2005 hatte der neue Chef der Staatskanzlei gegenüber den Mitarbeitern der Regierungszentrale erklärt, er sei kein Freund strenger Hie-rarchien, aber von Loyalität und Netzwerkbildung. Er wolle die Staatskanzlei zu einem Vorreiter von Effizienz und Bürokratieabbau machen und dieses Ziel im

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Dialog und auf der Grundlage ausführlicher Gespräche innerhalb des Hauses erreichen (Lamprecht 2005). Wenige Monate nach Amtsantritt sah sich Grosse-Brockhoff allerdings mit einer gänzlich anderen Wahrnehmung seiner bisherigen Arbeit als Amtschef konfrontiert. In der Landespresse wurde spekuliert, er rufe mehrmals täglich seine Vorgängerin Marienfeld an, um dort Informationen und Beratung einzuholen. Faktisch koordiniere sie als Staatssekretärin im Finanzmi-nisterium weiterhin einen Teil der Regierungsarbeit. Nach etwa einem halben Jahr mehrten sich die Stimmen, die Michael Breuer als starken Mann an der Seite des Ministerpräsidenten und „wahren Chef des Hauses“ (Uferkamp 2006a) darstellten und Grosse-Brockhoff die Eignung als politischer Krisenmanager absprachen. Zudem sei er in Sitzungen nicht ausreichend vorbereitet und mit seiner Doppelfunktion überlastet (vgl. Goebels 2005: 4; Schumacher 2005c). Auch fehlende Initiativen bei der Umsetzung wichtiger Vorhaben der Regie-rungsformation wie die geplante Gemeindereform, Maßnahmen zur Verwal-tungsvereinfachung und zu einer umfassenden Polizeireform wurden der schlechten Verfassung der Staatskanzlei zugeschrieben (Goebels 2006c: 2). Schließlich habe das „Machtvakuum in der Schaltzentrale“ (Goebels 2006c: 2) dazu beigetragen, dass Intrigen, Personalquerelen und kleinere Affären die Wahrnehmung der Staatskanzlei in der Öffentlichkeit geprägt hätten. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, zwei Drittel seiner Arbeitskraft der Koordination des Hauses und ein Drittel seiner Aufgabe als Kulturstaatssekretär zu widmen, habe sich dieses Verhältnis umgekehrt. Die Folge seien gravierende Steuerungs- und Koordinationsdefizite auf Seiten der Staatskanzlei gewesen (Schilder 2006b).

Diese veröffentlichte Wahrnehmung deckte sich in weiten Teilen mit der Perzeption zentraler Akteure der Regierungsformation. Auch hier dominierte die Ansicht, Grosse-Brockhoff komme seinen Koordinationsaufgaben nur in Ansät-zen nach. Die verspätete Veröffentlichung von Organisationsplänen des Hauses sei ebenso ein einschlägiges Symptom wie unklare Verfahrensabläufe zwischen den Abteilungen des Hauses und in der Kooperation zwischen Leitungs- und Arbeitsebene (Florack 2006a). Bemängelt wurde in der Konsequenz eine unklare und intransparente Organisationsstruktur, die für Dritte nicht immer durchschau-bar sei (Florack 2006c: Frage 6).

Zum einen wurde die Doppelbelastung Grosse-Brockhoffs aus Leitung der Staatskanzlei und Kulturstaatssekretärsaufgabe hierfür verantwortlich gemacht. Diese Aufgabenverschränkung sei eine faktische Überforderung und als Aufga-benportfolio praktisch nicht zu leisten gewesen (Florack 2006c: Frage 6; Florack 2006h: Frage 1; Interview Beneke: Frage 2). So habe es häufig unauflösbare Terminkollisionen gegeben. Außerdem seien vor dem Hintergrund zeitlicher Einschränkungen oftmals Abstimmungsformate gewählt worden, die wenig

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problemadäquat gewesen seien. So habe Grosse-Brockhoff häufig auf Vierau-gengespräche verzichten müssen und stattdessen Runden mit größerer Teilneh-merzahl zusammengerufen, was jedoch oftmals den eigentlichen Zwecken nicht dienlich gewesen sei (Florack 2006h: Frage 5). Diese Deutung einer nicht zu stemmenden Arbeitsbelastung entsprach weitgehend den Warnungen, die gegen-über Rüttgers bereits bei Amtsantritt von zahlreichen Akteuren mit Regierungs-erfahrung artikuliert worden waren. Durch die Übernahme des Vorsitzes der Ministerpräsidentenkonferenz durch Nordrhein-Westfalen mit Beginn der Regie-rungszeit wurde dieses Problem zudem noch verschärft und band neben den sonstigen Umbaumaßnahmen zusätzlich Ressourcen, die für Koordinations- und Steuerungsaufgaben fehlten (Interview Beneke: Frage 2).

Zum anderen wurde die persönliche Eignung Grosse-Brockhoffs für das Amt des Chefs der Staatskanzlei grundsätzlich in Frage gestellt und als Haupt-grund für die entstandenen Organisationsdefizite genannt. Führende Akteure kamen übereinstimmend zu der Einschätzung, diese Personalentscheidung sei ein Fehler gewesen. Helmut Stahl verwies auf die personalpolitischen Restriktionen, die im Sommer 2005 insbesondere bei der Besetzung exekutiver Führungspositi-onen vor dem Hintergrund parteien- und koalitionsdemokratischer Imperative zu beachten gewesen seien. Die Hoffnung, mit der Berufung Grosse-Brockhoffs sowohl einen kulturpolitischen als auch verwaltungserfahrenen Profi zu gewin-nen und zudem die Stelle eines Staatssekretär einsparen zu können, habe sich als Trugschluss erwiesen (Interview Stahl: Frage 25). Der persönliche Referent des Chefs der Staatskanzlei, Markus Ausetz, verwies auf die mangelnde Veranke-rung Grosse-Brockhoffs innerhalb der CDU. Auch dies habe maßgeblich zu Schwierigkeiten im Abstimmungsprozess und Vertrauensdefiziten bei der Zu-sammenarbeit vor allem mit dem Ministerpräsidenten geführt (Florack 2006h: Frage 2; übereinstimmend Interview Berger: Frage 6). Dies äußerte sich bei-spielsweise in einem nur sehr eingeschränkten persönlichen Kontakt zwischen Rüttgers und seinem Chefadministrator. Manchmal, so Ausetz, hatten beide zwei Wochen lang keine Gelegenheit zum persönlichen Austausch (Florack 2006h: Frage 7).

Insgesamt kamen führende Akteure der Regierungsformation in der Staats-kanzlei und innerhalb der größeren Regierungspartei zu der Einschätzung, Gros-se-Brockhoff habe „das Profil für die Aufgabe, die er ursprünglich wahrnehmen sollte“, gefehlt (Interview Stahl: Frage 24). Zum einen habe Grosse-Brockhoff nicht über das politische Gespür verfügt, Interventionsbedarfe rechtzeitig zu erkennen und dann auch entschieden einzugreifen. Zum anderen habe es an der Kompetenz gefehlt, „geräuschlos zu agieren“ und gewissermaßen als unsichtba-rer Administrativer im Hintergrund die Fäden zu ziehen (Interview Stahl: Frage 24). Ausgerechnet der Chef der Staatskanzlei war „überhaupt kein Verwal-

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tungsmensch“ im Sinne eines exekutiven „Antreibers“, sondern habe seine Stär-ken beinahe ausschließlich auf dem Feld der Kulturpolitik gehabt (Interview Krautscheid: Frage 6).

Die aus dieser Personalentscheidung resultierenden und die gesamte Arbeit der Staatskanzlei prägenden Koordinationsdefizite zeigten sich auf vielfältige Art und Weise im alltäglichen Regierungsgeschäft. Beispielhaft lassen sich die fol-genden Defizitbereiche hinsichtlich der inhaltlichen Koordination und Steue-rung, der Administration der Staatskanzlei sowie in der Kooperation mit anderen Schlüsselinstitutionen der Regierungsformation identifizieren:

Erstens zeigten sich Defizite in der Administration wichtiger exekutiver Abstimmungsgremien. Dies galt beispielsweise für die Staatssekretärskonferenz, die wöchentlich unter der Leitung des Chefs der Staatskanzlei tagte und deren vorrangige Aufgabe es war, die Kabinettssitzungen des Folgetages und der kommenden Woche formal vorzubereiten. Hier zeigte Grosse-Brockhoff häufig wenig politisches Gespür für Konfliktpotentiale zwischen den Ressorts und nahm insofern auch selten die ihm zugedachte Moderationsaufgabe wahr. Aus Sicht von Abteilungsleiter Berger, der ebenso wie Edmund Heller an diesen Sitzungen teilnahm, war Grosse-Brockhoff nicht immer adäquat vorbereitet. Die Folge war, dass die Abteilungsleiter sogar während der Konferenz Zettel mit inhaltlichen und Verfahrenshinweisen weitergaben und sowohl vorher als auch nachher unmittelbar in das Alltagsgeschäft des Staatskanzleichefs eingriffen. Ähnliche Koordinationsdefizite zeigten sich bei bilateralen Verhandlungen Gros-se-Brockhoffs mit Staatssekretären anderer Ressorts. Die dort eingeschlagene Linie war oftmals explizit nicht mit dem Ministerpräsidenten abgestimmt, der dann in einigen Fällen nicht bereit war, getroffene Vereinbarungen zwischen Staatskanzlei und Ressort zu akzeptieren und entsprechend intervenierte. Damit verlor Grosse-Brockhoff schrittweise an Vertretungsmacht und wurde immer weniger als individueller Repräsentant des korporativen Akteurs Staatskanzlei sowie des Ministerpräsidenten wahrgenommen.

Zweitens offenbarte Grosse-Brockhoff Schwächen bei der Steuerung inhalt-licher Projekte der neuen Regierungsformation. So war die eigentlich unmittel-bar mit seinem Amt verbundene zeitliche Vorhabenplanung für die im Koaliti-onsvertrag niedergelegten Zielformulierungen mit ihm nicht möglich. Größere Teile der Projektsteuerung und die entsprechende zeitliche Taktung der Vorha-benplanung ging vielmehr in den Zuständigkeitsbereich der Planungsabteilung und ihres Leiters Boris Berger über (Interview Berger: Frage 6), der damit fak-tisch einen wichtigen Arbeitsbereich des Amtschefs übernahm. Darüber hinaus-gehende Planungen, die mit der FDP als Koalitionspartner abgestimmt werden mussten, fanden wiederum beinahe ausschließlich im Rahmen des Koalitions-ausschusses statt. Hier war Grosse-Brockhoff zwar qua Amt beteiligt, aber fak-

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tisch spielte der Ministerpräsident selber hier die entscheidende Rolle auf Seiten der CDU (hierzu Kapitel 5.2.2).

Drittens wurden Probleme in den routinemäßigen Verwaltungsabläufen der Staatskanzlei offensichtlich. Dem gewissermaßen als interne Denkfabrik ange-legten Redenschreiberreferat III.1 in der Planungsabteilung sollte angesichts der formalen Organisationsentscheidungen aus dem Juli 2005 eine besondere Rolle zukommen. Die Intention war eine kohärente Außendarstellung des Ministerprä-sidenten durch eine Bündelung der vormals dezentralisierten Aufgabe der Re-denproduktion. Diesem Bedeutungszuwachs trug der Chef der Staatskanzlei jedoch bestenfalls in Ansätzen Rechnung. So kam es erst am 18. November 2005 und damit mehrere Monate nach Amtsantritt zu einem Auftakttreffen des Chefs der Staatskanzlei mit dieser Organisationseinheit (Florack: 18. November 2005). Auch andere Kontakte zu wichtigen Arbeitsbereichen erfolgten eher sporadisch und mit teils großem zeitlichen Abstand. Des Weiteren zeigten sich zeitliche Defizite hinsichtlich des Umgangs mit hausinternen Abstimmungsprozessen. Der Rücklauf schriftlicher Vermerke dauerte aus Sicht vieler Mitarbeiter der Staats-kanzlei extrem lang und folgte oftmals keinem verlässlichen Dienstweg (u.a. Florack 2006c: Frage 7). Zahlreiche Informationen gingen daher verloren, muss-ten erneut ausgetauscht werden oder erreichten nicht immer die richtigen Adres-saten. Die Folge waren Informationsverluste und deutlich erhöhte Kommunikati-ons- und Transaktionskosten, die durch die mangelhafte Anwendung institutio-neller Regeln verursacht wurden.

Viertens schließlich zeigte der Chef der Staatskanzlei gravierende Defizite in der Kooperation und Kommunikation sowohl mit wichtigen Akteuren inner-halb als auch außerhalb der Regierungsformation. Im Sinne einer legislativen Rückkopplung exekutiven Handelns spielte insbesondere die Koordination mit den Regierungsfraktionen eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu den übrigen Machtmaklern in der Staatskanzlei nahm Grosse-Brockhoff bestenfalls spora-disch als Gast an den Sitzungen der CDU-Fraktion teil. Während für zahlreiche Akteure in der Staatskanzlei dieses Gremium eine wichtige Informationsquelle darstellte und zudem die Gelegenheit zum informellen Gespräch mit Parlamenta-riern, Fraktionsführung oder Vertretern anderer Ressorts bot, ließ Grosse-Brockhoff diese Gelegenheit meist ungenutzt verstreichen. So nahmen häufig nur die oben als Machtmakler identifizierten Leiter der Staatskanzleiabteilungen, der Leiter des Ministerpräsidentenbüros sowie die Staatssekretäre an den CDU-Fraktionssitzungen als Zuhörer teil (Florack: 23. Mai 2006). Hierin dokumentier-te sich auch die mangelnde parteiliche Anbindung des Staatskanzleichefs, der insofern die parteiendemokratische Arena nur unzureichend für seine Aufgaben-wahrnehmung zu nutzen wusste. Hinzu kam der unregelmäßige und seltene di-rekte Zugang zum Ministerpräsidenten. Meist beschränkte sich der Kontakt auf

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Abstimmungsrunden wie den Jour fixe am Freitag, aber spontane Rückkopplun-gen bei Bedarf zwischen beiden Spitzenakteuren hatten Seltenheitswert. Neben der üblichen Terminbegleitung durch Fachreferenten und Mitarbeiter des Minis-terpräsidentenbüros trat auch hier vor allem Boris Berger als Begleiter der Minis-terpräsidenten in Erscheinung. Dies galt insbesondere für politisch wichtige Termine sowohl auf Landes- als auch Bundesebene95. Je länger sich diese infor-melle Praxis einspielte, desto unwichtiger wurde die Notwendigkeit einer forma-len Zuständigkeit des Abteilungsleiters für den jeweiligen Termin. Die informel-le Praxis entwickelte dauerhafte Regelhaftigkeit in dem Sinne, dass sich bei in der Einschätzung des Ministerpräsidenten politisch wichtigen Terminen gewis-sermaßen eine automatisierte Zuständigkeit Bergers herausbildete. Ein solcher Automatismus galt im Umkehrschluss für die immer weiter erodierende Bedeu-tung Grosse-Brockhoffs für das Politikmanagement der Regierungsformation.

Wie unter einem Brennglas wurden die Defizite des Chefs der Staatskanzlei hinsichtlich des Politikmanagements in der Staatskanzlei im Rahmen einer kri-senhaften Auseinandersetzung zwischen Opposition und Landesregierung deut-lich. Die Opposition erhob wenige Wochen nach dem Regierungswechsel 2005 den Vorwurf, die Staatskanzlei plane eine „Imagekampagne“ zugunsten der Landesregierung und insbesondere des neuen Ministerpräsidenten. Die Form der Reaktion der Landesregierung zeigte, dass der Chef der Staatskanzlei im Rah-men des nachfolgenden Krisenmanagements entgegen seiner formalen Aufga-benbeschreibung keinerlei zentrale Rolle spielte:

Auslöser für die Kontroverse zwischen Regierung und Opposition war ein Bericht des Nachrichtenmagazins FOCUS im Oktober 2005 über eine geplante Kampagne von Seiten der Staatskanzlei. Die SPD-Fraktion nahm diesen Me-dienbericht zum Anlass, eine Aktuelle Viertelstunde des Hauptausschusses zu beantragen, um die Aufklärung dieses Sachverhalts durch die Landesregierung zu erreichen (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005a). Für diese wies Regierungs-sprecher Thomas Kemper den Vorwurf der Planung einer „Imagekampagne“ zurück. Er verwies vielmehr auf aktuelle Überlegungen zur Begleitung des 60jährigen Landesjubiläums und verneinte darüber hinausgehende Planungen einer „Imagekampagne“ in der Staatskanzlei. In die anschließende Debatte schal-tete sich auch Michael Breuer als Minister im Geschäftsbereich des Ministerprä-sidenten aktiv ein, der die Darstellung Kempers ergänzte und bekräftigte und insofern als Vertreter der Staatskanzlei und gewissermaßen auch des Minister-präsidenten auftrat.

95 Berger begleitete den Ministerpräsidenten beispielsweise zu Gesprächen mit Kabinetts-

mitgliedern, wichtigen Verbandsvertretern, Hintergrundgesprächen und wichtigen Parteiver-anstaltungen.

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Neue Nahrung erhielt die parteipolitische Auseinandersetzung nach einer kurzen Pause jedoch bereits Mitte Dezember 2005. Erneut berichtete der FOCUS am 12. Dezember 2005 über die Vorbereitung einer „Imagekampagne“ in der Staatskanzlei und zitierte aus einem entsprechenden staatskanzleiinternen Papier vom 12. September 2005, dessen Verfasser der Leiter der Planungsabteilung war. Die Oppositionsparteien sahen sich sowohl im ursprünglich geäußerten Vorwurf sachlich bestätigt als auch durch die Darstellungen Kempers und Breuers am 20. Oktober 2005 im Hauptausschuss getäuscht. Entsprechende Vor-haltungen machten Vertreter von SPD und Grünen der Landesregierung in einer erneuten Sitzung des Hauptausschusses am 14. Dezember 2005, die auf Initiative von CDU-Parlamentariern zustande kam (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005c). Aufgrund der am gleichen Tag in Berlin stattfindenden Ministerpräsidentenkon-ferenz waren sowohl Ministerpräsident Rüttgers als auch Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff nicht in Düsseldorf, so dass von Seiten der Landesregierung erneut Thomas Kemper zu den Vorwürfen Stellung nahm. Neben der Existenz des Vermerks vom 12. September 2005 musste er jedoch einräumen, erst wenige Tage zuvor Kenntnis von diesem erlangt zu haben (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005c: 14). Neben dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Stahl griff auch Michael Breuer erneut als Redner in die anschließende Diskussion ein. Er hatte bereits in der vorhergehenden Fragestunde des Landtags am gleichen Tag im Namen der Landesregierung auf Rückfragen der Opposition geantwortet. Aller-dings waren auch ihm offensichtlich am 20. Oktober 2005 die Details des disku-tierten Vorganges nur unzureichend bekannt gewesen, so dass sich die Reaktion der Landesregierung immer mehr zum Krisenmanagement aufgrund dieser of-fensichtlichen Kommunikationspannen entwickelte. Allerdings spielte der Chef der Staatskanzlei hierbei bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Vielmehr bemüh-te sich der Ministerpräsident von Berlin aus, die entstandene Problemlage mit Hilfe seines Büroleiters, Boris Bergers sowie Kempers und Breuers zu entschär-fen und eine gemeinsame Reaktion abzustimmen. Die dabei weitgehend bedeu-tungslose Rolle Grosse-Brockhoffs setzte sich auch am Folgetag fort. In der von SPD und Grünen beantragten Aktuellen Stunde des Landtages zum Thema griff der Ministerpräsident selbst als Debattenredner ein und wies die erhobenen Vorwürfe einer unzulässigen Rollenwahrnehmung der Staatskanzlei zurück (Landtag Nordrhein-Westfalen 2005d: 1533–1535). Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff hingegen blieb in Berlin, um dort weitere Termine wahrzunehmen. Er erwies sich in der Rückschau eines Beobachters insofern beim Krisenmanage-ment als „Totalausfall“ und war folglich bei bestimmten Gesprächen überhaupt nicht mehr eingebunden.

Ausgestanden war das Thema „Imagekampagne“ für die Landesregierung trotz der unmittelbaren Intervention des Ministerpräsidenten allerdings nicht.

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Vielmehr erhielt die Kontroverse nach dem Jahreswechsel durch die Veröffentli-chung weiterer staatskanzleiinterner Papiere neue Nahrung. Die Opposition sah sich angesichts einer Reihe von Vorschlägen zur künftigen Ausgestaltung von Repräsentationsveranstaltungen des Landes bestätigt, es habe die Planung einer breiter angelegten „Imagekampagne“ von Seiten der Staatskanzlei gegeben. In weiteren Sitzung des Hauptausschusses am 18. und 26. Januar 2006 zu diesem Thema erneuerte die Opposition ihre Kritik und die Regierung sah sich gezwun-gen, weitere Details des Vorganges offenzulegen (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006a; Landtag Nordrhein-Westfalen 2006c). Erneut wurde die Landesregierung hierbei von Staatssekretär Kemper sowie Minister Breuer repräsentiert. Sie ver-wiesen zur Begründung auf eine Erkrankung des Chefs der Staatskanzlei, wes-halb sie als eigentlich mit den Vorgängen nicht direkt befasste Akteure nur ver-tretungshalber vor dem Hauptausschuss Rede und Antwort stünden. Kemper erklärte in der Sache, der Ministerpräsident habe „in einer Mappe mit acht Fä-chern ein kleines Konvolut von Vorlagen erhalten, die zu unterschiedlichen Terminen geschrieben wurden, aber in einem inhaltlichen Zusammenhang stan-den, da sie dem Auftritt und der Darstellung des Landes und damit auch der Außendarstellung der in der Landesregierung handelnden Personen galten“. „Eine Imagekampagne für den Ministerpräsidenten“, habe aber „niemals zur Diskussion“ gestanden (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006c: 45–46). Die er-gänzenden Einlassungen Breuers vor dem Hauptausschuss machten nicht nur deutlich, dass Grosse-Brockhoff im Rahmen des Krisenmanagements keine rele-vante Rolle spielte, sondern er auch in die Vorgänge rund um diese internen Papiere selbst bestenfalls am Rande eingebunden gewesen war. So erklärte Breuer, der Chef der Staatskanzlei habe erst im Rahmen des Rücklaufs der staatskanzleiinternen Vermerke vom Ministerpräsidenten an die Planungsabtei-lung von diesen Unterlagen Kenntnis erlangt. Der Ministerpräsident habe die Unterlagen ursprünglich „direkt aus der Hand des Abteilungsleiters III erhalten“, da es sich um die Erledigung eines mündlich und direkt erteilten Auftrages ge-handelt habe. Breuer erklärte zudem, „[s]olch eine Abkürzung des Dienstweges [sei] bei eiligen Vorbereitungen in Ausnahmefällen durchaus möglich und üb-lich“, zumal sie der Vorbereitung einer „Besprechung mit Mitarbeitern der Ab-teilung III“ gedient hätten. Daher habe der Chef der Staatskanzlei „die Mappe abgezeichnet auf dem Rückweg vom Ministerpräsidenten an den Leiter der Ab-teilung III, also bevor sie an die zuständige Sachbearbeitung in der Abteilung zurückgegangen“ sei. Auch seine eigene Rolle als Vertreter der Staatskanzlei verteidigte Breuer als „völlig normale[n] Vorgang“. Er habe als „Minister im Geschäftsbereich des Ministerpräsidenten die Beantwortung für die Landesregie-rung übernehmen müssen und übernommen“. Er verwies dabei explizit auf die Geschäftsordnung des Landtages, die entsprechende formale Anforderungen an

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 317

die Vertreter der Landesregierung im Hauptausschuss enthalte (Landtag Nord-rhein-Westfalen 2006c: 49).

Mit der weitgehenden Offenlegung der staatskanzleiinternen Vorgänge im Januar 2006 fand die parlamentarische Auseinandersetzung über die „Image-kampagne“ einen vorläufigen Abschluss. Allerdings verfestigte sich zugleich das Bild gravierender Koordinations- und Steuerungsdefizite an der Spitze der Staatskanzlei. Dabei war die mutmaßliche Brisanz der internen Papiere nur eine Seite der Medaille. Ein gravierende Schwierigkeit zeigte sich vor allem darin, dass wiederholt interne Papiere den Weg an die Öffentlichkeit fanden und den Eindruck verfestigten, hinter den Kulissen der Regierungszentrale spiele sich ein Machtkampf unterschiedlicher Akteure mit Hilfe „gezielter Indiskretionen“ ab (Tutt 2006a: 9; so auch Schilder 2006a; Schumacher 2006a: 1).

Nicht zuletzt aufgrund dieser Koordinations- und Steuerungsdefizite entwi-ckelten sich in institutioneller Hinsicht während der ersten Monate nach dem Regierungswechsel informelle Parallelstrukturen innerhalb der Staatskanzlei. Diese informellen Praktiken und Routinen etablierten sich dabei gewissermaßen als funktionale Auswege angesichts der beschriebenen Defizite. Entweder durch intentionales Akteurshandeln oder durch die wiederholte Anwendung dieser Routinen und Praktiken zeigte sich eine schrittweise Institutionalisierung dieser Regelsysteme. Dabei zeigten sich Layering und Drift als dominante Modi bei der Transformation der Formalstruktur. b) Layering und Drift als funktionale Äquivalenz: Informelle Regelsysteme als institutionelle Auswege Wie die oben skizzierten Einlassungen Breuers zur direkten Kommunikation des Ministerpräsidenten mit dem Leiter der Planungsabteilung am Beispiel der mut-maßlichen „Imagekampagne“ zeigten, reagierte man in der Staatskanzlei auf die Defizite an der Hausspitze in Form angepasster Arbeitsroutinen. Dabei zeigte sich insbesondere im Umgang mit dem hausinternen Dienstweg der informelle Transformationsmodus Drift: Bestehende formale Regeln wurden ebenso wenig beseitigt wie neue eingeführt, aber die Regelanwendung änderte sich, indem vormalige Regeln im Sinne einer veränderten Bedeutung und Anwendung ver-nachlässigt wurden und insofern eine schrittweise Bedeutungsverschiebung der institutionellen Struktur einsetzte.

Formaler Ausgangspunkt für diesen Drift war ein Hauserlass des Chefs der Staatskanzlei vom 22. August 2005. Dieser hielt fest: „Briefentwürfe und Vorla-gen an den Ministerpräsidenten sind grundsätzlich auf dem Dienstweg über den Minister bzw. den Chef der Staatskanzlei bzw. den Regierungssprecher und

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Staatssekretär für Medien vorzulegen. Gegebenenfalls ist dem Ministerpräsiden-ten bzw. dem Minister ein Vorabexemplar vorzulegen“ (Chef der Staatskanzlei 2005: Abschnitt C Dienstweg, Absatz 1). Während der erste Absatz im Kern nur die übliche Praxis innerhalb einer Linienorganisation wiederholte, stellte die nachgelagerte Ausnahmeregelung das Einfallstor für die weitere Entwicklung dar. Wie schon beschrieben, erwies sich der Chef der Staatskanzlei als Engstelle und „Flaschenhals“ für die hausinterne Kommunikation. Zeitliche Verzögerun-gen und Informationsverluste waren die Folge, da der Chef der Staatskanzlei seiner Vermittlungsfunktion zwischen Hausspitze und Arbeitsebene nur unzurei-chend nachkam. Zentrale Akteure reagierten darauf, indem die über den Hauser-lass abgesicherte Ausnahme nun faktisch zur Regel bei wichtigen hausinternen Abstimmungsprozessen wurde, soweit sie den Ministerpräsidenten unmittelbar betrafen. Dementsprechend erklärte Abteilungsleiter Berger bei einer Abtei-lungslage am 2. November 2005 gegenüber seinen Mitarbeitern, der Dienstweg sei zu lang und umständlich und stelle ein Hindernis bei bestimmten dringenden Vorgängen dar. Daher würden wichtige Vermerke und Redeentwürfe nun von ihm und Edmund Heller (AL II) in Kopie direkt an das Büro des Ministerpräsi-denten weitergeleitet (Florack: 02. November 2005).

Der Chef der Staatskanzlei wurde dadurch zwar nicht gänzlich ausgespart, aber institutionell umgangen. Die Konsequenz waren zahlreiche informelle Rücksprachepraktiken zwischen den Abteilungsleitern und dem Ministerpräsi-denten. Insbesondere Berger und Heller zeigten sich als Change-Agents dabei in der Rolle der „Mutualistic Symbionts“, die angesichts der abgestimmten Praxis eine durchsetzungsstarke Akteurskoalition eingingen. Sie verletzten vordergrün-dig die bislang üblichen formalen Regeln der hausinternen Kommunikation, die gewissermaßen den Chef der Staatskanzlei als zentralen „Informationsbroker“ klassifiziert hatten. Allerdings war das Ziel nicht eine intentionale Regelverlet-zung mit dem Ziel ihrer Aufhebung, sondern vielmehr eine Reaktion auf wahr-genommene Funktionalitätseinbußen. Die Ausweitung dieser informellen Praxis nutzte zudem die formal eröffnete Ausnahmemöglichkeit des Hauserlasses und stellte insofern keine echte Regelverletzung dar.

Zentrale Intention dieser neuen Routine war es, die Information des Minis-terpräsidenten trotz der bestehenden Einschränkungen zu gewährleisten. Aller-dings zeigten sich negative Nebenfolgen, die sich im weiteren Verlauf auf das institutionelle Gefüge der Staatskanzlei insgesamt auswirken sollten. Die bereits aufgrund seines persönlichen Vertrauensverhältnisses herausgehobene Sonder-rolle Boris Bergers wurde weiter gestärkt. Neben dem täglichen persönlichen Kontakt zum Ministerpräsidenten spielte sich durch die hinzukommenden Rück-sprachepraktiken ein zusätzlicher Kommunikationsstrang ein. Berger stärkte damit einerseits seine Rolle als zentraler Machtmakler. Andererseits nahm in der

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Folge die Intransparenz dieser informellen Abstimmungsprozesse für die Ar-beitsebene der Staatskanzlei systematisch zu. Da die informellen Rücksprachen zwischen der Abteilungsleitung und dem Ministerpräsidenten nur ansatzweise institutionalisiert wurden, bestand innerhalb der Staatskanzlei wenig Kenntnis darüber, welche Gegenstände nun im kleinen Kreis besprochen wurden und welches Ergebnis diese Beratungen zur Folge hatten. Insofern stellte die verän-derte Regelanwendung zwar eine durchaus funktionale Ergänzung zur Abstim-mung zwischen Abteilungsleitung und Ministerpräsident dar, aber diese wirkte sich nicht entsprechend positiv auf die hausinterne Kommunikation mit der Ar-beitsebene aus.

Dies zeigte sich beispielshaft hinsichtlich der in Abteilung III zentralisierten Redenproduktion für den Ministerpräsidenten, obwohl diese gewissermaßen qua definitionem Chefsache war und ihr insofern besondere politische Beachtung geschenkt wurde. Wichtige Redeentwürfe des Referats III.1 wurden meist von Berger direkt an den Ministerpräsidenten übermittelt und mit diesem in kleiner Runde diskutiert. Allerdings folgte nicht immer eine entsprechende Rückkopp-lung an den jeweiligen Verfasser und den zuständigen Referatsleiter. Da Abtei-lungsleiter Berger zudem angesichts der deutlich über seine formalen Zuständig-keiten hinausgehende Aufgabenwahrnehmung für den Ministerpräsidenten abtei-lungsintern vergleichsweise wenig präsent war, verschärfte sich dieses Kommu-nikationsdefizit mit der Arbeitsebene. Die daraus resultierende Lücke musste nun wiederum in Teilen durch den ständigen Vertreter Bergers, Michael Henze, gefüllt werden. Vor allem er agierte vor seinem individuellen Erfahrungshinter-grund in der Staatskanzlei als Ansprechpartner für die Mitarbeiter des Redenrefe-rats, obwohl er offenkundig über keine besondere politische Nähe zur neuen politischen Leitung verfügte. Während also Berger seine Arbeit ganz auf die Anforderungen des Ministerpräsidenten ausrichtete, vernachlässigte er die ihm formal zugewiesene Aufgabe der Rückkopplung mit der Arbeitsebene in seiner Rolle als Abteilungsleiter. Für dieses Defizit, welches nicht zuletzt Bergers prin-zipiellem Desinteresse für administrative Abläufe und Strukturen geschuldet war, mussten wiederum ergänzende abteilungsinterne Koordinationsstrukturen geschaffen werden.

Gewissermaßen als logische Ergänzung der informellen Abweichungen vom Dienstweg zeigte sich der Transformationsmodus Drift auch hinsichtlich stärker institutionalisierter, aber gleichwohl informeller Abstimmungsroutinen innerhalb der Staatskanzlei. Hier spielten erneut die beiden Abteilungsleiter Heller und Berger eine wichtige Rolle. Denn neben der Montagslage und dem freitäglichen Jour fixe ergänzten weitere informelle Treffen der beiden mit dem Ministerpräsidenten das Bild der hausinternen Koordination-, Informations- und Beratungsinstanzen. An diesen Runden nahm der Chef der Staatskanzlei nach

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wenigen Wochen in der Regel nicht mehr teil. Bestenfalls kam er zu den Treffen in größerer Runde hinzu, ohne dort jedoch eine wirklich zentrale Rolle zu spie-len. Ab dem Jahreswechsel wies der Terminplan des Ministerpräsidenten zahl-reiche „Rücksprachen“ mit Heller und Berger aus (u.a. Büro des Ministerpräsi-denten Stand vom 2006c: 1–3; Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006a: 3). Häufig wurde dieser kleine Kreis um weitere Vertraute erweitert, aber die Präsenz des Chefs der Staatskanzlei wurde in aller Regel nicht mehr eingefor-dert. Vielmehr gewannen Michael Breuer und Karsten Beneke, Norbert Neß und Axel Emenet angesichts ihrer entweder politischen oder administrativen Aus-nahmestellung an Gewicht und wurden ad hoc an solchen informellen Treffen unmittelbar beteiligt.

Diese Praxis wurde im Büro des Chefs der Staatskanzlei nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern veränderte auch die dortige Arbeit. Grosse-Brockhoffs Büroleiter Markus Ausetz beschrieb diesen Prozess als schrittweise Entwicklung einer informellen Parallelstruktur, die gegenüber dem formalen Gefüge immer mehr an Bedeutung zunahm (Florack 2006h: Frage 3). Angesichts der von ihm ebenfalls als Defizit wahrgenommenen geringen Präsenz des Amts-chefs habe diese Veränderung auch seine Rolle weitgehend mitdefiniert. Die Kontaktpflege innerhalb des Hauses und die Entlastung Grosse-Brockhoffs von seinen administrativen Aufgaben habe immer stärker zu seinem Aufgabengebiet gehört (Florack 2006h: Frage 1). Insofern bestimmten auch hier die Vernachläs-sigung und veränderte Bedeutung alter Regeln das Bild, ohne dass neue ergänzt oder alte beseitigt wurden. Die an diesem Prozess beteiligten Akteure allerdings betätigten sich nicht als intentional agierende Change-Agents, sondern eher als institutionelle „Opportunisten“. Die weiteren Folgen für die Organisationskultur der Staatskanzlei zeigten sich primär als nichtintendierte Nebeneffekte eines Verhaltens, welches sich an der Wahrnehmung der konkreten Rahmenbedingun-gen orientierte und auf das Ausgleichen formaler Funktionalitätsdefizite gerichtet war. Insofern war auch keine strategische Koalitionsbildung der beteiligten Ak-teure mit dem Ziel institutioneller Veränderungen zu erkennen. Vielmehr kenn-zeichnete nicht zuletzt eine ausgeprägte Konkurrenzsituation das Verhältnis eines Teils der Machtmakler, welches sich wiederum innerhalb der sich schritt-weise herausbildenden Routinen und Praktiken verstärkte.

Als Schichtung neuer institutioneller Regeln im Sinne des Layerings schließlich lassen sich ergänzende institutionelle Arrangements beschreiben, die unmittelbar auf die Absicherung der Koordinations- und Steuerungsfunktionen an der Hausspitze gerichtet waren. Von herausragender Bedeutung war die in-formelle Wahrnehmung von Aufgaben des Chefs der Staatskanzlei durch andere Akteure. Damit wurde zwar die formale Rolle des Chefs der Staatskanzlei nicht

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beschnitten, aber neue Routinen und Praktiken ergänzten diese Regelstruktur im Sinne einer informellen Schichtung.

Wie sich am Beispiel der Auseinandersetzung über die „Imagekampagne“ zeigte, übernahm insbesondere Michael Breuer eigentlich dem Chef der Staats-kanzlei zugeordnete Aufgaben. Wie Grosse-Brockhoffs damaliger Büroleiter beschrieb, konnte er sich hierbei sogar auf die Unterstützung des Chefs der Staatskanzlei berufen. Ohne Bindung an formale Organisationsstrukturen und mit Grosse-Brockhoffs Billigung habe Breuer so in allen relevanten Kernexeku-tivfeldern intervenieren und seinen Einfluss geltend machen können (Florack 2006h: Frage 8). Diese Ausnahmerolle Breuers transportierte sich auch über die internen Abläufe hinaus an die Öffentlichkeit (u.a. Goebels 2006b; Goebels 2006c: 2). Auch die die bereits angedeutete Veränderung der Rolle Bergers ließ sich durchaus als Layering definieren. Denn auch er übernahm als unmittelbarer Repräsentant des Ministerpräsidenten Aufgaben, die eigentlich von Grosse-Brockhoff erwartet wurden. Dazu gehörten direkte Gespräche und Verhandlun-gen mit Ressortministern und parlamentarischen Protagonisten der Regierungs-formation genauso wie politikfeldspezifische Interventionen, die über den Kom-petenzbereich der Planungsabteilung hinausgingen. Zugleich deutete sich damit eine graduelle, aber transformative Machtverschiebung auf Abteilungsebene innerhalb der Staatskanzlei an. Denn jenseits der persönlichen Rollenverände-rung hatten diese Prozesse auch Auswirkungen auf die institutionelle Struktur der Staatskanzlei insgesamt. 5.2.1.2.3 Transformative Machtverschiebungen auf Abteilungsebene und beim Ministerpräsidentenbüro: Drift und Conversion „In der Abteilung III ist hervorragende Arbeit geleistet worden. Vor allem mit Blick auf die Koordination der einzelnen Ministerien hat Dr. Berger sehr gute Arbeit geleistet", erklärte Jürgen Rüttgers im Rückblick zur Performanz der Planungsabteilung und ihres Leiters in der Staatskanzlei (Interview Rüttgers). Bezeichnenderweise entsprach diese Einschätzung zur Arbeit der Abteilung III jedoch in keiner Weise der ihr eigentlich formal zugedachten Funktion. Denn die „Koordination der einzelnen Ministerien“ war eigentlich Kernkompetenz der Abteilung II, die sich mit ihren Spiegelreferaten um die „Ressortkoordination“ kümmern sollte.

In der Einschätzung des Ministerpräsidenten fanden in stark verdichteter Form die informellen Transformationsprozesse auf Abteilungsebene ihren Aus-druck, die sich in den ersten Monaten der neuen Regierungsformation herausbil-deten. Von besonderer Bedeutung waren hierbei die graduellen Veränderungen

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in der Arbeitsweise und in der Bedeutungszuweisung der Abteilungen II und III. Ergänzend rückte das entlang dieser Transformationsdynamiken ebenfalls tan-gierte Ministerpräsidentenbüro in den Fokus. Zusammengefasst zeigten sich eine dem Transformationsmodus Drift entsprechende Marginalisierung der Abteilung II und die informelle Aufwertung und Konzentration auf die bereits 2005 formal gestärkte Abteilung III sowie die veränderte Rollenwahrnehmung des Minister-präsidentenbüros im Sinne einer Konversionsdynamik (Conversion). Hierbei kam den beteiligten Akteuren und Akteurskoalitionen eine zentrale Rolle als Change-Agents zu. Zugleich zeigten sich jenseits intentionalen Institutionendesigns auch nichtintendierte Institutionenentwicklungen, die sich aus der konkreten Anwendung formaler und informeller Regeln gewissermaßen beiläufig ergaben. a) Der schrittweise Bedeutungszuwachs der Abteilung III: Drift Eine intendierte Aufwertung der Abteilung III war bereits bei den formalen Reorganisationsprozessen der Staatskanzlei im Juli 2005 erkennbar gewesen. Treiber dieser formalen institutionellen Veränderung war der neue Ministerprä-sident selbst, der zentrale Aufgaben aus dem Ministerpräsidentenbüro zurück auf die Abteilungsebene verlagern wollte. Als Change-Agent agierter er insofern als „Aufständischer“, als dass im Rahmen eines bewussten Displacements ein ent-sprechender Aufgabenzuwachs in der Planungsabteilung auf Kosten des Minis-terpräsidentenbüros formal abgesichert wurde.

Augenfälligste organisatorische Folge dieses Bedeutungszuwachses war die Etablierung des neuen Redenschreiberreferats III.1. Hier konzentrierte sich zum einen im Zuge des Regierungswechsels neu rekrutiertes Personal. Damit war zugleich eine stärkere politische Nähe der dort Tätigen zur inhaltlichen Ausrich-tung der neuen Regierungsformation verbunden. Wenngleich die Mitarbeiter des Referats keinesfalls ausschließlich entlang parteipolitischer Präferenzen rekru-tiert wurden, so war doch eine grundsätzliche Unterstützung der politischen Linie der neuen Landesregierung erforderlich. Abteilungsintern führte dies in den ersten Wochen zu einer Differenzierung zwischen „den Neuen“ und „den Alten“ in der Staatskanzlei (Florack 2005a). Hierin drückte sich sprachlich die Sonderstellung des Referats aus, die abteilungsintern durchaus wahrgenommen wurde. Verstärkt wurde diese personellen Differenzierungen durch unterschiedli-che Reaktionen „der Alten“ in der Staatskanzlei auf den Regierungswechsel 2005. Während für die in er Abteilung verbleibenden Mitarbeiter die beamten-rechtlich gebotene Neutralität und damit Loyalität gegenüber der neuen politi-schen Führung zumindest nach außen überwog, hatten andere bewusst um eine

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Versetzung aus der Planungsabteilung gebeten, weil sie sich außer Stande sahen, die politische Linie des neuen Regierungschefs aktiv zu unterstützen (Interview Henze: Frage 17). Dennoch zeigte sich bei den verbleibenden Mitarbeitern zu-nächst eine abwartende Haltung gegenüber der neuen Hausleitung, die sich von der unmittelbar auf den neuen Ministerpräsidenten bezogenen Arbeitsweise des Referats III.1 unterschied.

Zum anderen bildete das Redenschreiberreferat insofern den Nukleus einer institutionellen Aufwertung der Abteilung III, als mit seiner Arbeitsweise eine Hierarchisierung vormals egalitär agierender Organisationseinheiten verbunden war. Hatten die Fachreferate insbesondere der Abteilung II bis zum Regierungs-wechsel selbst Redeentwürfe und Textbausteine geliefert, wurde diese Aufgabe nun im neuen Referat III.1 zentralisiert. Die Rolle der Fachreferate beschränkte sich fortan auf die reine Zulieferung fachlicher Informationen, die Abteilung II wurde insofern zum „Hilfsinstrument“ der Planungsabteilung. Die politische Bearbeitung und Bewertung der gelieferten Sachinformationen mit Blick auf öffentliche Äußerungen des Ministerpräsidenten oblag nun der Abteilung III, was eine deutliche Akzentverschiebung in der hausinternen Bedeutungsvertei-lung bewirkte.

Indem in der Abteilung III zudem das Protokollreferats verankert wurde, welches um die Zuständigkeiten für Veranstaltungsorganisation und Empfänge des Ministerpräsidenten erweitert wurde, kam ein eng mit der oben geschilderten Außendarstellung verbundenes Aufgabengebiet hinzu. Insgesamt verdichtete sich so der hausinterne Eindruck, neue politische Akzente sollten vor allem von der Planungsabteilung ausgehen.

Verstärkt wurden diese institutionellen Impulse durch die konkrete Aufga-benwahrnehmung des neuen Abteilungsleiters Boris Berger. Seine sich in den ersten Monaten herausbildende kernexekutive Bedeutung wurde von langjähri-gen Kennern der Staatskanzlei als „beispiellos“ und für die Regierungszentrale absolut „untypisch“ bezeichnet. Das persönliche Verhältnis zum Ministerpräsi-denten wurde hauptsächlich dafür verantwortlich gemacht, „dass ein Abteilungs-leiter eine solche Macht“ entwickelte. Dies, so die Einschätzung vieler Akteure, „dürfte ein einmaliger Fall sein“ (stellvertretend Interview Mai: Frage 1).

Berger agierte dabei in institutioneller Hinsicht in zwei unterschiedlichen Rollen. Einerseits trat er in seiner Funktion als Abteilungsleiter als zentraler Repräsentant dieser formal aufgewerteten Organisationseinheit auf. Durch diese Repräsentation färbte der persönliche Einflusszuwachs in der allgemeinen Wahr-nehmung gewissermaßen auf diese Organisationseinheit als Ganze ab und ver-stärkte die Wahrnehmung eines entsprechenden institutionellen Bedeutungszu-wachses. Dieser Effekt wiederum wurde im Sinne reziproker Verstärkung da-durch intensiviert, dass Berger gewissermaßen zusätzlich und über seine formale

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Aufgabenbeschreibung hinaus als persönlicher Repräsentant des Ministerpräsi-denten agierte. Er übernahm informell Aufgaben in der Ressortkoordination (Interview Krautscheid; z.B. Tutt 2006b: 8), trat in der regierungsformationsin-ternen Wahrnehmung als der „wichtigste Ratgeber“ des Ministerpräsidenten in Erscheinung, begleitete Rüttgers zu nahezu allen wichtigen Terminen im Land und in Berlin (z.B. Florack: 14. November 2005) oder übernahm Abstimmungs-aufgaben zwischen Staatskanzlei und CDU-Landtagsfraktion (beispielsweise Florack: 5. April 2006), die weit über seine formale Zuständigkeit in der Staats-kanzlei hinausgingen.

Wenngleich sich diese Verletzung formaler institutioneller Regeln zum Vorteil im Sinne wachsenden persönlichen und institutionellen Einflusses aus-wirkte, basierte diese nicht auf einem originär institutionellen Gestaltungsimpuls Bergers. Vielmehr erwies er sich akteurstypologisch eher als „Opportunist“, der nicht im engeren Sinne institutionelle Ziele verfolgte, sondern sich an den politi-schen und institutionellen Rahmenbedingungen orientierte und situationsadäquat verhielt. In der Einschätzung seines Vertreters Michael Henze schätzte Berger sogar die institutionell vorgehaltenen administrativen Ressourcen häufig als unwichtig, wenn nicht gar hinderlich für die Wahrnehmung seiner Aufgaben ein. Zahlreiche interne Abstimmungsrunden hielt Berger für „langweiliges administ-ratives Tagesgeschäft“ (Interview Henze: Frage 10).

Dementsprechend zeichnete sich hinsichtlich des faktischen Bedeutungszu-wachses der Planungsabteilung in den ersten Monaten ein Paradoxon ab: Wäh-rend aus den durch informelle Regelverletzungen zustande gekommenen Trans-formationsdynamiken eine schrittweiser Bedeutungszuwachs der Abteilung III resultierte, spielte diese Organisationseinheit für den „opportunistisch“ handeln-den Urheber Berger nur eine Nebenrolle. Die vorhandenen administrativen Res-sourcen nutzte er nicht wirklich. Weder fragte er vorhandenes Wissen über insti-tutionalisierte Informationskanäle innerhalb der Abteilung ab, noch gab er sei-nerseits ausreichend Informationen an die Mitarbeiter weiter, um diesen unter-stützende Arbeiten zu ermöglichen. Eine gewisse Ausnahme stellte das Redenre-ferat ob seiner gestiegenen Bedeutung dar, welches allerdings in vielerlei Hin-sicht wiederum „alleine gelassen“ wurde. Denn die fehlende „direkte und korri-gierend wohlwollende Rückkopplung“ dieses Referats an die Staatskanzlei ins-gesamt habe die Arbeit dieses Referats langfristig erschwert (Interview Henze: Frage 12), so die Einschätzung Michael Henzes. Nichtintendierte Nebenfolge des Akteurshandelns war damit ein gravierender hausinterner Bedeutungszuwachs der Regierungsplanung, dessen institutionelle Basis dann aber nur ansatzweise genutzt wurde.

Beispielhaft illustriert der Umgang mit abteilungsinternen Abstimmungs- und Informationsrunden diesen Sachverhalt: Besprechungen mit den Referatslei-

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tern im Rahmen von „Abteilungslagen“ fanden nur unregelmäßig statt und waren dann meist stark auf Berger konzentriert (z.B. Florack: 24. Oktober 2005). Die-ser wiederum gab in diesem Kreis selten wirklich wichtige Informationen preis, sondern monopolisierte entsprechendes Herrschaftswissen. Eine gleich nach Amtsantritt innerhalb der Abteilung III etablierte „Presselage“ zur Diskussion der tagesaktuellen Berichterstattung fand von Beginn an meist ohne Berger statt. Häufig übernahm Michael Henze die Vertretung der Abteilungsleitung und traf sich mit den Mitarbeitern des Redenschreiberreferats und weiteren Interessierten aus der Abteilung morgens zu einem etwa halbstündigen Austausch. Aufgrund der steigenden Arbeitsbelastung des Redeschreiberreferats und nicht zuletzt vor dem Hintergrund Bergers Desinteresses schlief diese Runde jedoch sukzessive ein (Exhaustion). b) Die Marginalisierung der Abteilung II: Drift Die gegenteilige institutionelle Entwicklungsdynamik zeigte sich in der Abtei-lung II unter Leitung Edmund Hellers: Während Heller seiner Abteilung signali-sierte, sie als Ressource der Kernexekutive tatsächlich effektiv nutzen zu wollen und ihr nach Einschätzung zahlreicher Mitarbeiter einen entsprechenden Ver-trauensvorschuss entgegenbrachte (stellvertretend Interview Mai: Frage 3), zeig-te sich eine schrittweise, aber langfristige Marginalisierung dieser Organisations-einheit im Verlauf des ersten Amtsjahres. In institutioneller Hinsicht fiel die Abteilung II in der Folge als wichtige Organisationeinheit der Kernexekutive weitgehend aus. Ihre schrittweise Vernachlässigung (Drift) korrespondierte als Negativum mit der entsprechend positiven Transformationsdynamik der Pla-nungsabteilung.

Anders als Berger betonte Heller von Beginn an, die administrativen Res-sourcen der Staatskanzlei nutzen zu wollen. Er beschrieb seine neue Aufgabe in der Staatskanzlei nach wenigen Wochen als Abteilungsleiter als die eines „Transmissionsriemens“ zwischen Arbeits- und Leitungsebene, betonte die Not-wendigkeit gegenseitiger Loyalität und völliger Offenheit, legte Wert auf regel-mäßige Abstimmungsroutinen in Form von Referatsleitertreffen seiner Abteilung und erklärte: „Regieren gegen den Apparat ist nicht möglich“ (Florack 2005d).

Praktische Konsequenz dieser Absichtsbekundungen waren wöchentliche „Abteilungslagen“, an denen neben der Abteilungsleitung die Leiter aller Spie-gelreferate teilnahmen. Diese institutionalisierte Runde zeichnete sich durch die Weitergabe von „Informationen von oben nach unten und die Information von unten nach oben“ aus und diente somit als wichtiges Austauschgremium inner-halb der Abteilung II (Interview Mai: Frage 9). Gleichwohl setzte sich in den

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ersten Monaten der Eindruck fest, die Abteilung II dringe zunehmend weniger durch mit ihren Anliegen. Insbesondere im Vergleich zu ihrer vorherigen Rolle innerhalb der Staatskanzlei verfestigte sich der Eindruck eine zunehmenden Marginalisierung (Interview Henze: Frage 16).

Als Anzeichen für diesen graduellen Veränderungsprozess ließen sich un-terschiedliche Indikatoren identifizieren. Zum einen zeigte sich ein wachsendes Ungleichgewicht hinsichtlich des persönlichen Zugangs Hellers zum Minister-präsidenten im Vergleich zu Boris Berger. Wenngleich beide gegenüber den übrigen Abteilungsleitern über einen privilegierten Zugang zu Rüttgers verfüg-ten, kam doch Berger zumeist die Aufgabe der ständigen Begleitung und tägli-chen Beratung zu. Hierin zeigte sich die Vernachlässigung vormals etablierter institutioneller Regeln. Hatte sich die Terminbegleitung des Ministerpräsidenten vormals daran orientiert, in welcher Organisationseinheit die fachliche Vorberei-tung erfolgt war, dominierte nun mit Berger ein Repräsentant der Abteilung III dieses Aufgabenfeld, auch wenn die fachliche Vorbereitung Aufgabe der Nach-barabteilung für Ressortkoordination gewesen war (Interview Mai: Frage 4). Damit wiederholte sich das Muster, welches bereits hinsichtlich der Redenpro-duktion offensichtlich geworden war: Die Abteilung II wurde auf die Funktion der administrativen Zuarbeit beschränkt, während die politisch relevanten Vor-gänge weitgehend von Berger abgearbeitet wurden. Das Ergebnis war eine ge-wisse Frustration, weil mit dieser veränderten Regelanwendung staatskanzleiin-terne Wahrnehmungsverschiebungen einhergingen. So fühlten sich die Vertreter der Abteilung II zunehmend weniger ernst und wichtig genommen.

Die Gründe für diesen fortschreitenden Marginalisierungsprozess der Abtei-lung II waren vielfältig. Eine erste Erklärung lag in der spezifischen personellen Konstellation. Während Berger innerhalb des Staatskanzleiapparats schrittweise zum ersten Ansprechpartner des Ministerpräsidenten aufstieg, war das persönli-che Verhältnis zwischen Rüttgers und Heller von wachsender Distanz geprägt. Die damit einhergehenden Auswirkungen auf die institutionellen Strukturen erschienen insofern folgerichtig, drückte sich dieses unterschiedliche Näheverhältnis auch in abgestuften Informations- und Beratungsinstitutionen aus. Sie führten schließlich auch zum Wechsels Heller aus der Staatskanzlei zurück in die CDU-Landtagsfraktion.96

Eine zweite Erklärung hingegen zielt stärker auf intentionales Institutionen-design von Seiten der relevanten Akteure. Ausgangspunkt für dieses Erklärungs-bündel waren die systematisch angelegten Unterschiede in der Binnenlogik der betroffenen Abteilungen (so Interview Mai: Frage 2). Während in der Planungs-abteilung ein strategischer Zugang und damit insbesondere die „Machtlogik“ des

96 Hierzu mehr im nachfolgenden Unterkapitel.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 327

Regierungsgeschäfts dominierten, war die Abteilung II stärker von der jeweils politikfeldspezifischen „Sachlogik“ und entsprechenden inhaltlichen Zugängen geprägt. Diese unterschiedlichen Logiken, so die Erfahrung Manfred Mais, führ-ten beinahe automatisch zu Konflikten, die dann insbesondere von der Hausspit-ze zu moderieren waren. Hierbei kam qua Amt dem Chef der Staatskanzlei, aber auch dem Ministerpräsidenten eine herausragende Rolle zu. Allerdings zeigte sich in den ersten Monaten nach dem Regierungswechsel weniger der Ansatz zur Moderation der systemlogisch angelegten Differenzen, sondern eine vergleichs-weise klare Orientierung zugunsten einer strategischen Machtlogik als vorrangi-ges Aufgabengebiet der Staatskanzlei. In der Wahrnehmung Mais wurde insbe-sondere Boris Berger durch den Chef der Staatskanzlei ein breiter Spielraum eingeräumt, den dieser wiederum zu nutzen wusste. Aber auch der Ministerprä-sident sorgte mit seiner klaren Orientierung auf den Leiter der Planungsabteilung dafür, dass sich die institutionellen Gewichte immer mehr in die Richtung einer solche „machtstrategischen Ausrichtung“ der Staatskanzlei verschoben. Die im Sommer 2006 vorgenommenen Änderungen in der Formalstruktur sowie die öffentlichen Begründungen für diesen Schritt verwiesen explizit auf diese Moti-vation sowohl Rüttgers‘ als auch des neu berufenen Chefs der Staatskanzlei. Die institutionelle Entwicklung war jedoch durch die informellen und mit Regelum-deutungen und -verletzungen verbundenen Praktiken während des ersten Amts-jahres bereits angelegt.

Die ebenfalls relevante Dimension intentionalen Akteurshandelns wurde wiederum verstärkt durch die offensichtlichen Koordinations- und Steuerungsde-fizite auf Seiten des Chefs der Staatskanzlei, so dass institutionelle Transforma-tionsprozesse sich zugleich als Beitrag zum Schließen von Funktionslücken entpuppten. Angesichts der immer offenkundiger werdenden Defizite bei der Aufgabenwahrnehmung durch Grosse-Brockhoff waren die übrigen „Machtmak-ler“ gefordert, institutionelle Umwege zu erschließen und informell zu institutio-nalisieren.

Verschärft wurde die den unterschiedlichen Logiken geschuldete Verschie-bung in der Binnenstruktur zudem durch die spezifischen situativen Umstände des Regierungswechsels, worin sich ein dritter Grund für die schrittweise Margi-nalisierung der Abteilung II zeigt. Angesichts der langen Oppositionszeit der neuen Regierungsparteien entwickelte die Unterscheidung zwischen „den Alten“ und „den Neuen“ eine besondere Brisanz. Insbesondere den neu in die Abteilung III berufenen Mitarbeitern der Staatskanzlei wurde eine besondere politische Nähe zur neuen politischen Führung zugeschrieben. Die „neuen Besen kehrten“ also konzentriert in dieser formal aufgewerteten Organisationseinheit und spiel-ten insofern bereits eine herausragende Rolle (z.B. Florack 2005a). Gleicherma-ßen stereotyp war auf der anderen Seite die Perzeption, bei „den Alten“ handelte

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es sich um die „alten ‚roten Socken‘, die sowieso alle nur Dienst nach Vor-schrift“ machten. Insbesondere in der Abteilung II verfestigte sich der Eindruck, von der Hausleitung aufgrund einer solchen Zuschreibung gewissermaßen kol-lektiv unter „Containment“ gestellt zu sein. Dies wurde „durch den Regierungs-wechsel institutionalisiert: Die neuen Leute alle in die Abteilung III. Bis man dann merkte, dass man mit uns auch ganz gut arbeiten konnte. Dann war es aber schon zu spät" (Interview Mai: Frage 2).

Eine letzte und vierte Begründung für die institutionellen Verschiebungen lag erneut indirekt in der Besonderheit des vollständigen Machtwechsels 2005 begründet. Unterschied sich die Arbeit der Abteilung II und III systematisch entlang der Binnenlogiken „Sachorientierung“ und „Machtorientierung“, so wurde die Sachlogik der Abteilung II durch die veränderten personellen Rekru-tierungswege gegenüber den vorhergehenden Legislaturperioden einseitig einge-schränkt. Anders als unter seinen Vorgängern kam mit Edmund Heller ein neuer Abteilungsleiter für die Ressortkoordination von außen. Bislang waren die Ab-teilungsleiter sowie die Stellvertreter und Gruppenleiter meist durch Beförderun-gen aus der Linienstruktur heraus rekrutiert worden. Der Personalwechsel 2005 bedeutet insofern einen Bruch, der wiederum darüber hinausreichende institutio-nelle Konsequenzen nach sich zog: Heller konnte nach Einschätzung alter „Staatskanzlisten“ (nachfolgend Interview Mai: Frage 9) „in den Themen nicht so drin“ sein: „Wenn man immer in der Opposition ist und dann auf einmal Ab-teilungsleiter wird, dann kennt man viele Themen einfach nicht. Man kennt die Themen nicht, man kennt die Leute nicht“. Dieser „strategische Nachteil“ ent-koppelte die neue „formale Hierarchie“ von der tradierten „Kompetenzhierar-chie“. Anders als seine Amtsvorgänger stand Edmund Heller dieser Einschät-zung zufolge zunächst nur die formal definierte Stellung als Abteilungsleiter zur Verfügung, ohne zugleich bereits das fachliche Kompetenzniveau der Abtei-lungseinheiten einbringen zu können. Diese „Kompetenz ist aber auch eine Machtquelle, die man unbedingt braucht“ (Interview Mai: Frage 9). Da Heller sich diese jedoch zunächst erschließen musste, stand sie nicht unmittelbar nach seinem Amtsantritt zur Verfügung und eröffnete damit angesichts der offenkun-digen Personenorientierung des neuen Ministerpräsidenten die notwendigen Spielräume für die nachfolgenden Verschiebungen in der Machtarchitektur der Staatskanzlei.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 329

c) Zum Rollenwandel des Ministerpräsidentenbüros von politischer Steuerung zur Administrativinstanz: Conversion Anders als die graduellen Transformationsprozesse der beiden Abteilungen war die veränderte Rolle des Ministerpräsidentenbüros weniger auf die schrittweise Etablierung informeller Praktiken als vielmehr klar auf das intentionale Institutionendesign im Zuge der formalen Neustrukturierung der Staatskanzlei zurückzuführen. Der formale Eingriff im Juli 2005 hatte in der Auflösung eines Referats innerhalb des Büros und der Überführung der dort wahrgenommenen Aufgaben in die Planungsabteilung bestanden. Die eigentliche institutionelle Conversion des Ministerpräsidentenbüros ergab sich dann jedoch zuvorderst in der veränderten Inkraftsetzung alter Regeln: Zwar liefen weiterhin alle die Haus-spitze allgemein und den Ministerpräsidenten im Besonderen betreffenden Vor-gänge über den Schreibtisch seines Büroleiters Axel Emenet, aber sein Büro agierte fortan als administrative und nicht mehr als politische Schaltstelle. Eine klare Arbeitsteilung und eine entsprechende faktische Akteurskoalition bestan-den dabei zwischen Emenet und Berger als individuellen Repräsentanten beider Organisationseinheiten. Während Emenet für alle Fragen der „Organisation“ verantwortlich zeichnete, lagen die Aufgabe der „Planung“ und der „Steuerung“ im Kompetenzbereich Bergers. Hinsichtlich der Planung besonderer Termine mit politischem Gestaltungsanspruch bedeutete das in der Praxis, dass Berger die inhaltliche und strategische Planung vornahm und Emenet sich dann um die organisatorische Umsetzung kümmerte (Interview Emenet).97 In der Selbstbe-schreibung ergab sich daraus für Emenet die Funktion, „Mädchen für alles“ in administrativer Hinsicht zu sein (Florack 2006f: Frage 6). Seine Gatekeeper-Funktion beschränkte sich auf organisatorische Vorgänge, inhaltliche politische Entscheidungen traf Emenet in der Regel nicht. Vielmehr organisierte Emenet zuverlässig die Arbeit der drei Referate, die sich um „schriftliche Postläufe“, Terminangelegenheiten sowie die Erstellung von Grußworten und die Übernah-me von Schirmherrschaften kümmerten.

Nach Einschätzung Michael Henzes war diese Rollenverteilung zwischen Berger und Emenet nicht nur von Beginn an geplant, sondern „offenbar auch vorher so eingeübt“ gewesen (Interview Henze: Frage 14). Die formale Aufga-benteilung entsprach insofern voll der informellen Praxis bereits zu Oppositions-zeiten. Angesichts dieser unkomplizierten und eingespielten Praxis ergaben sich

97 Diese Arbeitsteilung zeigte sich auch in der Planung und Ausgestaltjung der für dieses Projekt

vereinbarten teilnehmenden Beobachtung. Anfragen des Verfassers zur Teilnahme an Sitzungen und Konferenzen liefen zwar über Axel Emenet, die Entscheidung über den Zugang wurde allerdings fast immer nach Rücksprache mit Boris Berger getroffen. Die eigentliche Gatekeeper- und Türöffnerfunktion übernahm also Berger.

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folglich keine institutionellen Regelungslücken oder gar Brüche zwischen For-malstruktur und informellem Regelsystem. Angesichts des vergleichsweise schnellen Konversionsprozesses gewährleistete diese Deckungsgleichheit sowohl den Fortbestand der formalen Regelstrukturen als auch die reibungslose Zusam-menarbeit im Sinne einer entsprechenden Funktionserfüllung. Insofern unter-schied sich dieses funktionierende Regelsystem von den zahlreichen, die Arbeit der Staatskanzlei prägenden Funktionsdefiziten der Regierungszentrale während der ersten Monate. Diese bildeten den Ausgangspunkt für eine formale Organisa-tionsreform im Sommer 2006, die sowohl neue Akzente für die Kernexekutive setzte als auch informelle Praktiken der ersten Monate formalisierte und damit eine neue Stufe der Institutionalisierung einleitete. 5.2.1.3 Begrenztes Displacement zur Formalisierung informeller Regelsysteme:

Die Reorganisation der Staatskanzlei 2006 Am 5. Juli 2006 verschickte die Staatskanzlei eine Pressemitteilung mit dem Titel „Modernisierung der Landesverwaltung“ (Ministerpräsident Jürgen Rütt-gers 2006). Hinter der unscheinbaren Formulierung versteckte sich nichts anders als die sowohl organisatorische als auch personelle Reorganisation der Staats-kanzlei ein Jahr nach Übernahme des Ministerpräsidentenamtes durch Jürgen Rüttgers. Einer Einleitung voller Allgemeinplätze – die Rede war von „erhebli-chen externen und internen Anpassungszwängen“ für die öffentliche Verwaltung angesichts „gesellschaftlicher Veränderungen“, „globalisierter ökonomischer Veränderungen“, europäischer Vorgaben“ und der „hohen Verschuldung des Landes“ – folgte die Schlussfolgerung, diese Veränderungen müssten „Auswir-kungen auf das Verwaltungshandeln haben“. Als „konkrete Bausteine“ zur Errei-chung der Ziele, „Bürokratie abzubauen, Strukturen zu verschlanken, Prozesse zu beschleunigen und ganz generell das Verwaltungshandeln in NRW effektiver, bürgernäher und kostengünstiger zu machen“, wurden u.a. die „Verwaltungsmo-dernisierung“, ein verändertes Personalvertretungsgesetz, ein „Personaleinsatz-management“ und schließlich die „Neuorganisation der Staatskanzlei“ genannt.

In der kurzen schriftlichen Erklärung wurde auf die seit dem Regierungs-wechsel 2005 gesammelte „Erfahrung mit der weitgehend übernommenen Struk-tur der Staatskanzlei“ verwiesen. Diese werde nun verändert mit dem Ziel, „ein modernes Prozessmanagement“ zu implementieren. Es folgten Ankündigungen einzelner Maßnahmen, die in der Folge umgesetzt würden. Dazu gehörten die Untergliederung der Abteilungen in Gruppen, Veränderungen in den Abteilungs-zuschnitten und Aufgabenstrukturen, eine Auflösung der Gruppe MTK (Medien, Technologie und Kommunikation) und ihr Transfer in das Landespresseamt

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 331

sowie die Ankündigung personeller Veränderungen sowohl auf der Staatssekre-tärs-, als auch der Abteilungsleiterebene (vgl. Überblicksdarstellung in Abbil-dung 4). Abbildung 4: Organisationsplan der Staatskanzlei 2006

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2006 (Fortschreibung 2006) Diese Ankündigung folgte in analytischer Hinsicht dem institutionellen Trans-formationsmodus des Displacements. Der Ministerpräsident machte von seiner exekutiven Organisationsgewalt Gebrauch und strukturierte die Staatskanzlei formal um. Dabei wurden alte institutionellen Strukturen in begrenztem Umfang beseitigt und neue etabliert. Allerdings bezogen sich diese formalen Strukturver-änderungen nicht auf alle Bereiche der Regierungszentrale gleichermaßen, son-dern verteilten sich unterschiedlich auf die einzelnen Organisationseinheiten. Angesichts der in der öffentlichen Erklärung explizit angesprochenen Erfahrun-gen während des ersten Amtsjahres der Regierungsformation war zudem hervor-zuheben, dass es sich dabei weniger um einen vollständig neuen Entwurf auf

MinisterpräsidentDr. Jürgen RüttgersBüro des

MinisterpräsidentenDr. Axel Emenet

Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten

Michael Breuer

Chef der Staatskanzlei

Karsten Beneke

Staatssekretär für Bundes-und Europaangelegenheiten

Bevollmächtigter des Landes beim Bund

Michael Mertes

Regierungssprecher und Staatssekretär

für MedienThomas Kemper

Presse und Medien

Abt. I: Recht, Verwaltung

Annette Storsberg

Abt. II: Landespolitik, Ressortkoordination

Dr. Patrick Opdenhövel

Abt. III: Regierungs-planung

Dr. Boris Berger

Vertretung des Landes bei der EU

Hans Stein

Abt. IV: Kultur

N.N.

Abt. V: Europa- und Internationale Angelegen-

heiten

Dr. Herbert Jacoby

Vertretung des Landes beim Bund

Tim Arnold

Organisationsplan vom 20. Juli 2006 (Fortschreibung vom 15. September 2006)

Staatssekretär für KulturHans-Heinrich

Grosse-Brockhoff

Gruppe I A

Gruppe I B

Gruppe II A

Gruppe II B

Gruppe III A

Gruppe III B

Gruppe III A

Gruppe IV A

Gruppe IV A

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dem Reißbrett, sondern vielmehr in Teilen um die Formalisierung seit 2005 etab-lierter informeller Praktiken handelte. Auch wenn einige der formalen Änderun-gen auf den ersten Blick als institutionelle Pfadabweichung erschienen, bildeten sie vielfach nur die in den vorangegangenen Monaten schrittweise eingeführten oder transformierten institutionellen Regelsysteme innerhalb der Regierungs-zentrale ab. Andere formale Restrukturierungsaspekte wiederum blieben weitge-hend ohne praktische Folgen für die konkrete Arbeitsweise der Regierungszent-rale und waren rein administrativen Anforderungen geschuldet. Deutlich jedoch zeigte sich, dass die schrittweise Herausbildung einer informellen Organisations-kultur seit Juli 2005 weitreichende Folgen für den Reorganisationsprozess 2006 hatte. Institutionelle Pfadabhängigkeiten, ein Wechselspiel zwischen formalen und informellen Regelsystemen sowie unterschiedliche Einwirkungsmöglichkei-ten der Akteure lassen sich dementsprechend nachzeichnen. 5.2.1.3.1 Defizitanalyse und Institutionendesign: Begrenztes Displacement Wenngleich der konkrete Zeitpunkt der Ankündigung nicht absehbar gewesen war, so kam doch der eigentliche Vorgang der Restrukturierung der Staatskanzlei nicht gänzlich überraschend. Bereits seit dem Frühjahr 2006 war öffentlich zum Teil sehr detailliert über entsprechende Planungen des Ministerpräsidenten spe-kuliert worden. Neben der vermeintlich bereits angelaufenen Suche nach einem neuen Chef der Staatskanzlei und einem Regierungssprecher spielten bereits im Frühjahr 2006 mögliche weitere Personalveränderungen eine Rolle (Tutt 2006d: 8). Bereits Ende 2005 war auf die „vielen Baustellen“ in personeller Hinsicht und die mutmaßlich dünne Personaldecke der Regierungsformation angespielt worden (Schumacher 2005c). An anderer Stelle wurde auf die Altersstruktur zahlreicher administrativer Zuarbeiter der politischen Leitungsebene verwiesen und ein hieraus resultierender Mangel an Sachkenntnis und Verwaltungserfah-rung unterstellt (Jansen 2006a). Schließlich wurde über personelle Differenzen und persönliche Konflikte berichtet, welche die Arbeit der Staatskanzlei belaste-ten (Tutt 2006b: 8). In darüber hinausreichender organisatorischer Hinsicht wur-de über den Bedarf veränderter Führungsstrukturen spekuliert. Wolle Rüttgers „sich nicht um das politische Alltagsgeschäft kümmern“, wie das bisher oftmals der Fall gewesen sei, müsse die Regierungszentrale in ihrer Struktur verändert werden (Tutt 2006d: 8; vgl. Goebels 2006c: 2). Vor dem Hintergrund von Kom-munikationspannen, der wiederholten Veröffentlichung regierungsinterner Do-kumente sowie der Auseinandersetzung über die die „Imagekampagne“ der Lan-desregierung kristallisieren sich drei zentrale Problemfelder in der öffentlichen Wahrnehmung heraus. Erstens belasteten personelle Probleme um den Chef der

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Staatskanzlei, den Regierungssprecher sowie Auseinandersetzung zwischen weiteren Akteuren in der Staatskanzlei die Arbeit der Regierungszentrale. Hinzu kamen zweitens organisatorische Schwächen, die sich in mangelndem Informati-onsfluss und Abstimmungspannen manifestierten, sowie drittens ein defizitäres Krisenmanagement (vgl. Neuhaus 2006).

Diese öffentliche Defizitanalyse deckte sich weitgehend mit der internen Betrachtungsweise der zentralen Akteure der Regierungsformation. Der Minis-terpräsident zeigte dabei in den ersten Monaten seiner Amtszeit ein nach Ansicht von Norbert Neß paradoxes Verhalten. Auf der einen Seite beklagte Rüttgers, der ‚oberste Sachbearbeiter‘ des Hauses zu sein. Auf der anderen Seite habe er 2005 nicht die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um diese Rolle tatsäch-lich durch die Staatskanzlei ausfüllen zu lassen. Allerdings sei sich Rüttgers schon früh der Probleme bewusst gewesen und habe einen Widerspruch zwi-schen Organisationsanspruch und organisatorischer Realität erkannt (Florack 2006c: Frage 5). Damit wiederum korrespondierte die Einschätzung Markus Ausetz‘, der Rüttgers trotz anderslautender Verlautbarungen keine wirkliche Beziehung zur Regierungszentrale als Machtapparat unterstellte. Jedenfalls man-gelte es aus Sicht des Büroleiters des Chefs der Staatskanzlei an einer entspre-chenden Bedeutungszuweisung von Seiten des Ministerpräsidenten (Florack 2006h: Frage 6). Rückblickend erklärte Rüttgers, er habe nicht zuletzt die institu-tionell angelegte Doppelbelastung von Staatssekretär Grosse-Brockhoffs als Chef der Staatskanzlei und Kulturstaatssekretär unterschätzt. Insbesondere da-raus hätten sich in den ersten Monaten Schwierigkeiten ergeben (Interview Rütt-gers: Frage 11). Karsten Beneke, der im Zuge der Restrukturierung zum Nach-folger Grosse-Brockhoffs als Amtschef berufen werden sollte, beschrieb darüber hinausreichende Probleme bei Organisationsabläufen. So habe es unterhalb der Abteilungsleiterebene keine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten gegeben, was häufig zu Rückfragen und „Unklarheiten auch im Geschäftsgang“ geführt habe. Zudem seien oftmals kritische Vorgänge nur unzureichend „auf der Mittel-ebene“ aufgefangen worden (Interview Beneke: Frage 1).

Im Mittelpunk der internen Defizitanalyse standen jedoch personelle Aspek-te. Vor allem der Chef der Staatskanzlei und der Regierungssprecher hatten sich nach Einschätzung eines Beobachters, wie oben bereits thematisiert, als „Fehlbe-setzungen“ entpuppt. Hinzu kamen „Diadochenkämpfe“ (Interview Henze: Frage 2) unter den übrigen Machtmaklern, die in der internen Wahrnehmung negativ auf die Arbeit der Staatskanzlei insgesamt abfärbten.

Als Hauptauslöser für die hieraus abgeleiteten personellen und organisatori-schen Veränderungen erwies sich der Wechsel in der Funktion des Chefs der Staatskanzlei (Interview Henze: Frage 4). Implizit zeigte sich darin der direkte Zusammenhang personeller und organisatorischer Aspekte der Kernexekutive.

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Diese wechselseitige Abhängigkeit beider Dimensionen bestätigte Jürgen Rütt-gers hinsichtlich des Umbaus der Staatskanzlei 2006. Er verwies darauf, „dass man organisatorische Veränderungen häufig macht, wenn gleichzeitig Personal-wechsel anstehen. Man macht das nicht einfach so“ (Interview Rüttgers: Frage 12). Verantwortlich hierfür machte er nicht zuletzt personalrechtliche Restriktio-nen. Diese erschwerten Personalwechsel und Versetzungen, so dass häufig mit weiteren personellen und organisatorischen Anpassungen reagiert werden müsse, um entsprechende Veränderungswünsche umsetzen zu können: „Insofern geht man da einfach nur dran, wenn es wirklich sein muss“ (Interview Rüttgers: Frage 12). Abteilungsleiter Berger bestätigte diesen Zusammenhang für den vorliegen-den Fall nicht nur, sondern leitete daraus einen prinzipiellen Vorrang personeller Erwägungen gegenüber organisatorischen Anpassungsprozessen der Kernexeku-tive ab. Insbesondere auf der politischen Leitungsebene folgten „Strukturen und Prozesse immer dem Personal“ (Interview Berger: Frage 17). Michael Henze wiederum kam in seiner rückblickenden Einschätzung zu dem Schluss, es sei „allerdings typisch, dass nach einer Übergangszeit – in der man sozusagen mit der Parole antritt, ‚Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen‘ – die Organisation dann noch einmal ändert“. Der konkrete Zeitpunkt hierfür sei „eigentlich egal“, man sollte das „nur nicht zu oft machen“ (Interview Henze: Frage 4). Auch Henze bestätigte dabei die wechselseitigen Beeinflussung perso-neller und organisatorischer Erwägungen. Erst nach einer gewissen Übergangs-phase kenne man als politische Leitung das Personal besser und könne bei nach-folgenden organisatorischen Veränderungen und damit einhergehenden personel-len Wechseln gegebenenfalls Umsetzungswünschen und weiteren Akteursprä-ferenzen Rechnung tragen (Interview Henze: Frage 4).

Der Transformationsmodus des intentionalen Displacements kennzeichnete den Reorganisationsprozess der Staatskanzlei 2006. Zum einen zielten die Maß-nahmen auf die Realisierung der personellen Veränderungswünsche ab. Grosse-Brockhoff sollte als Chef der Staatskanzlei abgelöst werden und sich fortan al-leine um die Kulturpolitik kümmern. Auch Regierungssprecher Kemper und Abteilungsleiter Heller sollten die Staatskanzlei verlassen, um eine personelle Paketlösung zu ermöglichen. Zum anderen rückte der neue Chef der Staatskanz-lei, Karsten Beneke, gegenüber dem Hauptausschuss des Landtags am 24. Au-gust 2006 die mit den Veränderungsprozessen verbundenen organisatorischen Ziele der neuen Hausleitung in den Mittelpunkt (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 19). Man wolle mit den organisatorischen Anpassungen „Entscheidung und Verantwortung in der Staatskanzlei näher zusammenführen“ und damit zu „einem modernen Prozessmanagement“ gelangen. Das in den vorangegangenen Monaten beobachtbare Auseinanderklaffen formaler Organisationsstrukturen und informeller Praktiken bestätigte Beneke indirekt. Denn die Organisationsreform

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ziele auch auf eine „größere Homogenität zwischen dem Aufbau der Staatskanz-lei und den in der Staatskanzlei laufenden Prozessen mit einem entsprechenden Rückbau der Friktionen“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 19). Wie die nachfolgende Analyse des internen Entscheidungsprozesses zeigt, gingen zentra-le Akteure der Regierungsformation eine Akteurskoalition ein, um im Sinne intentionalen Institutionendesigns formale Strukturen an bereits eingespielte informelle Praktiken anzupassen. Der machtverteilende Charakter dieser Organi-sationsveränderungen drückte sich nicht zuletzt in den personellen Konsequen-zen aus: Der Kreis der ursprünglich um den Ministerpräsidenten versammelten Machtmakler aus der Oppositionszeit reduzierte sich deutlich und mit dem neuen Chef der Staatskanzlei Karsten Beneke sowie dem neu berufenen Regierungs-sprecher Andreas Krautscheid kamen neue Schwergewichte innerhalb des „Inner Circle“ hinzu. Aber auch die veränderte institutionelle Struktur der Regierungs-zentrale machte deutlich, dass die Reorganisationsentscheidungen die informel-len Machtverschiebungen innerhalb der Staatskanzlei gewissermaßen dauerhaft institutionalisierten und etablierte informelle Praktiken formalisierten. Eine wei-tere Verschiebung der formalen Einflusspotentiale auf Abteilungsebene mit ent-sprechenden langfristigen Konsequenzen war die Folge. 5.2.1.3.2 Der Verlauf der Entscheidungsfindung: Timing, Change-Agents und Akteurskoalitionen sowie die Verbindung struktureller und personeller Entscheidungen Der Zeitpunkt der Bekanntgabe der Restrukturierungspläne in der Staatskanzlei war wohlkalkuliert. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause und nur einen Tag vor dem beginnenden Sommerurlaub des Ministerpräsidenten versteckte dieser die Ankündigung dieser umfassenden Organisationsreform gewisserma-ßen zwischen „WM-Tristesse98 und beginnender Sommerpause“ (Fritsch 2006). Anders als die von einigen vorgebrachten Vorwürfe, es handele sich dabei um eine überstürzte und panikartigen Aktion, nahelegten, zeigte sich in dieser Zeit-planung, „dass Rüttgers im Gegenteil äußerst planvoll vorgegangen ist, nachdem er im operativen Geschäft die Schwachstellen im Regierungsapparat geortet“ hatte (Fritsch 2006): „Generalstabsmäßig hat Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gut ein Jahr nach seiner Regierungsübernahme den Umbau seiner Staatskanzlei vorbereitet. Während das Thema Fußballweltmeisterschaft noch die Medien beherrschte, wurden in Düsseldorf die Strippen festgezurrt“ (Tutt 2006f: 39; ähnlich u.a. Schumacher 2006c; Suckow 2006; Uferkamp 2006c). 98 Die deutsche Fußballnationalmannschaft war just aus dem WM-Turnier im eigenen Land

ausgeschieden.

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Gleichwohl hatte auch die mediale Begleitung der Staatskanzlei in den vo-rangegangenen Monaten eine wichtige Rolle bei der internen Entscheidungsfin-dung gespielt. Insbesondere der personelle Wechsel im Amt des Chefs der Staatskanzlei war nach Einschätzung Boris Bergers durch die landespolitische Berichterstattung der vorangegangenen Monate beeinflusst (Interview Berger: Frage 17). So hätten die beinahe „durchweg negativen und vor allem einseitigen Meldungen“ über die Arbeit Grosse-Brockhoffs „natürlich Spuren in der Regie-rung“ hinterlassen99. Dementsprechend sei die Staatskanzlei regierungsintern immer wieder mit diesen negativen Berichten konfrontiert worden und dadurch zusätzlicher Druck zugunsten einer personeller personellen Veränderung ent-standen. Das Ergebnis war die Ablösung Grosse-Brockhoffs im Juli 2006. Ohne die mediale Begleitmusik wäre der Verlauf dieser Personalentscheidung jedoch ein anderer gewesen (Interview Berger: Frage 17). Karsten Beneke bestätigte diese Einschätzung zumindest implizit, indem er auf die Unterschiede bei den beiden formalen Restrukturierungsvorgängen rund um die Staatskanzlei verwies. 2005 sei es vor allem darum gegangen, einen schnellen und reibungslosen Über-gang zu gewährleisten, um die inhaltlichen Projekte der Regierungsformation möglichst umgehend in Angriff nehmen zu können. Anschließend habe man in Ruhe organisatorische Fragen beraten und die institutionelle Architektur vor diesem Erfahrungshintergrund anpassen wollen (Interview Beneke: Frage 5). Diese Absicht wurde zum Teil durch die mediale Begleitung der Regierungsfor-mation während der ersten Monate durchkreuzt, die angesichts des daraus resul-tierenden politischen Drucks immer weniger Zeit ließ, die bereits avisierten Reorganisationsprozesse ohne zusätzliche Begleitmusik von außen anzugehen.

Als zentraler Change-Agent im Reorganisationsprozess erwies sich der de-signierte Nachfolger Grosse-Brockhoffs, Karsten Beneke. Zusammen mit der Bitte des Ministerpräsidenten, das Amt des Chefs der Staatskanzlei zu überneh-men, übertrug dieser ihm die Aufgabe, institutionelle Änderungen vorzuschla-gen. Beneke erklärte dazu rückblickend, dass er „vom Ministerpräsidenten recht weitgehend freie Hand bekommen habe, ihm einen Vorschlag zu machen, wie ich mir die Staatskanzlei idealerweise vorstellen würde. Also idealerweise unter den herrschenden Randbedingungen“ (Interview Beneke: Frage 3). Diese Vorge-hensweise entsprach dem durch seine politische Erfahrung entwickelten Politik-stil Rüttgers‘ (vgl. Tutt 2006c: 8; Interview Beneke: Frage 1). Mit Karsten

99 Insbesondere im FOCUS erschienen seit Herbst 2005 immer wieder entsprechende Artikel

(z.B. Steinkühler 2005a; Steinkühler 2005b), in denen auf interne Vorgänge und Papiere Bezug genommen wurde. Der Chef der Staatskanzlei wurde hier explizit für die regierungsinternen Koordinationsprobleme verantwortlich gemacht. Dieser negative Tenor der Berichterstattung färbte auf weitere Berichte ab und zeichnete immer stärker das Bild eines überforderten Amtschefs.

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Beneke beauftragte er einen Vertrauten aus Bonner Regierungszeiten mit dieser wichtigen Umbaumaßnahme. Damit war einerseits sichergestellt, dass die bereits von beiden gesammelten Erfahrungen mit der Regierungsadministration auf Bundesebene Eingang in die Reformüberlegungen fanden. Andererseits verfügte Beneke angesichts seiner bisherigen Tätigkeit als Staatssekretär in der Staats-kanzlei und als Mitglied des engeren Führungskreises rund um den Ministerprä-sidenten über Einblicke in die Funktionslogik der Regierungszentrale seit der Amtsübernahme 2005 und konnte so die bisherigen Erfahrungen in Düsseldorf unmittelbar in die weiteren Reformüberlegungen einfließen lassen. Schließlich besaß er das uneingeschränkte Vertrauen des Ministerpräsidenten, so dass er zugleich als dessen persönlicher Repräsentant agieren konnte.

Die zentrale Change-Agent-Rolle Benekes zeigte sich bei der internen Ent-scheidungsfindung besonders deutlich: Weitgehend alleine entwickelte Beneke seine institutionellen Vorstellungen und erstellte mit einer ihm eigens zur Verfü-gung gestellten Software einen ersten Entwurf eines veränderten Organisations-plans der Staatskanzlei (so Interview Henze: Frage 5; so auch Interview Kraut-scheid: Frage 2). Wenngleich er nach eigenen Angaben verschiedentlich Gele-genheit hatte, seine Ideen mit Rüttgers zu diskutieren, fungierte doch vor allem Boris Berger als weiterer Ansprechpartner und Ideengeber. Mit ihm diskutierte Beneke die Details der Organisationsreform und nutzte diesen als „Sparringpart-ner“. Die inzwischen zur Leiterin der Abteilung I berufene Annette Storsberg wurde von Beneke im Gegensatz dazu nicht „so intensiv als Sparringpartnerin gesehen“. Erst im Zuge der konkreten „Umsetzungsphase“ erweiterte Beneke den Kreis der hausinternen „Mitwisser“100 und griff dabei insbesondere auf die Expertise der Leiterin des Organisationsreferats der Abteilung I zurück. (Inter-view Beneke: Frage 3).

Als zentral für die Organisationsentscheidungen erwies sich damit vor allem die Akteurskoalition von Beneke und Berger. Zu Orientierungszwecken griff Beneke zwar auch auf Vorbilder anderer Staatskanzleien zurück, aber nahm ansonsten keinerlei externe Beratung in Anspruch (Interview Beneke: Frage 3). Die Entscheidungskonstellation erwies sich gewissermaßen als Vorgriff auf die institutionelle Ausgestaltung der Staatskanzlei: Mit Beneke erwuchs für die Re-gierungsformation insgesamt ein neuer Koordinations- und Steuerungsakteur an der Spitze der Regierungszentrale. Allerding geriet er in dieser Rolle nicht in ein unmittelbares Konkurrenzverhältnis zu Boris Berger. Die seit dem Regierungs-wechsel informell etablierte Sonderstellung Bergers wurde faktisch nicht ange-griffen. Vielmehr war das Ergebnis des Reorganisationsprozesses eine formal 100 Michael Henze beispielsweise erklärte, er sei nur durch Boris Berger in die Vorgänge

eingeweiht gewesen und habe aus der Rolle Benekes geschlossen, dieser solle auch die Nachfolge Grosse-Brockhoffs antreten (Florack 2006j: Frage 1).

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abgesicherte Arbeitsteilung zwischen den beiden und zudem eine weitgehende Formalisierung der bisherigen informellen Praktiken, die Berger weitreichenden Einfluss über seinen ursprünglichen Kompetenzbereich hinaus sicherten. 5.2.1.3.3 Institutionelles Displacement 2006: Veränderte Leitungsstruktur, organisatorische Strukturreformen und personelle Wechsel in der Staatskanzlei „Ich freue mich über die Gelegenheit, diesem Kreis die genannten Aspekte zur Neuorganisation der Staatskanzlei vorstellen und mit ihm diskutieren zu können. Ich freue mich auch, dass ich das zuständigkeitsgemäß machen darf und der Ministerpräsident mir das nicht wegnimmt; denn für die Organisation der Behör-de ist der Chef der Staatskanzlei zuständig“, erklärte Karsten Beneke gegenüber den Mitgliedern des Hauptausschuss des Landtages (Landtag Nordrhein-Westfa-len 2006e: 17–18), in welchem er am 24. August 2006 die zentralen personellen und organisatorischen Änderungen in der Staatskanzlei erläuterte. In der Rekla-mation der formalen Zuständigkeit für die Staatskanzlei manifestierte sich die Rolle Benekes als intentionaler „Institutionendesigner“ beim Umbau der Regie-rungszentrale.

Beneke begann mit einer Darstellung der personellen Veränderungen, die unter anderem seine Berufung zum Chef der Staatskanzlei, die Nachfolge Thoma Kempers durch Andreas Krautscheid als Regierungssprecher sowie die Nachfol-ge Benekes durch Michael Mertes als Staatssekretär für Bundes- und Europa-anagelegenheiten beinhaltete. Daran schloss er die organisatorischen Verände-rungen an, bei denen er sich auf die „Kernabteilungen I, II und III“ konzentrierte. Hier hob er die Aufgabenbündelung in der Abteilung I bei Rechts- und Verfas-sungsfragen hervor, wies der Abteilung II die Zuständigkeit für „die operationel-le Politik“ zu und betonte die Zuständigkeit der Planungsabteilung für „die Stra-tegie der Landespolitik“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 19).

Wenngleich in der weiteren Darstellung aus analytischen Gründen getrennt dargestellt, zeigte sich eine deutliche wechselseitige Beeinflussung der personel-len und institutionellen Entscheidungen.

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a) Wechsel in den Ämtern des Chefs der Staatskanzlei und des Regierungssprechers und auf Abteilungsebene Die personellen Wechsel in den politischen Spitzenpositionen dominierten er-wartungsgemäß die mediale Wahrnehmung der Restrukturierungsmaßnahmen.101 Besondere Beachtung fand der Wechsel im Amt des Chefs der Staatskanzlei. Nachfolger Hans-Heinrich Grosse-Brockhoffs in dieser Funktion wurde der bisherige Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten Karsten Beneke. Jürgen Rüttgers erklärte dieses personelle „Nachsortieren“ diplomatisch mit der Absicht, die ebenfalls in Grosse-Brockhoffs Verantwortung befindliche Kulturpolitik durch dessen alleinige Konzentration auf diese Aufgabe auszubau-en und zu optimieren (Interview Rüttgers: Frage 9). Er habe ihn daher „gebeten, sich auf diese Frage der Kulturförderung und der Kulturhauptstadt zu konzentrie-ren“ (zit. nach Jöris 2007). Dazu passte die Darstellung von Abteilungsleiterin Storsberg vor dem Unterausschuss „Personal“ des Haushalts- und Finanzaus-schusses am 5. September 2006, Grosse-Brockhoff konzentriere „sich auf eige-nen Wunsch ganz auf seine Aufgabe als Staatssekretär für Kultur“. Er werde „auch weiterhin an den Sitzungen des Landeskabinetts teilnehmen, um die Inte-ressen von Kunst und Kultur zu vertreten“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 2–3). Es waren jedoch die offenkundigen Koordinations- und Steuerungsdefizite, welche diese personelle Rochade zur Folge hatten.

Als Nachfolger als Chef der Staatskanzlei war öffentlich zunächst Michael Breuer gehandelt worden, da er „die Fäden im Stadttor in den vergangenen Mo-naten de facto in der Hand“ gehalten hatte (so Vogt 2006). Die Entscheidung für Beneke war jedoch insofern schlüssig, als dass sich für Breuer durch einen Wechsel ins Amt des Chefs der Staatskanzlei kein wirklicher Steuerungsgewinn ergeben hätte. Angesichts seiner in den ersten Monaten etablierten informellen Sonderrolle konnte Breuer jenseits der formalen Amtshierarchie gestalterisch Einfluss nehmen und war insofern nicht auf eine formale Absicherung dieser Rolle angewiesen (sie die Einschätzung von Florack 2006h: Frage 8). Anders stellte sich das für seinen bisherigen Staatssekretär Beneke dar, der nun formal zum zentralen Koordinationsakteur berufen wurde. Aus Sicht des CDU-Fraktionsvorsitzenden Helmut Stahl ergab sich dadurch „sofort ein anderer Draht“ zwischen Staatskanzlei und Fraktion. Insbesondere in administrativer Hinsicht habe mit Beneke „eine andere Ebene von Professionalität“ Einzug in die Regierungszentrale gehalten (Interview Stahl: Frage 26). Nachfolger Benekes wiederum wurde Michael Mertes. Dieser war als Journalist und politischer Bera- 101 Die beinahe gleichlautenden Einschätzungen der Landespresse lauteten, die vorgenommenen

Personalwechsel seien „überfällig“ gewesen. Vgl. hierzu 2006d; Tutt 2006f: 39; Bau 2006; Jansen 2006b; Frigelj 2006; Zurheide 2006a: 5.

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ter tätig gewesen und hatte während der Kanzlerschaft Helmut Kohls im Bonner Kanzleramt administrative Regierungserfahrung gesammelt. Rüttgers setzte damit erneut auf einen alten Bekannten aus Bonner Zeiten, der zugleich Exeku-tiverfahrung mitbrachte (vgl. Schilder 2006b).

Ein ganz ähnlich gelagertes Motiv des Defizitausgleichs zeigte sich auch bei der Nachfolge Thomas Kempers durch Andreas Krautscheid als Regierungsspre-cher. Den entsprechenden Vorkontakt hatte Rüttgers durch einen Mitarbeiter herstellen lassen. Dieser hatte zunächst das grundsätzliche Interesse Krautscheids eruieren sollen, bevor der direkte Kontakt zu Rüttgers hergestellt wurde. Schnell wurde dabei deutlich, dass Krautscheid auf der bereits existierenden Verbindung von Regierungssprecheramt und Position des Medienstaatssekretärs bestand und diese Doppelfunktion zur Vorbedingung seiner Berufung machte. Da er als vor-maliger CDU-Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Bundespartei in der Selbstwahrnehmung politischer und nicht administrativer Akteur war, reklamier-ter er für sich die Möglichkeit, auch als Regierungssprecher eine politisch gestal-tende Rolle einnehmen zu können. Hierfür sah er in der Medienpolitik eine gute Gelegenheit (Interview Berger: Frage 4). Damit war zugleich eine Vorentschei-dung gefallen, die institutionelle Anbindung der Gruppe MTK in der Staatskanz-lei an den Regierungssprecher aufrecht zu erhalten. Anders lautende Pläne Bene-kes und Bergers waren damit Makulatur. Insofern zeigten sich hier in der Folge der Personalentscheidung für Krautscheid unmittelbare institutionelle Konse-quenzen, denn die organisatorischen Überlegungen Benekes mussten hinter der Personalauswahl zugunsten Krautscheids zurückstehen.

Der neue Regierungssprecher hatte darüber hinaus weitere Bedingungen ge-stellt, um die ihm angetragenen Aufgabe zu übernehmen (nachfolgend Interview Krautscheid: Frage 3). Im Gespräch mit Jürgen Rüttgers machte er klar, dass er den jederzeitigen, unmittelbaren und engen persönlichen Kontakt des Regie-rungssprechers zum Ministerpräsidenten als unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung dieses Amts erachtete. Als Sprecher müsse er „immer einfach das Doppelte von dem wissen, was er sagt“. Dies setze ein absolutes Vertrauensver-hältnis voraus. Das Gespräch mit Rüttgers habe ihm zugleich verdeutlicht, dass ein solches Verhältnis zwischen Rüttgers und Kemper in keiner Weise existiert habe, sondern es vielmehr „Funkstörungen in jede Richtung“ gegeben habe. In Abgrenzung davon legte Krautscheid von Beginn an großen Wert darauf, in alle wichtigen Vorgänge eingebunden zu sein.

Damit ergaben sich jenseits der Verbindung von Sprecheramt und Medien-politik weitere Konsequenzen für das informelle Institutionensystem der Staats-kanzlei: Anders als sein Vorgänger war Krautscheid fortan in alle informellen Abstimmungs- und Beratungsrunden eingebunden. Dies galt sowohl für die täg-liche „Morgenlage“, als auch den Jour fixe am Freitag sowie weitere Ad-hoc-

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Abstimmungen zwischen den zentralen Machtmaklern und dem Ministerpräsi-denten. Da Krautscheid sowohl die Übernahme als auch seinen längerfristigen Verbleib in dem neuen Amt hiervon abhängig gemacht hatte, stärkte er damit auch institutionell seine Position innerhalb der Regierungszentrale. Die personel-le Erweiterung der informellen Abstimmungsinstitutionen im kleinen Kreis um Andreas Krautscheid war die Folge. Damit verschob sich zugleich die Einfluss-architektur innerhalb des Kreises der Machtmakler, wie die weitere Entwicklung zeigen sollte.

Durch eine weitere Personalveränderung an zentraler Stelle verkleinerte sich der Kreis der vormaligen Machtmakler. Der bisherige Abteilungsleiter Ed-mund Heller wechselte zurück in die CDU-Landtagsfraktion, um dort die Aufga-be des Büroleiters für den Fraktionsvorsitzenden Helmut Stahl zu übernehmen. Hintergrund dieser Entscheidung war die schrittweise Verschlechterung des Arbeitsverhältnisses zwischen Rüttgers und Heller. Hellers Nachfolge übernahm Patrick Opdenhövel, der zuletzt stellvertretender Abteilungsleiter für Ressortko-ordination in der hessischen Staatskanzlei gewesen war. Opdenhövel brachte damit einschlägige fachliche Erfahrungen für seine neue Aufgabe mit. Anders als bei der Berufung Hellers 2005 rückte diese fachliche Eignung in den Vorder- und das persönliche Vertrauensverhältnis zu Rüttgers in den Hintergrund. Der Personalwechsel war damit ein weiteres Zeichen für eine Professionalisierung der Staatskanzlei mit Hilfe exekutiverfahrender Administratoren. Allerdings wirkte sich dieser Umstand dahingehend aus, dass der neue Abteilungsleiter von Beginn an nicht mehr zum engsten Kreis der Machtmakler gehörte und die per-zipierte Marginalisierung der Abteilung II auch in dieser personellen Konstella-tion Niederschlag fand.

Zusätzliche Personalveränderungen und -bedarfe in der Staatskanzlei waren vor allem die Folge der weiteren organisatorischen Restrukturierungsmaßnah-men. Ein ergänzender Personalressourcenbedarf ergab sich zum einen aus der Trennung der bisherigen Doppelfunktionen Grosse-Brockhoffs und der damit verbundenen Notwendigkeit einer zusätzlichen Staatssekretärstelle. Ergänzt wurde das veränderte Personaltableau durch die neuen Funktionen der Gruppen-leiter (vgl. hierzu Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 18; Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f). Diese wurden notwendig, da die personellen Veränderungen im Sommer 2006 von Karsten Beneke genutzt wurden, die Arbeit der Staats-kanzleiabteilungen auch institutionell neu zu strukturieren. Hierzu gehörten ins-besondere die Einführung einer Gruppenstruktur sowie organisatorische Ver-schiebungen zwischen und innerhalb der Abteilungen.

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b) Einführung der Gruppenstruktur Wie die Analyse des Entscheidungsfindungsprozesses gezeigt hat, setzte der neue Chef der Staatskanzlei gezielt Veränderungsimpulse zur Neustrukturierung der Regierungszentrale. Im Sinne eines begrenzten Displacements zeigten sich sowohl administrativ-, als auch steuerungs- und koordinationsbedingte Trans-formationsentscheidungen des Change-Agents Beneke. Auch wenn Annette Storsberg gegenüber dem Landtag explizit auf die in Art. 55 Abs. 2 der Landes-verfassung kodifizierte „Organisationsgewalt und Organisationsverantwortung“ des Ministerpräsidenten verwies (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 1), lagen die konkreten Organisationsentscheidungen doch de facto beim neu berufenen Chef der Staatskanzlei. An zentraler Stelle stellte dieses Displacement jedoch nur die institutionelle Formalisierung der zuvor beobachtbaren Transformationsdy-namiken (insbesondere Drift) dar. Dies bestätigte die Darstellung der Staatskanz-lei gegenüber dem Landtag insofern, als dass „das Ziel, die Organisation und die Prozesse aufeinander abzustimmen“, als Hauptmotiv für den Reorganisations-prozess genannt wurde (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 1).

Zu den vor allem administrativ bedingten Änderungen gehörte die Bildung von Gruppen innerhalb der Kernabteilungen. Beneke erklärte dies als „eine not-wendige Maßnahme zur Steigerung der Effektivität angesichts der Komplexität dieser Abteilungen“ (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 18). Marginale politi-sche Bedeutung für die Arbeit der Staatskanzlei als Kernexekutivinstanz entfalte-ten zudem kleinere Anpassungsprozesse in der Zuständigkeit von Minister Breuer und in der Kulturabteilung. Hierbei handelte es sich vor allem um die organisatorische Abbildung neuer politischer Schwerpunktbildungen.102

Von größerer Bedeutung für die künftige Arbeit der Regierungszentrale er-wiesen sich die weiteren institutionellen Veränderungen. Zum einen gingen mit der Bildung der Gruppenstruktur formale Kompetenzverschiebungen zwischen den und innerhalb der Fachabteilungen einher. Zum anderen wurden die Referate des Landespresseamtes und der Gruppe Medien und Telekommunikation unter Leitung von Andreas Krautscheid mit dem Ziel zusammengefasst, „eine schlag-kräftige integrierte Einheit zu schaffen, die auch den heute schon intensiv disku-tierten Anforderungen moderner dynamischer Entwicklung im Presse- und Me-dienbereich zu genügen in der Lage ist und die Handlungsfähigkeit der Staats-

102 In der Abteilung V „Europa- und Internationale Angelegenheiten“ stieg die Zahl der Referate

von fünf auf sechs. In der Kulturabteilung wurden Arbeitseinheiten zusammengefasst, um einen Schwerpunkt bei der Unterstützung Essens und des Ruhrgebiets als Kulturhauptstadt 2010 zu ermöglichen. Zur Erläuterung siehe Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 18; Landtag Nordrhein-Westfalen 2006g: 1–3.

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kanzlei gegenüber diesen Veränderungen steigern kann" (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 18).

Auslöser für die Bildung von Gruppen unterhalb der Abteilungsebene wa-ren primär administrative Defizitwahrnehmungen. Unter Ministerpräsident Cle-ment waren 2001 die vormals in der Staatskanzlei existierenden Gruppen aufge-löst und eine neue Organisationsstruktur implementiert worden. In der hausinter-nen Wahrnehmung hatte diese Maßnahme unabhängig von den nachfolgenden Regierungswechseln 2002 und 2005 zu praktischen Problemen geführt. Inhaltli-che „Überschneidungen und Unwuchten“, „Kompetenzgerangel“ zwischen den Organisationseinheiten sowie die wenig arbeitsfähige Größe einzelner Referate waren die Folge. Hinzu kamen personalpolitisch begründete Akzeptanzproble-me, weil angesichts des damit verbundenen Wegfalls einer Hierarchieebene die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Staatskanzlei eingeschränkt wurden (In-terview Mai: Frage 7).

Karsten Beneke bestätigte eine ähnlich defizitäre Wahrnehmung der 2005 übernommenen Organisationsstruktur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in den ersten Monaten nach Übernahme der Regierungsverantwortung. So habe er deutliche „Unklarheiten in den Verantwortlichkeiten empfunden“ und sah die Qualität von Leitungsvorlagen nicht ausreichend gewährleistet. Die Bildung von Gruppen habe insofern die Funktion eines „add-on an Qualitätssicherung“ gehabt (Interview Beneke: Frage 5). Auch die maßgeblich mit der administrativen Um-setzung der Organisationsreform befasste Abteilungsleiterin erklärte gegenüber dem Landtag, mit der Gruppenbildung und der Einführung einer zusätzlichen Hierarchieebene solle „die Verantwortung auch innerhalb der Abteilungen klar zu- und ausgewiesen werden“. Sie verwies zugleich auf die Vorgaben der ge-meinsamen Geschäftsordnung, die eine solche Strukturierung explizit vorsehe, sowie auf die Praxis in einem Teil der Fachressorts (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 1; Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 4; vgl. übereinstimmen Interview Emenet: Frage 17).

Angesichts unterschiedlicher Möglichkeiten zum Umgang mit diesen Defi-ziten war es jedoch letztlich der dezidierte Wunsch des neuen Chefs der Staats-kanzlei, die Restrukturierung der Staatskanzlei zur Wiedereinführung der Grup-penstruktur zu nutzen (Interview Henze: Frage 5). Gleichwohl hatte diese Grundentscheidung weitere inhaltliche Auswirkungen auf die Struktur der Abtei-lungen, denn mit der Bildung der Gruppen gingen verwaltungssystematische Anforderungen einher: So mussten die Kernabteilungen aus mindestens zwei Gruppen gebildet werden, die wiederum aus mindestens vier Referaten bestehen mussten. Diese Bedingungen bestimmten die darüber hinausgehenden strukturel-len Veränderungen in der Staatskanzlei, denn die seit dem Regierungswechsel bestehende Aufgabenverteilung entsprach keineswegs diesen administrativen

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344 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Erfordernissen (Interview Berger: Frage 2). Die Planungsabteilung beispielswei-se hatte trotz ihres informellen Bedeutungszuwachses unter der Leitung Boris Bergers nur aus sechs Referaten bestanden, was eine einfache Aufteilung in zwei Gruppen unmöglich machte. Weitere strukturelle Veränderungen ergaben sich somit nicht nur entlang inhaltlicher Restrukturierungsmotive, sondern auch in der Folge verwaltungspraktischer Prämissen. c) Veränderte Aufgabenverteilung auf Abteilungsebene Die informelle Transformationsdynamik der ersten Monate fand in der Reorgani-sation der Staatskanzlei 2006 einerseits ihren Abschluss, andererseits aber auch ihre inhaltliche Fortsetzung. Das zeigte sich insbesondere bei der veränderten formalen Aufgabenzuweisung an die Fachabteilungen der Regierungszentrale. Wenngleich der veränderte Organisationsplan (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2008) auf den ersten Blick den Eindruck einer gravieren-den Pfadabweichung vor dem Hintergrund intentionalen Akteurshandeln erweck-te, handelte es sich doch vielfach lediglich um die Formalisierung bislang einge-spielter informeller Praktiken und Routinen.

Beispielhaft zeigte sich dies in der Planungsabteilung, die nicht zuletzt an-gesichts der herausgehobenen Rolle ihres Leiters Boris Berger seit Sommer 2005 einen schrittweisen, aber langfristig wirksamen Bedeutungszuwachs erfahren hatte. Wie Tabelle 11 zeigt, erfolgte sowohl eine Aufteilung in zwei Gruppen als auch eine Neubildung und Verlagerung zusätzlicher Referate in die Abteilung III.

Die Bildung des neuen Referats III.B1 war vor allem auf die Notwendigkeit zurückzuführen, vier Referate in der Abteilung B zu konzentrieren. Mit dieser Organisationseinheit ging jedoch kein unmittelbarer Aufgabenzuwachs einher, sondern die bislang vom Referat III.1 geleistete Arbeit wurde lediglich aufge-teilt. Die engen Arbeitsbeziehungen und Aufgabenüberschneidungen zwischen dem vormaligen Redenschreiberreferat (nun III.B4) und dem neuen Referat für Grundsatzfragen der Landespolitik blieben weitgehend erhalten. Der formalen Änderung stand insofern die fortgesetzte Wirksamkeit der alten informellen Praxis gegenüber. Analytisch formuliert dominierte folglich institutionelle Stabi-lität in der Praxis, während die formale Struktur den Eindruck einer strukturellen Veränderung insinuierte. Insofern kann auch von fortgesetzter informeller Stabi-lisierung bei formaler Pfadabweichung gesprochen werden.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 345

Tabelle 11: Aufgabenzuwachs und Gruppenstruktur in der Abteilung III Regierungsplanung*

Abteilung III Regierungsplanung

(2005-2006)

Abteilung III Regierungsplanung (2006)

Gruppe III.A: Länger-fristige Planung, Veran-staltungsplanung, Proto-

koll

Gruppe III.B: Leitlinien und Schwerpunkt der

Politik

Ref. III.1: Reden, Texte, Politische und gesell-schaftliche Analysen

Ref. III.A1: Längerfristige Planung

Ref. III.B1: Grundsatz-fragen der Landespolitik, Schwerpunkte und Pro-jekte

Ref. III.2: Arbeitspro-gramm und Controlling; Ressortkoordination Finanzen und Beteiligun-gen; Finanz- und Steuer-politik

Ref. III.A2: Protokoll und Konsularwesen, Veranstal-tungsorganisation/ Emp-fang MP

Ref. III.B2: Kabinett, Staatssekretärskonferenz, Landtagsangelegenhei-ten

Ref. III.3: Längerfristige Planung; Standortmar-keting

Ref. III.A3: Orden, Titel, Staatspreise

Ref. III.B3: Arbeitspro-gramm und Controlling, Ressortkoordination FM

Ref. III.4: Protokoll und Konsularwesen, Veran-staltungsorganisation, Empfang MP

Referat III.A4: Veranstal-tungsplanung, Standort-marketing

Ref. III.B4: Reden, Texte, Politische und gesell-schaftliche Analysen

Ref. III.5: Orden, Titel, Staatspreise

Ref. III.6: Bürgercenter, CallNRW

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005 (Fortschreibung 2006); Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2008; *Änderungen sind fett markiert Anders stellte sich der institutionelle Transformationsprozess mit Blick auf den Transfer des Kabinettreferats in die Abteilung III dar. Diese zuvor in Abteilung II angesiedelte Organisationseinheit wurde formalisiert in die Planungsabteilung transferiert. Der vom ständigen Vertreter Bergers nun zum Gruppenleiter in der Abteilung III berufene Michael Henze und der Leiter des Kabinettreferats Egbert Bonse vermuteten hinter dieser Zuordnung sowohl inhaltliche als auch administ-rative Motive (Interview Henze: Frage 13; Florack 2006k: Frage 8): Zum einen sei das Kabinettreferat Jürgen Rüttgers wichtig gewesen, weshalb er dieses im Verantwortungsbereich Boris Bergers habe sehen wollen. Zudem seien mit Ka-

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346 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

binettsangelegenheiten bestimmte Veranstaltungsformate verbunden gewesen, welche sich bereits seit 2005 im Aufgabenbereich der Abteilung befunden hat-ten. Dazu hätten insbesondere auswärtige Kabinettssitzungen gehört, bei denen ein Bezug zu Protokollangelegenheiten bestanden hätte. Zum anderen sei es auch bei dieser Entscheidung darum gegangen, auf die erforderliche Mindestzahl von vier Referaten in der Gruppe III.B zu kommen.

Von ebenso großer Bedeutung wie die formale Stärkung der Planungsabtei-lung war jedoch die informelle Praxis und fortgesetzte Wirksamkeit derselben in den vorangegangenen Monaten. Wie unter anderem die bereits thematisierten Einlassungen Rüttgers’ zur Rolle Boris Bergers zeigten (Kapitel 5.2.1.2.3), hatte dieser informell eine wichtige Rolle in der Ressortkoordination und in der Auf-gaben- und Vorhabenplanung für die Regierungsformation übernommen. Die inhaltliche und zeitliche Abstimmung mit den Ressorts sowie entsprechende Kontakte mit den Fachministern gehörten zu dieser informellen Aufgabenbe-schreibung. Angesichts der offensichtlichen Relevanz für die Arbeit der Staatssekretärskonferenz und die formale Beschlussfassung im Kabinett bildete die nun mit dem Transfer des Kabinettreferats verbundene Strukturveränderung gewissermaßen die Formalisierung einer bereits zuvor erkennbaren Praxis. Mit der Synchronisierung informeller Routinen und formaler Struktur wurde implizit die bereits herausragende Rolle Bergers weiter institutionell zementiert (so auch Tutt 2006f: 39).

Die Restrukturierung in den Abteilung I und II stellte wiederum keine gra-vierende Abweichung von der vorherigen institutionellen Praxis dar. Die forma-len Organisationsveränderungen folgten dabei vor allem inhaltlichen Überlegun-gen sowie dem Ziel einer erhöhten Transparenz der bereits faktisch wirksamen Organisationsstruktur.

Eine gewisse inhaltliche Akzentverschiebung ging mit der Bildung der Gruppe I.B „Recht, Bundesangelegenheiten“ einher, wie die zuständige Abtei-lungsleiterin gegenüber dem Landtag formulierte (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 1–2). Hier wurden die juristischen Aufgaben der Staatskanzlei zusam-mengefasst, um vor allem die rechtliche Beratung zentral zu bündeln. Dieser Entscheidung lag die Einschätzung Benekes zugrunde, die staatsrechtliche Kom-petenz der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei sei im Vergleich zu anderen Regierungszentralen unterrepräsentiert gewesen. Insofern verband er mit der formalen Strukturveränderung das Ziel, einen „dezidierten Rechts- und Staats-rechtsbereich“ in der Staatskanzlei zu schaffen. Entsprechend wurden die jeweils relevanten Ressourcen aus den anderen Abteilungen hierher transferiert (Inter-view Beneke: Frage 4). Angesichts des strikt juristischen Beratungscharakters waren hiermit jedoch keine weitergehenden Konsequenzen für die koordinieren-

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 347

de und steuernde Arbeit der Staatskanzlei als „Kern der Kernexekutive“ verbun-den.

In der Abteilung II wurden die vormaligen Querschnittsreferate aufgelöst und der Ressortverteilung im Kabinett entsprechende Spiegelreferate gebildet. Im Sinne einer klaren Verantwortungszuweisung standen auch hier inhaltliche Überlegungen im Mittelpunkt. Zugleich drückte sich darin die in den vorherge-henden Monaten beobachtbare Marginalisierung der Abteilung II nun auch for-mal aus. Die administrative Begleitung der operationellen Arbeit der Ressorts sollte den Kern der Arbeit ausmachen und keine weitergehenden planerischen oder koordinierenden Impulse von der Abteilung II ausgehen. Der personelle Wechsel an der Spitze der Abteilung zeigte überdies an, dass die administrative Zuarbeit künftig im Mittelpunkt stehen sollte, während die politisch-strategische Beratung des Ministerpräsidenten an anderer Stelle stattfinden sollte.

Bei der Reorganisation des medienpolitischen Bereichs schließlich zeigte sich der direkte Einfluss personeller Faktoren auf die formale Organisationsent-scheidung. Die bestehende Gruppe MTK wurde aufgelöst und mit dem Landes-presse- und Informationsamt fusioniert. Eine Neuverteilung der dort bereits loka-lisierten inhaltlichen Aufgaben drückte sich in einer moderat veränderten Refe-ratsstruktur aus (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006f: 2). Ein ursprünglicher Vorschlag Benekes, die Arbeit dieser Organisationseinheit stärker mit der Abtei-lung III zu verkoppeln und eine Art Strategie- und Kommunikationsabteilung analog zu gängigen Organisationsformen der Unternehmenskommunikation und -strategie zu bilden, wurde vor allem aufgrund der personellen Entscheidungen im Sommer 2006 für Andreas Krautscheid nicht realisiert (übereinstimmend Interview Beneke: Frage 4; Interview Berger: Frage 2 und 3). Dieser hatte eine fachliche Zuständigkeit für die Medienpolitik für sich reklamiert, die auch von den Protagonisten des Reorganisationsprozesses akzeptiert wurde: „Wenn man einen neuen Regierungssprecher holen will, dann muss der eine eigene Mann-schaft haben, sonst kriegt man keinen guten Namen", erklärte dementsprechend Berger das Motiv für die geringfügige Modifikation des status quo (Interview Berger: Frage 3).

Während die Opposition das Recht der Landesregierung akzeptierte, die Regierungszentrale nach eigenen Vorstellungen zu verändern, übten ihre Vertre-ter doch Kritik an der ein oder anderen Sachfrage (Landtag Nordrhein-Westfalen 2006e: 19–20). Nach Einschätzung Karsten Benekes realisierten sich jedoch in den nachfolgenden Monaten die vom Reorganisationsprozess erhofften Effizi-enzgewinne. Allerdings zeigte er sich unentschieden, ob dies tatsächlich an der gewählten Formalstruktur gelegen habe oder an dem schon seit Frederick Wins-low Taylor bekannten Phänomen, dass viele Reorganisationsprozesse zunächst positive Folgen zeitigten (Interview Beneke: Frage 5). Wie die weitere institutio-

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nelle Dynamik zeigte, handelte es sich bei den vorgenommenen Strukturverände-rungen der Staatskanzlei 2006 nur um einen Zwischenschritt. An längerfristig wirksamen informellen Transformationsdynamiken und dem fortgesetzten Span-nungsverhältnis zwischen Institutionenentwicklung und Institutionendesign än-derte sich nichts. Vielmehr leiteten die personellen und organisatorischen Verän-derungen eine neue Phase dieser Transformationsprozesse ein. 5.2.1.4 Inkrementelle Transformation, Informalisierung und Anwendung

formaler Regeln: Die Entwicklung der Organisationskultur 2006-2010 „Also das Informelle, das kommt sofort und wird aber, je länger es wirkt, immer mehr gelernt und verbreitet sich immer mehr im Haus“, formulierte Michael Henze seine Einschätzung zur institutionellen Entwicklungsdynamik und schrittweisen Verfestigung der informellen Organisationskultur innerhalb des Regierungsapparats allgemein und der Staatskanzlei im Besonderen (Interview Henze: Frage 20). Dieses als typisch benannte Muster sich entwickelnder infor-meller ‚Parallelstrukturen‘, welches als ein „Netzwerk informeller Kommunika-tions- und Interaktionsmuster“ die Formalstruktur systematisch „durchwirkt“ und „informelle Schleichpfade“ etabliert (Mielke 2011: 93), beinhaltet dabei aus analytischer Perspektive zwei Dimensionen: Zum einen betont diese Perspektive das konstitutive Wechselspiel von Formalität und Informalität, die sich gewis-sermaßen erst aufgrund ihrer reziproken Bezugnahme schrittweise institutionali-sieren. Zum anderen weist diese Perspektive auf die Wirksamkeit pfadabhängi-ger Entwicklungstendenzen hin, die langfristig wirksam sind und auch kurzfris-tige Veränderungsimpulse überdauern.

Die Entwicklung der Staatskanzlei als Kerninstitution der Kernexekutive zwischen 2006 und 2010 entsprach entlang beider Dimensionen gewissermaßen dieser als typisch unterstellten Entwicklungslogik: Das seit dem Regierungs-wechsel 2005 unter veränderten politischen Rahmenbedingungen neu begonnene Wechselspiel von Formalisierung und Informalisierung fand erstens auch nach der Restrukturierung 2006 ungebrochen weiter Anwendung. Diese Reorganisati-on des Hauses stellte nur eine, wenn auch wichtige Zwischenetappe einer teil-weisen Formalisierung informeller Routinen und eines begrenzten Displace-ments dar, änderte aber nichts an der fortgesetzten Verfestigung informeller Routinen und Praktiken jenseits formaler Regeln und ihrer Anwendung.

Zweitens erwies sich der zumindest teilweise erkennbare Versuch, mit der formalen Organisationsreform auch institutionelle Pfadabweichungen zu bewir-ken, als nur begrenzt erfolgreich. Die Widersprüchlichkeit der weiteren Entwick-lung drückte sich dabei idealtypisch in den 2006 formulierten Zielen einerseits

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 349

und der Einschätzung zur weiteren Rollenentwicklung der Staatskanzlei anderer-seits aus. So hatten sowohl Jürgen Rüttgers als auch Karsten Beneke als Zielset-zung formuliert, die Regierungszentrale sollte stärker zu einer strategischen Steuerungsinstanz mit „Holding-Charakter“ ausgebaut werden, als sich um ope-rative Vorgänge des Alltagsgeschäfts zu kümmern (hierzu u.a. Tutt 2006f: 39; Bau 2006; WAZ v. 6. Juli 2006). Politische Steuerungsimpulse und Koordinati-onsaufgaben für die Regierungsformation insgesamt sollten damit institutionell über die Staatskanzlei abgesichert werden. Dem widersprach jedoch die erneut von Michael Henze formulierte These einer längerfristigen Marginalisierung der Staatskanzlei mit Blick auf genau diese Steuerungs- und Koordinationsfunktio-nen. „Schon in den letzten 20 Jahren“ habe es eine immer schwächer werdende Steuerungsintensität und Durchsetzungsfähigkeit der nordrhein-westfälischen Regierungszentrale gegeben und dieser Trend sei auch 2006 nicht gebrochen worden. Vielmehr werde die Regierungszentrale insbesondere in den Fachres-sorts wahrgenommen als eine Gruppe von Leuten, „die nicht so genau wissen, wovon fachlich die Rede ist, die sich mit sich selber beschäftigen, die vielleicht noch das persönliche Wohl der Ministerpräsidenten in ganz besonderer Weise im Blick haben und die überwiegend in Kategorien von Reden, Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen reden und denken (…). Aber eine Steuerungsfunktion wird (…) auf der Arbeitsebene in den Ressorts so gut wie gar nicht wahrgenommen und auch nicht vermisst“ (Interview Henze: Frage 18).

Jenseits dieser unterschiedlichen Einschätzungen zur adäquaten Funktions-erfüllung der Staatskanzlei zeigten sich ab 2006 institutionelle Transformations-prozesse, die sich entlang des entwickelten Analyseansatzes konzeptualisieren lassen. Dabei spielten ungesteuerte Informalisierungsprozesse im Sinne von Institutionenentwicklung eine ebenso große Rolle wie weitere Versuche intenti-onalen Institutionendesigns verschiedener Change-Agents und Akteurskoali-tionen. 5.2.1.4.1 Zwang zur personellen und organisatorischen Nachjustierung: Begrenztes Displacement in Folge weiterer Personalwechsel Der Auslöser für weiteres Institutionendesign in der Staatskanzlei waren 2007 personelle Wechsel im erweiterten Leitungsbereich. Nachdem er im Zuge des Reorganisationsprozesses 2006 seine Funktion im Landespresseamt noch behal-ten hatte, verließ Norbert Neß und damit ein enger Mitarbeiter Rüttgers‘ aus Oppositionszeiten Ende 2006 die Staatskanzlei. Zuvor war wiederholt über gra-vierende persönliche Differenzen und einen staatskanzleiinternen Machtkampf zwischen Norbert Neß und insbesondere Boris Berger spekuliert worden (vgl.

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350 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Schumacher 2006a: 1; Tutt 2006b: 8; Wiedemann 2006b: 9; Zurheide 2006b: 5; Uferkamp 2006a; Wiedemann 2006b: 9; bestätigend Interview Berger: Frage 8; Interview Krautscheid: Frage 4). Diese Personalie hatte insofern indirekt Bedeu-tung für die Organisationsstruktur, als Norbert Neß bis zum Wechsel im Amt des Regierungssprechers von Thomas Kemper zu Andreas Krautscheid zahlreiche Aufgaben wahrgenommen hatte, die eigentlich im formalen Aufgabenbereich des Regierungssprechers selbst gelegen hatten. Als Chef vom Dienst im Landes-presseamt hatte Neß nicht zuletzt aufgrund seines persönlichen Vertrauensver-hältnisses zum Ministerpräsidenten indirekt an der informellen Schwächung des Regierungssprechers mitgewirkt, die schlussendlich zu dessen Ausscheiden im Sommer 2006 führte.

Diese Rolle Neß hatte sich in den nachfolgenden Monaten jedoch relati-viert. Seit der Übernahme des Sprecheramtes durch Andreas Krautscheid war das Gewicht des Regierungssprechers wieder gewachsen und auch seine institutio-nelle Rolle innerhalb der Regierungszentrale gestärkt worden. Das förmliche Ausscheiden Neß aus der Staatskanzlei103 führte daher auch nur zu begrenzten organisatorischen Anpassungen. Das von ihm geleitete Referat PM 1 wurde umbenannt und der Nachfolger Neß‘, Matthias Kopp, firmierte fortan unter der Funktionsbeschreibung „Sprecher der Staatskanzlei und Leiter der Pressestelle“. Zugleich entschied man sich mit dessen Berufung für eine interne Besetzungslö-sung, denn Kopp war zuvor Sprecher Michael Breuers gewesen und insofern mit den internen Abläufen der Staatskanzlei sowie den handelnden Personen ver-traut.

Zugleich kam Matthias Kopp in den folgenden Wochen eine besondere Rol-le zu. Faktisch übernahm er von August 2007 bis zum Ende des Jahres die Auf-gaben des Regierungssprechers, denn Andreas Krautscheid wurde im Oktober 2007 zum Nachfolger Michael Breuers als Minister für Bundes- und Europaan-gelegenheiten berufen. Dieser war am 22. Oktober 2007 mit Wirkung zum 1. Januar 2008 zum Präsidenten des Rheinischen Sparkassen- und Giroverbandes gewählt worden und schied unmittelbar nach dieser Wahl aus der Landesregie-rung aus. Mit Breuer verließ nicht nur ein Kabinettsmitglied, sondern zugleich ein persönlicher Vertrauter des Ministerpräsidenten die Staatskanzlei. Hinzu kam die bereits oben beschriebene informelle Sonderrolle, die Breuer in den vorange-gangen beiden Jahren innerhalb der Regierungsformation eingenommen hatte (u.a. Teigeler 2007; Hüwel/Vogt 2007). Jenseits seines formalen Aufgabenge-biets als Minister war Breuer als persönlicher Repräsentant des Ministerpräsiden-

103 Faktisch war Neß bereits seit Ende 2006 nicht mehr als Chef vom Dienst im Landespresseamt

aktiv. Das formale Umsetzungsverfahren wurde jedoch erst Mitte 2007 abgeschlossen. Hierzu Lamprecht 2007a; vgl. Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2008; Minister-präsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2007 (Fortschreibung 2007).

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 351

ten, „Trouble-Shooter“ und interner Vermittler in Erscheinung getreten und hatte insbesondere in den informellen Leitungsgremien eine zentrale Rolle als Macht-makler gespielt. Angesichts des Personalwechsels stand damit auch diese interne Machtarchitektur auf dem Prüfstand und mit ihr die daraus erwachsenen infor-mellen Regelsysteme.

Zur institutionellen und personellen Stabilisierung dieser eingespielten Praktiken und Routinen entschied sich Rüttgers als gewissermaßen institutionel-ler „Stabilisierungsagent“ für die Berufung Krautscheids ins Kabinett (nachfol-gend Interview Krautscheid: Frage 11 und 13). Anders als bei seinem Vorgänger Kemper hatte sich seit 2006 aus dessen Sicht „wirklich ein Näheverhältnis zu Rüttgers“ entwickelt, so dass die von Krautscheid beim Amtsantritt 2006 formu-lierten Bedingungen für die Übernahme des Sprecheramtes aus seiner Sicht voll erfüllt worden waren. Zudem brachte er angesichts seines biographischen Hin-tergrunds Erfahrungen in der Bundespolitik sowie mit dem Brüsseler Parkett sowie die entsprechenden persönlichen Kontakte mit. Krautscheid verfügte damit über wichtige fachliche Kompetenzen eines Ministers für Bundesrats- und Euro-paangelegenheiten. Zugleich übernahm Krautscheid mit großem Enthusiasmus die von Breuer wahrgenommenen Aufgaben, die sich auf die politische Koordi-nation innerhalb der Regierungsformation bezogen. Dazu gehörte insbesondere die Wahrnehmung der „Ausputzerrolle im Parlament“. In dieser Rolle des „Feu-erwehrmannes“ war es nun auch die Aufgabe Krautscheids, bei politisch brisan-ten Vorgängen die „Staatskanzlei aus dem Schussfeld“ zu bekommen (Interview Krautscheid: Frage 11).

Darüber hinaus übertrug der Ministerpräsident Andreas Krautscheid weitere informelle Aufgaben, die Breuer in den ersten Jahren wahrgenommen hatte. Er sollte sich auch um alle potentiellen „Wehwehchen“ in der Fraktion kümmern und damit gewissermaßen als „emotionaler Ausputzer“ innerhalb der CDU agie-ren (Interview Krautscheid: Frage 13). Krautscheid wurde damit, genau wie Breuer, zum persönlichen Repräsentanten des Ministerpräsidenten insbesondere gegenüber der eigenen Partei und Landtagsfraktion.

Zentral war jedoch der institutionelle Stabilisierungseffekt dieser Rollenzu-schreibung: Die informellen, aber institutionalisierten Abstimmungs- und Bera-tungsroutinen, die sich durch die vorhergehende Praxis etabliert hatten, konnten beinahe ausnahmslos erhalten bleiben. Dies galt sowohl für die staatskanzleiin-terne Koordination als auch für die weiteren Verbindungen innerhalb der Regie-rungsformation. Ein Kabinettsmitglied wurde dementsprechend in der Presse mit den Worten zitiert, durch eine „interne Lösung würde die Machtbalance in der Regierungszentrale erhalten“ (zit. nach Hüwel/Vogt 2007). Die Personalent-scheidung für Krautscheid war insofern ein intentionaler Beitrag zur institutio-nellen Stabilisierung der Organisationskultur.

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352 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Dennoch zog der Aufgabenwechsel Krautscheids institutionelles Displacement in Form einer formalen Organisationsveränderung in der Staats-kanzlei nach sich. Während im Oktober 2007 zunächst alles nach einem reinen Personalwechsel ausgesehen hatte, wies der aktualisierte Organisationsplan der Staatskanzlei im Januar 2008 auch eine formale Organisationsveränderung aus (vgl. Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2007 (Fortschreibung 2007); Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2008). Neben dem neu übernommenen Amt des Ministers für Bundes- und Europaangelegenheiten wurde Krautscheid nun im neuen Ministerrang auch die Zuständigkeit für die Medienpolitik zugewiesen. Die vormalige Kopplung dieser Aufgabe an das Amt des Regierungssprechers wurde folglich aufgelöst. Nach einigen Wochen Va-kanz wurde parallel zu dieser Organisationsveränderung Hans-Dieter Wichter zum Nachfolger Krautscheids als Regierungssprecher bestellt. Institutionell stand ihm aber nur noch die Pressegruppe mit den ursprünglichen Arbeitsberei-chen des Landespresse- und Informationsamtes zur Verfügung, während die Gruppe Medien und Telekommunikation in den nun deutlich erweiterten Ve-rantwortungsbereich Krautscheids überführt wurde.

Die Erklärung für diesen formalen Institutionenwandel lag erneut alleine in personellen Erwägungen begründet: Zum einen bestand Krautscheid auch in seiner neuen Funktion auf einem politische Gestaltungsmöglichkeiten bietenden Aufgabenbereich. Während er auf dem vor allem aus Koordinationsaufgaben bestehenden Feld der Bundes- und Europaangelegenheiten dafür zu wenig Frei-raum sah, erschien Krautscheid die Medienpolitik hierfür als geeignetes Spiel-feld (Interview Berger: Frage 5). Die Zuordnung der entsprechenden Fachgruppe in seinen neuen Geschäftsbereich stellte insofern ein wichtiges „Incentive für Krautscheid dar, die Aufgabe von Michael Breuer zu übernehmen“. Hinzu kam, dass sich nach Einschätzung Karsten Benekes diese Aufgabe besser für einen Minister als für einen Staatssekretär eignete (Interview Beneke: Frage 8). Nach Einschätzung Boris Bergers (Interview Berger: Frage 5) zeigte sich hierin wie schon seit 2005 erneut der deutliche Vorrang personeller Überlegungen vor or-ganisatorischen Motiven.

Zum anderen wurde die wenig sachgerechte Aufgabenbelastung des Regie-rungssprechers als Motiv für das formale Displacement angeführt. Die Verbin-dung von Medienpolitik und Sprecheramt habe in dieser „Kombination dazu geführt, dass der Regierungssprecher in hohem Maße von dieser medienpoliti-schen Aufgabe in Anspruch genommen wird und sich auch gerne nehmen lässt“ (Interview Beneke: Frage 8). Allerdings speiste sich diese Einschätzung vor allem aus der Erfahrung mit den dieses Amt bekleidenden Personen. Während Andreas Krautscheid mit der Doppelbelastung weitgehend problemlos umgegan-gen war, hatte sich eine entsprechende Defizitwahrnehmung vor allem bei Tho-

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 353

mas Kemper herauskristallisiert und Hans-Dieter Wichter wurde eine mögliche Doppelbelastung von Beginn an nicht zugetraut (Interview Berger: Frage 5). Insofern zeigte sich erneut eine vor allem an den Personen orientierte Argumen-tation, die zu den entsprechenden institutionellen Veränderungen führte.

Die Folge dieses Revirements war eine formale Stärkung Andreas Kraut-scheids, was aber zugleich Konsequenzen für die informelle Steuerungsarchitek-tur innerhalb der Regierungszentrale haben sollte. Mit dem Personalwechsel änderten sich nicht nur Status und Aufgabenbereich dieses inzwischen zum wichtigen Machtmakler aufgestiegenen Akteurs, sondern nichtintendierte Neben-folge der formalen Organisationsveränderung war eine deutliche Veränderung von Krautscheids Rolle in informeller Hinsicht. Hatte Krautscheid seit seinem Wechsel in die Staatskanzlei 2006 zum engen Kreis rund um den Ministerpräsi-denten gehört, setzte ab Ende 2007 nun eine gewisse Distanzierung vom Tages-geschäft mit entsprechenden Folgen für die informellen Regelsysteme innerhalb der Staatskanzlei ein. Davon implizit betroffen waren sowohl die machtvertei-lende Organisationskultur der Staatskanzlei insgesamt als auch die informellen Beratungs-, Koordinations- und Steuerungsinstitutionen sowie in personeller Hinsicht das Zusammenspiel des Ministerpräsidenten mit dem Chef der Staats-kanzlei, dem Minister in seinem Geschäftsbereich, dem Leiter der Planungsabtei-lung und weiteren Akteuren auf Leitungs- und Arbeitsebene. 5.2.1.4.2 Formalstruktur, Aufgabenverteilung und informelle Organisationskultur: Conversion und informelle Stabilisierung Längerfristige institutionelle Folgen für die informelle Organisationsstruktur hatte insbesondere der Wechsel im Amt des Chefs der Staatskanzlei von Grosse-Brockhoff zu Beneke. Sowohl in der staatskanzlei- als auch regierungsformati-onsinternen Wahrnehmung zog dieser Personalwechsel einen Professionalisie-rungsschub in politisch-administrativer Hinsicht nach sich. Die unter Grosse-Brockhoff aufgetretenen administrativen Defizite in der Führung des Hauses wurden von Beneke weitgehend behoben. Er kümmerte sich seiner formalen Aufgabenbeschreibung entsprechend um das „Alltagsgeschäft der Regierungsor-ganisation“, „war immer bestens informiert“ und zeigte ein besonderes „Küm-mern um korrekte Regierungsprozesse“ (Interview Henze: Frage 9). Zugleich erfasste er potentielle politische Fallstricke und zeigte sich so als zentrale poli-tisch-administrative Schaltstelle des Hauses. Auch aus Sicht des Koalitionspart-ners FDP folgte dieser veränderten Form der Amtsausübung ein deutlicher Pro-fessionalitätsgewinn. Dieser erstreckte sich sowohl auf den Umgang mit forma-len Kabinettsangelegenheiten als auch auf die Vor- und Nachbereitung des Koa-

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354 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

litionsausschusses als zentraler Institution des Koalitionsmanagements, für die der Chef der Staatskanzlei administrativ verantwortlich zeichnete (Interview Papke: Frage 6; Interview Pinkwart: Frage 9).

Zugleich trat Beneke in seiner neuen Rolle auf den ersten Blick in ein insti-tutionelles Konkurrenzverhältnis zu Boris Berger. Dieser war nicht zuletzt auf-grund der bisherigen Aufgabenwahrnehmung Grosse-Brockhoffs zu einem zent-ralen Akteur innerhalb der Staatskanzlei avanciert und hatte einen Teil der ei-gentlich dem Amtschef formal zugewiesenen Steuerungsaufgaben übernommen. Die institutionellen Folgen dieser Dominanz waren vor allem hinsichtlich der Abteilungsstruktur und mit Blick auf die Verbindung von Leitungs- und Arbeits-ebene offensichtlich geworden. Allerdings zeigte sich in der Folge des Wechsels von Grosse-Brockhoff zu Beneke keineswegs ein institutioneller Bruch im Sinne eines umfassenden Displacements, sondern der Transformationsmodus der Conversion entfaltete vielmehr seine Wirkung. Grundlage für den Prozess einer institutionellen Neuinterpretation der bestehenden informellen Regelsysteme war eine unausgesprochene Akteurskoalition zwischen Beneke und Berger: „Es gab zwischen uns kein Konkurrenzverhältnis“, erklärte Boris Berger und verwies stattdessen auf eine klare und wenig konfliktträchtige Arbeitsteilung. Während Benekes Aufgabe vor allem in der administrativen Koordination innerhalb der Staatskanzlei und zwischen den Ministerien bestanden habe, rückte Berger in die Rolle, die großen und wichtigen Projekte und Netzwerke anzugehen. Während Berger damit für das langfristig Strategische in der Staatskanzlei verantwortlich zeichnete, hielt Beneke der Regierungsformation verwaltungstechnisch den Rü-cken frei. Das Ergebnis war ein arbeitsteiliges Verhältnis beider zum wechselsei-tigen Nutzen.

In dieser Arbeitsteilung zwischen Berger als „durchsetzungsstarkem Strate-giechef mit großem Netzwerk“ und Beneke in der Rolle des „systematischen Chefkoordinators“ (so Kronenberg 2009: 251–252) drückte sich auf der einen Seite die unterschiedliche individuelle Repräsentantenrolle der beiden zentralen Grenzstellenakteure aus. Während Beneke nach innen und außen als Repräsen-tant der Staatskanzlei in Erscheinung trat, agierte Berger stärker als individueller Repräsentant des Ministerpräsidenten. Jenseits der formalen Aufgabenzuweisung blieb Berger weiterhin der „Motor in der Rüttgerschen Politikmaschinerie“ (Frigelj 2009). Egal ob als Krisenmanager, politischer Berater des Ministerpräsi-denten oder als Interventionist in wichtigen regierungsinternen Angelegenheiten: Berger agierte weitgehend losgelöst von den sonstigen administrativen Abstim-mungsroutinen in allen Dingen, denen der Ministerpräsident besondere Dring-lichkeit oder Bedeutung beimaß.104 Bei einigen Vorgängen verfügte der Minis- 104 Interview Henze: Frage 11; Interview Krautscheid: Frage 5; Florack 2007d. Ein typisches

Beispiel für die Rolle Bergers als Krisenmanager ist seine Kontaktaufnahme zum Kölner

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 355

terpräsident schließlich beinahe schon routinemäßig, sie über Bergers Schreib-tisch gehen zu lassen.

Auf der anderen Seite drückte sich diese individuelle Sonderstellung Berg-ers in fortgesetzten institutionellen Transformationsprozessen innerhalb der Staatskanzlei aus. Diese stellten sich trotz des Wechsels im Amt des Chefs der Staatskanzlei nicht als Bruch mit den bis zum Sommer 2006 eingeübten Regel-systemen, sondern in einer begrenzten Neuausrichtung und Neuinterpretation derselben im Sinne der Conversion aus. Die Rolle Bergers in der Regierungspla-nung, die sich nach Darstellung Benekes „in hohem Maße (…) in diesem Zwi-schenbereich Parteiarbeit und Regierungsarbeit“ abspielte (Landtag Nordrhein-Westfalen 2009b: 22), fand ihre inkrementelle institutionelle Verfestigung in der Sonderrolle, welche auch die Abteilung III weiterhin einnahm. Anders als bei der formalen Aufgabenzuweisung intendiert bekam die Einflussverteilung zwischen den Abteilungen angesichts von Bergers Sonderrolle eine „Unwucht“ zugunsten der Planungsabteilung, die auch durch die Änderung an der Hausspitze nicht unmittelbar tangiert wurde. Die machtpolitische Marginalisierung der sonstigen Organisationseinheiten fand insofern nach 2006 ihre Fortsetzung und wurde durch die veränderte Rolle Benekes bestenfalls graduell modifiziert. Diese be-grenzte institutionelle Neuausrichtung bestand darin, dass Beneke als administra-tiver Machtmakler nun stärker als sein Vorgänger als Vermittler und Bote der übrigen Organisationseinheiten gegenüber dem Ministerpräsidenten agierte und insofern die bestehenden institutionellen Regeln anders angewandt wurden. Die-se veränderte Regelanwendung verfestigte sich schrittweise zu einer informellen Organisationskultur und führte entlang der bereits zuvor eingeschlagenen Pfade zu begrenzten Neuinterpretation. Es zeigte sich aber keine gravierende Pfadab-weichung gegenüber der bisherigen Praxis, der bereits 2005 eingeschlagene Weg wurde nicht verlassen.

Die inkrementelle Konversionsdynamik entwickelte sich erstens entlang der neu eingeführten Gruppenstruktur. Obwohl als durchaus gravierender formaler Einschnitt in die Organisationsstruktur gekennzeichnet, hielten sich die prakti-schen Folgen in Grenzen. Karsten Benekes Intention einer stärkeren Verantwor-tungszuweisung und damit auch einer „steiler geordneten Hierarchie“ wurde aus seiner Sicht zwar erreicht (Interview Beneke: Frage 5). Auf der anderen Seite führte diese mutmaßliche Verbesserung jedoch zu einem geringeren Maß an Rückkopplung zwischen Leitungs- und Arbeitsebene (so auch Florack 2007a; Interview Mai: Frage 5; Interview Henze: Frage 8). Beneke wiederum bemühte sich als Reaktion um einen Ausgleich, indem er zusätzliche informelle Arbeits-kontakte jenseits des Dienstweges aufbaute und damit die neuen formalen Re-

Oberbürgermeister Fritz Schramma nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs (hierzu Landtag Nordrhein-Westfalen 2009a).

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356 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

geln zwar nicht aushebelte, aber ergänzte, um eine „Balance herzustellen“ (Inter-view Beneke: Frage 6).

Gewissermaßen nichtintendiert verstärkte Beneke durch die formale Verän-derung hin zu einer Gruppenstruktur die bereits zuvor bestehende Trennung von Leitungs- und Arbeitsebene. Entweder aus strukturellen oder aus personellen Gründen hatten Vertreter der Arbeitsebene seit dem Regierungswechsel eine vergleichsweise starke Abschottung der Hausspitze beklagt, die in der formalen Hierarchisierung ihren institutionellen Ausdruck fand und durch die informelle Praxis nur begrenzt angepasst wurde. Der formalen Einführung der Gruppen-struktur wurde daher auch keine große praktische Bedeutung beigemessen. Wenngleich der Leiter des Ministerpräsidentenbüros durch die zusätzliche „Puf-ferebene“ der Gruppenleitungen eine „Erleichterung der Kommunikation zwi-schen den verschiedenen Hierarchieebenen“ gegeben sah, spürte er in den kon-kreten Arbeitsabläufen für sich keinen nennenswerten Unterschied (Interview Emenet: Frage 17). Er bestätigte damit den verbreiteten Eindruck weiterer Mit-arbeiter der Staatskanzlei. „Im praktischen Ablauf“ habe man „die Unterschiede von der Referatsebene aus kaum bemerkt“, erklärte beispielsweise Manfred Mai. Ganz ähnlich bestätigte Michael Henze, diese formale Änderung sei „weitgehend ohne Konsequenzen für die praktische Arbeit“ geblieben. Dies habe auch daran gelegen, dass die Funktion des Gruppenleiters in besonderer Weise ohne klare Definition sei. Ein Gruppenleiter könne je nach Schwerpunktsetzung „relativ frei schalten und walten“, „weil er in der Regel weder politisch noch fachlich beson-ders wichtig“ sei und insofern mehr Freiraum habe (Interview Henze: Frage 7). Hierin zeigte sich als Erklärungsmoment gewissermaßen eine nichtintendierte Institutionenentwicklung, die durch die pfadabhängige Entwicklungsdynamik von Regierungsadministrationen bedingt war.

Es zeigte sich daneben aber, dass auch intentionales Akteurshandeln mit-verantwortlich war, dass die formale Einführung der Gruppenstruktur ohne gra-vierende Konsequenzen blieb. So erwies sich Boris Berger hinsichtlich dieses Punktes als „subversiver“ Change-Agent: Während er auf der einen Seite die Organisationsentscheidung Benekes mitgetragen und unterstützt hatte, erklärte er gegenüber den Mitarbeitern seiner Abteilung die Abweichung von den damit einhergehenden institutionellen Regeln zur Norm. Laut Michael Henze signali-sierte Boris Berger gleich im Sommer 2006, er wünsche weiterhin, dass Henze als Leiter der Gruppe III.B auch alle Vorgänge der Gruppe III.A erhalten und damit als „Durchlaufstation“ für die gesamte Abteilung dienen sollte (Interview Henze: Frage 6). Bereits wenige Wochen nach der formalen Strukturveränderung hatte Henze gleichlautend angegeben, insbesondere für die Behandlung von Redeentwürfen habe sich die alte von der Gruppenstruktur abweichende Praxis bereits nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Zwar habe Karsten Beneke wieder-

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 357

holt angemahnt, alle Vorgänge auf dem formalen Dienstweg zu erhalten, aber der wechselseitig eingespielte „direkte Draht zwischen Rüttgers und Berger“ sei dadurch nicht in Frage gestellt worden (Florack 2006j: Frage 3). In ähnlicher Weise zeigte sich die Persistenz solcher informelle Praktiken auch in den ande-ren Organisationseinheiten der Regierungszentrale. Neben beobachtbare Trans-formationsprozesse trat insofern auch eine institutionelle Stabilisierungsdyna-mik. 5.2.1.4.3 Leitungsstrukturen, politische Beratung und schrittweise Institutionalisierung: Conversion, Exhaustion und Layering Hinsichtlich der informellen Beratungs-, Entscheidungs- und Informationsrunden innerhalb der Staatskanzlei blieb zwar der formale Reorganisationsprozess 2006 ohne direkte Folgen. Allerdings zeitigten die personellen Wechsel innerhalb der Regierungszentrale hier institutionelle Folgen. Ausschlaggebend hierfür war die unterschiedlich ausgefüllte Repräsentantenrolle dieser individuellen Akteure für die jeweiligen korporativen Akteure innerhalb der Regierungsformation. Mit personellen Wechseln waren folglich auch immer Konsequenzen für das Zu-sammenspiel dieser korporativen Akteure verbunden, was sich dann wiederum in Form institutioneller Transformationsprozesse ausdrückte. Durchaus unter-schiedlichen Transformationsmodi entsprechende Dynamiken lassen sich hin-sichtlich der seit 2005 etablierten informellen Regelsysteme nachweisen.

Eine erste Veränderung im Sinne der Conversion erfuhr die tägliche Mor-genlage. Dies hing maßgeblich sowohl mit den personellen Wechseln von Gros-se-Brockhoff zu Beneke als auch von Kemper zu Krautscheid zusammen. Der neue Chef der Staatskanzlei legte besonderen Wert auf diesen etwa halbstündi-gen Termin, an dem neben den Leitern der Abteilungen I, II und III der Regie-rungssprecher, Büroleiter Axel Emenet sowie ein ausgewählter kleiner Kreis weiterer Vertrauter teilnahm (Interview Emenet: Frage 13). Wenngleich dieser Zirkel bereits mit Amtsantritt 2005 institutionalisiert worden war, keine der in diesem Zusammenhang etablierten Regeln beseitigt oder bewusst vernachlässigt und auch keine neuen ergänzt wurden, erfuhr die Morgenlage doch eine Verän-derung durch die veränderte Inkraftsetzung der alten Regelstrukturen. Anders als in anderen hausinternen Abstimmungsrunden gab es keine Vertretungsmöglich-keit in diesem Gremium. Der damit bereits verbundene verbindliche Charakter wurde ab Sommer 2006 dadurch erhöht, dass eine stärkere Formalisierung im Sinne eines regelmäßigen und klar vereinbarten Turnus praktiziert wurde (Inter-view Beneke: Frage 7). Dies lag zum einen an Karsten Beneke, der diese interne Abstimmung für essentiell hielt. Hinzu kam eine unausgesprochene Akteurskoa-

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lition mit dem neuen Regierungssprecher Andreas Krautscheid. Dieser sah in der Morgenlage ein wichtiges Forum, um zu einer bewertenden Presselage zu gelan-gen und ließ die dort diskutierten Punkte in seinen täglichen Pressevortrag für den Ministerpräsidenten einfließen (Interview Krautscheid: Frage 4). Die bis Sommer 2006 eher wie ein Pflichttermin wirkende Morgenlage wurde damit in doppelter Hinsicht aufgewertet. Dies änderte sich erst wieder, nachdem Hans-Dieter Wichter zum Nachfolger Krautscheids als Regierungssprecher bestellt wurde. Anders als Krautscheid kam Wichter keine auf einem Vertrauensverhält-nis beruhende Sonderstellung für den Ministerpräsidenten mehr zu, so dass auch die tägliche Presselage an Bedeutung verlor. Im Sinne einer erneuten Conversion wandelte sich die Morgenlage in der Folge wieder zu einem vor allem politisch-organisatorischen Abstimmungsgremium, bei dem der Chef der Staatskanzlei die zentrale Rolle einnahm.

Der als „großes Rückspracheinstrument“ (Interview Emenet: Frage 11) konzipierte wöchentliche Jour fixe wiederum war einem langfristigen Erosions-prozesse entlang des Modus Exhaustion ausgesetzt. Als breiter angelegtes In-formationsgremium mit Repräsentanten aller von der Hausspitze als wichtig eingestuften Organisationseinheiten der Staatskanzlei war dieser Kreis von 2005 an meist freitags zusammengekommen. Auch hier bestand keine Möglichkeit für die daran Beteiligten, sich vertreten zu lassen. Auch wenn über die kernexekuti-ve Bedeutung dieses Gremiums durchaus unterschiedliche Einschätzungen be-standen105, so bot dieses wöchentliche Treffen doch eine Gelegenheit zum Aus-tausch zwischen dem Ministerpräsidenten sowie wichtigen Akteuren innerhalb der Staatskanzlei. Wenngleich dieser Jour fixe im Prinzip sowohl die formalen Restrukturierungsentscheidungen als auch die personellen Wechsel innerhalb der Regierungszentrale überdauerte, wurden doch schrittweise die zu Beginn festge-legten Regeln immer mehr vernachlässigt. Zu Beginn gewissermaßen ein Pflicht-termin des Ministerpräsidenten, wurde es aufgrund anderer terminlicher Ver-pflichtungen im Laufe der Zeit immer schwieriger für Jürgen Rüttgers, zu dieser Runde einzuladen (Interview Emenet: Frage 11).106 Folglich tagte dieser Kreis informell häufiger ohne den Ministerpräsidenten, was wiederum schrittweise seine Bedeutung erodieren ließ. Hinzu kam, dass aufgrund der Personenkonstel-lation unmittelbar nach dem Regierungswechsel 2005 weder der Chef der Staatskanzlei noch der Regierungssprecher eine wichtige Rolle in diesem Gre- 105 Während die einen in ihm eine wichtige Basis für den inhaltlichen Austausch über aktuelle

politische Entwicklungen sahen, wurde er von anderen Beteiligten als ein für das Entschei-dungsmanagement unwichtiges Informationsgremium gesehen, in dem die Gelegenheit zur persönlichen Rücksprache bestand und dem insofern eine soziale Funktion zukam.

106 Zu Beginn der Amtszeit wies der Terminplan des Ministerpräsidenten noch eine deutlich regelmäßigere Teilnahme aus. Z.B. Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006a: 2–3 ; Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006c: 3.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 359

mium gespielt hatten. Vielmehr hatte es bereits frühzeitig weitere ad-hoc-Abstimmungen im kleinen Kreis der Machtmakler gegeben, die ihrerseits die Bedeutung des Jour fixe von Beginn an unterminiert hatten.

Dieser Trend setzte sich ab 2006 zwar nur sehr langsam, aber doch bestän-dig fort. Die Folge war, dass der Jour fixe schließlich ab Ende 2009 nicht mehr stattfand und stattdessen durch eine bereits existierende Abstimmungsrunde mit kleinem Teilnehmerkreis ersetzt wurde. Ursächlich war nicht zuletzt der näher rückende Wahltermin der Landtagswahl 2010, der sowohl die terminlichen Prob-leme der beteiligten Akteure verschärfte als auch die Notwendigkeit erhöhter Vertraulichkeit dieses Abstimmungsgremiums nach sich zog. Die Folge war eine weniger formalisiert tagende Runde aus Rüttgers, Beneke, Berger, Krautscheid und Emenet, in der „dann etwas mehr in stakkato die Vorgänge durchgegangen“ wurden (Interview Emenet: Frage 12).

Bei dieser Abstimmungsrunde handelte es sich jedoch keineswegs um ein neu geschaffenes Ersatzgremium für den freitäglichen Jour fixe, sondern um eine bereits seit 2006 schrittweise und durch die fortgesetzte Praktik formalisierte Steuerungsrunde (Interview Krautscheid: Frage 4; Interview Berger: Frage 8; vgl. Lamprecht 2007b). Im Sinne des Transformationsmodus Layering hatte sich dieser Kreis als ergänzendes Regelsystem schrittweise herausgebildet und im Laufe der Zeit immer weiter an Bedeutung gewonnen. Als „Montagsrunde“ trat dieser kleine Runde vor allem als politische Beratungsinstanz für den Minister-präsidenten in Erscheinung. Solange Grosse-Brockhoff und Kemper in ihren Funktionen gewesen waren, hatten diese Abstimmungsprozesse meist im Rah-men kleiner ad-hoc-Runden zu jeweils wechselnden Terminen stattgefunden. Das änderte sich zum Teil durch die Berufung Benekes und Krautscheids im Sommer 2006. Der „Inner Circle“ tagte fortan als Montagsrunde unter anderem unter Beteiligung des Chefs der Staatskanzlei, des Regierungssprechers, des Planungschefs Boris Berger und Rüttgers‘ Büroleiter Emenet. Weniger die for-male Aufgabenbeschreibung als vielmehr die politisch-administrative Bedeutung für den Ministerpräsidenten stand hier im Zentrum. Dies zeigte sich nicht zuletzt daran, dass anders als Andreas Krautscheid dessen Nachfolger Hans-Dieter Wichter nach einer gewissen Zeit nicht mehr an diesen Treffen teilnahm. Die Marginalisierung des Regierungssprechers drückte sich insofern in der institutio-nellen Struktur aus, als dass er aus diesem Beraterkreis ausgeschlossen wurde. Zugleich agierten die in diesem Gremium vertretenen Personen als individuelle Repräsentanten korporativer Teilakteure der Regierungsformation sowie mit arbeitsteiliger Aufgabenzuweisung (so die Einschätzung Interview Krautscheid: Frage 4). Karsten Beneke repräsentierte als professioneller Verwaltungsakteur die Staatskanzlei insgesamt und agierte ausgleichend und moderierend. Ergänzt wurde er durch den ebenfalls vorrangig entlang administrativer Überlegungen

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360 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

agierenden Axel Emenet, der als Büroleiter des Ministerpräsidenten eine wichti-ge Rolle bei der Terminplanung spielte. Stärker politisch agierte Andreas Kraut-scheid vor seinem persönlichen Erfahrungshintergrund sowie in seiner Rolle als Vernetzungsakteur mit Partei und Fraktion. Boris Berger schließlich kam die Aufgabe zu, mit wenig politischen Berührungsängsten und einer ausgeprägten Konfliktorientierung stärker politisch-strategische Ideen einzubringen.

Während die übrigen etablierten Regelsysteme zwar erhalten blieben und sich trotz des grundsätzlich informellen Charakters durch eine gewisse Formali-sierung auszeichneten, wurden mit dieser kleinen Montagslage im Sinne institu-tioneller Schichtung (Layering) kernexekutive Regelsysteme ergänzt. Allerdings lag dieser Entwicklung weniger intentionales Akteurshandeln zugrunde als viel-mehr eine weitgehend ungesteuerte Institutionenentwicklung vor dem Hinter-grund der herrschenden Rahmenbedingungen.

Damit unterschied sich die Transformationsdynamik deutlich vom intentio-nalen Institutionendesign mit Blick auf das Koalitionsmanagement. Hier war die Staatskanzlei zwar unmittelbar über ihren Chef eingebunden, die zentralen Re-gelsysteme zur koalitionsinternen Abstimmung waren jedoch jenseits der forma-len Institutionen der Regierungsorganisation existierende Kooperationsarrange-ments. 5.2.2 Institutionen des Koalitionsmanagements: Die Institutionalisierung des

dosierten Parteienwettbewerbs Koalitionsmanagement bedeutet vor allem die Absicherung eines dosierten Par-teienwettbewerbs zwischen den eine Regierungsformation bildenden Koalitions-parteien.107 Diese Anforderung ergibt sich aus zwei gegenläufigen Strukturmus-tern, denen Koalitionsregierungen grundsätzlich ausgesetzt sind: Auf der einen Seite ist ein Mindestmaß an Kooperation, Abstimmung und gemeinsamer Hand-lungsfähigkeit unerlässlich für jede Regierungsformation. Auf der anderen Seite besteht der grundsätzliche Wettbewerb zwischen den Regierungspartnern unver-ändert fort. Das Strukturmuster des interparteilichen Wettbewerbs in der Partei-endemokratie ist folglich nicht außer Kraft gesetzt, sondern wird bestenfalls zeitlich befristet moderiert. Denn bei nachfolgenden Wahlen treten die jeweili-gen Regierungspartner wiederum als Konkurrenten um Wählerstimmen gegenei-nander an. Es erfolgt die Rückkehr vom dosierten zum uneingeschränkten Par-teienwettbewerb.

107 Der einleitende Abschnitt ist in weiten Teilen bereits wortgleich erschienen: Florack 2010a:

142-144 u. 165-166.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 361

Um diese Kooperationserfordernisse zu gewährleisten, bedeutet Koaliti-onsmanagement immer auch Institutionalisierung (vgl. Sturm/Kropp 1999b; Kropp 2001b; Rudzio 2005c). Denn es gilt, Abstimmungsmechanismen zu etab-lieren und dauerhafte Formen der regierungsinternen Kooperation zu finden. Die quasivertragliche Vereinbarung des künftigen Regierungsprogramms in Koaliti-onsvereinbarungen und die Einrichtung von und Aufgabenzuweisung an Koaliti-onsausschüsse sind Beispiele für diese auf Kooperation abzielenden Institutiona-lisierungsprozesse. Kurzum: Erst die Institutionalisierung des Koalitionsmana-gements ermöglicht eine auf Kooperation beruhende längerfristige Dosierung des grundsätzlich fortbestehenden Parteienwettbewerbs.

Grundlage dieser Institutionalisierung nach dem Regierungswechsel 2005 in Nordrhein-Westfalen war zunächst die Vereinbarung allgemeiner Interaktions- und Kooperationsregeln. Diese wurden nicht nur, wie oben beschrieben, im Koa-litionsvertrag festgehalten, sondern bereits während der Koalitionsverhandlungen erprobt und eingeübt. Sie hatten sich damit jenseits der Formalisierung im Koali-tionsvertrag schon in der praktischen Anwendung als tauglich für die weitere Zusammenarbeit erwiesen. Mit Blick auf die nachfolgende Analyse der Instituti-onen des Koalitionsmanagements zeichnete sich dabei jedoch keine fundamenta-le Veränderung im Sinne des Displacements ab. Vielmehr spielten mit dem Koa-litionsausschuss und angesichts seiner institutionellen Verknüpfung mit der Staatssekretärskonferenz auf regierungsadministrativer Ebene und dem Kabinett als formalem politischen Führungsgremium die gleichen Institutionen der Kern-exekutive eine zentrale Rolle für die koalitionsinternen Koordinationsprozesse wie schon unter den rot-grünen Regierungsformationen seit 1995 (vgl. Korte et al. 2006). Angesichts der ab 2005 einsetzenden Bedeutungsverschiebungen auf der Ebene der institutionellen Regeln und der veränderten Repräsentationsrolle individueller Akteure im Rahmen dieser bereits bestehenden Regelsysteme zeig-te sich vielmehr eine Dominanz des Transformationsmodus Conversion. Dies galt in besonderer Weise für den Koalitionsausschuss, der sich durch die verän-derte Inkraftsetzung der institutionellen Regeln und der damit verbundenen gra-vierenden Bedeutungsverschiebung zu der kernexekutiven Schlüsselinstitution der neuen Regierungsformation entwickelte. Komplettiert wurde diese den Koa-litionsausschuss betreffende Transformationsdynamik durch den Modus Layering, indem weitere institutionelle Regelsysteme sowie damit verbundene Praktiken und Routinen ergänzt wurden und insofern die Regelstrukturen des Koalitionsmanagements schrittweise verdichteten. Dabei zeigte sich in besonde-rer Weise aktives Institutionendesign von Seiten intentional handelnder Change-Agents. Verstärkt wurde dies durch eine weitgehend von situativen Faktoren beeinflusste Institutionenentwicklung, die das intentionale Akteurshandeln unter-stützte und verstärkte.

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362 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.2.2.1 Der Koalitionsausschuss als „Nervenzentrum“108 der Kernexekutive: Conversion und Layering

Wie beinahe jede Koalitionsregierung formalisierte auch die schwarz-gelbe Re-gierungsformation im Rahmen der Koalitionsverhandlungen 2005 einen Koaliti-onsausschuss. Der Koalitionsvertrag (2005: 63–64) sah ein „paritätisch besetz-te[s]“ Gremium zur „Klärung der als wesentlich erachteten Angelegenheiten“ vor. In dieser allgemeinen Aufgabenzuschreibung unterschied sich der Koaliti-onsvertrag nicht von den Vereinbarungen der rot-grünen Landesregierung aus dem Jahr 2000. Auch dieser wies dem Koalitionsausschuss die Aufgabe zu, alle „Angelegenheiten grundsätzlicher Bedeutung, die zwischen den Koalitionspart-nern abgestimmt werden müssen“, zu beraten.

Allerdings deuteten sich in den darüber hinausgehenden Formulierungen des Koalitionsvertrages von 2005 bereits die Veränderungen einiger institutio-neller Regeln an, welche für die künftige Arbeitsweise dieser Institution bedeut-sam werden sollten: Anders als der rot-grüne Koalitionsvertrag beinhaltete die neue Vereinbarung eine genaue Definition der Teilnehmerschaft sowie den ex-pliziten Hinweis auf seine paritätische Besetzung. Neben dem den Vorsitz füh-renden Ministerpräsidenten wurden sein Stellvertreter, die beiden Fraktionsvor-sitzenden sowie jeweils ein weiteres Regierungsmitglied der beiden Regierungs-parteien als Teilnehmer der Runde benannt. Hinsichtlich des Vorsitzes wichen die Vereinbarungen ebenfalls insofern voneinander ab, als dass Andreas Pinkwart als stellvertretendem Ministerpräsidenten bei einer Verhinderung des Ministerpräsidenten explizit der Vorsitz in diesem Gremium zugewiesen wurde. Auch hinsichtlich des Sitzungsturnus sowie der Entscheidungsfindung zeigten sich Differenzen, die eine institutionelle Bedeutungsverschiebung nahelegten. Während die rot-grüne Vereinbarung das Zusammentreten des Koalitionsaus-schusses von einem entsprechenden Antrag eines der beiden Koalitionspartners abhängig gemacht hatte, sah die Vereinbarung zwischen CDU und FDP zusätz-lich zu diesem Ausnahmefall ein regelmäßiges Zusammentreten in Plenarwo-chen des Landtags vor. Zudem wurde explizit darauf hingewiesen, dass Ent-scheidungen „einstimmig getroffen“ werden sollten (vgl. Koalitionsvertrag 2000: 118; Koalitionsvertrag 2005: 63).

Mit dieser konsensual ausgerichteten Strukturierung des Koalitionsaus-schusses fand der Eindruck einer funktionierenden Dosierung des Parteienwett-bewerbs aus den Koalitionsverhandlungen seine institutionelle Fortsetzung. Bei-de Seiten hatten während der Gespräche immer wieder den harmonischen Ver-lauf der Gespräche betont und sich damit bewusst von den konfliktgeladenen 108 So die Formulierung des FDP-Fraktionsvorsitzenden Gerhard Papke (Interview Papke:

Frage 1).

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 363

Koalitionsgesprächen zwischen SPD und Bündnis90/Die Grünen 1995 und 2000 abgegrenzt. Dies führt zu der von der Medienöffentlichkeit weitgehend geteilten Einschätzung, die Koalitionsverhandlungen seien „reinste Harmonieveranstal-tungen im Gegensatz zu den früheren rot-grünen Koalitionszirkeln“ gewesen (Das Parlament v. 20. Juni 2005).

Diesen Eindruck bestätigten aus einer Innenperspektive auch die zentralen Akteure der Regierungsformation. Insbesondere die Vertreter der FDP verwiesen auf die kooperative Interaktionsorientierung von Seiten der CDU. Andreas Pinkwart hob jenseits der notwendigen parteipolitischen Profilierung das „höher-rangige Ziel des gemeinsamen Regierungshandelns und des fairen Umgangs [von Seiten der CDU] mit dem Koalitionspartner“ hervor. Dies sei insbesondere für Jürgen Rüttgers „sehr bestimmend“ gewesen und habe die Arbeit der gesam-ten Regierungsformation geprägt (Interview Pinkwart: Frage 18). Pinkwarts Sprecher André Zimmermann machte die gute Atmosphäre in den Koalitions-verhandlungen als Ursache für diese kooperative Grundhaltung aus, verwies auf ein schrittweise gewachsenes Vertrauensverhältnis und wertete diese Erfahrung als langfristig wirksam für das weitere Koalitionsmanagement (Florack 2006b: Frage 7).

Beispielhaft zeigte sich diese kooperative Interaktionsorientierung an der CDU-internen Kommunikation des Ministerpräsidenten. Anlässlich der Jahresbi-lanz der Regierungsformation im Mai 2006 verwies Rüttgers in der CDU-Fraktionssitzung explizit darauf, man habe als „Koalition ohne Getöse und Krach“ agiert. Er mahnte zugleich eine Fortsetzung dieses „kooperativen Mitei-nanders“ in der Koalition als ein Erfolgsrezept der bisherigen Regierungsarbeit an (Florack: 16. Mai 2006; vgl. Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2006: 2).

Von FDP-Seite wurden drei zentrale Gründe für die Konsensorientierung der CDU und ihrer Protagonisten identifiziert: Erstens habe Rüttgers angesichts seiner bundespolitischen Erfahrung unter Helmut Kohl in koalitionspolitischer Hinsicht als „Kohlianer“ agiert und mit der FDP in einem betont partnerschaftli-chen Stil zusammengearbeitet (Interview Papke: Frage 9; Florack 2007d; bestä-tigend Interview Krautscheid: Frage 10). Verstärkt worden sei diese Grundhal-tung zweitens durch die gemeinsame und einigende Erfahrung von CDU und FDP, mit Nordrhein-Westfalen „dieses Stammland der Sozialdemokratie jetzt geknackt“ zu haben (Interview Papke: Frage 18). Drittens schließlich wurde auf das Vorhandensein eines tragfähiges Regierungsprogramms verwiesen, welches in ausreichendem Umfang politische Vorhaben für die gesamte Legislaturperiode umfasst und insofern zur langfristigen sachpolitischen Kooperation beigetragen habe (Interview Pinkwart: Frage 21).

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364 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Gleichwohl deutete sich hiermit bereits eine zentrale Erklärung für die be-obachtbaren Institutionalisierungsprozesse ab. Die veränderte Bedeutung institu-tioneller Regeln war maßgeblich auf gezielte Akteursinterventionen zurückzu-führen und insofern dem Bereich des Institutionendesigns zuzuordnen. Spezifi-sche situative Faktoren kamen unterstützend hinzu und verstärkten eine schritt-weise, aber zugleich transformative Institutionenentwicklung des Koalitionsma-nagements, die sich insbesondere am Beispiel des Koalitionsausschusses zeigte. 5.2.2.1.1 Institutionalisierung des dosierten Parteienwettbewerbs 2005: Change-Agents, Institutionendesign und Conversion Maßgebliches Gewicht für die mit den Koalitionsverhandlungen beginnenden Transformationsprozesse des Koalitionsausschusses im Sinne der Conversion kam dem neuen Ministerpräsidenten als intentional handelndem Change-Agent zu. Jürgen Rüttgers betonte, er habe „von Anfang an“ darauf hingewirkt, den Koalitionsausschuss als institutionelles Schlüsselinstrument des Koalitionsmana-gements zu etablieren (nachfolgend Interview Rüttgers: Frage 1). Er verwies dabei explizit auf seinen bundespolitischen Erfahrungshintergrund. Zwei Motive seien für die veränderte Ausgestaltung der institutionellen Regelstruktur maß-geblich gewesen. Zum einen sei es darum gegangen, ein kooperatives Klima durch den persönlichen Austausch zu generieren. Wolle man „Menschen und Gruppen unterschiedlicher Art zusammenbringen“, müsse man dafür sorgen, dass man nicht nur in Krisensituationen, sondern auch im politischen Normalbe-trieb den persönlichen Austausch pflege. Hieraus habe er die Notwendigkeit eines regelmäßigen Sitzungsturnus‘ für den Koalitionsausschuss abgeleitet, den man im Koalitionsvertrag festgeschrieben habe. Zum anderen sei die Konstrukti-on des Koalitionsausschusses auf die künftige Arbeitsweise des Kabinetts zuge-schnitten gewesen. Da das Ziel politisch abgestimmte und vorbereitete Kabi-nettsvorlagen gewesen seien, hätten die entsprechenden Vorarbeiten an anderer Stelle stattfinden müssen.

Aus diesem Zusammenhang ergaben sich nach Einschätzung Rüttgers‘ wie-derum zwei maßgeblich Konsequenzen, die für die veränderte Inkraftsetzung der institutionellen Regeln des Koalitionsausschuss maßgeblich gewesen seien. Zum einen sei das Kabinett für politische Abstimmungsprozesse aufgrund der Zahl seiner Mitglieder zu groß. Zum anderen seien maßgebliche Akteure der Regie-rungsformation dort nicht vertreten gewesen, deren Beteiligung für politische Entscheidungsprozesse jedoch grundsätzlich zentral sei. Dies gelte insbesondere für die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen, deren Beteiligung für die parla-mentarische Unterstützung der zwischen den Koalitionspartnern vereinbarten

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 365

Ziele essentiell sei. Vor diesem Hintergrund sei es bei der Strukturierung der Institutionen des Koalitionsmanagements darum gegangen, einen „Dauerkom-munikationsprozess“ zu ermöglichen, um „Meinungen langsam bilden zu kön-nen“. Nur so sei wiederum auch zu gewährleisten gewesen, dass getroffene Ent-scheidungen „am Schluss durch das Parlament kommen“ konnten (Interview Rüttgers: Frage 1).

Zugleich betonte Rüttgers die besondere Rücksichtnahme auf den kleineren Koalitionspartner: „Der Obersatz war immer, darauf zu achten, dass jeder Koali-tionspartner sich bei diesen Prozessen wiedergefunden hat“ (Interview Rüttgers: Frage 6). Diese Prämisse erwies sich dabei sowohl als politisches Erfahrungs-wissen als auch als bewusste Abgrenzungsstrategie von anderen Koalitionsfor-maten. Die institutionelle Regelgestaltung und -anwendung habe im Sinne wei-tergehender Institutioneneffekte dazu geführt, dass das persönliche Vertrauens-verhältnis insbesondere zu Andreas Pinkwart gewissermaßen nur noch als zu-sätzlicher Vorteil fungiert habe. Zwar sei das sehr kooperative Klima mit seinem liberalen Pendant hilfreich gewesen. Aber der Transformationsprozess des Koali-tionsausschusses sei darauf ausgerichtet gewesen, stabile kooperative Interakti-onsorientierungen der Regierungspartner über eine strukturierte Institutionalisie-rung gegenüber der Abhängigkeit von individuellen Interaktionsorientierungen abzusichern (Interview Rüttgers: Frage 7).

Weitere Schlüsselakteure von CDU-Seite bestätigten die Intentionalität des damit eingeleiteten Konversionsprozesses (vgl. nachfolgend auch Interview Emenet: Frage 14; Interview Berger: Frage 10). Der CDU-Fraktionsvorsitzende Helmut Stahl sah die Aufwertung des Koalitionsausschusses als praktisches Resultat der Einschätzung, das Kabinett eigne sich nicht als Ort der politischen Konsenssuche. Rüttgers und er hätten eine „Phantasie von Regierungskunst“ geteilt, diese Funktion der Entscheidungsvorbereitung vor allem dem Koalitions-ausschuss zuzuweisen. Hier habe im vor der Öffentlichkeit geschützten Rahmen die Möglichkeit bestanden, sowohl Verfahren als auch inhaltliche Vorhaben zu besprechen. Es habe gewissermaßen zwingend des Aufbaus informeller Struktu-ren des Koalitionsmanagements bedurft, um „die Geschäftsordnung einer Regie-rung nicht zum Bremshebel werden zu lassen für notwendige Entscheidungsfin-dungen“ (Interview Stahl: Frage 1). Zugleich betonte Jürgen Rüttgers, der Koali-tionsausschuss sei seiner Ansicht nach „nicht informell“ gewesen. Mit den insti-tutionellen Regeln des regelmäßigen Sitzungsturnus, des festen Teilnehmerkrei-ses und der Existenz einer vorab festgelegten Tagesordnung sowie der entspre-chenden Einbindung der Staatskanzlei als administrativer Schaltstelle sei zu-gleich eine deutliche Formalisierungsdynamik des Koalitionsausschusses ver-bunden gewesen (Interview Rüttgers: Frage 5).

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Genau wie Jürgen Rüttgers verwies auch Helmut Stahl auf die intendierten Nebenfolgen der institutionellen Gestaltungsimpulse. Jenseits der institutionellen Absicherung der Kooperationsorientierung sei es darum gegangen, eine kon-struktive „Diskussionskultur“ anzubahnen. Die vereinbarte Regelmäßigkeit der Zusammenkünfte des Koalitionsausschusses habe dazu geführt, dass es durchaus Termine mit wenig konkretem Gesprächsbedarf gegeben habe. Diese Treffen hätten aber gezielt dazu gedient, „sich sozusagen im Gespräch miteinander zu halten und auch eine Atmosphäre zu erzeugen, wo nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden musste“. Insofern war die „Regelmäßigkeit eine be-wusst angelegte, nicht unbedingt von Notwendigkeiten diktierte, sondern auch als ein Teil politischer Kultur, organisierte Veranstaltung" (Interview Stahl: Frage 2). Das Ergebnis dieser akteursinduzierten Transformation war eine Neu-interpretation des Koalitionsausschusses als „wichtiges Instrument der politi-schen Steuerung“, welches „nicht als Eskalationsgremium, sondern als normales Beratungsgremium in die Abläufe“ integriert war (Interview Emenet: Frage 14). Insofern fungierte der Koalitionsausschuss von Beginn an „auch als atmosphäri-sches Frühwarnsystem innerhalb der Koalition“, welches nicht rein „kriseninterventionistisch“ gedeutet werden konnte (Interview Zimmermann: Frage 1).

Als Ausgangspunkt dieses Transformationsprozesses machte Andreas Pink-wart den Verlauf der Koalitionsgespräche aus (nachfolgend Interview Pinkwart: Frage 1). Insbesondere die „vergleichsweise kleine Zusammensetzung der Ver-handlungsgruppe“ mit politischem Entscheidungsmandat habe als Vorläufer für den mit sechs Personen personell eng begrenzten Koalitionsausschuss fungiert. Zwar habe es während der Koalitionsverhandlungen weitere inhaltliche Zuarbeit durch die Arbeitsgruppen gegeben, aber alleine die jeweils kleine Führungs-mannschaft beider Parteien habe „ein sehr großes, ausgeprägtes Verhandlungs-mandat und auch ein sehr abschließendes Verhandlungsmandat“ besessen. Ange-sichts der Fortschreibung durch den Koalitionsausschuss habe dieser über eine „hohe Autorität und Verhandlungsmacht“ verfügt, die „auch über die ganzen fünf Jahre von den Fraktionen und auch den Parteien nicht in Frage gestellt wor-den“ sei.

In der Gesamtschau deutete sich damit ein Zusammenspiel von institutio-nellen Regeln auf der einen und spezifischen Akteurscharakteristika auf der anderen Seite an. Zum einen waren Change-Agents in besonderer Weise für die Ausgestaltung der institutionellen Regelstrukturen und ihre Anwendung verant-wortlich. Hinzu kam die ausgeprägte Repräsentationsfunktion dieser individuel-len für dahinter stehende korporative Akteure, ohne deren weitgehende Akzep-tanz innerhalb der gesamten Regierungsformation die Konstruktion des Koaliti-onsausschusses langfristig hinterfragt worden wäre. Diese machtverteilende

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Komponente stellt zugleich das Bindeglied zwischen Akteuren und den instituti-onellen Regelsystemen des Koalitionsmanagements dar. Denn auf der anderen Seite entwickelten sich die Institutionen des Koalitionsmanagements nicht allei-ne entlang intentionaler Akteursinterventionen weiter, sondern entfalteten im Sinne ungesteuerter Institutionenentwicklung ein von Pfadabhängigkeiten ge-prägtes Eigenleben. Zugleich war die spezifische Anwendung institutioneller Regeln wiederum an die handelnden Akteure gebunden. Trotz der analytischen Trennung in der Darstellung sind folglich die beiden nachfolgenden Unterkapitel zu Akteuren und institutionellen Regeln des Koalitionsmanagements unmittelbar miteinander verbunden. 5.2.2.1.2 Individuelle Akteure als Repräsentanten und Akteurskoalitionen Hinsichtlich der Zusammensetzung des Koalitionsausschusses zeigten sich in besonderer Weise die Rolle individueller Akteuren als Repräsentanten korporati-ver Teilakteure der Regierungsformation, der machtverteilende Effekt dieser Schlüsselinstitution des Koalitionsmanagements und der Regierungsformation insgesamt, die Bedeutung von Akteurskoalitionen, intentionales Akteurshandeln als Auslöser institutioneller Transformationsprozesse und die Rückwirkungen weitgehend ungesteuerter Institutionenentwicklung auf die Akteursstruktur. a) Begrenzte Teilnehmerschaft im Koalitionsausschuss: Machtverteilender Charakter und Repräsentationslogik Anders als unter der rot-grünen Vorgängerregierung wurde die Mitgliedschaft des Koalitionsausschusses mit sechs Akteuren eng begrenzt und über einen ent-sprechenden Passus im Koalitionsvertrag formalisiert. Dies führte nach Ein-schätzung eines Mitgliedes dieses Gremiums dazu, dass dort die „wirklich füh-renden Entscheidungsträger der Koalition“ versammelt waren. Zugleich ent-sprach diese personelle Begrenzung der bereits von Andreas Pinkwart themati-sierten „hohen Autorität und Verhandlungsmacht“ dieser Runde auf der Grund-lage einer „starken Bindungswirkung“ und der „hohen Führungsorientierung“, die sich während der Koalitionsverhandlungen ergeben hatten (Interview Pinkwart: Frage 1). Dabei war die Mitgliedschaft im Koalitionsausschuss „im-mer durch die Funktion definiert“ und nicht an die Person gebunden (so Inter-view Zimmermann: Frage 3; übereinstimmend Interview Rüttgers: Frage 1; In-terview Pinkwart: Frage 1). So schied mit dem Wechsel im Amt des Chefs der

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Staatskanzlei Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff im Sommer 2006 aus dem Koali-tionsausschuss aus und Karsten Beneke trat qua Amt seine Nachfolge an.

In der Kombination dieser Aspekte zeigte sich sowohl der machtverteilende Charakter dieser institutionellen Regelstruktur als auch die spezifische Repräsentantenrolle der individuellen Akteure für korporative Teilakteure der Regierungsformation. Die Beschränkung auf sechs Mitglieder folgte dabei zum einen einer praktischen Funktionalitätslogik (hierzu Interview Stahl: Frage 10). Anders als unter der Vorgängerregierung erschien nur bei einer solchen Größen-ordnung die Entscheidungsfähigkeit des Gremiums gewährleistet zu sein. Eine personelle Ausweitung hätte nach Einschätzung aller Beteiligten negative Kon-sequenzen für die Entscheidungs- und Beratungskapazitäten des Koalitionsaus-schusses gehabt.

Zum anderen ergaben sich angesichts dieser personellen Beschränkung be-sondere Anforderungen an die Mitglieder. Sie alle repräsentierten als individuel-le Akteure zentrale Teilakteure der Regierungsformation insgesamt (Interview Rüttgers: Frage 1; Interview Zimmermann: Frage 3). Jürgen Rüttgers und And-reas Pinkwart agierten dabei in einer institutionellen Doppelrolle. Auf der einen Seite fungierten sie als Ministerpräsident und dessen Stellvertreter als Repräsen-tanten der Regierung im engeren Sinne. Hinzu kam bei beiden die Rolle als Par-teivorsitzender und damit eine ergänzende Vertretungsmacht für diese wichtigen korporativen Akteure der Regierungsformation. Helmut Stahl und Gerhard Pap-ke wiederum vertraten als Fraktionsvorsitzende die beiden Mehrheitsfraktionen und damit die parlamentarische Arena. Ingo Wolf als Kabinettsmitglied und vor allem der Chef der Staatskanzlei schließlich repräsentierten die exekutive Arena. Dabei kam dem Chef der Staatskanzlei als einem „dem allgemeinen Regierungs-handeln verpflichteten Vertreter“ (Interview Pinkwart: Frage 1) vor allem eine politisch-administrative Rolle innerhalb des Koalitionsausschusses zu. In Ab-grenzung von Rüttgers und Pinkwart vertrat er gewissermaßen das administrative Regierungshandwerk jenseits der Formulierung politischer Vorgaben. Mit Ingo Wolf wiederum wurde der vormalige FDP-Spitzenkandidat bei der Landtags-wahl gesichtswahrend in die neu formierte Schlüsselinstitution der Regierungs-formation eingebunden, nachdem durch den 2005 vollzogenen Wechsel Pinkwarts von Berlin nach Düsseldorf Wolfs landespolitische Position deutlich geschwächt worden war. Auch als Signal einer künftigen Augenhöhe der beiden Koalitionspartner waren damit beide Kabinettsvertreter der FDP Mitglieder des Koalitionsausschusses. Wenngleich Wolf als Innenminister zugleich ein wichti-ges landespolitisches Ressort bekleidete, wurde er von Seiten der FDP vor allem in den Kreis des Koalitionsausschusses aufgenommen, um die paritätische Zu-sammensetzung sicherzustellen. Allerdings zeigte sich im Zeitverlauf und ange-

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sichts der inkrementellen institutionellen Transformationsdynamik des Koaliti-onsausschusses sein deutlich schwindender politischer Einfluss.

Trotz der grundsätzlich alle Mitglieder des Koalitionsausschusses gleicher-maßen betreffenden Repräsentationslogik zeigten sich doch zum Teil gravieren-de Unterschiede in der Ausgestaltung dieser Repräsentantenrolle sowie darauf aufbauend unterschiedliche Akteurskoalitionen, die sich auf die weitere Trans-formationsdynamik des Koalitionsausschusses auswirkten. Vor allem der macht-verteilende Charakter des Koalitionsausschusses als institutionelles Regelsystem lässt sich insoweit deutlich herausarbeiten.

Unangefochten als zentrale Repräsentanten der beiden Koalitionspartner agierten Jürgen Rüttgers und Andreas Pinkwart. Bereits während der Koalitions-verhandlungen hatten sich beide als die die wichtigsten ‚Säulen der Koalition‘ (Interview Zimmermann: Frage 8) herauskristallisiert. Als Landesvorsitzende von CDU und FDP brachten sie eine formal abgesicherte Machtposition in die Regierungsformation ein, die sie als politisches Kapital gewissermaßen unmit-telbar in die Arbeit des Koalitionsausschusses transferieren konnten.

Jürgen Rüttgers avancierte nicht zuletzt angesichts des Wahlsieges 2005 zur innerparteilich unangefochtenen Führungsperson. Nach Einschätzung Helmut Stahls stellte sich damit auch die Frage nach einer institutionalisierten Einbin-dung der CDU in die Arbeit des Koalitionsausschusses nicht. Rüttgers spielte als Ministerpräsident und Parteivorsitzender „eine wesentliche Rolle in seinem Lan-desverband“. Seine individuelle Repräsentationsfunktion für die CDU als korpo-rativen Akteur sah Stahl entsprechend unangefochten. Insofern fand auch keine parteiinterne Vorbereitung des Koalitionsausschusses auf Seiten der CDU statt. Vielmehr verlief die notwendige Rückkopplung im Rahmen der üblichen Sitzun-gen des Landesvorstandes und des geschäftsführenden Landesvorstandes der CDU, ohne zugleich die Handlungsfähigkeit des Ministerpräsidenten durch for-male Beschlussfassungen zu beschränken (Interview Stahl: Frage 5; ähnlich Interview Papke: Frage 13). Rüttgers verfügte damit über weitgehend uneinge-schränkte Parteimacht, die er in den Koalitionsausschuss einbringen konnte. Die herausgehobene Stellung des Regierungschefs unter den landespolitischen Rah-menbedingungen der „Ministerpräsidentendemokratie“ (Korte et al. 2006) erwies sich dabei als zusätzliche Machtressource.

Dies galt in ähnlicher Weise für Andreas Pinkwart. Ebenfalls als „einer der zentralen Anker in der neuen Regierung“ (KStA v. 20. Mai 2006) repräsentierte Pinkwart die FDP als korporativen Akteur innerhalb des Koalitionsausschusses. Anders als die Wahlkampfauseinandersetzung mit der personellen Fokussierung auf den liberalen Spitzenkandidaten Ingo Wolf vermuten ließ, hatte vor allem Andreas Pinkwart in den Koalitionsverhandlungen eine dominante Rolle auf Seiten des kleineren Koalitionspartners gespielt. Gerhard Papke, mit dem

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Pinkwart ein durchaus nicht spannungsfreies Verhältnis während der gesamten Legislaturperiode und auch darüber hinaus verband, war erst nach der Landtags-wahl im Rahmen einer Kampfabstimmung in die Funktion des Fraktionsvorsit-zenden aufgestiegen und konnte daher noch keine entsprechend wichtige Rolle während der Koalitionsverhandlungen spielen. Aber auch der FDP-Fraktions-vorsitzende zog die prinzipielle Führungsrolle Pinkwarts nicht in Zweifel, son-dern bezeichnete ihn rückblickend als „[u]nsere Nummer eins in der Regierung“ (Interview Papke: Frage 15). Ähnlich wie bei der CDU fand auch bei der FDP die parteiinterne Abstimmung mit Blick auf den Koalitionsausschuss lediglich innerhalb des routinemäßig tagenden Landesvorstandes statt. Allerdings handelte es sich auch hier nicht um formalisierte Abstimmungsroutinen, sondern besten-falls informelle Beratungen ohne politisch bindenden Charakter für Pinkwart.

Als Vertreter der parlamentarischen Arena der Regierungsformation inner-halb des Koalitionsausschusses agierten Helmut Stahl und Gerhard Papke. Aus Sicht Jürgen Rüttgers‘ war es vor allem ihre Aufgabe, die Beratungen im Koali-tionsausschuss auf geeignete Weise mit den beiden Regierungsfraktionen rück zu koppeln (Interview Rüttgers: Frage 8) und über die direkte Einbeziehung der parlamentarischen Arena die Durchsetzung im Koalitionsausschuss getroffener Entscheidungen zu gewährleisten. Als Repräsentant der regierungstragenden Fraktionen betonte Helmut Stahl die mit seinem formalen Amt verbundene in-formelle Vermittlungsleistung (nachfolgend Interview Stahl: Frage 7). Dabei unterschied er zwischen seiner sachpolitischen Vorbereitung für die Beratungen im Koalitionsausschuss einerseits und der politisch-strategischen Vorbereitung andererseits. Während hinsichtlich der sachpolitischen Einstimmung häufig der direkte Kontakt zu den Ressorts oder in die Staatskanzlei hinein notwendig ge-wesen sei, habe die machtpolitische Repräsentationsaufgabe vor allem darin bestanden, in die CDU-Fraktion hineinzuhorchen. Hier sei von entscheidender Bedeutung für seine Repräsentationsfunktion gewesen, „dass man reingehört hat, wer sich wie positioniert in der eigenen Fraktion“. Er habe auf diesem Weg si-cherstellen müssen, „dass ich nicht in Verabredungen, in Vorabklärungen gehe, von denen ich nicht sicher bin, dass ich die am Ende auch in meiner Fraktion durchgesetzt bekomme“ (Interview Stahl: Frage 7). Die Aufgabe der Fraktions-chefs habe dabei vor allem in einer permanenten Vermittlungstätigkeit bestan-den, um die Fraktionen in einem „stufigen Verfahren“ in Einklang miteinander zu bringen (Interview Stahl: Frage 8). Bei den fraktionsinternen Beratungen des Landeshaushaltes 2006 zeigte sich diese keineswegs dem Modus der hierarchi-schen Steuerung folgende Vermittlungsleistung beispielhaft. Gewissermaßen als wechselseitiger Transformationsriemen zwischen Fraktion und Regierungsfor-mation verwies Stahl dabei auf seine Impulse innerhalb des Koalitionsausschus-ses, Änderungswünsche aus der Fraktion aufzunehmen. Zugleich brachte Stahl in

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der Fraktion zum Ausdruck, dass im Koalitionsausschuss getroffenen Vereinba-rungen dann wiederum für alle Seiten bindend seien und er insofern als Frakti-onschef auch entsprechende Rückendeckung der Fraktion für die Verhandlungs-ergebnisse brauche (vgl. Florack: 25. April 2006; Florack: 9. Mai 2006).

In der Funktionsbeschreibung der eigenen Aufgabe unterschied sich die Darstellung Gerhard Papkes hiervon nur in Nuancen. Auch Papke betonte die Notwendigkeit einer ständigen Rückkopplung mit seiner Fraktion, um der Rep-räsentationsrolle innerhalb des Koalitionsausschusses gerecht zu werden. Diese sei daran gebunden gewesen, dass es eine ausreichend „homogene Fraktionshal-tung“ gegeben habe und „die Fraktionen nicht ständig auf den Barrikaden“ stan-den. Insofern habe er seine zentrale Aufgabe für den Koalitionsausschuss in entsprechenden fraktionsinternen Rückkopplungsprozessen gesehen, um so einen „organischen Abstimmungsprozess“ innerhalb der Koalition zu ermöglichen. Als Repräsentant der parlamentarischen Arena habe er wiederum im Rahmen eines „sternförmigen Informationsflusses“ die im Koalitionsausschuss getroffene Ent-scheidungen in die Fraktion hinein vertreten müssen (Interview Papke: Frage 5). Die Funktionalität dieses institutionellen Arrangements habe zur langfristigen Stabilisierung des Koalitionsausschusses als Schlüsselinstitution des Koalitions-managements maßgeblich beigetragen (Interview Papke: Frage 14).

Anders jedoch als bei Rüttgers und Pinkwart blieb die individuelle Repräsentantenrolle der beiden Fraktionsvorsitzenden nicht vollkommen unan-gefochten. Die graduellen Repräsentationsdefizite hatten jedoch unterschiedliche Ursachen. In der Beschreibung seiner eigenen Rolle betonte Helmut Stahl, er habe seine zentrale Aufgabe darin gesehen, „der Regierung den Rücken freizu-halten. Nicht bedingungslos freizuhalten, sondern freizuhalten im Sinne der Erfüllung eines Koalitionsvertrages“ (Interview Stahl: Frage 14). Von Seiten der CDU-Fraktion wurde Stahl nicht zuletzt deswegen der Vorwurf gemacht, die Fraktion nicht in ausreichendem Maße als eigenständigen Akteur innerhalb der Regierungsformation sichtbar gemacht zu haben. Angesichts seines engen Ver-trauensverhältnisses zu Jürgen Rüttgers und der damit verbundenen Loyalität habe Stahl, so der Vorwurf, „den Verdacht genährt, [er] verstehe die Fraktion als ‚Wurmforts der Staatskanzlei‘“ (Goebels 2006a: 5). In der CDU-Fraktion ent-stand damit zumindest ansatzweise der Eindruck, Stahl sei sowohl gegenüber dem Koalitionspartner als auch gegenüber der Exekutive zu nachgiebig gewesen (Interview Krautscheid: Frage 14). Allerdings führte Stahl selber hierfür struktu-relle Defizite an, da die größte Regierungsfraktion immer deutlich hinter dem Ministerpräsidenten und der Exekutive zurückstehe (Interview Stahl: Frage 14). Andreas Krautscheid stützte dies mit seiner Beschreibung eines dauerhaften Spannungsverhältnisses zwischen der Loyalität Stahls zum Ministerpräsidenten einerseits und den Erwartungshaltungen einer großen und heterogenen Regie-

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rungsfraktion andererseits (Interview Krautscheid: Frage 14). Gerhard Papke wiederum sah angesichts dieser Rahmenbedingungen die „Autorität auf Seiten der CDU vollständig beim Ministerpräsidenten“ (Interview Papke: Frage 6).

Allerdings war auch Papkes Rolle als individueller Repräsentant der FDP-Fraktion im Koalitionsausschuss keineswegs unangefochten, was sich hinsicht-lich der Entwicklung der institutionellen Regelstruktur langfristig auswirken sollte. Allerdings speiste sich dieses Repräsentationsdefizit weniger aus dem Vorwurf zu großer Nachgiebigkeit gegenüber der CDU, sondern vielmehr aus einem latenten Konflikt innerhalb der FDP sowie dem nicht spannungsfreien Verhältnis Papkes zu den Spitzenakteuren der CDU. Parteiinterne Spannungen ergaben sich zum einen entlang von Policy-Positionen (insbesondere in der Schul- und Haushaltspolitik), zum anderen angesichts eines unterschiedlichen politischen Stils. Während Papke oftmals als konfliktaffiner „Antreiber“ und „Anheizer“ innerhalb der Koalition agierte, erwies sich Pinkwart häufig als mo-derierender „Schlichter“ (vgl. Lamprecht 2007b; Schilder 2005: 2; Tutt 2006g: 8; Wiedemann 2007a). Angesichts des bereits während der Koalitionsverhandlun-gen entwickelten Vertrauensverhältnisses Pinkwarts zu Rüttgers avancierte der FDP-Parteichef damit schrittweise zum bevorzugten Ansprechpartner für die CDU-Akteure (Florack 2006b: Frage 7), während Gerhard Papke angesichts seiner geringer ausgeprägten Kooperationsorientierung von Seiten der CDU zunehmend als problematischer Partner angesehen wurde. Dies führte im Koali-tionsausschuss zur veränderten Anwendung institutioneller Regeln im Zeitver-lauf, wodurch die Repräsentantenrolle Papkes zumindest in Zweifel gezogen wurde. Zugleich bildeten sich über die Parteigrenzen hinweg Akteurskoalitionen, die wiederum die herausgehobene Rolle Rüttgers und Pinkwarts im Koalitions-ausschuss weiter stärkten und damit zu einer machtverschiebenden Wirkung dieses Regelsystems beitrugen.

Weitgehend bedeutungslos als potentieller individueller Repräsentant eines korporativen Teilakteurs erwies sich im langfristigen Zeitverlauf Ingo Wolf. Für das Koalitionsmanagement spielte er nahezu keine Rolle und wurde mit Blick auf den Koalitionsausschuss von keinem anderen Akteur in diesem Zusammen-hang als relevanter Akteur genannt. Als Verfassungsressort war das Innenminis-terium zwar in zahlreiche Policy-Entscheidungen unmittelbar eingebunden, aber über die Ressortaufgabe im engeren Sinne hinaus spielte Wolf im Koalitionsaus-schuss keine bedeutende Rolle. Seine Repräsentationsfunktion beschränkte sich insofern weitgehend darauf, die Parität zwischen CDU und FDP und damit das koalitionspolitische Prinzip der Augenhöhe in personeller Hinsicht zu wahren.

Solange Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff Chef der Staatskanzlei gewesen war, hatte auch er im Koalitionsausschuss nur eine nachgeordnete Rolle gespielt. Das änderte sich mit der Berufung Karsten Benekes, der fortan vor allem als

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individueller Repräsentant der Staatskanzlei als der formalen politisch-administrativen Kernexekutivinstitution agierte. Mit dieser Funktion war weni-ger eine steuernde politische Aufgabenbeschreibung verbunden als vielmehr eine administrative Unterstützungsleistung für das Koalitionsmanagement. Ange-sichts der formalen Sekretariatsfunktion der Staatskanzlei hinsichtlich aller Ka-binettsangelegenheiten und der engen Verknüpfung des faktischen Entschei-dungsgremiums Koalitionsausschuss mit den formalen Entscheidungsgremien Kabinett und Staatssekretärskonferenz kam Beneke eine Schnittstellenfunktion im Koalitionsausschuss zu. Die Vorbereitung des Koalitionsausschusses und die Zusammenstellung der Tagesordnung erfolgt durch ihn in Rücksprache mit den anderen Mitgliedern des Gremiums. Auch diente er für beide Seiten als An-sprechpartner, der im Sinne eines „ehrlichen Maklers“ zwischen CDU und FDP vermittelte und so auch manche Angelegenheit durch seine Vermittlungsleistung aus dem Koalitionsausschuss heraushalten konnte (hierzu Interview Beneke: Frage 10; Interview Emenet: Frage 14; Wiedemann 2007d). Angesichts dieser Sonderrolle war er dem in der übrigen Akteurskonstellation angelegten Dualis-mus der beiden Regierungsparteien in gewisser Weise entzogen und spielte als individueller Repräsentant der administrativen Arena eine Sonderrolle im Koali-tionsausschuss. Insofern besaß er zwar für die Bildung von Akteurskoalitionen und hinsichtlich der machtverteilenden Wirkungen des Koalitionsausschusses ebenfalls nachgeordnete Bedeutung. Allerdings erwies sich Beneke als einfluss-reich hinsichtlich der Anwendung institutioneller Regeln, aus denen sich die institutionelle Konversionsdynamik des Koalitionsausschusses maßgeblich speis-te. b) Akteurskoalitionen, Repräsentationsdefizite und Institutionenentwicklung Innerhalb des Koalitionsausschusses entwickelte sich eine unausgesprochene Akteurskoalition zwischen Jürgen Rüttgers und Andreas Pinkwart, die angesichts ihrer individuellen Repräsentantenrolle über die persönliche Kooperationsorien-tierung hinaus institutionelle Folgen hatte. Auf die Frage nach der Klärung poli-tischer Grundsatzfragen zwischen Staatskanzlei und Innovationsministerium und damit auch zwischen den Koalitionspartnern antwortete Jürgen Rüttgers rückbli-ckend, das habe er mit Andreas Pinkwart „meist direkt gemacht“ (Interview Rüttgers: Frage 14). Auch Pinkwart erklärte, „das Vertrauensverhältnis und auch natürlich die Erfahrung, dass man eben auch durch ein gewisses Verfahren der Abstimmung erfolgreich war“, sei zentral für seine Abstimmung mit dem Minis-terpräsidenten gewesen. Dies habe zugleich „viel Ruhe und viel Stabilität in die Reihen“ gebracht (Interview Pinkwart: Frage 20). Aus einer nahen Beobachter-

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perspektive bestätigte Andreas Krautscheid diese Darstellung und bezeichnete Pinkwart für die FDP als „die deutlich dominierende Figur“ und „Erfolgsgarant für die Regierung“. Die enge persönliche Kooperation sei dabei von Rüttgers besonders gepflegt worden, der Pinkwart vor dem Hintergrund seiner politischen Erfahrungen mit Koalitionsformaten immer „sehr ernst und ehrlich behandelt“ habe. Diese deutliche Kooperationsorientierung habe dazu geführt, dass Rüttgers „oft eher von den CDU-Leuten angegangen worden“ sei, weil er aus ihrer Sicht zu viel Rücksicht auf den kleineren Koalitionspartner genommen habe. Aller-dings sei die Führungsrolle beider Akteure unangefochten gewesen: „[W]enn die zwei wussten, was sie wollten, hat da keiner mehr gezuckt“ (Interview Kraut-scheid: Frage 8).

Im Zeitverlauf vertiefte sich nicht nur die individuelle Kooperationsorientie-rung beider Spitzenakteure, sondern zeitigte diese Entwicklung auch institutio-nelle Folgen. Angesichts der von beiden individuellen Akteuren repräsentierten korporativen Teilakteure der Regierungsformation verschob sich die Machtarchi-tektur innerhalb des Koalitionsausschusses zugunsten der beiden Parteiführun-gen. Dabei zeigte sich ein produktives Wechselspiel zwischen den sich verfesti-genden Kooperationsorientierung einerseits und den damit verbundenen Funk-tionalitätszuwächsen des Koalitionsausschusses: Je besser der Koalitionsaus-schuss seiner Koordinations- und Steuerungsfunktion nachkam, umso wichtiger wurden Rüttgers und Pinkwart für die Regierungsformation. Zugleich entwickel-te sich daraus für beide ein Anreiz, die Kooperation fortzusetzen, weil damit wiederum ein Einflussgewinn innerhalb der von ihnen vertretenden korporativen Teilakteure verbunden war. Beide stärkten so ihre unangefochtene Führungsrolle innerhalb der beiden Regierungsparteien und damit schließlich im letzten Schritt ihre Repräsentationsfunktion. Im Sinne eines sich wechselseitig verstärkenden Effektes führte die Arbeit des Koalitionsausschusses damit zu einer inkrementel-len Verfestigung der bereits zu Beginn angelegten Einflussarchitektur.

Unterstützt wurde dieser Prozess der machtverschiebenden Institutionenent-wicklung durch das Fehlen einer entsprechenden Dynamik zwischen den Reprä-sentanten der Regierungsfraktionen im Koalitionsausschuss. Helmut Stahl und Gerhard Papke fanden nie zu einem ähnlich kooperativen Miteinander und bilde-ten keine entsprechend funktionsfähige Akteurskoalition. Bereits wenige Monate nach dem Regierungswechsel erschien das Verhältnis der beiden Fraktionsvor-sitzenden Beobachtern aus der Regierungsformation weitgehend zerrüttet (Florack 2007d). Anfängliche Versuche, bei einem wöchentlichen Frühstück Positionen abzustimmen, wurde vergleichsweise schnell wieder eingestellt und das interfraktionelle Koalitionsmanagement zwischen den Fraktionsspitzen überwiegend in den Koalitionsausschuss verlagert. Helmut Stahl selbst machte hierfür nicht zuletzt den unterschiedlichen politischen Stil beider Akteure ver-

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antwortlich. Während er in Konfliktsituationen eher einer gewesen sei, „der dann so ein Stück auf Austausch“ gegangen sei, habe Papke aus jeder Streitfrage „dann so eine spitze Frage“ gemacht (Interview Stahl: Frage 13).

Angesichts dieses Spannungsverhältnisses verstärkte sich zum einen der Eindruck, vor allem Rüttgers und Pinkwart agierten als Garanten eines funktio-nierenden Koalitionsmanagements. Zum anderen schwächte die Nichtexistenz einer Akteurskoalition zwischen Papke und Stahl die Repräsentantenrolle der beiden für die Fraktionen als korporative Teilakteure der Regierungsformation. Während Papke sich zu Beginn der Legislaturperiode in einer Kampfabstim-mung den Fraktionsvorsitz gesichert hatte und bereits beim Abstimmungsverhal-ten eine gewisse Lagerbildung innerhalb der FDP-Fraktion offensichtlich gewor-den war, geriet Stahl innerhalb der CDU-Fraktion ob seiner mutmaßlichen Nachgiebigkeit gegenüber der FDP zeitweise in die Defensive. Zugleich blieb die Autorität Rüttgers innerhalb der CDU davon unbeeindruckt. Dies zeigte sich beispielhaft am Verlauf der CDU-Fraktionssitzungen. Wenn der Terminkalender es nicht unmöglich machte, besuchte Jürgen Rüttgers die wöchentliche Sitzung dienstagsvormittags. Wenngleich Stahl zum Einstieg üblicherweise seine Sicht der politischen Lage schilderte, schaltete sich Rüttgers oft direkt in die nachfol-gende Diskussion ein. Den Koalitionspartner betreffende kritische Diskussionen wurden so häufig durch Rüttgers persönliche Intervention beendet. Nahm der Ministerpräsident jedoch nicht an den Fraktionssitzungen teil, wurden diese Diskussionen länger geführt und mehrten sich durchaus kritische Stimmen, die von Helmut Stahl weniger leicht diszipliniert werden konnten (z.B. Florack: 25. Oktober 2005; Florack: 14. Februar 2006). Zugleich verhinderte die sich im Zeitverlauf vertiefende Akteurskoalition zwischen Rüttgers und Pinkwart den Transfer dieser Diskussionen in den Koalitionsausschuss. Denn dort dominierte die kooperative Interaktionsorientierung der beiden Parteivorsitzenden.

Zugleich wirkte sich diese Akteurskonstellation unmittelbar auf das institu-tionelle Regelwerk des Koalitionsausschusses aus. Angesichts der fehlenden parteiinternen Vorabstimmung wurde im Koalitionsausschuss mit offenem Visier verhandelt. Potentielle Versuche insbesondere Gerhard Papkes, hier durchaus auch von Andreas Pinkwart abweichende Position zu platzieren, wurden meist durch die Akteurskoalition von Rüttgers und Pinkwart verhindert. Es etablierte sich gewissermaßen ein „Spiel über Bande“, bei dem der wechselseitige Verweis auf die Positionierung des Koalitionspartners auch dazu diente, eigene innerpar-teiliche Positionen zu festigen und entsprechende Verhandlungspositionen auf-zubauen.109 Angesichts der in manchen Policy-Feldern uneinheitlichen Positio-nierung der FDP-Fraktion konnte Gerhard Papke auch nicht immer als unange- 109 Mehr zu dieser Auswirkung der institutionellen Regeln des Koalitionsausschusses im nachfol-

genden Unterkapitel.

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fochtener Repräsentant dieses korporativen Akteurs agieren. Dieses beispiels-weise in der Haushaltspolitik vorhandene Repräsenationsdefizit konnte von Pinkwart genutzt werden, um seinerseits im Koalitionsausschuss ihm wichtige Positionen mit Verweise auf den CDU-Koalitionspartner durchzusetzen (vgl. Goebels 2008). Folglich entfaltete auch diese institutionell angelegte Verhand-lungsstruktur machtverteilende Konsequenzen.

Die durch den Koalitionsausschuss institutionell abgesicherte Machtarchi-tektur wirkte sich schließlich auch mit Blick auf die Entwicklung der Teilneh-merstruktur im Zeitverlauf aus. Die Festlegung auf den eng begrenzten Teilneh-merkreis von jeweils drei Vertretern der beiden Regierungsparteien im Rahmen der Koalitionsvereinbarung wurde angesichts der sich immer weiter verstärken-den Steuerungsfunktion des Koalitionsausschusses für die Regierungsformation von anderen Akteuren der Regierungsformation hinterfragt. So führte der Wech-sel im Amt des CDU-Generalsekretärs von Hans-Joachim Reck zu Henrik Wüst im September 2006 zu einem Versuch Wüsts, die bisherige Teilnehmerstruktur des Koalitionsausschusses in Frage zu stellen. Ein entsprechender Abstim-mungsversuch mit seinem FDP-Pendant Christian Lindner mit dem Ziel, auch die Generalsekretäre künftig am Koalitionsausschuss zu beteiligen, verlief aber im Sande. Helmut Stahl bestätigte wiederholten, wenngleich erfolglosen Druck anderer Akteure, die auf eine personelle Erweiterung des Koalitionsausschusses drängten. Dieser Impuls habe von den Generalsekretären bis hin zum Finanzmi-nister gereicht und habe sich mit der wachsenden Bedeutung des Koalitionsaus-schusses verstärkt (Interview Stahl: Frage 3).

Bezeichnenderweise erklärten sowohl Jürgen Rüttgers als auch Andreas Pinkwart rückblickend, einen solchen Druck zur personellen Ausweitung des Koalitionsausschusses nicht wahrgenommen zu haben (Interview Rüttgers: Frage 3; Interview Pinkwart: Frage 2). Erneut zeigte sich hier die einflussstarke Koali-tion dieser beiden Akteure. Die Gründe für die personelle Stabilität des Koaliti-onsausschusses lagen dabei sowohl im intentionalen Akteurshandeln als auch in Nebeneffekten der inkrementellen Institutionenentwicklung des Koalitionsaus-schusses begründet.

Andreas Pinkwart erklärte, eine personelle Erweiterung sei „auf beiden Sei-ten nicht gewollt gewesen, ohne, dass wir darüber gesprochen hätten“. Es sei aber deutlich erkennbar gewesen, „dass keine der beiden Seiten das im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der guten Zusammenarbeit für sinnvoll erach-tet“ habe (Interview Pinkwart: Frage 2). Auch Jürgen Rüttgers erklärte, das the-menbezogene Hinzuziehen einzelner Ressortminister sei ausreichend für die Sicherung der Funktionalität des Koalitionsausschusses gewesen (Interview

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 377

Rüttgers: Frage 3110). Angesichts der einflussreichen Akteurskoalition Rüttgers und Pinkwarts war die intentionale Verhinderung personeller Veränderungen zentral für die institutionelle Stabilisierung des Koalitionsausschusses in diesem Aspekt. Verstärkt wurde dies jedoch durch die uneingeschränkte Repräsentanten-rolle der beiden. So waren die beiden Regierungsparteien als korporative Akteu-re durch ihre Vorsitzenden so ausreichend im Koalitionsausschuss repräsentiert, dass dieses Repräsentationsmonopol durch die Generalsekretäre nicht aufgebro-chen werden konnte. Die individuelle Positionierung Rüttgers und Pinkwarts in Verbindung mit der Akteurskoalitionsbildung hatten einen dauerhaft stabilisie-renden Effekt für die einmal etablierte Machtarchitektur, die sich institutionell in der Mitgliederstruktur des Koalitionsausschusses manifestierte. Ebenfalls unter-stützend wirkte das von niemandem hinterfragte Funktionalitätsargument, wel-ches die kleine Zahl der Mitglieder des Koalitionsausschusses als essentiell für seine Aufgabenwahrnehmung bezeichnete (z.B. Interview Stahl: Frage 3). Ent-sprechend erklärte ein Protagonist der Regierungsformation, von der Initiative Wüsts „nie wieder etwas gehört“ zu haben, „weil nach meiner Überzeugung der Ministerpräsident sofort den Daumen drauf gehalten hat. Der hatte kein Interesse daran, das Gremium zu erweitern. Und das war eben auch eine Voraussetzung für den Erfolg. (…) Das hat eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens generiert (…) und ich glaube, das war auch eine Besonderheit unserer Regie-rungszusammenarbeit, die ganz wesentlich war für diese sehr reibungslose gute Zusammenarbeit“. 5.2.2.1.3 Institutionelle Regeln und ihre Anwendung: Conversion und Layering Die Transformation des Koalitionsausschuss entlang des Modus Conversion hatte sich mit der Vereinbarung veränderter institutioneller Regeln im Koaliti-onsvertrag bereits angedeutet. Diese Transformationsdynamik fand angesichts der konkreten Regelanwendung in den folgenden Monaten ihre Fortsetzung. Dabei spielte intentionales Institutionendesign eine ebenso große Rolle wie die weitgehend ungesteuerte Institutionenentwicklung angesichts vorherrschender Rahmenbedingungen. Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, wirkte sich ins-besondere die Akteurskonstellation innerhalb der Regierungsformation auf die weitere institutionelle Entwicklung des Koalitionsausschusses aus.

Während wichtige Elemente der künftigen Regelstruktur bereits im Koaliti-onsvertrag angelegt waren, so kamen doch in der Folgezeit ergänzende Praktiken und Routinen hinzu, die sich in Folge ihrer wiederholten Anwendung immer

110 Mehr zu dieser Praxis im nachfolgenden Unterkapitel.

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mehr zu einer dauerhaft gültigen institutionellen Struktur verdichteten. Dabei waren die zentralen Entwicklungstrends bereits wenige Monate nach dem Regie-rungswechsel klar erkennbar (nachfolgend Florack 2006f: Frage 1): Die Termi-nierung des Koalitionsausschusses bestimmte den politischen Wochenablauf, indem alle Entscheidungsgremien zeitlich darauf abgestimmt waren und der Koalitionsausschuss von allen Entscheidungsakteuren als wichtigster Termin der Woche wahrgenommen wurde. Die eng gefasste Teilnehmerschaft ohne Vertre-tungsmöglichkeit führt zu einer fast immer gesicherten Präsenz aller Mitglieder. Angesichts der Rolle als zentraler Entscheidungsinstanz der Regierungsformati-on wäre ein Fernbleiben einer politischen Selbstentmachtung gleichgekommen. Der wöchentliche Rhythmus der Zusammenkunft hatte sich etabliert und die Vertraulichkeit des Koalitionsausschusses schien nicht zuletzt angesichts des kleinen Teilnehmerkreises gewährleistet. Nichtsdestotrotz wurden zu einzelnen Beratungsgegenständen weitere Ressortminister hinzugebeten, soweit aus sachli-chen oder politischen Gründen eine Beteiligung unerlässlich erschien.

In der Außenwahrnehmung fand diese Konstruktion auch schon nach nur einem Amtsjahr entsprechenden Niederschlag. Der Koalitionsausschuss war zum Synonym für die neue Landesregierung geworden: „Diese sechs Männer sind die eigentliche Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie besprechen und entscheiden alles, was wichtig ist“ (Wiedemann 2006a). Gleichwohl zeigten sich unterschiedlich schnell verlaufende Entwicklungsdynamiken, die wiederum auf unterschiedliche Ursachen und Einflussfaktoren zurückzuführen waren. Diese stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Darstellung. a) Paritätische Besetzung und politische Augenhöhe „Dass sich beide Parteien auf Augenhöhe begegnen, ist sogar durch den gemein-samen Koalitionsausschuss institutionalisiert. In dem Gremium herrscht Kräfte-gleichheit“ (Heims 2006b). Ausgangspunkt für die Institutionalisierung dieser Regel war intentionales Handeln von Seiten des Ministerpräsidenten. Jürgen Rüttgers führte als Begründung seine politische Erfahrung ins Feld: „[W]enn Sie eine Koalition erfolgreich führen wollen, und davon bin ich fest überzeugt, brau-chen Sie gleiche Augenhöhe“ (Interview Rüttgers: Frage 3). In Verbindung der Gleichberechtigung beider Regierungsparteien mit der engen Teilnehmerbegren-zung auf insgesamt sechs Akteure wurde dieses Funktionsargument noch unter-mauert.

Durch die adäquate Anwendung in der wöchentlichen Praxis wurde diese institutionelle Regel der „Koalitionspartner auf Augenhöhe“ (so Interview Zim-mermann: Frage 13) langfristig stabilisiert. Sowohl gegenüber der eigenen Frak-

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tion als auch gegenüber dem Koalitionspartner bestanden Rüttgers und auch Helmut Stahl auf der Einhaltung dieses Prinzips. Das führte dazu, dass im Koali-tionsausschuss bei deutlich entgegengesetzten inhaltlichen Positionen der Koali-tionspartner der Ministerpräsident explizit auf das Prinzip der Augenhöhe zwi-schen CDU und FDP verwies und im Falle eines fehlenden Konsenses der FDP trotz des gravierenden Größenunterschieds der Regierungsfraktionen eine end-gültige Vetoposition einräumte. Entscheidungen fielen nur im beiderseitigen Einvernehmen. Allerdings wurde die Etablierung und schrittweise Stabilisierung dieser institutionellen Regel durch die spezifischen Kontextfaktoren unterstützt. Andreas Pinkwart wies darauf hin, dass das im Koalitionsvertrag vereinbarte sachpolitische Regierungsprogramm aus seiner Sicht „über die gesamte Periode“ der Regierungszeit getragen habe und insofern die Zahl der Streitpunkte gerade zu Beginn der Regierungszeit begrenzt gewesen sei. Angesichts des weitgehen-den Fehlens exogener Schocks habe dies auch verhindert, dass die beiden Regie-rungsparteien innerhalb der Legislaturperiode in eine sehr starke „Selbstprofilie-rungsnotwendigkeit“ geraten seien, was wiederum beinahe automatisch zu Kon-flikten geführt hätte (Interview Pinkwart: Frage 21). Eine längerfristige Dosie-rung des Parteienwettbewerbs war folglich nicht nur auf die Institutionalisierung des Koalitionsausschusses, sondern auch auf die konsensuale Vereinbarung der Sachprogramme beider Regierungsparteien zurückzuführen. Die Folge war eine Stabilisierung dieser institutionellen Regel im Zeitverlauf und damit auch ein entsprechender Stabilisierungseffekt für den Koalitionsausschuss insgesamt. b) Wöchentlicher Sitzungsturnus und ergänzende Terminierung Die Vereinbarung eines regelmäßigen Sitzungsturnus war auf das Motiv einer bewussten Abgrenzung von den rot-grünen Vorgängerregierungen in Nordrhein-Westfalen und im Bund zurückzuführen. Beide Koalitionspartner verbanden damit die „Absicht, dieses Instrument gar nicht erst kriseninterventionistisch deuten zu können von außen“. Der Koalitionsausschuss wurde damit von Beginn an ein „reguläres, turnusmäßiges, einmal in der Woche stattfindendes Gremium“ (Interview Zimmermann: Frage 1). Allerdings zeigte sich in der Praxis eine klei-ne, aber dennoch wirksame Abweichung von der im Koalitionsvertrag festgehal-tenen Vereinbarung. Sprach dieser noch von einer regelmäßigen Zusammenkunft „in Plenarwochen des nordrhein-westfälischen Landtags“ (2005b: 63), so wurde daraus schnell ein wöchentlicher Sitzungsturnus, der nur in den Parlamentsferien ausgesetzt wurde. Diese weitergehende Institutionalisierung ergab sich folglich als Ergebnis der über die eigentlich formalisierte Regel hinausgehenden Regel-anwendung durch die handelnden Akteure entlang des Modus Conversion (Inter-

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view Papke: Frage 1; vgl. beispielhaft Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006a: 1; Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006c: 1–3; Büro des Minis-terpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006a: 1; Büro des Ministerpräsi-denten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006c: 1–2; Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006e: 1).111 Langfristige Konsequenz war die Funktion des Koalitionsausschusses als „atmosphärisches Frühwarnsystem in-nerhalb der Koalition“ (Interview Zimmermann: Frage 1). Die regelmäßigen Zusammenkünfte wirkten vertrauensbildend und eröffneten neben der Verabre-dung gemeinsamer Sprachregelungen auch die Möglichkeit, „vorangekündigte Empörung zu verabreden“ (Interview Krautscheid: Frage 9), ohne damit gleich eine Koalitionskrise auszulösen. Zudem „senkte der wöchentliche Austausch die Streitneigung“ (Interview Berger: Frage 10) und wirkte damit gewissermaßen als institutionalisierte „Beißhemmung“ gegenüber dem Koalitionspartner. Die re-gelmäßigen Zusammenkünfte stärkten insofern langfristig die für die Dosierung des Koalitionsmanagements notwendige Kooperationsorientierung der Akteure. Den stabilisierenden Effekt dieser institutionellen Regel für das Koalitionsmana-gement betonte Andreas Pinkwart noch wenige Monate vor der Landtagswahl 2010 und hob damit die mit dem Koalitionsausschuss verbundenen Institutionali-sierungseffekte für das Koalitionsmanagement insgesamt hervor (Lamprecht 2010).

Ungeachtet dieses wöchentlichen Rhythmus bestand darüber hinaus die Möglichkeit beider Koalitionspartner, weitere außerordentliche Sitzungen des Koalitionsausschusses zu erwirken. Spielte diese Option zu Beginn der Legisla-turperiode noch eine untergeordnete Rolle, so zeigte sich im Verlauf der folgen-den Monate eine Zunahme dieser ergänzenden Termine. Trotz der prinzipiell fortbestehenden Dosierung des Parteienwettbewerbs deutete sich insofern ein steigendes Konfliktniveau an.112 Allerdings gelang es aus Sicht der Akteure im-mer, im Koalitionsausschuss eine Konfliktlösung herbeizuführen, wenngleich in manchen Fällen die Lösung auch nur darin bestand, fortbestehende Differenzen der Koalitionspartner festzustellen und insofern politisches Nichthandeln zu verabreden. Diese „Clearings“ zum „Positiven oder Negativen“ funktionierten nach Darstellung Karsten Benekes (Interview Beneke: Frage 11) über die gesam-te Dauer der Legislaturperiode, der rückblickend erklärte: „Ich kann mich nicht an einen Fall erinnern, wo die Koalitionsrunde als Clearingstelle versagt hätte.“ 111 Auffallend ist, dass alleine Gerhard Papke auf eine entsprechend veränderte Regelanwendung

in der Praxis verwies, während die meisten übrigen Teilnehmer des Koalitionsausschusses rückblickend erklärten, dieser wöchentliche Rhythmus sei von Beginn an intendiert gewesen (vgl. Interview Papke: Frage 1; Interview Zimmermann: Frage 1). Dies zeigt, die schnell diese bestehende institutionelle Regel verändert in Kraft gesetzt wurde.

112 Vgl. zur Illustration dieser Dynamik die im nachfolgenden Unterkapitel dargestellten Beispiele für die Befassung des Koalitionsausschusses.

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c) Beratungsgegenstände, Vorbereitung des Koalitionsausschusses und die Koordination mit den formalen Entscheidungsgremien Die institutionellen Regeln zur Bestimmung der Beratungsgegenstände im Koali-tionsausschuss wurden nicht weitergehend formalisiert, sondern ergaben sich als Folge der institutionellen Praxis. Dabei kristallisierten sich funktionale Kriterien heraus, die für die Befassung des Koalitionsausschusses ausschlaggebend waren. Helmut Stahl hob dabei die Konflikthaftigkeit der Beratungsgegenstände als vorrangig hervor (Interview Stahl: Frage 6). Hierbei unterschied er zwischen sachpolitischen Differenzen auf der einen und vermeintlich ‚unbedeutenden Fragen‘, deren atmosphärischen oder öffentlichkeitswirksamen Begleiterschei-nungen für die Regierungsformation aber dennoch bedeutsam waren. Andreas Pinkwart wiederum betonte, dass trotz dieser Konflikthaftigkeit eine institutio-nelle Regel des Koalitionsausschusses darin bestanden habe, nur solche Fragen zu beraten, über deren Diskussion grundsätzlich Einvernehmen zwischen FDP und CDU erzielt worden sei. „Es gab keine überraschenden Punkte, die verhan-delt wurden“, (Interview Pinkwart: Frage 3).

Von zentraler Bedeutung hinsichtlich des Koalitionsausschusses erwies sich zudem seine institutionelle Einbettung in „Kaskaden“ (Interview Pinkwart: Frage 5) der koalitionsinternen Abstimmung. So stand trotz des zentralen Entschei-dungscharakters dieses Gremiums der Koalitionsausschuss bei Konfliktfällen meist erst am Ende eines koalitionsinternen Abstimmungsprozesses. Nach Ein-schätzung Pinkwarts konnten durch vorgelagerte informelle und formale Ab-stimmungsprozesse etwa 80 Prozent der streitigen Themen ohne Beteiligung des Koalitionsausschusses ausgeräumt werden. Hierfür habe es die üblichen „Gegen-stromverfahren“ von bottom-up- und top-down-Koordination gegeben. Dies habe wiederum dazu geführt, dass die Agenda des Koalitionsausschusses im Normalfall „eine relativ schlanke Tagesordnung“ gewesen sei, die selten mehr als drei Punkte umfasst habe, „aber das waren dann auch relevante Punkte“. Dazu hätten sowohl längerfristig vorzubereitende Gesetzgebungsverfahren ge-hört als auch Themen, die mittelfristig als „drängende Punkte für die Landespoli-tik“ angegangen werden mussten (Interview Pinkwart: Frage 5).

Eine veränderte Inkraftsetzung etablierter Regeln bestand jedoch darin, nicht nur im normalen Abstimmungsprozess konfliktär gestellte Gegenstände in den Koalitionsausschuss als Schlichtungsstelle weiterzuleiten. Vielmehr stand bei zentralen Gesetzgebungsvorhaben der Koalitionsausschuss durchaus auch am Beginn der „Kaskaden“ der regierungsinternen Abstimmung. So wurden bei-spielsweise die Eckpunkte zum neuen Schulgesetz und zum „Hochschulfrei-heitsgesetz“ 2005 im Koalitionsausschuss vorbereitet und damit potentielle Streitpunkte schon vor ihrer Entstehung im Koalitionsausschuss entschärft. In

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beiden Fällen wurden die Beratungen des Koalitionsausschusses anschließend durch einen entsprechenden Eckpunktebeschluss des Kabinetts formalisiert, bevor die weitere Ausarbeitung des Regierungsentwurfes folgte (Florack 2011a; Korte et al. 2006: 367–373; auch Interview Papke: Frage 3; Florack 2006k: Fra-ge 6; Florack 2007a). Zentral war zugleich die terminliche Bindung des Koaliti-onsausschusses an das Kabinett als formales Beschlussfassungsorgan. Die Grundregel lautete, den Koalitionsausschuss immer zwingend vor der Kabinetts-sitzung stattfinden zu lassen, um dort gegebenenfalls noch bestehende Gegensät-ze ausräumen zu können oder sie bei Nichteinigung von der Tagesordnung des Kabinetts zu nehmen.

Die institutionelle Regel für die Befassung des Koalitionsausschusses laute-te nach Einschätzung Jürgen Rüttgers‘: „Es konnte jeder alles anmelden“ (Inter-view Rüttgers: Frage 4). Nach Darstellung Boris Bergers ergaben sich aber etwa 80 Prozent der Tagesordnungspunkte beinahe automatisch aus der Kabinettspla-nung, parlamentarischen Abläufen, weiteren Terminen sowie aus im Koalitions-vertrag formulierten Gesetzgebungsvorhaben. Die verbleibenden 20 Prozent folgten aus der aktuellen Medienberichterstattung oder es handelte sich um sons-tige „Aufregerthemen“ (Interview Berger: Frage 12). Diese von beiden Koaliti-onspartnern angemeldeten Punkte wurden meist zwischen Rüttgers und Pinkwart direkt oder zwischen dem Chef der Staatskanzlei und Pinkwart abgestimmt (so auch Interview Beneke: Frage 12). Hierin drückte sich erneut die dominante Akteursrolle Rüttgers‘ und Pinkwarts sowie ihr weitgehendes Repräsentations-monopol für CDU und FDP mit Blick auf den Koalitionsausschuss aus.

In administrativ-organisatorischer Hinsicht war der Chef der Staatskanzlei für die Vorbereitung des Koalitionsausschusses verantwortlich. Dazu gehörten insbesondere die wöchentliche Einladung sowie die Zusammenstellung der Ta-gesordnung. „Der Chef der Staatskanzlei hatte die organisatorische Verantwor-tung", aber die politische Vorbereitung erfolgte in permanenter Rückkopplung mit Andreas Pinkwart als Vertreter der FDP (Interview Pinkwart: Frage 6; Inter-view Emenet: Frage 18; Interview Papke: Frage 2). Die konsensuale Bestim-mung der Tagesordnung galt dabei nach Aussage Andreas Pinkwarts in beide Richtungen: „[W]enn wir gewisse Punkte nicht drauf haben wollten, dann wur-den die auch nicht behandelt. Und wenn wir Punkte angemeldet hatten und sie auf der anderen Seite jetzt nicht diskussionsfähig waren, dann wurde um Verta-gung gebeten oder sie wurden eben auch nicht behandelt. Das heißt, wir haben gemeinsam die Tagesordnung abgestimmt“ (Interview Pinkwart: Frage 6).

Der Chef der Staatskanzlei agierte zwar insofern im Koalitionsausschuss als individueller Repräsentant der Regierungsadministration allgemein und der Staatskanzlei im Besonderen. Gleichwohl folgte aus dieser Repräsentation keine weitergehend formalisierte Einbindung der Staatskanzlei in die Vor- oder Nach-

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bereitung des Koalitionsausschusses. Formal betrachtet war hierfür vor allem die verfassungsrechtlich gebotene Trennung von Partei- und Regierungsaufgaben verantwortlich. Gleichwohl stellte sich dieses rechtliche Gebot regierungsprak-tisch als Fiktion dar. Angesichts der zentralen Rolle des Koalitionsausschusses für das Entscheidungssystem der Kernexekutive musste eine Rückkopplung zwischen Koalitionsausschuss sowie den anderen Institutionen der Kernexekuti-ve stattfinden. Das Verbindungsglied bildeten einmal mehr die am Koalitions-ausschuss beteiligten Akteure als Repräsentanten der zentralen korporativen Teilakteure der Regierungsformation. Ein entsprechender Transfer der Entschei-dungen des Koalitionsausschusses wurde alleine über die sechs Mitglieder orga-nisiert. Maßgeblich verantwortlich für diesen akteursbezogenen Mechanismus war die den Koalitionsausschuss prägende institutionelle Regel der Vertraulich-keit. d) Vertraulichkeit und individuelles Repräsentationsprinzip „Also ich sage nichts zum Inneren des Koalitionsausschusses (…). [I]n der Fra-ge, wie lief es im Koalitionsausschuss, fühle ich mich den übrigen Mitgliedern zu einer besonderen Vertraulichkeit verbunden“, erklärte Karsten Beneke selbst knapp zwei Jahre nach dem Regierungswechsel von 2010 (Interview Beneke: Frage 10). Diese Selbstbeschränkung speiste sich aus zwei Quellen. Zum einen brachte Beneke damit zum Ausdruck, dass er seine Funktion im Koalitionsaus-schuss weniger parteipolitisch, sondern vielmehr als die eines politisch-administrativen Zuarbeiters aufgefasst hatte. Wenngleich er als Vertreter des Regierungspartners CDU am Koalitionsausschuss teilgenommen hatte, deutete er damit seine Rolle als Grenzstellenakteur zwischen den Koalitionspartnern an. Zum anderen wirkte die Vertraulichkeitsregel des Koalitionsausschusses lang-fristig nach, was die Bedeutung dieser durch die wiederholte Praxis eingespielten Regel für die Arbeit des Koalitionsausschusses unterstrich.

Diese Vertraulichkeit war nach Ansicht Gerhard Papkes institutionell ge-wissermaßen durch die Regel des wöchentlichen Sitzungsturnus des Koalitions-ausschusses abgesichert. Um die Verschwiegenheit zu sichern, durften die „Sit-zungen eines solchen Gremiums nicht an die große Glocke gehängt werden“. Insofern habe es sich als Vorteil erwiesen, „dass wir gewissermaßen in einer Normalität und damit Anonymität getagt haben, dass vielen zur Regierungszeit die Singularität dieses Gremiums gar nicht so ins Bewusstsein gedrungen ist“ (Interview Papke: Frage 5). Hinzu kam die enge Teilnehmerbegrenzung, welche die Vertraulichkeitsregel angesichts ihrer persönlichen Bindungswirkung eben-falls stärkte.

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Jürgen Rüttgers betonte die Intentionalität dieser institutionellen Regel bei der Etablierung des Koalitionsausschusses. Man habe von Beginn an dort die offene Aussprache gesucht und sich darauf verlassen, „dass es nachher nicht in der Zeitung steht“. Zielsetzung sei die Möglichkeit einer schrittweisen Mei-nungsbildung und Entscheidungsfindung zwischen den Koalitionspartnern gewe-sen, ohne zugleich „immer Geschäftchen wegen der Öffentlichkeit“ machen zu müssen. Dieser Grundsatz habe sich fünf Jahre bewährt (Interview Rüttgers: Frage 2).

Die langfristige Verfestigung und Geltung dieser Regel bestätigten auch alle anderen Beteiligten. Zudem wies André Zimmermann auf die damit verbunde-nen Konsequenzen für die weitere regierungsinterne Kommunikation hin: „Wir wussten im Ministerium nicht, was im Koalitionsausschuss Thema gewesen war. Es herrschte absolute Vertraulichkeit“ (Interview Zimmermann: Frage 2). Zu-gleich führte diese institutionelle Struktur angesichts der Verkopplung mit der Repräsentationsfunktion der am Koalitionsausschuss beteiligten Akteure nicht zu Koordinations- oder Abstimmungsproblemen. Denn „alle wichtigen Akteure in den Schlüsselpositionen waren durch den Koalitionsausschuss frühzeitig infor-miert und haben, wenn sie im Koalitionsausschuss nicht intervenierten, es im Prinzip auch gebilligt“ (Interview Zimmermann: Frage 2). Für das weitere Ent-scheidungssystem der Regierungsformation waren die Nebenfolgen also unprob-lematisch (so auch Interview Stahl: Frage 8; Interview Beneke: Frage 11). e) Themenbezogenes Hinzuziehen einzelner Fachminister und Funktionswandel des Koalitionsausschusses Gleichwohl reichte in manchen Fällen die Repräsentantenfunktion der regulären Mitglieder des Koalitionsausschusses nicht aus. Im Sinne eines differentiellen Wachstums durch Schichtung neuer institutioneller Regeln (Layering) fand da-her die ergänzende institutionelle Regel Anwendung, bei bestimmten Sachver-halten die jeweils zuständigen Fachminister zu den Konsultationen im Koaliti-onsausschuss hinzuzuziehen. Jürgen Rüttgers führte zur Begründung sowohl fachliche Notwendigkeiten als auch die Funktionalität im Sinne der weiteren Prozesssteuerung an. So seien beispielsweise Haushaltsberatungen im Koaliti-onsausschuss ohne den Finanzminister sowohl sachlich als auch politisch nahezu unmöglich gewesen (Interview Rüttgers: Frage 3; auch Interview Stahl: Frage 4). Hinzu kam die unmittelbare Beteiligung im Falle eines sachlich begründeten Konflikts zwischen den Koalitionspartnern (vgl. (Interview Berger: Frage 11); (Interview Papke: Frage 4).

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Gleichwohl betonte Andreas Pinkwart den Ausnahmecharakter dieses insti-tutionellen Arrangements. Die personelle Ausweitung sei auf einzelne Sachfra-gen und die dann jeweils zuständigen Fachminister beschränkt geblieben und man habe zu keiner Zeit etwa Fachsprecher der Fraktionen oder Parteivertreter hinzugebeten. Wurde damit zwar der enge Verhandlungskreis zu einzelnen Ta-gesordnungspunkten ausgeweitet und war hiermit eine begrenzte Abweichung von der ansonsten dominanten Repräsentationslogik verbunden, so änderte das aus Pinkwarts Sicht nichts an der „starken Bindungswirkung“ und „Führungs-orientiertheit der Verhandlungen“ im Koalitionsausschuss. Die zentrale Überset-zungsfunktion der Akteure mit Blick auf die von ihnen vertretenden korporativen Teilakteure der Regierungsformation sei damit nicht unterminiert worden und insofern habe auch die „hohe Autorität und Verhandlungsmacht“ des Koalitions-ausschusses Bestand gehabt (Interview Pinkwart: Frage 1).

Es zeigten sich in der Folge durchaus unterschiedliche Auswirkungen dieses institutionellen Layerings hinsichtlich der Funktionsweise des Koalitionsaus-schusses. Auf der einen Seite betonte Gerhard Papke die disziplinierende Wir-kung dieses institutionellen Arrangements für die Regierungsformation im Falle koalitionsinterner Konflikte, „denn der Auftritt in der Koalitionsrunde war mit beträchtlichen Unwägbarkeiten für die vortragenden Minister verbunden“. Ange-sichts des zentralen Entscheidungscharakters habe dieser disziplinierende Effekt dazu geführt, dass Konfliktlösungen durchaus im Vorfeld mit dem jeweiligen Koalitionspartner gesucht und nicht dem Entscheidungsregime des Koalitions-ausschusses unterworfen worden seien (Interview Papke: Frage 4). Allerdings erscheint diese Wahrnehmung Papkes stark von der Perspektive des kleineren Koalitionspartners sowie der durchaus vorhandenen Konfliktorientierung des FDP-Fraktionschefs gegenüber dem größeren Koalitionspartner geprägt. Denn auf der anderen Seite folgte aus diesem institutionellen Layering gewissermaßen auch ein positiver Anreiz für die Fachminister. Denn mit der Beteiligung am Koalitionsausschuss stieg auch die Wahrnehmung der eigenen Wichtigkeit in-nerhalb der Regierungsformation (so Interview Berger: Frage 11). Das Hinzu-ziehen in die Beratungen bedeutete insofern auch einen politischen Bedeutungs-zuwachs und damit eine indirekte, aber gleichwohl machtverteilende Wirkung des Koalitionsausschusses.

Schließlich eröffnete die sich daraus ergebende institutionelle Dynamik im Zeitverlauf auch eine gegenüber der Grundkonzeption veränderte Funktionswei-se des Koalitionsausschusses. War dieser ursprünglich auf die Dosierung des Parteienwettbewerbs zwischen CDU und FDP und die entsprechende Institutio-nalisierung dieser interparteilichen Kooperationsstrukturen ausgelegt, kamen schrittweise weitere Praktiken eines weniger parteipolitisch geprägten „Über-Bande-Spielens“ hinzu. Die Vertraulichkeit der Beratungen, der wöchentliche

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Sitzungsturnus, die begrenzte Teilnehmerschaft sowie die starke Repräsen-tantenrolle insbesondere Rüttgers‘ und Pinkwarts führten dazu, dass weder auf Seiten der CDU noch auf Seiten der FDP institutionalisierte Vorbesprechungen des Koalitionsausschusses stattfanden (übereinstimmend Interview Pinkwart: Frage 7; Interview Papke: Frage 7; Interview Stahl: Frage 5). Zum einen stimm-ten die Vertreter beider Koalitionspartner grundsätzlich darin überein, dass der offene Austausch ohne Vorfestlegungen einer Seite häufig dem Bemühen ge-schuldet war, „wertsteigernde Konsense“ und „einen gemeinsamen, möglicher-weise dritten Weg zu finden, der vielleicht noch besser war als der in den Aus-gangsformulierungen der jeweiligen Programme angelegte[e]“ (so Interview Pinkwart: Frage 7). Auf der anderen Seite eröffnete genau diese Offenheit aber auch ein Spiel über Bande, um in der jeweils eigenen Partei Interessen gegen Widerstände durchzusetzen oder eigene Positionen mit Blick auf den Koalitions-partner ohne Gesichtsverluste räumen zu können. Eine dritte Möglichkeit be-stand darin, die konsensuale Vertagung einzelner Punkte mit weiteren erforderli-chen Abstimmungsprozessen in den eigenen Parteien zu begründen. Diese ver-änderte Dynamik des Koalitionsausschusses ging dabei auf unterschiedliche Akteurskoalitionen zurück, die durchaus die Parteigrenzen überwanden.

Dementsprechend führte beispielsweise Gerhard Papke an, es habe auf-grund der starken Führungsrolle Rüttgers‘ in der CDU und der weitgehend an Rüttgers orientierten Positionierung von CDU-Fraktionschef Stahl Initiativen von CDU-Landtagsabgeordneten gegeben, auf dem Umweg über die FDP-Vertreter bestimmte Fragen zu Beratungsgegenständen im Koalitionsausschuss zu machen. Hiervon habe man sich auf CDU-Seite versprochen, „das man damit leichter durchdringen könnte, als wenn man das über die eigene Fraktionsfüh-rung“ gemacht hätte (Interview Papke: Frage 12). Der Koalitionsausschuss sollte folglich genutzt werden, um das Repräsentationsmonopol der darin vertreten Akteure zu umgehen.

In anderen Fällen diente der Koalitionsausschuss nach Einschätzung André Zimmermanns gewissermaßen als institutionalisierter Vorwand, um „gewisse Dinge in der eigenen Partei durchzusetzen, die dort eigentlich höchst umstritten“ waren (Interview Zimmermann: Frage 5). Eine nach Parteien getrennte Vorklä-rung wäre dann kontraproduktiv gewesen, hätte diese doch parteiinterne Konflik-te offen zutage treten lassen und jeden Verhandlungsspielraum im Koalitionsaus-schuss genommen. Die konsensualen Verfahrensregeln des Koalitionsausschus-ses hätten stattdessen die Möglichkeit eröffnet, über Bande zu spielen, „indem die eigene Position im Prinzip durch den Koalitionspartner eingefordert wurde“ und man dann entsprechend in der eigenen Partei mit Verweis auf den Koaliti-onspartner eine entsprechend veränderte Positionierung begründen konnte. Die-ses Vorgehen hätten sowohl Rüttgers als auch Pinkwart praktiziert (Interview

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Zimmermann: Frage 5). Sie nutzen damit ihre Repräsentantenrolle indirekt auch zur innerparteilichen Stärkung ihrer jeweiligen Position und verwiesen damit implizit auf die machtverteilende Dynamik der institutionellen Regelungsstruktu-ren.

Zudem zeigten sich der institutionelle Effekt von Akteurskoalitionen im Allgemeinen und die implizite Akteurskoalition zwischen Rüttgers und Pinkwart im Besonderen. So nutze Pinkwart anlässlich einer parteiinternen Auseinander-setzung mit Gerhard Papke zur weiteren Ausgestaltung der Haushaltspolitik das Spiel über Bande mit dem Koalitionspartner, um die eigene Position mit Hilfe der CDU durchzusetzen und insofern Papke in die Schranken zu verweisen (Goebels 2008). Angesichts dieser machtverteilenden Effekte des Koalitionsaus-schusses ergaben sich in der Gesamtschau unterschiedliche Funktionen dieses Institutionensystems, die sich entlang einzelner Anwendungsbeispiele illustrieren lassen. 5.2.2.1.4 Funktionen des Koalitionsausschusses und Anwendungsbeispiele Trotz des nach außen vermittelten Routinecharakters des Koalitionsausschusses wurde die schrittweise, aber transformative Conversion des Koalitionsausschus-ses zum zentralen Steuerungs- und Koordinationsgremium des Koalitionsmana-gements und der Regierungsformation insgesamt auch medial wahrgenommen. Angesichts der konkreten Regelanwendung verfestigte sich schon vergleichswei-se früh der Eindruck, dass „alle wichtigen Entscheidungen im sechsköpfigen Koalitionsausschuss vorbesprochen“ wurden und das Kabinett diese Entschei-dungen nur noch formal nachvollzog (Heims 2006a). „Wirklich entschieden und damit regiert wird unter Jürgen Rüttgers (…) nämlich im Koalitionsausschuss.“ Das sei zwar nicht grundsätzlich ungewöhnlich, aber „nirgendwo prägt er das Regierungshandeln so wie in Düsseldorf: Alle wichtigen Projekte der Koalition werden hier (…) verabredet, wenn nötig bis hin zu den Details" (Wiedemann 2006a; auch Wiedemann 2008). Aus dieser Beschreibung wurde die Bewertung abgeleitet, der Koalitionsausschuss habe sich zu einem „Nebenministerium des Kabinetts“ (Frigelj 2007b) und zum wichtigsten „Macht- und Einschwörungszir-kel“ (Frigelj 2007a) der Regierungsformation entwickelt.

Die Innenwahrnehmung korrespondierte weitgehend mit dieser Außenper-spektive. Gerhard Papke beschrieb den Koalitionsausschuss rückblickend als „Nukleus und im Grunde genommen Nervenzentrum der gesamten Koalitions- und Regierungsarbeit“ (Interview Papke: Frage 1). Auch FDP-Generalsekretär Christian Lindner sah hier die Institution, welche die zentralen Leitlinien vorgab, damit als zentrales Instrument des Koalitionsmanagements fungierte und inso-

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fern als letztentscheidendes Zentrum der regierungsformationsinternen Konsens-findung diente (Florack 2007d). Karsten Beneke betonte den Charakter als „Clearingstelle“ für die formalen Entscheidungsgremien (Interview Beneke: Frage 11). Auf der politischen Arbeitsebene setzte sich diese Wahrnehmung des Koalitionsausschusses ungebrochen fort. Vertreter beider Regierungsparteien bestätigten: „Entscheidungen fallen im Koalitionsausschuss“ (Florack 2006e: Frage 4; fast wortgleich Florack 2006b: Frage 10). Ergänzend betonte Andreas Pinkwart die Einbettung dieses Gremiums in die „Kaskaden“ der regierungsin-ternen Abstimmung und auf die damit verbundenen Eskalationsstufen im Ab-stimmungsprozess (Interview Pinkwart: Frage 5). Boris Berger schließlich führte die Konsequenzen dieser Rollenzuweisung im Sinne der zeitlichen Wochenpla-nung aus. Als Dreh- und Angelpunkt für die Abstimmung von exekutiver und administrativer Arena aus Staatssekretärskonferenz und Kabinett auf der einen Seite und der parlamentarischen Arena aus den beiden Regierungsfraktionen auf der anderen Seite strukturierte der Koalitionsausschuss die Terminplanung. „Das fing Sonntagsmorgens an, dann gab es in ganz kleinen Runden Telefonate und Abstimmungen“, bevor am Montag die Staatssekretärsrunde tagte. Entweder folgte montags im Anschluss noch die Sitzung des Koalitionsausschusses oder diese fand dienstagsvormittags vor den jeweiligen Sitzungen des geschäftsfüh-renden Fraktionsvorstandes und der Regierungsfraktionen statt. Nachmittages folgten gegebenenfalls Vieraugengespräche mit Ministern, anschließend die Kabinettsitzung „und dann war die Woche landespolitisch eigentlich abgehakt“ (Interview Berger: Frage 14).

Jenseits dieser allgemeinen Bedeutungszuweisung kristallisierten sich damit unterschiedliche kernexekutive Funktionen des Koalitionsausschusses heraus, die sich mit Blick auf konkrete Anwendungsbeispiele über die gesamte Legisla-turperiode hinweg illustrieren lassen. Die Funktionsvielfalt macht zugleich die umfassende Transformationsdynamik im Sinne der Conversion deutlich: Von einem beinahe reinen Krisenmanagementinstrument unter den Vorgängerregie-rungen diversifizierten sich die Funktionsbereiche des Koalitionsausschusses ab 2005 unter der neuen Regierungsformation aus CDU und FDP.

Erstens diente der Koalitionsausschuss als Instanz zur Herbeiführung von Grundsatzbeschlüssen und bei der Festlegung politischer Eckpunkte. Dies galt insbesondere für die Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben nach dem Regierungswechsel. Beispielhaft zeigte sich dies in der Schul- und Hochschulpolitik. Der Koalitionsvertrag sah hier zum einen die Vorlage eines „Hochschulfreiheitsgesetzes“ vor (2005b: 36). Nach Vorarbeiten des Wissen-schaftsministeriums billigte der Koalitionsausschuss die Eckpunkte dieses Ge-setzesvorhabens, bevor die weiteren formalen Schritte der Ressortkoordination und der Kabinettsbefassung innerhalb der Regierungsformation eingeleitet wur-

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den. Diese im Koalitionsausschuss vereinbarten Eckpunkte erwiesen sich als zentrales Steuerungsinstrument im nachfolgenden Gesetzgebungsverfahren, dienten sie doch sowohl der Administration als auch im Rahmen der parlamenta-rischen Beratungen immer wieder als Berufungsgrundlage und Referenzpunkt (Florack 2011a: 210–219). Zum anderen sah der Koalitionsvertrag die Novellie-rung des Schulgesetzes vor (2005b: 32; hierzu Korte et al. 2006: 367–373). Auch dieses zentrale Reformvorhaben der Landesregierung wurde durch einen Eck-punktebeschluss des Koalitionsausschusses vorbereitet. Vor der eigenen Fraktion erläuterte Helmut Stahl daher nicht nur die im Koalitionsausschuss vereinbarte Zeitplanung, sondern verwies auch auf eine entsprechende Klärung zentraler Grundsatzfragen in diesem Kreis (Florack: 30. Mai 2006). Gerhard Papke bestä-tigte seinerseits die Formulierung von Eckpunkten im Rahmen eines ausgedehn-ten Beratungsprozesses des Koalitionsausschusses. Das Schulgesetz sei „be-stimmt in vier oder fünf aufeinanderfolgenden Sitzungen des Koalitionsaus-schusses dort in den Eckpunkten erarbeitet“ worden. Die Schulministerin Barba-ra Sommer sei unter Anwendung der institutionellen Regel, Fachminister zum Koalitionsausschuss hinzuzuziehen, an diesen Gesprächen direkt beteiligt wor-den. Gleichwohl habe der Koalitionsausschuss „zunächst einmal das politische Framework verabredet (…), um es dann ausfüllen zu lassen“ (Interview Papke: Frage 3).

Damit deutete sich eine zweite, über die Formulierung von Eckpunkten hin-ausgehende Funktion des Koalitionsausschusses bereits an. Denn er diente auch als zentrale Instanz zur inhaltlichen Nachsteuerung in laufenden Gesetzgebungs-verfahren. Diese Nachsteuerung konnte durchaus bis ins Detail hineinreichende Einflussnahme bei zentralen Sachfragen bedeuten. So befasste sich der Koaliti-onsausschuss zwischen August und Oktober 2007 mehrmals mit dem Kinderbil-dungsgesetz (KiBiz), mit dem eine neue gesetzliche Grundlage für die Arbeit von Kindertageseinrichtungen geschaffen werden sollte. Zwischen den Koaliti-onspartnern hatte es unterschiedliche Vorstellungen unter anderem zur Kinder-gartenfinanzierung durch finanzschwache Kommunen und daraus resultierend Änderungswünsche am Gesetzentwurf gegeben. Nachdem sowohl aus den Re-gierungsfraktionen als auch von der FDP Widerstand gegen Teile des von Armin Laschet vorgelegten Gesetzentwurfes signalisiert worden waren, wurden Ände-rungen schließlich im Koalitionsausschuss vereinbart.113 Eine ähnliche Beschäf-tigung des Koalitionsausschusses mit der Nachsteuerung in Gesetzgebungsver-fahren zeigte sich bei der Reform der Gemeindeordnung, bei der insbesondere die Frage der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen zur Streitfrage avan-cierte (Eyermann 2006: 5; Goebels 2007a; Goebels 2007b; Nitschmann 2007a). 113 Hierzu Fritsch 2007a; Flamm 2007a; Flamm 2007b; Fritsch 2007b; Goebels 2007c; Hüwel

2007b; Vogt 2007a; (Zurheide 2007; Goebels 2007d.

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Auch Kompromisse hinsichtlich des künftigen kommunalen Wahlverfahrens konnten erst nach Beratungen des Koalitionsausschusses gefunden werden (so Goebels/Peltzer 2007). In ähnlicher Weise agiert der Koalitionsausschuss bei der Neuregelung des Nichtraucherschutzes (Wiedemann 2009a) sowie bei der Neu-fassung des Personalvertretungsgesetzes. Hier lehnte angesichts inhaltlicher Differenzen insbesondere die FDP eine bilaterale Kompromisssuche zwischen Karl-Josef Laumann und dem fachlich zuständigen Minister Wolf ab und ver-wies auf den Koalitionsausschuss als einzig legitimierter Vermittlungsinstanz (ähnlich hierzu Hüwel 2007a; Neuhaus 2007; Wiedemann 2007a).

Eine dritte Funktion des Koalitionsausschusses bestand in der Herbeifüh-rung innerparteilicher Kompromisse. Hier zeigte sich in besonderer Weise die aus den veränderten Regelungsstrukturen resultierende Transformationsdynamik, stand doch hier weniger der Streit zwischen den Koalitionspartnern, als vielmehr ein Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen korporativen Teilakteuren innerhalb der jeweiligen Regierungspartei im Mittelpunkt der Beratungen. Ein Beispiel war die sachlich begrenzte, wenngleich symbolisch stark aufgeladene Frage nach der Ausgestaltung von „Kopfnoten“ auf Schulzeugnissen innerhalb der CDU. Hier hatte es auf der Seite der CDU-Fraktion einerseits und auf Seiten von Schulministerin Sommer andererseits unterschiedliche Positionierungen hinsichtlich der künftigen Zahl dieser Kopfnoten gegeben. Dieser Konflikt wur-de in den Koalitionsausschuss getragen, wo dann eine im Nachgang mit den Fachpolitikern der Fraktionen abgestimmte Kompromisslösung angebahnt wur-de, welche dann mit zeitlicher Verzögerung auch das Kabinett zur formalen Beschlussfassung erreichte. Hier zeigte sich insbesondere die Repräsentations-funktion der am Koalitionsausschuss beteiligten Akteure, vertrat doch Helmut Stahl die Position seiner Fraktion, Barbara Sommer als hinzugebetene Ministerin ihren im Fachressort erarbeiteten Vorschlag und agierte Jürgen Rüttgers als Mo-derator, der auf eine gleichzeitige Passfähigkeit eines Kompromisses mit den Positionen der FDP achtete (Szymaniak 2008a; Szymaniak 2008b; Tutt 2008).

Ein vierter Aufgabenbereich bezog sich auf die bundes- und europapoliti-sche Koordinationsfunktion des Koalitionsausschusses. Jenseits der formalen kabinettsinternen Abstimmung betonte Andreas Pinkwart auch die Befassung des Koalitionsausschusses bei besonders wichtigen Fragen, die im Zuge der Mehrebenenverflechtung eine gemeinsame Position der Landesregierung erfor-derten (Interview Pinkwart: Frage 12). Insbesondere die Frage nach dem Aus-stieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau avancierte angesichts der landes- und bundespolitischen Verschränkung zu einer solchen Frage.114 Aus- 114 Nachfolgend Bauchmüller/Nitschmann 2007; Hüwel/Wels 2007; Lauscher 2007; Nelles et al.

2007; Schulte 2007; Seim 2005; Suckow 2007; Szymaniak/Wölk 2007; Tutt/Decker 2007; Tutt/Wiedemann 2007.

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gangspunkt für die Beratungen des Koalitionsausschusses war eine mutmaßliche Einigung bei entsprechenden Verhandlungen zwischen Bund, den betroffenen Ländern Nordrhein-Westfalen und dem Saarland sowie der RAG und Gewerk-schaftsvertretern in Berlin, an denen Nordrhein-Westfalen durch den Minister-präsidenten vertreten wurde. Allerdings meldete die FDP in der Sitzung des nachfolgenden Koalitionsausschusses Bedenken hinsichtlich des zusammen mit der grundsätzlichen Einigung kommunizierten Ausstiegsdatums 2018 an und forderte einen früheren Termin. Jürgen Rüttgers signalisierte im Nachgang zu diesen Beratungen, er könne dem Berliner Verhandlungsergebnis nicht zustim-men und distanzierte sich insofern noch weitergehender, als dass er eine gegen-über der ursprünglichen Beschlusslage veränderte Kommunikation durch die Vertreter des Bundes bemängelte. Die Folge waren erneute Verhandlungen aller Beteiligten und schließlich eine Einigung zwischen allen Parteien eine Woche später, die im nordrhein-westfälischen Koalitionsausschuss dann auch die not-wendige Zustimmung fand.

Fünftens diente der Koalitionsausschuss als zentrale Krisenmanagementin-stitution der Regierungsformation. Gleich nach Übernahme der Regierungsge-schäfte hatte Michael Breuer auf diese Funktion hingewiesen: Sollte es bei einer Sachfrage zum ‚Krach‘ zwischen den Koalitionsparteien kommen, müsste der „Koalitionsausschuss extra einberufen werden“ (zit. nach Brand 2006). Spielte diese Dimension zu Beginn der Legislaturperiode noch eine deutlich untergeord-nete Rolle, so stieg gewissermaßen natürlicherweise im Zeitverlauf das Kon-fliktniveau in der Koalition und erwuchs daraus auch eine entsprechende Rolle des Koalitionsausschusses. Dabei lässt sich der Umgang mit regierungsexternen Krisen von der Behandlung koalitionsinterner Streitfälle unterscheiden. Ein Bei-spiel für die Beschäftigung des Koalitionsausschusses mit ersterem war die dro-hende Schließung des OPEL-Werkes in Bochum in Folge einer Krise des Auto-bauers 2009.115 In der Folge gab es durchaus gravierend unterschiedliche An-sichten zum Umgang mit dieser Situation zwischen CDU und FDP, die ange-sichts der föderalen Verflechtung auch Folgen für die bundespolitische Koordi-nation und Abstimmungsprozesse zwischen NRW und Bund hatten. Die Folge waren mehrmalige Beratungen des Koalitionsausschusses, der jenseits des wö-chentlichen Tagungsrhythmus zu weiteren Terminen zusammenkam. Die institu-tionelle Regel einer zusätzlichen Terminierung fand hier also Anwendung. Gleichwohl führten auch in diesem Fall des akuten Konfliktmanagements die Beratungen zu einem Ergebnis, welches die Funktionsfähigkeit des Koalitions-ausschusses unter Beweis stellte.

115 Nachfolgend 2009; Burger 2009; Hüwel 2009; Lamprecht 2009; Lauscher 2009; Meinerz/

Schumacher 2009; Wiedemann 2009c; Wiedemann 2009d; Wiedemann 2009b.

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Anders gelagert war ein koalitionsinterner Konflikt, der indirekt durch die Halbzeitbilanz Jürgen Rüttgers ausgelöst wurde.116 Andreas Pinkwart nutzte diese symbolische Wegmarke, um eine Neupositionierung der FDP in der Schul-politik in Aussicht zu stellen. In Abgrenzung von den Vereinbarungen im Koali-tionsvertrag und der Ausrichtung des Koalitionspartners brachte der FDP-Parteichef eine mittelfristige Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem und die Einführung einer „regionalen Mittelschule“ ins Gespräch. Der Zeitpunkt, zu dem diese Initiative vorgestellt wurde – als bewusster „Kontrapunkt bei der Halbzeit-bilanz des Ministerpräsidenten“ – war motiviert von der Sorge, diese könnte „als große Feierstunde des Ministerpräsidenten inszeniert werden“. Um die „Erkenn-barkeit und Wahrnehmung für die eigene Partei (…) sicherzustellen“ und zu-gleich ein Signal für die zweite Hälfte der Legislaturperiode zu senden, riskierte Pinkwart damit einen Koalitionsstreit (Interview Zimmermann: Frage 10). Da diese veränderte Position zudem parteiintern nur mit einigen Akteuren abge-stimmt war und insbesondere in Teilen der FDP-Fraktion inhaltlicher Widerstand existierte, agierte Pinkwart in diesem Fall nicht als Akteur mit uneingeschränkter Vertretungsmacht. Insofern führte die nachfolgende Koalitionsausschusssitzung, bei der dieser Vorgang zum Thema gemacht wurde, auch zu einer impliziten Akteurskoalition zwischen den Vertretern der CDU sowie FDP-Fraktionschef Papke. Das Ergebnis des Koalitionsausschusses als Krisenmanagementinstru-ment war zumindest eine kommunikative Abschwächung des Vorstoßes durch Pinkwart, der sein Vorhaben als Zielsetzung für die nachfolgende Legislaturpe-riode und insofern nicht als Abweichung von der im Koalitionsvertrag vereinbar-ten Regierungslinie verstanden wissen wollte. Dabei handelte es sich jedoch eher um eine rhetorische Kompromissformel, war doch eine Abkehr in der Sache nicht erkennbar. Gleichwohl gelang eine gesichtswahrende kommunikative Be-friedung.

Damit in Verbindung stand eine letzte und damit sechste Funktion des Koa-litionsausschusses als Gremium zur konsensualen Abstimmung von Sprachrege-lungen sowie als „atmosphärisches Frühwarnsystem“ (Interview Zimmermann: Frage 1) für das Koalitionsmanagement insgesamt. In der Verbindung von insti-tutioneller Regelstruktur einerseits und der individuellen Vertretung der wichti-gen korporativen Teilakteure der Regierungsformation andererseits diente der Koalitionsausschuss dazu, potentielle Fallstricke vorauszuahnen, Einschätzungen auszutauschen und Limitationen für das politische Handeln zu benennen. Damit leistete der Koalitionsausschuss eine wichtige Frühwarnfunktion in zwei Rich-tungen: Zum einen konnten wichtige Eindrücke in den Koalitionsausschuss ein-gespeist werden. Zum anderen bot der offene Austausch die Gelegenheit, jeweils 116 Nachfolgend Flamm 2007c; Uferkamp/Clemens-Smicek 2007; Vogt 2007b; Wiedemann

2007c; Nitschmann 2007b.

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gewonnene Eindrücke zurück in Partei, Fraktion und Administration zu transfe-rieren und in die Handlungskalküle einzubeziehen. Diese Vermittlungsfunktion zeigte sich insbesondere im Hinblick auf kommunikative Abstimmungsprozesse So wurden im Koalitionsausschuss auch gemeinsame Sprachregelungen verein-bart, um ein geschlossenes Auftreten der Koalition nach außen zu gewährleisten oder aber dosierte Konflikte zu inszenieren, ohne sie zu einer wirklichen Belas-tung für die Regierungsarbeit werden zu lassen.

Insbesondere diese informellen Praktiken betonten den herausgehobenen Charakter des Koalitionsausschusses als der zentralen kernexekutiven Schlüssel-institution. Gleichwohl fand er eine eng begrenze Ergänzung in Form weiterer institutioneller Regelsysteme. Diese waren jedoch direkt oder indirekt auf den Koalitionsausschuss bezogen und zeichneten sich durch ähnliche Transformati-onsdynamiken im Zeitverlauf aus. 5.2.2.2 Ergänzende institutionelle Regelsysteme des Koalitionsmanagements:

Layering, Drift und Exhaustion Die Transformation des Koalitionsausschusses zum zentralen Entscheidungs-, Koordinations- und Informationsgremium der Regierungsformation wirkte sich direkt und indirekt auf weitere institutionelle Regelsysteme des Koalitionsmana-gements aus. Allerdings handelt es sich dabei um nachrangige Regelsysteme in dem Sinne, als dass sie sich alle schrittweise auf die Arbeitsweise des Koaliti-onsausschusses sowie die damit verbundenen institutionellen Regeln ausrichte-ten. Im Sinne des Transformationsmodus Drift vollzog sich dabei insofern ein schrittweiser Entwicklungsprozess bereits dauerhaft institutionalisierter Regel-systeme des Koalitionsmanagements. Zwar wurden dabei keine bestehenden institutionellen Regeln intentional beseitigt oder neue Regeln eingeführt, aber die Vernachlässigung und veränderte Bedeutung derselben angesichts veränderter Rahmenbedingungen mündete dennoch in eine institutionelle Transformations-dynamik. Dies zeigte sich sowohl mit Blick auf das von Andreas Pinkwart als stellvertretendem Ministerpräsidenten geleitete Innovationsministerium als auch bei den interfraktionellen und ergänzenden informellen Abstimmungs- und Koordinationsroutinen.

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5.2.2.2.1 Das Innovationsministerium als „Spiegelstaatskanzlei im Kleinen“117 Die stabilisierende Bedeutung von pfadabhängiger Institutionenentwicklung trotz intentionalen Institutionendesigns zeigte sich mit Blick auf das von Andreas Pinkwart geleitete Innovationsministerium. Im Zuge des Regierungswechsel hatte die neue Leitungsebene des Ministeriums im Sinne des Layering versucht, ein „blaues Band der Innovation“ als „Matrixelement in einer Stabs-Linien-Organisation“ zu institutionalisieren und damit die übliche Linienstruktur des Hauses durch weitere institutionelle Regeln der Zusammenarbeit zu ergänzen (hierzu nachfolgend Interview Pinkwart: Frage 10; Interview Zimmermann: Frage 19). Über die Abteilungsgrenzen hinweg sollte damit die inhaltliche Neu-ausrichtung des ehemaligen Wissenschaftsressorts als erweitertes Innovations-ministerium auch organisatorisch eine entsprechende Anpassung erfahren. Dieser Versuch bewährte sich jedoch nicht, „weil es so ein Bruch mit der bisher gelern-ten und eingeübten Organisationslogik war, dass es hätte einer starken Moderati-on bedurft, um dieses Element wirklich zu implementieren und dann auch positiv wirken zu lassen“, wie Ministeriumssprecher André Zimmermann rückblickend erklärte. Neben dem Zeitmangel der Leitungsebene für die Wahrnehmung dieser Aufgabe erwiesen sich eine unpräzise Aufgabendefinition und interne Konkur-renzverhältnisse als Hemmnisse für die praktische Relevanz dieser neuen Orga-nisationsstruktur. Die Folge war eine dem Modus der Exhaustion folgende Ver-nachlässigung der mit diesem „Band der Innovation“ verbundenen Regeln und die daraus resultierende „Abschreibung“ dieses Organisationsmodells. Zwar wurde das Matrixelement nie wirklich formal aufgelöst, aber „es wurde irgend-wann im Organigramm nicht mehr gekennzeichnet und es ist wirklich ausgelau-fen“ (Interview Zimmermann: Frage 19).

Gleichwohl veränderte sich das Innovationsministerium grundlegend durch die neue Funktion, die ihm nach dem Regierungswechsel im Rahmen des Koali-tionsmanagements zukam. Pinkwart erklärte dazu: „Wir hatten sehr viel Stabili-tät in meinem Ministerium, aber wir hatten in den entscheidenden Fragen gerade in der Abstimmung innerhalb der Koalition und des Regierungshandelns eben auch die notwendige Veränderung“. Der FDP-Parteichef konkretisierte ange-sichts seiner über die eines Fachministers hinausreichende Rolle als zentraler Repräsentant seiner Partei für das Koalitionsmanagement, das Innovationsminis-terium habe ein „natürliches Radarsystem“ und ein „Sensorsystem“ benötigt, „um pro-aktiv handeln zu können“ (Interview Pinkwart: Frage 9). Ergebnis die-ser Analyse war der Aufbau einer „Spiegelstaatskanzlei im Kleinen“ (Interview Pinkwart: Frage 4). In dem als Stabsstelle unmittelbar an den Minister angebun-

117 So die Formulierung Andreas Pinkwarts (Interview Pinkwart: Frage 4).

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denen Kabinettreferat wurden „alle Häuser in der Landesregierung gespiegelt“ (Interview Pinkwart: Frage 13). Dem institutionell bereits im Koalitionsaus-schuss abgesicherten Prinzip der Augenhöhe folgend wurde das Innovationsmi-nisterium damit neben der Staatskanzlei zu einem der „Scharniere (…) in der Feinabstimmung“ für das Koalitionsmanagement (Interview Pinkwart: Frage 4). Die im Koalitionsausschuss durch Pinkwart ausgefüllte zentrale Repräsentanten-rolle der FDP fand insofern ihre organisatorische Entsprechung, als dem Kabi-nettsreferat des Ministeriums nun die Aufgabe der FDP-seitigen Koordination zukam. Das schloss sowohl die Rückkopplung mit Fraktion und Landespartei als auch die bundespolitische Abstimmung mit Blick auf den Bundesrat und die FDP-Bundespartei ein (Interview Pinkwart: Frage 13). Diese Konstruktion kor-respondierte mit der im Koalitionsausschuss dominanten Repräsentationslogik, die hier Andreas Pinkwart eine ähnlich zentrale Rolle für die Vertretung des kleineren Koalitionspartners zuwies.

Anders als für die CDU-geführten Ressorts übernahm die Staatskanzlei da-mit keinerlei politische Steuerungs- oder Kontrollfunktion gegenüber dem von Pinkwart geführten Ressort. Vielmehr avancierte das Innovationsministerium zur gleichberechtigten „Gelenkstelle“ der FDP als „Koalitionspartner auf Augen-höhe“ (Interview Zimmermann: Frage 13). Dies galt zudem nicht nur für die regierungsformationsinterne Abstimmung im Sinne des Koalitionsmanagements, sondern auch für die Wahrnehmung der Ressortaufgaben. Auch in den ihm zu-gewiesenen Policyfeldern agierte das Innovationsministerium weitgehend frei von der Einflussnahme durch die Staatskanzlei und war damit der formal der Staatskanzlei zugedachten Ressortkoordination faktisch weitgehend entzogen (so die Einschätzung Florack 2007a).

Konkrete institutionelle Folge war die verändere Rolle des Kabinettsreferats als „Schlüsselstelle für den Abgleich der Politik zwischen Staatskanzlei, anderen Ressorts und FDP-Fraktion“ (Interview Zimmermann: Frage 6). Im Sinne des Transformationsmodus Layering blieb die übrige Struktur des Ministeriums davon weitgehend unberührt und es wurden lediglich ergänzende Regelsysteme auf der Leitungsebene etabliert. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine gravierende organisatorische Änderung, denn der neue Funktionsbereich wurde „noch nicht einmal durch ein ganzes Referat, sondern eigentlich nur durch den Referatsleiter“ repräsentiert (Interview Zimmermann: Frage 6). Diese Aufgabe übernahm nach dem Regierungswechsel Matthias Richter, dessen zentrale Funk-tion durch ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Andreas Pinkwart abgesichert war (Florack 2006b: Frage 3; auch Florack 2005d).

Die weitere institutionelle Transformation spielte sich folglich eher im Be-reich der veränderten Regelanwendung als in Form großangelegter organisatori-scher Veränderungen ab. Konkret erwuchsen für Matthias Richter die Aufgaben,

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Koordination und Kontaktpflege innerhalb der Regierungsformation zu betrei-ben, als individuelles Informations- und Frühwarnsystem zu fungieren sowie als zentrale Kontaktperson für Staatskanzlei, Ressorts und Regierungsfraktionen auf der Arbeitsebene zu agieren (Florack 2007b). In der Praxis führte das dazu, dass sämtliche Kabinettvorlagen parallel zur Übermittlung an die Staatskanzlei auch unmittelbar an das Kabinettreferat des Innovationsministeriums verschickt wur-den. Dieses agierte dann für die FDP als zentrale Clearingstelle, indem diese Vorlagen wiederum unmittelbar an die FDP-Fraktion weitergeleitet wurden, um ihre inhaltliche und politische Zustimmungsfähigkeit zu überprüfen (Florack 2006g: Frage 3; Florack 2006k: Frage 5; Florack 2007d; Florack 2005d). Im Sinne der „normalen Eskalationsstufen“ (Interview Zimmermann: Frage 7; auch Interview Pinkwart: Frage 8) des Koalitionsmanagements entwickelte sich hie-raus das weitere Abstimmungsverfahren zwischen den Koalitionspartnern. War eine bilateral Einigung im Zusammenspiel von Ressorts, Fraktionen und Staatssekretärsrunde nicht möglich, so diente der Koalitionsausschuss als letzte Instanz zur Herbeiführung einer konsensualen Lösung, bevor entscheidungsreife Vorlagen schließlich das Kabinett erreichten.

Dieses institutionelle Layering veränderte, zusammenfassend formuliert, den Charakter des Innovationsministeriums. Neben die Ressortfunktion trat die ergänzende Schnittstellenaufgabe im Koalitionsmanagement. Pinkwarts Ein-schätzung lautete: „[G]elegentlich mag das dem einen oder anderen Ressortmi-nister nicht gefallen haben, wenn wir immer wieder auch Änderungen zu Vorla-gen erbeten hatten, obwohl sie gar nicht im engeren Sinne unsere Ressortzustän-digkeit betrafen, sondern eben deutlich machten, das sind eben die anderen Vor-stellungen auch des Koalitionspartners“ (Interview Pinkwart: Frage 8). 5.2.2.2.2 Interfraktionelles Koalitionsmanagement und ergänzende informelle Praktiken und Routinen Während sich die institutionelle Regelstruktur zwischen Innovationsministerium und Staatskanzlei analog zur im Koalitionsausschuss ausgeprägten Akteurs-koalition zwischen Pinkwart und Rüttgers schrittweise verfestigte und insofern eine institutionelle Stabilisierung der Kernexekutive insgesamt eintrat, geschah mit Blick auf das interfraktionelle Koalitionsmanagement das Gegenteil. Hier zeigten sich eine schrittweise Erosion (Exhaustion) der im Zuge des Regie-rungswechsels vereinbarten Regelstrukturen und ein weitgehender Transfer der damit verbundenen Koordinationsaufgaben auf den Koalitionsausschuss.

Der Koalitionsvertrag hatte neben dem Koalitionsausschuss auch institutio-nelle Regelungsmuster für die interfraktionelle Abstimmung beinhaltet. Neben

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dem Ausschluss wechselnder Mehrheiten und der einheitlichen Abgabe von Voten in Plenum und Ausschüssen war hier explizit von der Herstellung von „Einvernehmen zwischen den Koalitionsfraktionen“ die Rede (Koalitionsvertrag 2005: 63–64) gewesen. Über das Format des Koalitionsausschusses hinausrei-chende praktische Konsequenz war die Verabredung eines wöchentlichen Tref-fens der beiden Fraktionsvorsitzenden. Dies entsprach wie schon ihre Mitglied-schaft im Koalitionsausschuss der zentralen Repräsentantenrolle Stahls und Papkes für die jeweilige Regierungsfraktion. Dieses ergänzende interfraktionelle Abstimmungsformat kam jedoch nach einigen Monaten zum Erliegen. Verant-wortlich war das weitgehend zerrüttete persönliche Verhältnis zwischen den beiden Fraktionsvorsitzenden (so Florack 2007d). Helmut Stahl machte hierfür die unterschiedlichen Auffassungen in persönlichem Stil und Politikverständnis und damit das fehlende persönliche Vertrauen verantwortlich (Interview Stahl: Frage 12). Die Konsequenz war eine beinahe vollständige Verlagerung dieser interfraktionellen Abstimmung in den Koalitionsausschuss. Darüber hinaus habe man lediglich in Ausnahmefällen „zur Not“ miteinander telefoniert oder persön-lich gesprochen (Interview Stahl: Frage 12). Zugleich machte Stahl die schritt-weise Institutionalisierung des Koalitionsausschusses als zentrale Lenkungsin-stanz dafür verantwortlich, dass mit dieser Vernachlässigung ursprünglich ver-einbarter Kooperationsregeln keine weitergehenden Koordinationsdefizite ein-hergingen. Der Koalitionsausschuss habe aufgrund seiner institutionellen Regel-struktur so viel Erwartungssicherheit und Kooperationsbereitschaft erzeugt, dass auch angesichts persönlicher Differenzen zwischen ihm und Papke eine ausrei-chende Koordination zwischen den Regierungsfraktionen ermöglicht worden sei (Interview Stahl: Frage 12; vgl. Interview Papke: Frage 17).

Gleichwohl zeitigte diese institutionelle Dynamik weitere Nebenfolgen zum Nachteil der beiden Fraktionsvorsitzenden im Sinne ihrer Repräsentationsfunkti-on einerseits sowie der regierungsformationsinternen Machtverteilung anderer-seits. Hinsichtlich ihrer Repräsentantenrolle zeigte sich eine aus unterschiedli-chen Ursachen gespeiste Erosion des Repräsentationsmonopols sowohl Stahls als auch Papkes. Bei Helmut Stahl führte insbesondere sein Verständnis von der Bedeutung einer Regierungsfraktion zu Missstimmungen innerhalb der CDU-Fraktion. Er selbst erklärte es zu seiner zentralen Aufgabe, „der Regierung den Rücken freizuhalten. Nicht freizuhalten bedingungslos, sondern freizuhalten im Sinne der Erfüllung eines Koalitionsvertrages“ (Interview Stahl: Frage 14). Da aber aus seiner Sicht zugleich die Bindungswirkung des Koalitionsvertrages im Zeitverlauf immer weiter abnahm und eine zunehmenden Profilierungstendenz mit Blick auf die nachfolgende Landtagswahl einsetzte (Interview Stahl: Frage 17), geriet Stahl mit seiner auf eine starke Dosierung des Parteienwettbewerbs

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ausgerichteten Grundhaltung zunehmend unter Druck.118 Verstärkt wurde dies wiederum durch die durchaus konfliktaffine Vorgehensweise Papkes auf der anderen Seite, der aus Sicht der CDU oftmals übermäßig konfliktorientiert auf-trat und entsprechende Vetopositionen der FDP aufbaute. Gleichwohl war auch er fraktionsintern nicht unumstritten, sondern sah sich einer personell stärker an Andreas Pinkwart orientierten Gruppe gegenüber, die auch sein Vertretungsmo-nopol für die Fraktion in Frage stellte. Da sich vor diesem Hintergrund im Ge-gensatz zu Rüttgers und Pinkwart keine konstruktive Akteurskoalition der beiden Fraktionsvorsitzenden entwickelte, zeigte sich eine entsprechende schrittweise Marginalisierung der beiden, die sich in der oben beschriebenen institutionellen Transformation des Koalitionsausschusses ausdrückte. Insofern ging mit diesem Wandel der institutionellen Regelsysteme auch eine machtverteilende Nebenwir-kung einher.

Unbeeindruckt hiervon fanden die üblichen Regeln der parlamentarischen Abstimmung zwischen FDP und CDU auf Ebene der Fachzuständigen Anwen-dung. Hierzu gehörte beispielsweise das Format gemeinsamer Arbeitskreissit-zungen, bei der in der Regel die FDP-Vertreter zu den entsprechenden Sitzungen der CDU-Arbeitskreise eingeladen wurden (Interview Papke: Frage 12; Inter-view Papke: Frage 12; vgl. auch Florack 2011a).

Jenseits der stark verregelten institutionellen Struktur des Koalitionsaus-schusses betonten die Akteure schließlich vor allem die zahlreichen informellen und wenig formalisierten Abstimmungskanäle mit Blick auf das Koalitionsma-nagement. Gleichwohl zeigten sich auch hier zwei zentrale Muster, die über reine ad-hoc-Formate hinausgingen.

Erstens waren alle koalitionsbezogenen Abstimmungsprozesse in einen zeit-lichen Zusammenhang eingebettet. Dieser wurde von einer Mischung aus infor-mellen und formalen Regelsystemen bestimmt, wobei das Kabinett als formales Entscheidungsgremium und der Koalitionsausschuss als faktische Steuerungsin-stanz von besonderer Bedeutung waren. Die ergänzenden Koordinationsinstan-zen der Staatssekretärsrunde, der Fraktionssitzungen, Fraktionsvorstände sowie die vielfältigen bilateralen Gespräche bildeten in der Gesamtschau „verschiedene Stufen der konsensualen Abstimmung“ (Interview Pinkwart: Frage 4). Diese waren zeitlich in dem Sinne aufeinander abgestimmt, als dass das Kabinett nur mit bereits konsensual abgestimmten Vorlagen befasst wurde und der Koaliti-onsausschuss als zentrale Clearingstelle insofern immer vor dem Kabinett tagte. Zugleich war sicherzustellen, dass möglichst viele Konfliktpunkte ohne Beteili-gung des Koalitionsausschusses in vorgelagerten Abstimmungsformaten bearbei- 118 Stahl reagierte darauf, indem er den Fraktionsvorstand stärker inhaltlich und organisatorisch

einband und sich zugleich bemühte, inhaltliche Diskussionen innerhalb der CDU-Fraktion anzuregen (vgl. Interview Stahl: Frage 16; Florack 2006e: Frage 3).

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tet wurden, um dort nur wirklich zentrale Konfliktgegenstände zu beraten (hierzu Interview Beneke: Frage 12; Interview Berger: Frage 14; Florack 2007a).

Zweitens zeigte sich, dass bei allen ergänzenden informellen Abstim-mungspraktiken die jeweiligen Akteure als Repräsentanten korporativer Teilak-teure der Regierungsformation mit entsprechender Vertretungsmacht agierten. Während Rüttgers und Pinkwart als Vertreter ihrer Parteien unangefochten für diesen korporativen Teilakteur sprachen, repräsentierten die Fraktionsvorsitzen-den die beiden Regierungsfraktionen und Karsten Beneke ab 2006 in besonderer Weise die Staatskanzlei als formale Koordinationsinstanz. Aber auch Matthias Richter agierte beispielsweise als Kabinettsreferent im Innovationsministerium mit Vertretungsmacht, die er durch die entsprechende Aufgabenzuweisung durch Pinkwart erhalten hatte und durch die permanente Rückkopplung innerhalb der FDP abzusichern suchte. Im Sinne einer darüber hinausgehenden institutionellen Verschränkung zeigte sich dieses Repräsentationsprinzip am Beispiel des stell-vertretenden Regierungssprechers Holger Schlienkamp. Aufgrund dieser Funkti-on war er institutionell in der Staatskanzlei verankert. Zugleich war Schlienkamp dort als Repräsentant der FDP zunächst ein Fremdkörper, bis er vom Minister-präsidenten durchaus direkt in die Pressearbeit eingebunden wurde. Zudem war die Funktion des stellvertretenden Regierungssprechers nach Einschätzung An-dré Zimmermanns im Vorfeld von der FDP nicht klar definiert worden und die Rollenbeschreibung insofern unklar geblieben (Interview Zimmermann: Frage 12). In der Konsequenz prägte Schlienkamp erst durch sein Handeln diese Rolle weitergehend aus und entwickelte sich damit im Zeitverlauf zu einem ergänzen-den Informations- und Koordinationskanal zwischen FDP und CDU (vgl. Inter-view Zimmermann: Frage 12; Interview Papke: Frage 11; Interview Krautscheid: Frage 7). 5.2.3 Formale Entscheidungsgremien zwischen formalen Regeln und

informeller Regelanwendung: Conversion und Stabilisierung von Kabinett und Staatssekretärskonferenz im regierungsformationsinternen „Kaskadenmodell“

„Die informellen Gremien ersetzen ja auch nicht die formalen Gremien oder unterminieren sie“, beschrieb Andreas Pinkwart die Aufgabenverteilung zwi-schen den stärker informell geprägten Institutionen des Koalitionsmanagements einerseits und den formalen Beschlussfassungsgremien der Regierungsformation wie der Staatssekretärskonferenz und dem Kabinett andererseits. Allerdings sei es im Sinne einer „pro-aktiven Rückkopplung“ darum gegangen, über informelle Arrangements die Mehrheitsfähigkeit der Regierungsformation auch im Parla-

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ment herzustellen. „Wenn man diese nicht zwischenschalten und nur die norma-len institutionellen Regelungen ablaufen lassen würde, dann würde man ja mög-licherweise erhebliche Kommunikationsanstrengungen unternehmen müssen, um das Regierungshandeln dem Parlament gegenüber zu erklären und im Einzelnen um Mehrheiten zu ringen“, beschrieb Pinkwart den mit diesen ergänzenden in-formellen Arrangements einhergehenden Funktionalitätsgewinn. Der Aufbau informeller Institutionen diente in diesem Sinne als „unterstützende Institution, um Regierungshandeln auch im Parlament (…) möglich zu machen“. Hätte es jenseits der formalen Entscheidungsgremien keine informelle Entscheidungsvor-bereitung gegeben, wären „erhebliche Friktionen im System“ die beinahe un-ausweichliche Folge gewesen (Interview Pinkwart: Frage 15).

Die besondere Bedeutung solch informeller Regelsysteme zeigte sich ent-lang der oben dargestellten Conversion des Koalitionsausschusses zur zentralen Koordinations- und Steuerungsinstanz der Regierungsformation. Gleichwohl ging hiermit auch ein Transformationsprozess der formalen Beschlussfassungs-instanzen einher. Ausschlaggebend hierfür war die wechselseitige Verflechtung der kernexekutiven Regelstrukturen im Rahmen der regierungsformationsinter-nen „Kaskaden“ des Abstimmungsprozesses. Dieser Zusammenhang zeigte sich in zweierlei Hinsicht: Zum einen bestand eine wechselseitige inhaltliche Bezug-nahme informeller und formaler Kernexekutivinstitutionen. Im Sinne von „Eska-lationsstufen“ oder gestaffelten „Stufen der konsensualen Abstimmung“ (so Interview Pinkwart: Frage 4) waren Koalitionsausschuss, Kabinett, Staatssekre-tärskonferenz, Fraktionsgremien sowie alle weiteren Koordinationsroutinen und -praktiken miteinander verzahnt. Dies führte dazu, dass Vorgänge ihrer politi-schen und inhaltlichen Brisanz entsprechend auf verschiedenen institutionellen Ebenen der Kernexekutive mit jeweils unterschiedlichen Formalisierungsgraden bearbeitet wurden. Folglich wurde der Koalitionsausschuss auch nicht zu einem alle Tagesordnungspunkte des Kabinetts vorbereitenden Gremium, sondern ge-wissermaßen zu einer koalitionsinternen Berufungsinstanz bei zentralen Grund-satzfragen (Interview Pinkwart: Frage 5; auch Interview Beneke: Frage 10).

Zum anderen existierte ein offensichtliches zeitliches Strukturmuster. Die-ses drückte sich in einer festen Abfolge dieser Koordinationsinstanzen mit ent-sprechenden Regeln aus. Hierzu zählten klare formale Fristen für die Vorlage von Kabinettsvorlagen genauso, wie die jeweils aneinander angepasste Terminie-rung der unterschiedlichen Abstimmungsgremien, die als informelle Praxis ver-gleichsweise schnell institutionalisiert wurden. Zentrale Grundregel war dabei, dass der Koalitionsausschuss immer vor dem Kabinett zusammenkam und auch die übrigen Koordinationsprozesse zeitlich strukturiert und aufeinander bezogen abzulaufen hatten (übereinstimmend Interview Berger: Frage 10 und 14; Inter-view Papke: Frage 2 und Frage 3; Interview Krautscheid: Frage 10). Kam es

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 401

aufgrund besonderer Vorkommnisse zur Verschiebung einzelner Termine, wur-den alle übrigen Gremien zeitlich so eingepasst, dass die ursprüngliche Abfolge erhalten blieb.119

Die Auswirkungen dieser gewissermaßen zweifachen Regelstruktur betra-fen erstens das Kabinett, welches sich in Folge der veränderten Rolle des Koali-tionsausschusses schrittweise, aber transformativ wandelte. Von einem regie-rungsformationsinternen Diskussions- und Entscheidungsgremium unter den Ministerpräsidenten Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück (ausführlich Korte et al. 2006) entwickelte sich die wöchentliche Kabinettsitzung hin zu einem rein notariellen Beschlussfassungstermin. Allerdings vollzog sich diese dem Transformationsmodus Conversion folgende Dynamik vor allem als Folge einer veränderten Anwendung formaler und informeller Regeln und unter dem besonderen Einfluss des Ministerpräsidenten als institutionellem Change-Agent. Hinzu kam eine mit dem Koalitionsausschuss in Verbindung stehende Akteurskoalition. Wie aus einer theoretischen Perspektive erwartbar erwiesen sich die das Kabinett regulierenden formalen Regeln als langfristig stabil und gegenüber kurzfristigen Veränderungsimpulsen angesichts ihres Formalisie-rungsgrades gewissermaßen immun. Das galt jedoch nicht für die praktische Anwendung dieser Regeln, die informelle Abweichungen und damit einen trans-formativen Wandel der Institution insgesamt ermöglichten.

Zweitens wirkte sich dieser kernexekutive Transformationsprozess stabili-sierend auf die Staatssekretärskonferenz als dem Kabinett vorgeschaltete admi-nistrative Clearing-Stelle aus. Weitgehend als Hilfsinstrument diente dieses Gremium vor allem als politikverwaltende Koordinationsinstanz, die auf ihre Kernfunktionen reduziert und in das Zusammenspiel der weiteren kernexekuti-ven Regelsysteme eingebunden wurde. Dies entsprach bereits dem im Regie-rungsbildungsprozess beobachtbaren Rekrutierungsmuster der Staatssekretäre 2005, deren fachliche Qualifikation und Verwaltungserfahrung von maßgebli-cher Bedeutung gewesen waren, um die fehlende Regierungserfahrung vieler Kabinettsmitglieder auszugleichen.

Drittens schließlich richteten sich weitere formale und informelle Praktiken im Sinne einer Neuausrichtung (Conversion) an diesen bestehenden Regelsyste-men aus. Hierbei zeigten sich in herausragender Weise die Vertretung korporati-ver Teilakteure durch individuelle Repräsentanten sowie die damit verbundenen machtverteilenden Dynamiken dieser Regelsysteme. Das galt insbesondere für

119 Vgl. die entsprechenden Eintragungen im Terminkalender von Ministerpräsident Rüttgers

(Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006a: 1; Büro des Ministerpräsidenten Stand vom 2006c: 1–3 , Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006a: 1; Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006c: 1–2 ; Büro des Ministerpräsidenten Dr. Jürgen Rüttgers Stand vom 2006e: 1).

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die Einbindung der Regierungsparteien in das Regierungsgeschäft sowie infor-melle Abstimmungsinstanzen, die sich entlang ihrer jeweiligen Aufgabengebiete entwickelten. 5.2.3.1 Das Kabinett: Conversion zu notariellem Entscheidungsgremium und

zur informellen Informationsbörse Rückblickend relativierte Andreas Pinkwart die Rolle des Koalitionsausschusses vordergründig, indem er auf das fortgesetzte formale Beschlussfassungsmonopol des Kabinetts verwies. Zwar habe der Koalitionsausschuss entscheidungsvorbe-reitend gewirkt, aber formal letztentscheidend für die Regierungsformation sei alleine das Kabinett gewesen (Interview Pinkwart: Frage 16). Treffender jedoch erschien die auch öffentlich wahrgenommene Beschreibung dieses wöchentli-chen Treffens der Minister und des Ministerpräsidenten als vor allem notarielles Gremium, dessen Sitzungen „unspektakulär“ und „geräuscharm“ verliefen: „In den Kabinettssitzungen offenbart sich stets diskret der immense Machtwille des Jürgen Rüttgers. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat für die allwö-chentlichen Runden eine kategorische Friedenspflicht verfügt und niemand sei-ner elf Ministerinnen und Minister wagt es, dagegen zu verstoßen. Die Regie-rungsmannschaft wirkt eingeschworen, selbst wenn manchmal jemand über bevorzugte Kabinettskollegen innerlich grollt“ (Frigelj 2007b).

Damit unterschied sich die Kabinettspraxis ab 2005 durchaus gravierend von der vorhergehenden Arbeitsweise. Unter der Leitung Rüttgers‘ sozialdemo-kratischer Amtsvorgänger hatte die Kabinettssitzung durchaus als wichtiges Informations- und Beratungsgremium der Regierungsformationen fungiert, das zudem nicht immer geräuschlos und konsensorientiert nach außen in Erschei-nung trat, sondern häufig als Schauplatz für kontrovers ausgetragene Debatten diente. Zentral für die nun beobachtbare Conversion des Kabinetts war die ver-änderte Anwendung institutioneller Regeln, die maßgeblich auf intentionale Einflussnahme Jürgen Rüttgers‘ zurückging. Ausgehend von dessen Einschät-zung, das Kabinett sei aufgrund seiner Größe einerseits sowie des Fehlens von Vertretern der Regierungsfraktionen andererseits für die politische Entschei-dungsfindung grundsätzlich wenig geeignet (Interview Rüttgers: Frage 1), wurde schrittweise eine veränderte informelle Regelungsstruktur institutionalisiert. In der Beschreibung der üblichen Kabinettspraxis durch Andreas Krautscheid deu-teten sich die zentralen Änderungen in der Anwendung institutioneller Regeln an (Interview Krautscheid: Frage 10): So habe es seiner Erinnerung nach „nie eine Abstimmung gegeben“. Vielmehr sei die „alte Kohlphilosophie“ zur Anwendung gekommen, nur konsensual abgestimmte Punkte in die Tagesordnung des Kabi-

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netts aufzunehmen, was dann formale Abstimmungen überflüssig werden ließ. Jürgen Rüttgers habe gewissermaßen einen „Horror“ vor den streitigen Kabi-nettsdebatten unter den rot-grünen Vorgängerregierungen gehabt und einen be-wussten Kontrapunkt setzen wollen. Daher sei nichts ins Kabinett gegangen, „was nicht absolut spruchreif“ war oder was „nicht im Kabinett noch gerade gebügelt“ werden konnte: „Alles, was nach Stress stank, ging nicht ins Kabinett, sondern musste noch mal eine Runde drehen.“ Daher habe es auch keinerlei streitige Debatten, sondern bestenfalls „Spiegelfechtereien“ der jeweils zuständi-gen Fachminister gegeben. Dementsprechend seien die Tagesordnungspunkte nach einer jeweils kurzen inhaltlichen Einführung des zuständigen Ministers „blitzartig“ abgehakt worden und es war „nach einer halben Stunde Schluss und dann kam der nichtöffentliche Teil und das war drei Mal interessanter“. Hier habe der Ministerpräsident aus unterschiedlichen Gesprächen der vorangegange-nen Woche berichtet und dieser Teil habe außerhalb des Protokolls „meinungs- und stimmungsbildend“ innerhalb des Kabinetts gewirkt. Ansonsten sei die Re-gel gewesen: „Blitzartig durch die Tagesordnung, alles vorher sauber bis zum letzten Punkt abgestimmt, Haken dran, nicht öffentlicher Teil, Feierabend“.

Neben den durch die Geschäftsordnung formalisierten Anforderungen an das Kabinett verdichtete sich diese Praxis der institutionellen Regelanwendung schrittweise zu einem institutionellen Regelsystem mit den nachfolgenden Cha-rakteristika:

Erstens waren die Kabinettssitzungen insbesondere im Vergleich mit den Vorgängerregierungen kurz und verliefen betont geschäftsmäßig. Nur in beson-deren Einzelfällen wie Haushaltsberatungen dauerte die wöchentliche Zusam-menkunft länger als 90 Minuten (Florack 2006k: Frage 2). Grundlage hierfür war die klare Vorgabe, „keine stundenlangen Diskussionen“ zu führen (Interview Stahl: Frage 1), sondern die Tagesordnung zügig abzuarbeiten. Um den Arbeits-charakter zu unterstreichen, gab es auch kein gemeinsames Mittagessen (Florack 2006f: Frage 2; so auch Schumacher 2006b; Schmiese 2006; Szymaniak 2005). So dauerte manche Kabinettssitzung gar nur 30 Minuten, was den notariellen Charakter unterstrich.

Zweitens fanden nur Beratungsgegenstände Eingang in die Tagesordnung, die im Vorfeld abgestimmt waren und über deren Beschlussfähigkeit im Kabinett Konsens zwischen allen Teilakteuren der Regierungsformation bestand. Helmut Stahl bezeichnete diese Praxis als Ausdruck eines besonderen Verständnisses von „Regierungskunst“ auf Seiten Jürgen Rüttgers‘ (Interview Stahl: Frage 1). Prägend seien erneut die Erfahrungen des Ministerpräsidenten im Bundeskabi-nett unter Helmut Kohl gewesen. Rüttgers habe daraus abgeleitet, „dass das Kabinett sich nicht eignet als Ort des Streites“. Hierfür seien insbesondere zwei Gründe ausschlaggebend gewesen. Zum einen seien die Kabinettsmitglieder in

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der Regel mit streitigen Detailfragen jenseits ihrer Ressortzuständigkeit überfor-dert gewesen. Zum anderen blieben Kabinettssitzungen entgegen den Vorgaben der Geschäftsordnung (vgl. Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2000c: 17) selten vertraulich. Streitpunkte wären damit beinahe automatisch Gegenstand öffentlicher Diskussionen geworden, was wiederum in der Einschät-zung Stahls Konsequenzen für das Verhalten der Kabinettsmitglieder gehabt hätte: „Und wenn das öffentlich wird und sich dann Leute positionieren müssen, ist es unglaublich schwierig, Leute wieder von Positionierungen herunter zu bekommen, obwohl sie möglicherweise selbst einsehen oder auch selbst zu der Erkenntnis gekommen sind, dass das, was sie da vertreten haben, so nicht haltbar ist. Aber dann hat man irgendwas gesagt und ist dann verpflichtet, das in irgend-einer Weise zurück zu nehmen“ (Interview Stahl: Frage 1). Daher seien alle Entscheidungen des Kabinetts so vorstrukturiert worden, dass im Kabinett nur noch „der Sack zu gemacht“ werden musste (Interview Stahl: Frage 10; überein-stimmend Interview Emenet: Frage 16; Interview Papke: Frage 2).

Diese von Beginn der Legislaturperiode an gepflegte Praxis hatte weitere praktische Konsequenzen (hierzu Florack 2006k: Frage 4). So wurde die Tages-ordnung des Kabinetts in den ersten Monaten nicht vom Chef der Staatskanzlei, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, gebilligt, sondern der Ministerpräsident nahm diese Aufgabe selbst in die Hand. Zudem fand die Linie einer Beschränkung des Koalitionsausschusses auf konsensuale Beschlussfassung die explizite Unterstüt-zung Andreas Pinkwarts, der damit eine zumindest implizite Akteurskoalition mit dem Ministerpräsidenten einging. Diese basierte nicht zuletzt auf den parallel etablierten Routinen des Koalitionsausschusses, denn die veränderte Regelan-wendung im Kabinett sicherte nicht zuletzt das Vertretungsmonopol beider Ak-teure im Koalitionsausschuss und bestätigte damit auch die machtverteilenden Effekte zugunsten der beiden Parteichefs. Die Reduzierung des Kabinetts auf eine notarielle Bestätigung bereits an anderer Stelle gefallener Entscheidungen stärkte die politische Stellung des Koalitionsausschusses und damit die dort do-minanten Akteure.

Gleichwohl gab es nach Darstellung Andreas Pinkwarts in seltenen Aus-nahmefällen konfliktäre Punkte auf der Tagesordnung des Kabinetts. Hier sei jedoch „auf dem Weg dahin über den ganzen Vormittag bis in den frühen Nach-mittag hinein versucht“ worden, an „einer konsensualen Lösung zu arbeiten, damit eine Kabinettvorlage dann auch wirklich von beiden Seiten verabschiedet werden konnte. Wenn das nicht ging, wurde sie vertagt“ (Interview Pinkwart: Frage 3). Ein Beispiel für einen solchen Vorgang war eine Entscheidung zur Kohlepolitik. Nachdem die eigentliche Beschlussvorlage für das Kabinett nach einer Äußerung des FDP-Fraktionschefs wider Erwarten streitig erschien, wurde

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 405

der Punkte von der Tagesordnung genommen und stattdessen Beratungsgegen-stand des Koalitionsausschusses (so Seim 2005).

Eine weitere und damit dritte Veränderung vormalig etablierter Regeln der Kabinettsarbeit bestand darin, die wöchentlichen Sitzungen nicht durch nach Parteien getrennte Besprechungen vorzubereiten. Anders als unter den rot-grünen Vorgängerregierungen erschienen nicht zuletzt angesichts der konsensualen Beratungspraxis im Kabinett solche Beratungen auch nicht wirk-lich notwendig (Wiedemann 2006a). Zugleich drückte sich hierin erneut eine inhaltliche Querverbindung zur Konstruktion und Arbeitsweise des Koalitions-ausschusses aus. Auf Seiten der FDP waren die beiden Minister Pinkwart und Wolf auch Mitglieder des Koalitionsausschusses und damit unmittelbar in alle wichtigen Entscheidungsprozesse eingebunden. Da zudem mit Gerhard Papke als Fraktionschef alle relevanten Teilakteure der Liberalen im Sinne der individuel-len Vertretungslogik korporativer Akteure eingebunden waren, erschien eine zusätzliche parteiinterne Vorbereitung des Kabinetts als nicht notwendig. Auf Seiten der CDU wiederum war Jürgen Rüttgers unangefochten wichtigster Ak-teur und mit weitgehender Partei- und Vertretungsmacht ausgestattet. Als „pri-mus inter pares“ spielte er auch im Kabinett, formal abgesichert durch die Richt-linienkompetenz des Ministerpräsidenten, seine Sonderrolle aus und machte angesichts des weitgehenden Repräsentationsmonopols eine CDU-interne Vor-besprechung obsolet. Da Helmut Linssen als Finanzminister und insofern politi-sches Schwergewicht vergleichsweis häufig zum Koalitionsausschuss hinzugebeten wurde, und die sonstigen Rückspracheprozesse innerhalb des ge-schäftsführenden Landesvorstandes und des Fraktionsvorstandes der Christde-mokraten stattfanden, war zugleich der notwendige parteiinterne Abstimmungs-prozess gewährleistet. Das änderte sich nach Darstellung Andreas Krautscheids erst Ende 2009 im Vorlauf auf die anstehende Landtagswahl. Der stärker wer-dende Parteienwettbewerb auch mit der FDP führte dazu, dass sich ab Anfang 2010 die CDU-Minister zu einer separaten Vorbesprechung trafen. Allerdings folgte diese veränderte Regel weniger kernexekutiven als vielmehr wahlkampf-bezogenen Imperativen (Interview Krautscheid: Frage 9).

Viertens wurde im Anschluss an die Beratung der Tagesordnungspunkte ein „nichtöffentlicher Teil“ des Kabinetts als informelles Rückspracheformat etab-liert. Dieser nach Einschätzung Krautscheids „meinungs- und stimmungsbilden-de“ Austausch (Interview Krautscheid: Frage 10) bestand aus einem Austausch im Kreis der Kabinettsmitglieder, Gesprächen des Ministerpräsidenten mit ein-zelnen Ministern oder Gruppen sowie Gesprächen verschiedener Ressortchefs untereinander (Florack 2006k: Frage 3). Gegenstand der Diskussionen waren der informelle Austausch über wichtige landespolitische Themen, kurzfristige Ereig-nisse wie die OPEL-Krise oder die Schließung eines Nokia-Werkes in Bochum

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oder die Bitte an einzelne Minister, zu bestimmten Themen eine kurze Einschät-zung abzugeben. Außerhalb des Protokolls ging es dabei aber immer nur um Stimmungsbilder, abgestimmt wurde dementsprechend nicht (Interview Kraut-scheid: Frage 10).

Fünftens schließlich fand der veränderte Charakter des Kabinetts seinen Niederschlag in einer der Teilnehmerstruktur und einer damit einhergehenden, von den formalen Vorgaben abweichenden Regelanwendung. Die Geschäftsord-nung der Landesregierung (Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2005c) sah in §18 Abs. 1 neben der Teilnahme des Ministerpräsidenten und der Minister die regelmäßige Beteiligung des Chefs der Staatskanzlei, des Parlamen-tarischen Staatssekretärs, des Regierungssprechers und des Schriftführers120 vor. Neben der Möglichkeit, die „Sitzung auf die Mitglieder der Landesregierung zu beschränken“ (§18 Abs. 3), eröffnete diese formale Vorgabe auch die Möglich-keit, weitere Staatssekretäre, Beamte oder Regierungsangestellte mit Zustim-mung des Ministerpräsidenten hinzuzuziehen. Allerdings sollten diese „an der Sitzung nur für die Dauer der Verhandlungen über den Punkt teil[nehmen], zu dem sie hinzugezogen“ wurden (§18 Abs. 3). In der praktischen Umsetzung dieser Regel zeigten sich jedoch Abweichungen (hierzu Florack 2006k: Frage 1). So nahm nicht nur der Regierungssprecher, sondern auch sein Stellvertreter Hol-ger Schlienkamp an den Kabinettssitzungen teil. Nachdem der Chef der Staats-kanzlei hier zunächst Bedenken angemeldet hatte, schuf Schlienkamp durch sein Kommen Fakten. Von Beginn an wohnten zudem die Abteilungsleiter II und III der Staatskanzlei, Edmund Heller und Boris Berger, den wöchentlichen Sitzun-gen bei. Nach dem Wechsel im Amt des Abteilungsleiters I von Bernhard Nebe zu Annette Storsberg wurde auch sie zu den Sitzungen eingeladen. Insbesondere Boris Berger legte Wert auf eine Teilnahme, sah er in den wöchentlichen Kabi-nettssitzungen doch einen wichtigen Fixpunkt für seine Arbeit als zentraler Machtmakler des Ministerpräsidenten. In der Einschätzung Christian Lindners drückte sich nicht zuletzt im jeweiligen Näheverhältnis der Minister zu Boris Berger eine informelle „Zweiklassengesellschaft“ im Kabinett aus (Florack 2007d). Während ein enger Austausch auf eine herausgehobene Bedeutung hin-wies, galt das Gegenteil für die Ressortchefs, die keine unmittelbare Arbeitsbe-ziehung zum Abteilungsleiter der Staatskanzlei pflegten. Die herausgehobene Stellung Bergers als persönlicher Repräsentant des Ministerpräsidenten fand hiermit auch in der Kabinettsarbeit sinnbildlich ihren Ausdruck. Zugleich hielt Berger das Kabinett trotz seiner auf eine weitgehend notarielle Funktion be-grenzte Rolle für politisch zentral. Dies galt jedoch nicht für sonstige administra-tive Koordinationsinstanzen wie beispielsweise die Staatssekretärskonferenz.

120 Diese Aufgabe kam dem Leiter des Kabinettreferats der Staatskanzlei zu.

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 407

Diesen kam eine stärker administrativ und weniger politisch bedeutsame Rolle im üblichen Gefüge der formalen Ressortabstimmung zu (so Interview Henze: Frage 10). 5.2.3.2 Die Staatssekretärskonferenz: Institutionelle Stabilisierung als

administrative Clearing-Stelle Mit der Beschränkung des Kabinetts auf die formale Beschlussfassung ging eine parallele Fokussierung der Staatssekretärskonferenz auf die administrative Un-terstützung der Kabinettsarbeit einher. Die Konsequenz war eine vergleichsweise schnelle und dauerhaft wirksame institutionelle Stabilisierung dieser kernexeku-tiven Koordinationsinstanz in Folge der weitgehend konsistenten Anwendung formaler Regeln. Ihre Hauptfunktion war es, als formalisierte Clearing-Stelle im Rahmen des gestuften Abstimmungsprozesses die unterschiedlichen Perspekti-ven der Ressorts zu beraten und wenn möglich in Einklang zu bringen. Entlang der Logik koordinierender Eskalationsstufen trat die Staatssekretärskonferenz auf den Plan, wenn die Kabinettreferate der Ressorts ihre Aufgaben auf der Ar-beitsebene erledigt hatten und gegebenenfalls ergänzende bilaterale Gespräche zwischen den Staatssekretären der beteiligten Häuser stattgefunden hatten. Im Regelfall erreichten schon konsensual abgestimmte Vorlagen diesen Kreis unter Leitung des Chefs der Staatskanzlei. Anders als das Kabinett wurden konfligierende Punkte jedoch in der Staatssekretärskonferenz behandelt und, wenn keine Einigung möglich war, von hier meist an den Chef der Staatskanzlei zur weiteren Klärung delegiert. Dieser bemühte sich dann entweder um die Her-stellung von Einvernehmen oder die jeweilige Frage wurde zum Beratungsge-genstand des Koalitionsausschusses als letzter kernexekutiver Beratungsinstanz (so Interview Pinkwart: Frage 3 und Frage 8; Interview Stahl: Frage 1). Nur wenn auf diesem Weg eine konsensuale Kabinettvorlage zustande kam, erreichte diese zusammen mit einer entsprechenden Beschlussempfehlung der Staatssekre-tärskonferenz das Kabinett. Damit wurde die Staatssekretärskonferenz in der Konsequenz zur zentralen administrativen Clearing-Stelle, in deren Beratungen sowohl sachliche als auch politische Erwägungen Eingang fanden, ohne dabei in Konkurrenz zum Koalitionsausschuss zu geraten (Florack 2006k: Frage 6; Florack 2007a; Interview Zimmermann: Frage 16).

Mit dieser Anlage ging auch die Ausprägung spezifischer institutioneller Regeln einher. Diese gingen sowohl auf intentionales Institutionendesign als auch eine langfristig stabilisierende Institutionenentwicklung im Sinne wieder-holter Regelanwendungen zurück. Dabei waren vor allem pfadverstärkende Ent-

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wicklungsdynamiken zu beobachten, die auf dem weitgehenden Gleichklang formaler Regeln und ihrer Anwendung fußten.

Erstens zeigte sich die institutionelle Regel, alle Tagesordnungspunkte des Kabinetts zweimal in der Staatssekretärskonferenz zu beraten. Axel Emenet formulierte die entsprechende Arbeitsteilung folgendermaßen: „Wenn alles nor-mal läuft, ist ja die Aufgabe der Staatssekretärskonferenz, und das ist eigentlich sehr geschickt, die Kabinettvorlagen bereits in der Vorwoche der Kabinettsbefas-sung daraufhin zu überprüfen, ob sie allgemein zustimmungsfähig sind. Und dann in der Woche der Kabinetts, unmittelbar zuvor, noch einmal zu gucken, ob nun wirklich alles klar ist“ (Interview Emenet: Frage 16). Diese doppelte Befas-sung der Staatssekretäre diente dem Zweck, sowohl eine grundsätzliche Kon-senssuche als auch die zwischenzeitliche Klärung noch verbleibender Detailfra-gen zu ermöglichen, um im Kabinett dann ohne weitergehende Diskussion zu Entscheidungen zu kommen. In der Praxis bedeutete das eine zweimalige Befas-sung der Staatssekretärskonferenz acht Tage vorher und am Vortag der jeweili-gen Kabinettssitzung (Florack 2006k: Frage 7). Beispielhaft zeigte sich das bei der Eckpunkteberatung des „Hochschulfreiheitsgesetzes“: Die nach Vorarbeit des Innovationsministeriums vom Koalitionsausschuss verabredeten Eckpunkte sollten im Rahmen eines Kabinettsbeschlusses formalisiert werden. Eine erste Beratung der Staatssekretäre erfolgt am 16. Januar 2006. Einige der dort vorge-brachten Kritikpunkte, die sich im Zuge einer ersten Ressortabstimmung ergeben hatten, wurden in der nachfolgenden Woche beraten, so dass die Staatssekretärs-konferenz eine leicht veränderte Fassung am 23. Januar 2006 mit einer positiven Beschlussempfehlung an das Kabinett weiterleiteten (hierzu ausführlich Florack 2011a: 212–214).

Andreas Krautscheid betonte diese Clearing-Funktion jenseits von landes-politischen Policy-Entscheidungen auch mit Blick auf das Abstimmungsverhal-ten im Bundesrat. Hier war die Staatssekretärskonferenz „sozusagen die letzte Stunde der Wahrheit“: Blieben Sachverhalte streitig, war keine Entscheidung des Kabinetts zu erwarten und folgte daraus auch keine Festlegung des Stimmverhal-tens des Landes im Bundesrat einher (Interview Krautscheid: Frage 10). Die Staatskanzlei als Clearing-Stelle wirkte damit in Bundesratsangelegenheiten disziplinierend, war doch die Alternative die politische Handlungsunfähigkeit der Regierungsformation.

Hiermit verwies Krautscheid zudem auf eine weitere und damit zweite Re-gelstruktur dieser Institution der Regierungsorganisation: die zeitliche Strukturie-rung entlang des institutionellen Gesamtgefüges der Kernexekutive. Im Sinne einer inhaltlich begründeten zeitlichen Taktung war die Staatssekretärskonferenz zeitlich auf den Sitzungsturnus des Koalitionsausschusses und des Kabinetts abgestimmt. Üblicherweise kamen die Staatssekretäre montags um 14 Uhr in der

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 409

Staatskanzlei zusammen. Da die entsprechenden Beratungsunterlagen im Nor-malfall bereits seit Ende der jeweiligen Vorwoche vorlagen, waren über das Wochenende hinweg mögliche Streitpunkte zu identifizieren und gegebenenfalls im bilateralen Austausch auszuräumen (Interview Krautscheid: Frage 10). Vor allem Karsten Beneke als Chef der Staatskanzlei sah seine zentrale Aufgabe darin, die Staatssekretärskonferenz am folgenden Montag auf dieser Grundlage über das Wochenende hinweg vorzubereiten. Er verwies seinerseits auf die Mög-lichkeit, in der üblichen Montagslage der Staatskanzlei noch offene Fragen intern zu diskutieren (Interview Beneke: Frage 13). Entscheidender war jedoch die zeitliche Abstimmung mit Blick auf die Kabinettssitzungen am Dienstagnach-mittag sowie den Sitzungsturnus des Koalitionsausschusses. Die Beratungen der Staatssekretärskonferenz eröffneten für die Koalitionsrunde die Möglichkeit, noch Hinweise aufzunehmen und damit eine konstruktive „Vorbereitung von Entscheidungskonstellationen“ zu erreichen (so Interview Papke: Frage 3). Dem-entsprechend kam der Koalitionsausschuss bei seinem normalen Tagungsrhyth-mus entweder montagsabends oder dienstagvormittags zusammen, um nach der Staatssekretärskonferenz zu tagen und zugleich bei Bedarf die Kabinettssitzung vorbereiten zu können.

Drittens schließlich zeigte sich auch am Beispiel der Staatssekretärskon-ferenz der institutionelle Einfluss individueller Akteure, die zugleich als Reprä-sentanten korporativer Teilakteure agierten. Besonders deutlich war dies mit Blick auf den Chef der Staatskanzlei, der die Staatssekretärsrunde qua Amt leite-te. Die Fokussierung auf administrative Unterstützungsleistungen innerhalb der Kernexekutive korrespondierte mit einer entsprechenden Amtsauffassung Kars-ten Benekes. Er nutzte diesen Kreis insbesondere für die direkte Rücksprache mit seinen Amtskollegen in den Ressorts. Angesichts der Verknüpfung dieses Gremiums mit dem Koalitionsausschuss sowie der ihm zugewiesenen Funktio-nen der Vor- und Nachbereitung von Kabinettsentscheidungen war die Staats-sekretärskonferenz für Beneke nach eigener Einschätzung „von einer besonderen Relevanz“ (Interview Beneke: Frage 10). Allerdings positionierte er sowohl die Staatssekretärsrunde als auch seine eigene Arbeit weniger in der eigentlichen politischen Arena, sondern verstand beides als politikunterstützendes Hilfsin-strument. Angesichts einer entsprechenden formalen Rollenzuschreibung der Staatskanzlei war die Folge eine entsprechende institutionelle Stabilisierung, bei der sich formale Regelsysteme und konkrete Regelanwendung weitgehend de-ckungsgleich zeigten.

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410 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

5.2.3.3 Informelle und formale Praktiken der kernexekutiven Koordination: Layering und Conversion

Die vergleichsweise stark formalisierten Regelsystemkomplexe Kabinett und Staatssekretärskonferenz wurden schließlich ergänzt durch informelle Praktiken, Routinen und Prozeduren, die als Verbindungsglied zwischen formaler und in-formeller Sphäre das institutionelle Regelsystem der Kernexekutive vervollstän-digten. Dominant erwies sich hier der Transformationsmodus des Layering. Insbesondere bei der notwendigen Rückkopplung zwischen Regierungshandeln und Regierungsparteien sowie bei über bereits beschriebene Regelsysteme hin-ausgehenden Abstimmungsprozessen zwischen exekutiver und parlamentarischer Arena zeigte sich die Einführung ergänzender institutioneller Regeln, ohne zu-gleich weitere bestehende Regelsysteme nennenswert zu verändern oder gar zu vernachlässigen. Es handelte sich vielmehr um eine überwiegend informelle Verdichtung der Kernexekutive. Ergänzend kamen Transformationsprozesse bestehender Institutionen im Sinne eine Conversion hinzu.

Ein erstes Beispiel für zusätzlich Koordinations- und Informationsinstituti-onen waren informelle Abstimmungsformate zwischen den Büroleitern aus Staatskanzlei und Ressorts sowie regelmäßig tagende Runden der Ministeriums- mit den Regierungssprechern. Der Leiter des Ministerpräsidentenbüros, Axel Emenet, betonte beispielsweise, er „habe es (…) als wichtig empfunden und auch fest eingerichtet so durchgehalten“, „als informeller Vorsitzender aller Büroleiter zu einem regelmäßigen Büroleitertreffen“ einzuladen. Der Austausch und die gegenseitigen Lerneffekte hätten dazu beigetragen, dass in den Arbeits-bereichen „möglichst eng miteinander“ gearbeitet werden konnte und man dann „natürlich auch ganz schnell informelle Kontakte gepflegt“ habe (Interview Emenet: Frage 22).

Ein ähnliches informelles Netzwerk etablierte sich auf der Ebene der Regie-rungs- und Ressortsprecher. Nach Einschätzung Andreas Pinkwarts (Interview Pinkwart: Frage 17) diente dieses informelle Abstimmungsformat ganz ähnlich wie die stärker formalisierte Staatssekretärskonferenz dem Chef der Staatskanz-lei als institutionalisierte Austauschplattform. Nur so sei es jenseits der Profilie-rung einzelner Ministerien möglich gewesen, „auch ein Gesamterscheinungsbild der Regierung sicherstellen zu können“. Andreas Krautscheid (Interview Kraut-scheid: Frage 7) bestätigte die Existenz einer abgestimmten Wochenplanung und einer morgendlichen Schaltkonferenz auf Sprecherebene. Dabei sei es ihm darum gegangen, das ‚big picture‘ der Regierungsformation kohärent abzustimmen. Gegenüber dem Landtag betonte der Chef der Staatskanzlei Ende 2009 die routi-nemäßige Institutionalisierung dieses Rückspracheformats (Landtag Nordrhein-Westfalen 2009b: 49). Dabei habe es sich um „eher informelle“, aber regelmäßi-

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 411

ge Treffen im etwa zweimonatigen Rhythmus gehandelt, bei denen jedoch weder Protokoll geführt noch Entscheidungen herbeigeführt worden seien.

Darüber hinaus betonte Andreas Krautscheid im Rückblick auf seine Zeit als Regierungssprecher den informellen Abstimmungsprozess mit seinem Stell-vertreter Holger Schlienkamp, der vor allem mit Blick auf das Koalitionsmana-gement eine wichtige Funktion gehabt habe. Sowohl sein Verhältnis zu Schlien-kamp sei ein „unproblematisch bis freundschaftliches“ gewesen und auch Jürgen Rüttgers habe Schlienkamp nach anfänglichem Abtasten „im großen Maße ver-traut“. Die Bedeutung dieses Vertrauensverhältnisses für das Koalitionsmana-gement machte Krautscheid insofern deutlich, als er die Arbeitsteilung innerhalb der Staatskanzlei hervorhob. So habe man Eindrücke aus den jeweiligen Frakti-onssitzungen von CDU und FDP ausgetauscht, gemeinsame Sprachregelungen abgestimmt und als Frühwarnsystem für die jeweiligen korporativen Teilakteure der Regierungsformation agiert. Auf diesem Wege versuchte Krautscheid nach eigener Darstellung, „verschiedene Informationskanäle aufzubauen, (…) um einfach auch in den Blick zu kriegen, wer treibt was, um es dann steuern zu kön-nen“ (Interview Krautscheid: Frage 7).

Der Aufbau eines zweiten informellen Institutionensystems zeigte sich mit Blick auf die Abstimmungsinstanzen zwischen Staatskanzlei und der CDU-Landtagsfraktion. Aus koalitionspolitischen Erwägungen erwartbar gab es keine entsprechend institutionalisierte Struktur zwischen der Regierungszentrale und der FDP-Fraktion. Die entsprechenden Rückkopplungsprozesse waren einerseits Aufgabe des Koalitionsausschusses als „ausdrückliches Instrument der Abstim-mung mit dem Koalitionspartner“ (Interview Emenet: Frage 21). Andererseits verliefen die notwendigen Abstimmungsprozesse, wie bereits oben skizziert, über das Innovationsministerium als FDP-interner „Clearing-Stelle“.

Nach Einschätzung Helmut Stahls stellte sich das Verhältnis innerhalb der Handlungseinheit von Regierung und CDU-Mehrheitsfraktion jedoch als nicht unproblematisch dar. Die durch Rüttgers und Stahl repräsentierten Teilakteure der Regierungsformation fanden sich bereits nach wenigen Wochen in einem gewissen Konkurrenzverhältnis wieder. Aus Sicht des Fraktionschefs erwies sich die Regierung und vor allem der Ministerpräsident als „natürlicher Partner“, aber auch „Gegner von Abgeordneten“ der CDU-Fraktion. Nicht zuletzt die Struktur der Regierungsfraktion mit ausnahmslos in Wahlkreisen erfolgreichen Direkt-kandidaten sorgte für eine entsprechende Dynamik, „auch mit Ellenbogen (…) gegenüber der Regierung“ für die Durchsetzung individueller Interessen zu kämpfen. Das Ergebnis war aus Stahls Perspektive ein „nicht spannungsloser Prozess der Interaktion zwischen Abgeordneten, Fraktionsführung und Ministe-rInnen respektive Ministerpräsident" (Interview Stahl: Frage 15). Auch im „Bauchgefühl“ Andreas Krautscheids erwies sich die Rückkopplung zwischen

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412 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Fraktion und Regierung im Rückblick als „nicht optimal“. Zwar habe Jürgen Rüttgers an beinahe jeder Fraktionssitzung persönlich teilgenommen, um auch den direkten Kontakt in die Fraktion hinein nicht abreißen zu lassen, aber ein Teil der Abgeordneten habe „sich bei diesen Übungen nicht immer emotional mitgenommen gefühlt“. Als Grund identifizierte Krautscheid persönliche Merk-male der beiden zentralen Repräsentationsakteure. Sowohl Rüttgers als auch Stahl seinen keine „Kumpeltypen“ gewesen. Damit habe sich jenseits der funkti-onierenden Abstimmungsprozesse „nie so eine richtige emotionale Bindung“ ergeben. Zudem sei insbesondere Jürgen Rüttgers der Fraktion oftmals gegen-über der FDP als zu nachgiebig erschienen, was zusätzliches Unbehagen ausge-löst habe. In der Folge sei vor allem Helmut Stahl oftmals zwischen seiner Loya-lität gegenüber dem Ministerpräsidenten einerseits und der Vertretung der Posi-tionen einer selbstbewussten Regierungsfraktion andererseits gefangen gewesen (Interview Krautscheid: Frage 13 und Frage 14).

Ganz in diesem Sinne hatten Rüttgers und Stahl gegenüber der CDU-Landtagsfraktion schon im Oktober 2005 erklärt, eine deutliche Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Landtag und Landesregierung sei notwendig. Der Ministerpräsident verwies dabei auf eine arbeitsteilige Strukturierung dieser Kooperation. Aufgabe des Regierungsapparats sei es, Vorlagen für die parlamen-tarische Befassung zu liefern, bevor die Fraktion dann auf dieser Grundlage in die politische Diskussion eintrete. Der Fraktionsvorsitzende wiederum betonte seine Schlichtungs- und Vermittlungsrolle in diesem Prozess und betonte, Grundlage für eine gelungene Kommunikation zwischen Fraktion und Landesre-gierung sei ein gewisses Maß an Vertraulichkeit und Vertrauen auf beiden Seiten (Florack: 25. Oktober 2005).

An diesen Prämissen orientierte sich das schrittweise institutionalisierte Netz von Abstimmungsstrukturen zwischen exekutiver und regierungsfraktionel-ler Ebene. Dieses basierte auf einer ausgeprägten Repräsentationsrolle individu-eller Akteure für die jeweiligen korporativen Teilakteure der Regierungsformati-on. Wie im Koalitionsausschuss erwiesen sich hier insbesondere Jürgen Rüttgers und Helmut Stahl als dominante Vertretungsakteure. Gleichwohl zeigte sich eine gewissermaßen paradoxe Situation: Während das Repräsentationsmonopol dieser individuellen Akteure zentrale Grundlage der institutionellen Strukturierung der Kernexekutive war und dieses Repräsentationsprinzip zumindest nicht offen hinterfragt oder gar in Frage gestellt wurde, blieb ein latentes Spannungsverhält-nis der korporativen Teilakteure zu ihren individuellen Repräsentanten erhalten. Im Koalitionsausschuss sorgte nicht zuletzt die Interaktion mit dem Koalitions-partner für eine Disziplinierung und damit Dosierung des Unbehagens innerhalb der CDU. Als latent umkämpfter erwies sich die Repräsentantenrolle Stahls und Rüttgers‘ jedoch mit Blick auf die CDU-internen Abstimmungsprozesse. Nicht

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 413

zuletzt der strukturell angelegte Ministerpräsidentenbonus, die besonderen politi-schen Umstände des Regierungswechsels 2005, die schon während der Koaliti-onsverhandlungen symbolisch überhöhte Abgrenzung der neuen Regierungsfor-mation von der vorherigen rot-grünen „Streitkoalition“ und die Notwendigkeit funktionierender Abstimmungspraktiken zur Erfüllung der gemeinsamen politi-schen Gestaltungsintentionen ließen diese Konflikte jedoch zumindest in der ersten Hälfte der Legislaturperiode nicht offen zutage treten.

Das Ergebnis war ein erneut stark akteursorientiertes Netz von Kooperati-onsstrukturen und -praktiken zwischen der größeren Regierungsfraktion und der Staatskanzlei, das als ergänzende Regelstruktur im Sinne von Layering etabliert wurde. Hierzu gehörte zum einen der unmittelbare persönliche Austausch zwi-schen Rüttgers und Stahl, bei dem meist zu Wochenbeginn beide wichtige Punk-te abstimmten (Florack 2006c: Frage 3). Hinzu kam ein „ritualisiert zu festen Zeiten“ am Montag stattfindender, wöchentlicher Austausch mit weiteren Akteu-ren in der Staatskanzlei (hierzu Interview Emenet: Frage 20). Von Seiten der CDU-Fraktion nahm hieran neben Helmut Stahl auch Edmund Heller teil. Im Zuge des Revirements in der Staatskanzlei im Sommer 2006 war Heller von seiner Position als Abteilungsleiter in der Staatskanzlei zurück in die Fraktion gewechselt, um von dort aus, so die öffentliche Darstellung, die regierungsfor-mationsinterne Abstimmung zu verbessern (Schumacher 2006c; Tutt 2006d: 8). Von Seiten der Staatskanzlei kamen neben Axel Emenet Karsten Beneke sowie je nach politischer oder fachlicher Zuständigkeit die Leiter der Abteilungen für Ressortkoordination und politische Planung hinzu. Dies entsprach der Intention, Helmut Stahl als Verbindungsglied und Transferstelle zwischen exekutiver und parlamentarischer Arena wirken zu lassen und ihn insofern zum Mitglied des ‚Inner Circle‘ zu machen (Interview Krautscheid: Frage 14).

Ein dritter und letzter Institutionenkomplex schließlich umfasste die Rück-kopplung zwischen Regierungsformation und den sie tragenden Parteien. Sowohl auf Seiten der CDU als auch bei der FDP zeigte sich hier insofern ein institutio-neller Stabilisierungsprozess, als bereits bestehende und zugleich stark formali-sierte Regelsysteme der parteiinternen Abstimmung und Meinungsbildung hin-sichtlich dieser Koordinationsleistungen zum Einsatz kamen. Erneut spielten individuelle Akteure und Akteurskoalitionen in dem Sinne eine zentrale Rolle, als die Verschränkung von exekutiver und parteilicher Arena weitgehend durch ihre Repräsentationsleistungen zustande kam.

Auf der Seite der CDU erwies sich insbesondere die Personalunion Rüttgers als Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzender als prägend für die Struktu-rierung der Kernexekutive in dieser Hinsicht. Vor dem Hintergrund der Amts-übernahme des CDU-Landesvorsitzes noch zu Oppositionszeiten war es Rüttgers gelungen, die CDU sowohl kampagnen- als auch regierungsfähig zu machen.

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414 5 Die Transformation der nordrhein-westfälischen Kernexekutive

Während die Einschätzungen auseinandergingen, ob damit auch die Herausbil-dung eines strategischen Zentrums und eine dauerhafte Befriedung der notori-schen innerparteilichen Machtkämpfe gelungen war (vgl. Neumann 2012: 193–293; Kronenberg 2009: 233–248; auch Hitze 2010), verfügte Jürgen Rüttgers doch ab 2005 über ein ausgeprägtes Maß an Parteimacht und agierte nach Ein-schätzung aller zentralen Akteure der Regierungsformation als unangefochtener Repräsentant der Regierungspartei (Korte et al. 2006: 327–379).

Mit Blick auf die Kernexekutive führte diese Repräsentantenrolle dazu, dass eine weitergehende Einbindung der Partei in die zentralen institutionellen Regel-systeme nicht notwendig erschien. Insbesondere der Verzicht auf die Institutio-nalisierung zusätzlicher parteiinterner Vorbesprechungen des Koalitionsaus-schusses wurde damit begründet, dass die Partei über Jürgen Rüttgers sowie die übrigen CDU-Vertreter dort ausreichend repräsentiert gewesen seien (so Inter-view Stahl: Frage 5). Um gleichwohl die Stabilität dieses Repräsentationsmo-dells langfristig zu erhalten, wurden die bestehenden innerparteilichen Abstim-mungsgremien im Sinne einer Conversion auch für kernexekutive Koordinati-onsprozesse nutzbar gemacht.

Erstens diente der CDU-Landesvorstand als Ort für entsprechende parteiin-terne Abstimmungen. Neben dem Ministerpräsidenten bot dieses Gremium auch weiteren führenden Parteiakteuren mit Regierungsämtern die Möglichkeit zum informellen Austausch. Angesichts der unterschiedlichen Konstellationen aus geschäftsführendem und erweitertem Landesvorstand bestanden zudem Abstu-fungsmöglichkeiten parteiinterner Partizipation (Interview Stahl: Frage 5). Zwei-tens dienten sowohl die CDU-Fraktions- als auch die Sitzungen des geschäfts-führenden Fraktionsvorstandes dazu, die Repräsentation der Partei sicherzustel-len. Während die Fraktionssitzungen in ihrem hoch ritualisierten Ablauf vor allem dem sozialen Zusammenfinden und der formalen Absicherung von Positi-onen durch entsprechende Beschlüsse dienten (Interview Stahl: Frage 20), fun-gierte der Fraktionsvorstand auch als „Paukboden“, um Diskussionsprozesse anzustoßen und Entscheidungsvorbereitungen zu erwirken (Interview Stahl: Frage 19). Drittens schließlich kamen zahlreiche informelle Abstimmungspro-zesse wichtiger Parteiakteure hinzu, die bis auf wenige Ausnahmen zugleich auch Regierungsämter bekleideten (hierzu Frigelj 2007b; Tutt 2006d: 8).

Für die FDP erwiesen sich ebenfalls die formalisierten Parteigremien im Zuge einer schrittweisen Conversion als zentrale kernexekutive Abstimmungsin-stitutionen. Nach Einschätzung des FDP-Fraktionsvorsitzenden spielte die „Par-tei als solche“ angesichts der funktionierenden Repräsentantenrolle Pinkwarts als Parteivorsitzender „keine wesentliche Rolle“. Notwendige Koordinationsprozes-se zwischen Partei und Fraktion erfolgten nach Darstellung Papkes im Wesentli-chen im Rahmen direkter Absprachen zwischen Pinkwart und Papke (Interview

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5.2 Transformationsprozesse der nordrhein-westfälischen Kernexekutive 415

Papke: Frage 15). Gleichwohl zeigten sich auf beiden Seiten Repräsentationsde-fizite. Während der Fraktionsvorsitzende insbesondere in landespolitischen Streitfeldern wie der Schulpolitik „nicht immer ein homogenes Meinungsbild der eigenen Fraktion“ widerspiegelte, stand auch die ausschließliche Repräsentation der Partei als Ganzes durch ihren Landesvorsitzenden Pinkwart in Zweifel (In-terview Zimmermann: Frage 9). Während aus der Perspektive des Koalitions-partners die CDU in deutlich stärkerem Maße auf Jürgen Rüttgers ausgerichtet war, folgte die weniger ausgeprägte Führungsrolle Pinkwarts den Erfahrungen unter seinem Amtsvorgänger Jürgen Möllemann. Vor dem Erfahrungshinter-grund mit dessen hierarchischer Führung wäre eine stärkere personelle Zentrali-sierung zugunsten des Parteivorsitzenden nach Einschätzung Zimmermanns faktisch unmöglich gewesen (Florack 2006b: Frage 1).

Dementsprechend erklärte auch Andreas Pinkwart, das Selbstverständnis der FDP als Programmpartei habe es „zwingend notwendig“ gemacht, sich „sehr sorgfältig“ rückzukoppeln (Interview Pinkwart: Frage 11). Dies erfolgte im Rahmen der Fraktionssitzungen, im geschäftsführenden Landesvorstand sowie in den Landesvorstandssitzungen (übereinstimmend Interview Pinkwart: Frage 11; Interview Papke: Frage 15; Interview Zimmermann: Frage 11; Florack 2006g: Frage 5). Angesichts der vergleichsweise überschaubaren Größe der Fraktion mit 12 Abgeordneten erwies sich dieses Gremium in dieser Hinsicht als deutlich leichter nutzbar als die mit 89 Abgeordneten deutlich größere CDU-Fraktion. Nach Christian Lindners Einschätzung reichte die innerparteiliche Stellung der Fraktion angesichts zahlreicher Parteiämter ihrer Mitglieder sogar soweit, fak-tisch die Parteilinie zu bestimmen (Florack 2006g: Frage 5). Gleichwohl wurden im Landesvorstand die zentralen Themen, „die irgendwann auch auf der Tages-ordnung der Koalitionsrunde relevant waren, (…) vor- beziehungsweise nachge-koppelt“ (Interview Pinkwart: Frage 11). In der Wahrnehmung Gerhard Papkes führten diese institutionelle Regeln zur Entwicklung handlungsfähiger Positionen auf Seiten der FDP: „[W]enn es zwischen dem stellvertretenden Ministerpräsi-denten und Landesvorsitzenden und dem Fraktionschef keinen Dissens, sondern einen Konsens gab, dann haben wir das natürlich durch alle Gremien durchtragen können, sowohl durch die Fraktion, als auch durch die Partei“ (Interview Papke: Frage 15).

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6 Fazit: Schlussfolgerungen zur Transformation der Kernexekutive und Einordnung der Erkenntnisse

Die vorliegende Arbeit richtete ihr Augenmerkt auf die Konsequenzen eines Regierungswechsels für die Regierungsorganisation als formales und informelles Institutionensystem. Konkreter Gegenstand der theoretisch angeleiteten Struktur- und Prozessanalyse war die Entwicklung der nordrhein-westfälischen Regie-rungsorganisation im Anschluss an den Regierungswechsel 2005. Der zunächst allgemein gefasste Begriff der Regierungsorganisation wurde im Sinne eines kernexekutiven Verständnisses präzisiert. Dies bedeutete einen funktionsbezoge-nen Zugang, der die relevanten Gegenstände über die von ihr erbrachten Koordi-nations- und Steuerungsfunktionen eingrenzte. Hinzu kam eine Erweiterung des Regierungsbegriffs im Sinne einer Regierungsformation, unter der die Hand-lungseinheit von Exekutive, Mehrheitsfraktionen und Regierungsparteien ver-standen wurde. Entlang dieses doppelt erweiterten Verständnisses umfasste die Kernexekutive damit alle institutionellen Regelsysteme, die in ihrer Gesamtheit als sowohl nach innen als auch nach außen gerichtetes formales und informelles Kommunikations-, Koordinations- und Entscheidungssystem der Regierungs-formation fungierten.

Die über die deskriptive Erfassung dieser Institutionen hinausgehende Fra-gestellung der Arbeit war auf die Transformationsprozesse der Kernexekutive gerichtet. Untersucht wurde, welchen Stabilisierungs- und Veränderungsdyna-miken die nordrhein-westfälische Kernexekutive im Zuge des Regierungswech-sels 2005 ausgesetzt war. Ziel war es, die hinter diesen institutionellen Verände-rungs- und Stabilisierungsprozessen liegenden Ursachen herauszuarbeiten.

Ausgangspunkt für die Herleitung dieser Fragestellung war die Beobach-tung, dass sich mit Blick auf den Gegenstand der Regierungsorganisation nach Regierungswechseln unterschiedliche Erwartungen verbinden, die sich auf den ersten Blick diametral gegenüber stehen. Diese Positionen wurden einleitend zu zwei, diese unterschiedlichen Positionen illustrierenden Narrativen verdichtet:

Das Stabilitätsnarrativ betonte die grundsätzlich auf Dauerhaftigkeit und Kontinuität angelegte Struktur der Regierungsorganisation. Ein Regierungs-wechsel stellt in dieser Deutung kein einschneidendes oder gar transformative Dynamiken auslösendes Ereignis für die institutionelle Dimension der Kernexe-

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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418 6 Fazit

kutive dar. Mit dem Stabilitätsnarrativ korrespondiert vielmehr die Vorstellung einer bestenfalls langfristigen, inkrementellen und mithin pfadabhängigen Struk-turentwicklung auf der Ebene der Regierungsorganisation, die sich weitgehend unabhängig von Regierungswechseln vollzieht. Als zentral wurde zudem die grundsätzliche Stabilität institutioneller Arrangements über lange Zeiträume hinweg problematisiert. Von Akteuren bewusst herbeigeführte Veränderungen im Zuge eines Regierungswechsels muten in dieser langfristigen Perspektive als vergleichsweise marginal und wenig transformativ für die institutionelle Ge-samtarchitektur an. Daraus ergibt sich die Vorstellung, dass ein Regierungs-wechsel fortlaufend stattfindende, inkrementelle Organisationsveränderungen nur in beschränktem Ausmaß beeinflusst. Die Regierungsorganisation als auf Dauer angelegte Struktur bleibt trotz eines Wechsels in der Zusammensetzung einer Regierungsformation meist stabil, ändert sich bestenfalls graduell und tat-sächliche Eingriffe in die Regierungsorganisation in Folge eines Regierungs-wechsels stellen meist keine radikale Transformation der Kernexekutive insge-samt dar.

Das Veränderungsnarrativ auf der anderen Seite ging im Zuge eines Regie-rungswechsels von einer auch die Regierungsorganisation erfassenden Dynamik der Veränderung aus. Die Wahl einer neuen Regierung wirkt hier als institutio-nelles „Schockerlebnis“ und rüttelt den politischen Routinebetrieb auch in orga-nisatorischer Hinsicht durcheinander. Das Narrativ geht insofern von einem kurzfristigen, aber massiven Impuls mit weitreichenden Konsequenzen aus. Ein Regierungswechsel wird dabei als eine vergleichsweise kurze und zeitlich be-grenzte Phase des Übergangs verstanden, die zugleich weitreichende Organisati-onsveränderungen der Kernexekutive nach sich zieht. Institutionell transformati-ve Organisationsentscheidungen der politischen Führung dominieren hier die politische Agenda. Die im Zuge dieses gravierenden Veränderungsprozesses angeschobenen institutionellen Veränderungen erfolgen schnell und abrupt, um dann für den Rest der Legislaturperiode als stabile Organisationsstruktur erhalten zu bleiben.

Sowohl in empirischer als auch in theoretischer Hinsicht, so die dem Prob-lemaufriss zugrundeliegende Ausgangsbeobachtung, erschienen diese beiden Narrative als unangemessene Verkürzung der mit Blick auf den Untersuchungs-gegenstand tatsächlich stattfindenden Transformationsprozesse. Neben dem Fortbestand stabiler Organisationsstrukturen auf der einen und der schnellen Veränderungen der Regierungsorganisation auf der anderen Seite ließen sich beispielsweise graduelle, aber langfristig transformative Veränderungsprozesse genauso identifizieren, wie vermeintlich radikale, formale Organisationsverände-rungen, die langfristig wiederum durch stabile informelle Strukturmuster konter-kariert wurden. Mithin entpuppte sich der Widerspruch zwischen langfristiger

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6 Fazit 419

institutioneller Stabilität einerseits und schnellem organisatorischen Wandel andererseits als Ausprägung von nur zwei möglichen Extremvarianten deutlich ausdifferenzierterer Transformationsdynamiken. In der daraus abgeleiteten Ab-grenzung von diesen beiden widersprüchlichen Narrativen ging die vorliegende Analyse von einer hybriden Mischung sowohl verändernder als auch stabilisie-render Institutionenprozesse im Sinne weniger linear ausgerichteter Transforma-tionsdynamiken der Kernexekutive aus.

Ansatzpunkt für die daran anschließenden empirischen und theoretischen Überlegungen war die These, dass der mutmaßliche Widerspruch zwischen den beiden Narrativen vor allem in der Betrachtung unterschiedlicher Gegenstands-bereiche der Regierungsorganisation begründet liegt:

Das Veränderungsnarrativ betont vor allem den Einfluss politischer Füh-rung und den Veränderungs- und Steuerungsimpuls individueller politischer Akteure. Adressat dieses institutionellen Veränderungswillens sind dabei insbe-sondere die im Sinne der Organisationsgewalt des Regierungschefs veränderba-ren Organisationsmerkmale einer Regierungsformation. Dazu gehören der Res-sortzuschnitt, die personelle Neubesetzung von wenigen exekutiven Schlüsselpo-sitionen und eine nach außen zumindest deklaratorisch vermittelte Richtlinien-kompetenz der politischen Eliten gegenüber dem Regierungsapparat. Es über-wiegt in analytischer Hinsicht die Betrachtung exekutiver Führungstätigkeit und strategischer Einflussnahme von Exekutivakteuren.

Das Stabilitätsnarrativ wiederum räumt den administrativen Aspekten der Regierungsorganisation größeres Gewicht gegenüber politischer Einflussnahme ein. Zentral erscheint hier insbesondere der in parlamentarischen Regierungssys-temen hohe Verflechtungsgrad zwischen politischen und administrativen Eliten, der sich aus der Notwendigkeit einer konstruktiven Kooperation ergibt. Ein kon-stitutives Wechselverhältnis mit reziproker Adaption ist die Folge und lässt mit Blick auf die Regierungsorganisation Kontinuität und dauerhafte Strukturbildung wichtiger erscheinen als kurzfristige Veränderungen.

Auf dem Wege der definitorischen Eingrenzung der Regierungsorganisation über das Konzept der Kernexekutive erschien ein vor dem Hintergrund der Cha-rakteristika des Untersuchungsgegenstandes notwendiger Brückenschlag zwi-schen diesen beiden widerstreitenden Perspektiven möglich. Der Vorstellung der „Core Executive“ lag daher implizit eine Verbindung von politischen und admi-nistrativen Aspekten zugrunde, um über diese Konzeptualisierung „zwei unter-schiedliche politikwissenschaftliche Teilbereiche theoretisch und empirisch mit-einander verbinden: die politisch-gouvernemental orientierte Regierungslehre und die administrativ orientierte Verwaltungslehre" (Müller-Rommel 2011: 217–218). Das hier gewählte und an das Konzept der Kernexekutive angelehnte Ver-ständnis von Regierungsorganisation ermöglichte folglich bereits eine gewisse

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420 6 Fazit

Verständigung zwischen den beiden ansonsten oftmals getrennten analytischen Zugängen, die auch in den beiden Narrativen ihren Ausdruck fanden und brach damit den Dualismus von Stabilitäts- und Veränderungsfixierung auf.

Das dem Konzept der Kernexekutive zugrundeliegende funktionsbezogene Institutionenverständnis warf auf der anderen Seite das Problem einer analyti-schen Entgrenzung des Gegenstands auf. Die konkrete Identifikation von zur Kernexekutive gehörenden Institutionen wurde folglich nicht alleine zu einer theoretischen, sondern vielmehr auch zu einer forschungspraktischen Herausfor-derung. Daher wurden sowohl im Zuge der Darstellung des Forschungsstandes als auch der konzeptionellen Überlegungen und im Zuge der empirischen Analy-se die konkreten Gegenstandsbereiche identifiziert, deren Relevanz für diese kernexekutive Funktionserfüllung nachgewiesen werden konnte. Die auf diesen beiden Wegen ermittelten Institutionen bildeten in der Gesamtschau das formale und informelle Kommunikations-, Koordinations- und Entscheidungssystem der nordrhein-westfälischen Kernexekutive. Diese institutionellen Regelsysteme wurden zu analytischen Zwecken zu drei Gegenstandsfeldern zusammengefasst: Dabei stand erstens die Staatskanzlei als Nukleus der Kernexekutive im Mittel-punkt. Hinzu kamen zweitens die das Koalitionsmanagement bestimmenden Regelsysteme, wobei dem Koalitionsausschuss besondere Bedeutung zukam. Drittens schließlich rückten die formalen Entscheidungsgremien des Kabinetts und der Staatskanzlei sowie mit ihnen verbundene formale und informelle Koor-dinationsinstanzen ins Blickfeld.

Der im Verlauf der Theoriebildung erweiterten Definition der Kernexekuti-ve lag in analytischer Hinsicht ein weiter Institutionenbegriff zugrunde. So wur-den konzeptionell sowohl formale Regelsysteme als auch informelle Institutio-nen, Praktiken, Konventionen und Spielregeln integriert. Dementsprechend lös-ten sich die starren Grenzen zwischen formalen und informellen institutionellen Arrangements auf und wurden zu einem hybriden Verbund unterschiedlicher Formalitäts- und Informalitätsgrade verwoben. Hinzu kam eine Differenzierung zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung. Ergänzend schließlich wurden die machtverteilenden Wirkungen kernexekutiver Regelsysteme themati-siert.

Eine weitere konzeptionelle Erweiterung des institutionentheoretischen Analyseansatzes bestand in der Ergänzung einer expliziten Akteurskonzeption. Institutionen der Regierungsorganisation und Akteurshandeln konstituierten sich dieser Logik nach so gegenseitig im Sinne eines kernexekutiven Kommunikati-ons-, Koordinations- und Entscheidungssystems. Dieser konzeptionellen Ergän-zung lag die Überlegung zugrunde, das im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehende Transformationsprozesse der Kernexekutive nur vor dem Hintergrund von Akteursinteraktionen zu verstehen sind. Denn im Zuge eines Regierungs-

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6 Fazit 421

wechsels werden nicht nur Institutionen und Strukturen etabliert, verändert, adaptiert und stabilisiert, sondern zugleich Akteure mit ihrer Um- und Durchset-zung beauftragt. Unter Bezugnahme auf die akteurzentrierte Variante des Neoin-stitutionalismus wurde eine aus drei Faktoren bestehende Akteurskonzeption entwickelt. Erstens wurde die Vorstellung von als Repräsentanten korporativer und kollektiver Akteure handelnder individueller Akteure aufgenommen. Zwei-tens wurden Typen von Change-Agents identifiziert und schließlich drittens auf die Bedeutung potentieller Akteurskoalitionen hingewiesen.

Ausgehend von der Entwicklung der Fragestellung, der Darstellung des Forschungsstandes und der begrifflichen Eingrenzung des Erkenntnisinteresses verfolgt die Arbeit drei zentrale Zielsetzungen: 1. In empirischer Hinsicht ging es darum, einen Beitrag zur Regierungsfor-

schung auf Landesebene zu leisten. Ziel war es, vor allem die institutionelle Dimension des Politikmanagements auf Landesebene entlang des unter-suchten Falles auszuleuchten, hierdurch neue Innenansichten zum Regie-rungshandeln auf Landesebene zu gewinnen und folglich zur weiteren Aus-differenzierung eines jüngst stärker entdeckten Forschungsfeldes beizutra-gen.

2. Ausgangspunkt für die theoretische Zielsetzung war eine aus dem For-schungsstand abgeleitete Defizitanalyse. Die für den Untersuchungsgegen-stand bislang meist typische Form atheoretischer Beschreibung sollte zu-gunsten eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes überwunden werden. Dieser sollte sowohl forschungsheuristisch zur analytischen Rekonstruktion des Untersuchungsgegenstandes genutzt werden, als auch im Zuge weiterer typologischer Theoriebildung Anwendung auf weitere Fallbeispiele finden können.

3. In methodologischer Hinsicht zielte die Arbeit in zwei Richtungen. Zum einen diente die vorliegende Fallstudie dazu, über den konkreten Untersu-chungsgegenstand hinausreichende Hypothesen im Sinne der Bildung typo-logischer Theorien zu generieren. Dazu wurde auf das theoriebildende Po-tential qualitativer Einzelfallanalysen sowie die daraus abgeleiteten makro-methodischen Anforderungen abgestellt. Zum anderen diente die auf dieser Grundlage begründete Anwendung der teilnehmenden Beobachtung als mikromethodischer Zugang dazu, diese Methode stärker als bislang im Re-pertoire der Regierungsforschung zu verankern und damit eine entsprechen-de methodische Innovation voranzutreiben.

Wenngleich bereits in der Verbindung von empirischer Analyse, Theorieanwen-dung und -entwicklung sowie methodischer Reflexion im Laufe der bisherigen

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422 6 Fazit

Darstellung zentrale Schlussfolgerungen herausgearbeitet wurden, dient die nachfolgende Zusammenfassung dem Zweck, die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal systematisch zu bündeln. Auch hier orientiert sich die Darstellung an den drei Zielsetzungen dieser Arbeit. Abschließend werden dann Hypothesen entwickelt, die als Ausgangspunkt für weitere theoriebildende Forschung zu Kernexekutiven dienen können. 6.1 Theoretische Schlussfolgerungen: Potentiale und Grenzen des

gegenstandsbezogenen Analyseansatzes Der gegenstandsbezogene Analyseansatz wurde im Zusammenspiel von theoreti-scher Reflexion und empirischer Analyse entwickelt. Die bereits zur Systemati-sierung des Forschungsstandes herangezogenen Dimensionen „Zeit“, „Institutio-nen“ und „Akteure“ spielten hierbei eine zentrale Rolle. Als für die Frage nach den Transformationsprozessen der Kernexekutive sowohl theoretisch als auch empirisch relevante Kategorien problematisierten sie (a) den Einfluss zeitlicher Abläufe, längerfristiger Entwicklungsprozesse und pfadabhängiger Entwicklun-gen, (b) das sowohl formale als auch informelle Institutionengeflecht der Kern-exekutive und (c) Akteure im Spannungsfeld von intentionalem Handeln und nichtintendierten Nebenfolgen innerhalb dieses Institutionensystems.

Ziel dieser Theoriebildung war die Entwicklung eines gegenstandsbezoge-nen institutionentheoretischen Analyseansatzes, der die Transformationsprozesse der Kernexekutive im Zuge eines Regierungswechsels analytisch strukturieren und Ansatzpunkte für kausale Erklärungen der beobachtbaren Prozesse anbieten sollte. Zentrales Charakteristikum eines solchen Ansatzes in Abgrenzung von ausformulierten Theorien war seine primäre Funktion als Forschungsheuristik, die den Blick auf bestimmte Aspekte des Untersuchungsgegenstandes lenkte, andere relativiert und damit vor allem als Leitplanke für die empirische Analyse dient.

Der Analyseansatz setzte sich aus folgenden Teilaspekten zusammen: Erstens griff der Analyseansatz temporale Aspekte sowohl als empirische

Kategorie als auch in ihrer theoretischen Ausprägung in Form von Pfadabhän-gigkeiten und sequentiellen Abfolgen auf und integrierte damit den Faktor „Zeit“ als theoretische Kategorie. Hierzu erfolgte zunächst der Rückgriff auf die histori-sche Ausprägung des Neoinstitutionalismus, der mit den theoretischen Begriff-lichkeiten der Prozesshaftigkeit, zeitlicher Kontextgebundenheit und Pfadabhän-gigkeiten diese Dimension in besonderer Weise thematisiert. Zudem liegt dem Historischen Institutionalismus insofern ein weiter Institutionenbegriff entlang

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6.1 Theoretische Schlussfolgerungen 423

der für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand relevanten Anforderungen zugrunde, als er sowohl formale als auch informelle Regelsysteme einschließt.

Zweitens erfolgten theoretische Erweiterungen historisch-institutionalisti-scher Grundannahmen, die sich zunächst auf den Institutionenbegriff bezogen. Im Rückgriff auf die akteurszentrierte Variante des Neoinstitutionalismus wur-den Institutionen als zugleich begrenzende und ermöglichende Strukturen begrif-fen, die einerseits Akteure und ihre Interaktion prägen, zum anderen aber von diesen auch absichtsvoll verändert werden können. Institutionen wurden damit gleichermaßen zur unabhängigen und abhängigen Variable. Eine weitere Anpas-sung erfuhr der Institutionenbegriff, indem zwischen institutionellen Regeln einerseits und der konkreten Regelanwendung durch Akteure andererseits unter-schieden wurde. Schließlich wurden die Umstrittenheit politischer Institutionen und ihr machtverteilender Charakter betont. Damit rückten zugleich Akteure stärker in den Mittelpunkt, die im Rahmen institutioneller Arrangements rivali-sieren und zugleich versuchen, diese entlang ihrer Vorstellungen und Interessen zu verändern.

Die daran unmittelbar anschließende dritte Komponente des Analyseansat-zes war die Integration einer expliziten Akteurskonzeption. Insbesondere hier-durch sollten der dem Historischen Neoinstitutionalismus innewohnenden insti-tutionelle „Kryptodeterminismus“ (Renate Mayntz) und die damit einhergehende Stabilitätsfixierung aufgebrochen werden. Ausgangspunkt dieser akteurstheore-tischen Erweiterung war die Rolle von Akteuren als Agenten institutioneller Transformation. Dabei wurden analytisch drei Aspekte herausgearbeitet: Erstens die Rolle individueller Akteure als Repräsentanten korporativer und kollektiver Akteure. Zweitens die idealtypische Unterscheidung in unterschiedliche Typen von Change-Agents und drittens die Bildung von Akteurskoalitionen. Prämisse der entlang dieser Faktoren entwickelten Akteurskonzeption war die Annahme, dass es Akteure sind, die durch ihr Handeln Dynamik in institutionelle Regelsys-teme bringen und somit intentional oder als nichtintendierte Nebenfolge ihres Handelns zu Katalysatoren institutioneller Transformationsprozesse werden.

Verdichtet wurden diese analytischen Bausteine viertens schließlich zu fünf Modi institutioneller Transformation: Displacement, Layering, Drift, Conversion und Exhaustion. Diese ergaben sich aus dem Zusammenspiel der zuvor identifi-zierten Faktoren Kontext, Institutionensystem und Akteurshandeln. Zugleich wurde mit dieser Typologie die Dichotomie von institutionellem Wandel einer-seits und institutioneller Stabilität andererseits zugunsten eines Kontinuums von Stabilisierung und Wandel aufgebrochen.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich nun hinsichtlich der theoretischen Zielsetzung dieser Arbeit? Wo liegen der analytische Nutzen, die Potentiale und die Grenzen des entwickelten Analyseansatzes? Und schließlich, welche theore-

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424 6 Fazit

tischen Anpassungen müssen im Lichte der empirischen Anwendung vorge-nommen werden?

Erstens ist festzuhalten, dass sich der Analyseansatz im Sinne seiner for-schungsheuristischen Funktion, die empirische Analyse strukturiert anzuleiten, und damit jenseits seiner rein theoretischen Herleitung auch in der konkreten Anwendung bewährt hat. Während er zum einen eine prozess- und strukturbezo-gene Beschreibung institutioneller Transformationsdynamiken der Kernexekuti-ve ermöglichte, lenkte er zugleich im Sinne einer vertieften Analyse den Blick gezielt auf bestimmte Teilaspekte des Untersuchungsgegenstandes, denen im theoretischen Sinne besondere Relevanz mit Blick auf die Beantwortung der Fragestellung zukam. Die hierfür bereitgestellten Begrifflichkeiten erwiesen sich als ausreichend abstrakt, um im Sinne theoretischer Generalisierungen auf andere Fallstudien ähnlicher Prägung Anwendung finden zu können, und zugleich als hinreichend konkret, um mit ihnen im Zuge der empirischen Darstellung fallbe-zogen operieren zu können.

Zweitens lassen sich aus der analytisch angeleiteten Rekonstruktion des Fallbeispiels theoretisch generalisierbare Muster ableiten. Mit Hilfe des struktu-rierenden Effektes des Analyseansatzes wurden mutmaßlich idealtypische Vor-gänge sichtbar, deren Übertragbarkeit auf weitere Fälle des gleichen Gegen-standsbereichs prinzipiell möglich erscheint. Im Sinn induktiver Theoriebildung können diese zu weiterführenden Hypothesen verdichtet werden, die im Zuge weiterer Analysen bestätigt, verworfen und angepasst werden können. Beispiel-haft kann eine gewisse Dominanz des Transformationsmodus Conversion her-vorgehoben werden, der darauf schließen lässt, dass die veränderte Bedeutungs-zuweisung und folglich veränderte Anwendung institutioneller Regeln eine be-sonders typische Ursache kernexekutiver Transformationsprozesse darstellt (hierzu ausführlicher Kapitel 6.3).

Drittens zeigt die konkrete Verwendung der vom Analyseansatz bereitge-stellten Begrifflichkeiten, dass sich die eigentlich aus der Analyse soziologischer Makroprozesse entwickelten Modi institutionellen Wandels in der modifizierten analytischen Rahmung des hier entwickelten Analyseansatzes auch zur Erfas-sung kernexekutiver Mikro- und Mesoprozesse eignen. Während Kathleen The-len u.a. (2004; 2008; Streeck/Thelen 2005a) sich über Jahrzehnte hinweg erstre-ckende Institutionenentwicklungsprozesse als Gegenstand für die Entwicklung dieses analytischen Zugang und damit gewissermaßen „wirklich“ historische Fallstudien wählten, standen mit Blick auf die nordrhein-westfälische Kernexe-kutive sowohl zeitlich als auch institutionell enger gefasste Regelsysteme im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Dennoch war der Analyseansatz geeignet, auch diese Transformationsdynamiken analytisch zu erfassen. Gleichwohl han-delte es sich im Sinne Paul Piersons (2004: 1–2) bei der vorliegenden Arbeit

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6.1 Theoretische Schlussfolgerungen 425

nicht um einen „snapshot“, sondern um die prozessuale Erfassung eines „moving pictures“. Denn die zeitliche Betrachtung der Kernexekutive im Anschluss an einen Regierungswechsel erstreckte sich nicht auf einen eng begrenzten Zeit-punkt, sondern bezog für den Gegenstandsbereich durchaus langfristige Entwick-lungen in die Analyse ein. Auch wenn es sich dabei nicht um über Jahrzehnte hinweg verlaufende Entwicklungsdynamiken handelte, bedeutete die in der Ana-lyse vorgenommene zeitliche Ausweitung auf die gesamte Legislaturperiode doch eine deutliche zeitliche Entgrenzung, wie der Vergleich mit anderen Studi-en zu Regierungswechseln bei der Diskussion des Forschungsstandes gezeigt hat.

Viertens unterscheidet sich die vorliegende Arbeit von anderen Fallstudien hinsichtlich der heuristischen Anwendung der Modi institutioneller Transforma-tion mit daraus resultierenden theoretischen Implikationen (vgl. die Beiträge in Mahoney/Thelen 2010a; Streeck/Thelen 2005a). Während dort meist einzelne Transformationsmodi zur Illustration von umfassenden Entwicklungsdynamiken herangezogen werden, zeigten sich mit Blick auf den Gegenstand der Kernexe-kutive Kombinationen unterschiedlicher und parallel ablaufender Entwicklungs-dynamiken, die mit jeweils unterschiedlichen Transformationsmodi erfasst wur-den. Folglich ging es nicht um eine beispielsweise dem Modus Layering folgen-de Entwicklung der nordrhein-westfälischen Kernexekutive insgesamt, sondern um den Nachweis sich verschränkender und gegenseitig ergänzender Entwick-lungsdynamiken entlang einzelner institutioneller Regelsysteme innerhalb der Kernexekutive. Beispielhaft kann die Parallelität von Conversion und Layering mit Blick auf die Institutionen des Koalitionsmanagements angeführt werden. Im Sinne methodologischer Konsequenzen lieferte der Analyseansatz damit auch zugleich eine analytische Basis für die Erklärung von Prozessen der Equifinalität und der Multikausalität (vgl. Kapitel 6.2). Denn diese Vielschichtigkeit instituti-oneller Entwicklungsprozesse eröffnete den Blick für sich gegenseitig verstär-kende oder auch konterkarierende Dynamiken. Ein Beispiel war die institutionell miteinander verkoppelte Entwicklung des Koalitionsausschusses einerseits und des Kabinetts andererseits, die in ihrer jeweiligen Konversionsdynamik nur an-gesichts der wechselseitigen Bezugnahme erklärbar waren.

Fünftens erwies sich der Analyseansatz jedoch in dem Sinne als teilweise defizitär, als dass die herausgearbeiteten Transformationsmodi nicht in der Lage waren, alle institutionellen Entwicklungstrends der Kernexekutive zu erfassen. Angesichts ihres Ursprungs als „Modes of Change“ (Mahoney/Thelen 2010: 18; Hervorhebung durch den Verfasser) blieben insbesondere die beobachtbaren Stabilisierungsdynamiken analytisch unterbelichtet. Daraus ergibt sich gewis-sermaßen die Notwendigkeit einer zweifach ausgerichteten Modifikation des ursprünglichen Forschungsheuristik, die bei der Entwicklung des gegenstandsbe-

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426 6 Fazit

zogenen Analyseansatzes bislang nur zur Hälfte eingelöst wurde: Zum einen drückte sich in der bereits vorgenommenen Veränderung der Begrifflichkeit zu „Modi institutioneller Transformation“ bereits eine implizite Erweiterung um die Dimension institutioneller Stabilisierung aus. Zum anderen erscheint es darüber hinaus jedoch sinnvoll, einen ergänzenden Modus der „Stabilisierung“ explizit in die Typologie aufzunehmen. Dieser zeichnet, zunächst sich ganz im Sinne klas-sischer Pfadabhängigkeitsvorstellungen, dadurch aus, dass alte Regeln weder beseitigt, noch vernachlässigt oder verändert und auch keine neuen Regeln ein-geführt werden, sondern vielmehr regelkonformes Akteursverhalten zu einer langfristigen institutionellen Stabilisierung führt. Indes zeigt die Analyse abwei-chend von dominanten Pfadabhängigkeitsvorstellungen, dass es sich hierbei nicht alleine um eine urwüchsige und ungesteuerte Entwicklung handeln muss, sondern diese Stabilisierung auch in Folge intentionalen Akteurshandelns eintre-ten kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, den Analyseansatz ent-sprechend zu erweitern (vgl. Tabelle 12). Tabelle 12: Modifizierte Fassung der Modi institutioneller Transformation

Displace-ment

Layering Drift Conver-sion

Exhaus-tion

Stabilisie-rung

Beseitigung alter Regeln

Ja Nein Nein Nein Ja/Nein Nein

Vernachläs-sigung alter Regeln

- Nein Ja Nein Ja Nein

Veränderte Bedeutung/ Inkraftset-zung alter Regeln

- Nein Ja Ja Nein Nein

Einführung neuer Regeln

Ja Ja Nein Nein Nein Nein

Mecha-nismus

Abtrün-nigkeit

Differen-tielles

Wachstum

(Absicht-liche)

Vernach-lässigung

Neuaus-richtung/ Neuinter-pretation

Abschrei-bung

Stabilisie-rende

Unterstüt-zung

Quelle: Ergänzung auf Basis von Mahoney/Thelen 2010: 16; Streeck/Thelen 2005b: 31; vgl. auch Kapitel 3.5.5 Sechstens folgt daraus beinahe automatisch auch eine notwendige Erweiterung der Akteurstypologie, die mit der bisherigen Fassung als „Change-Agents“ eben-falls unzureichend betitelt ist. In Ergänzung der bereits identifizierten Change-

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6.1 Theoretische Schlussfolgerungen 427

Agents spricht vieles für die Ergänzung des Typus eines „Stabilisierungs-Agenten“. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er sowohl nach dem Erhalt einer Institution strebt, als auch den entsprechenden institutionellen Regeln folgt und diese nicht durch anders gelagerte informelle Praktiken konterkariert. An-ders als der Typus des opportunistischen Change-Agents handelt es sich dabei jedoch um intentionales Akteursverhalten mit dem Ziel einer langfristigen insti-tutionellen Stabilisierung. Als Beispiel kann das Verhalten Jürgen Rüttgers hin-sichtlich des Koalitionsausschusses angeführt werden: In Folge des vergleichs-weise schnell abgeschlossenen Konversionsprozesses des Koalitionsausschusses zur zentralen Koordinations- und Steuerungsinstanz der Regierungsformation bemühte sich Rüttgers um eine dauerhafte institutionelle Stabilisierung dieser neu ausgerichteten Institution des Koalitionsmanagements. Er bildete zu diesem Zweck eine implizite Akteurskoalition mit Andreas Pinkwart, beide individuelle Akteure repräsentierten dabei weitgehend unangefochten wichtige korporative Teilakteure der Regierungsformation, sicherten angesichts der eintretenden insti-tutionellen Stabilisierung des Koalitionsausschusses schrittweise ihre individuel-le Machtposition innerhalb der Regierungsformation ab und drängten nicht zu-letzt deswegen auf die strikte Einhaltung institutionalisierter Regeln. Die Folge war eine sich wechselseitig verstärkende institutionelle Dynamik im Sinne des Stabilisierungsmodus.

Siebtens schließlich erwies sich auf der anderen Seite die analytisch ausdif-ferenzierte Akteurstypologie unterschiedlicher Change-Agents forschungsprak-tisch als zu weitgehend. Wenngleich Akteurshandeln in wenigen Fällen zu analy-tischen Zwecken in die Zuweisung eines konkreten Akteurstypus (z.B. als „Auf-ständischer“ (Kapitel 5.2.1.2.3) oder als „Subversiver“ (Kapitel 5.2.1.4.2) mün-dete, so zeigten sich dennoch aus zwei Gründen Defizite bei der Anwendung dieser Typologie: Erstens konnte nicht in allen Fällen belastbar begründet wer-den, inwieweit tatsächlich Akteursintentionen oder doch nichtintendierte Neben-effekte Ausgangspunkt für bestimmte Strukturbildungen waren. Insofern fehlte in manchen Fällen der schlüssige Nachweis, dass bestimmte Veränderungsim-pulse tatsächlich auf intentionale Einflussnahme zurückzuführen waren, um daraus beispielsweise ein „aufständisches“ Akteurshandeln abzuleiten. Zweitens legte die begriffliche Fassung dieser Typen eine durchaus normative Aufladung nahe, die analytisch jedoch nicht intendiert war. Nichtsdestotrotz führte diese normative Konnotation zu einer entsprechenden Zurückhaltung, individuelle Akteure tatsächlich als „Opportunisten“ oder „Subversive“ zu klassifizieren. Folglich besteht eine letzte theoretische Schlussfolgerung darin, diese Akteursty-pologie nicht nur um den Typus des Stabilisierungs-Agenten zu erweitern, son-dern zugleich normativ weniger doppeldeutige Bezeichnungen der übrigen Ty-pen vorzunehmen. An den fortgesetzten methodischen Schwierigkeiten, den

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428 6 Fazit

empirischen Nachweis einer entsprechenden Akteurszuordnung zu führen, ändert dies jedoch nichts. 6.2 Methodologische Schlussfolgerungen: Möglichkeiten theoretischer

Generalisierung und methodische Reflexion Anschließend an das theoretische Ziel induktiver Theoriebildung verfolgte die vorliegende Arbeit eine zweifache methodologische Zielsetzung. Erste Heraus-forderung war, das theoriebildende Potential einer historischen Einzelfallstudie herauszuarbeiten. Hierzu wurden epistemologische Aspekte problematisiert und entlang der konkreten Anwendung diskutiert:

Erstens wurde auf das Potential eines fallbasierten Forschungsdesigns zur Integration temporaler Kontextfaktoren verwiesen. Zweitens wurden die spezifi-schen Vorteile induktiv angelegter Fallstudiendesigns zur Entwicklung von The-orien mittlerer Reichweite herausgearbeitet. Drittens wurde die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes theoretisch begründet und das spezifische Potential des ausgewählten Falles für die formulierten Zielsetzungen identifiziert. Viertens wurde die Entscheidung für ein qualitatives Forschungsdesign mit den spezifi-schen Vorteilen qualitativer Fallstudien für die Theoriebildung erklärt. Schließ-lich wurde die Prozessanalyse als makromethodischer Zugang begründet, um die vorhergehenden Überlegungen zum Forschungsdesign in angemessener Weise methodisch umzusetzen.

Die daran anschließende zweite Intention bestand darin, den besonderen Nutzen der teilnehmenden Beobachtung als Mikromethode bei der Analyse des Untersuchungsgegenstandes zu begründen und damit zugleich das methodische Repertoire der Regierungsforschung zu erweitern. Aus den Überlegungen hin-sichtlich des Forschungsdesigns ergaben sich zwei grundsätzliche methodische Anforderungen, deren Erfüllung für die Bearbeitung der vorliegenden Fragestel-lung essentiell war: Zum einen mussten zeitliche Abläufe und längerfristige institutionelle Entwicklungsprozesse methodisch erfassbar sein. Zum anderen galt es, neben den formalen Strukturen der Regierungsorganisation auch infor-melle Regelsysteme und damit verbundene Praktiken, Routinen und Verfahren gezielt in den Blick zu nehmen. Hinzu kam die damit verbundene Anforderung, nicht nur institutionelle Regeln zu identifizieren, sondern ebenfalls die konkrete Anwendung dieser Regeln zu analysieren.

Diesen Anforderungen entsprach der methodische Zugang über eine teil-nehmende Beobachtung in besonderer Weise. Sie beruht auf der Vorstellung eines fortwährenden reziproken Prozesses von empirischer Analyse und Theorie-entwicklung. Zudem zeichnet sich die Methode durch eine besondere Kontext-

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6.2 Methodologische Schlussfolgerungen 429

sensitivität aus, die zeitlichen Abläufen und Prozessen ebenso breiten Raum einräumt wie den informellen Praktiken, Routinen und Regelanwendungen von Akteuren. Zudem ist sie nicht nur methodisch anschlussfähig für Sekundärme-thoden, sondern prinzipiell auf eine Erweiterung durch weitere methodische Zugänge angelegt. Folglich wurde die teilnehmende Beobachtung durch Inter-views sowie Quellen- und Aktenstudium ergänzt. Zusammenfassend war mit dieser methodischen Entscheidung auch die über die eigentliche Analyse hinaus-reichende Intention verbunden, die besonderen Stärken dieser in der Regierungs-forschung bislang eher selten angewandten Methode herauszuarbeiten und damit das methodische Repertoire dieses Forschungsfeldes sinnvoll zu erweitern.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich zusammenfassend hinsichtlich der methodologischen Zielsetzungen dieser Arbeit? Wo lagen methodische Stärken und Schwächen und welche weiterführenden methodischen Erkenntnisse folgen aus dieser Arbeit?

Erstens erwies sich die weitgehend induktive Entwicklung des gegen-standsbezogenen Analyseansatzes als Bestätigung des besonderen Theoriebil-dungspotentials qualitativer Fallstudien. Da mit Hilfe dieses analytischen In-struments nicht nur eine einzelfallbezogene Rekonstruktion institutioneller Transformationsprozesse ermöglicht, sondern zugleich kausale Zusammenhänge in Form wiederholter Strukturmuster identifizierbar wurden (vgl. Kapitel 6.3), bestätigten sich die das Forschungsdesign leitenden Grundannahmen.

Zweitens war der gewählte makromethodische Zugang der Prozessanalyse insofern von zentraler Bedeutung, als dass angesichts dieser methodologischen Grundentscheidung überhaupt erst eine besondere Betonung des Prozesscharak-ters bei der Strukturanalyse der Kernexekutive in den Fokus rückte. Zugleich sorgte die daraus abgeleitete zeitliche Entgrenzung der Analyse über die „Start-phase“ der Regierungsformation im engeren Sinne hinaus dafür, dass aus einem die kurzfristige Entwicklungsdynamik der Kernexekutive betreffenden „Kurz-film“ ein nach vorne und hinten ausgreifender „Episodenfilm“ werden konnte (vgl. Kapitel 3.1), was zugleich den theoretischen und methodischen Überlegun-gen zur spezifischen Relevanz kontextueller Faktoren Rechnung trug.

Drittens erwies sich die teilnehmende Beobachtung als wichtige methodi-sche Vorbedingung, um überhaupt zur Entwicklung eines gegenstandsbezogenen Analyseansatzes zu gelangen. Erst vor dem Hintergrund der konkreten Beobach-tungssituationen im Forschungsfeld erschlossen sich die weitergehende analyti-sche Anschlussfähigkeit des Gegenstands an das neoinstitutionalistische Theo-rieprogramm sowie die empirischen Anknüpfungspunkte für die analytischen Erweiterungen der historisch-institutionalistischen Grundannahmen. Die Metho-de löste damit den zentralen Anspruch ein, aus der Befassung mit dem empiri-schen Material heraus zur induktiven Theoriebildung beitragen zu können. Bei-

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430 6 Fazit

spielhaft kann das Spannungsfeld zwischen institutionellen Regeln und ihrer Anwendung angeführt werden. So erwiesen sich die im Herbst 2005 gemachten Beobachtungen in der Staatskanzlei hinsichtlich des Umgangs mit den formalen Regeln des hausinternen Dienstweges als ein Ausgangspunkt für die Integration dieses analytisch geschärften Arguments. Die konkrete Beobachtung bestand darin, dass trotz der formalen Schlüsselstellung des Chefs der Staatskanzlei für die Regierungsformation bestimmte Vorgänge unmittelbar von Abteilungsleitern an den Ministerpräsidenten weitergegeben wurden. Diese vergleichsweise kleine institutionelle Regelanpassung, die eine entsprechende formal abgesicherte Aus-nahmeoption nutzte und insofern keine wirkliche Regelverletzung darstellte, eröffnete den Blick auf dahinter liegende Transformationsprozesse größerer Reichweite innerhalb der Staatskanzlei. Ferner zeigt diese methodische Erfah-rung, dass es sich bei der teilnehmenden Beobachtung mitnichten um eine voll-kommen ungesteuerte, offene und voraussetzungslose Konfrontation mit dem Untersuchungsgegenstand handeln muss. Vielmehr eröffnete diese Vorgehens-weise sowohl die Möglichkeit, mit theoretischen Vorannahmen zu arbeiten, als auch im Zuge des „soaking und poaking“ (Fenno 1992: 55) induktiv weitere Erkenntnisse zu generieren und damit zur Theoriebildung und -adaption beizu-tragen.

Viertens bewahrheitete sich die Charakterisierung der teilnehmenden Be-obachtung als besonders kontextsensitive Vorgehensweise mit entsprechenden Vorteilen. Zum einen fanden die theoretischen und forschungspraktischen Vor-überlegungen eines über die Annahme von „history matters“ hinausgehenden Forschungsdesigns damit ihre mikromethodische Entsprechung. Zum anderen erwies sich dieses Charakteristikum im weiteren Forschungsprozess als praktisch überaus hilfreich. Insbesondere die über die zusätzlich angewandten Methoden erhobenen Daten konnten vor dem Hintergrund der Beobachtungserkenntnisse weitergehend eingeordnet und gewichtet werden. Das zeigte sich in besonderer Weise mit Blick auf die abschließend geführten Interviews mit zentralen Akteu-ren der Regierungsformation. Die Erkenntnisse der teilnehmenden Beobachtung spielten als Hintergrundwissen bei der Einordnung der Interviewaussagen eine wichtige Rolle. So deckten sich beispielsweise die in diesen Interviews beschrie-benen informellen Akzentverschiebungen auf der Arbeitsebene der Staatskanzlei mit den Erfahrungen während des Beobachtungszeitraumes. Im Sinne einer me-thodischen Tringulation ging daher von der Verbindung aus teilnehmender Be-obachtung und weiteren Sekundärmethoden eine zusätzliche Validierung aus. Zudem bildeten vielfach eigene Beobachtungen erst die Basis für weitergehende Nachfragen bei Feldgesprächen und Interviews und dienten gleichfalls als Aus-gangspunkt für die Recherche ergänzenden Datenmaterials.

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6.2 Methodologische Schlussfolgerungen 431

Fünftens fungierte der Zugang als teilnehmender Beobachter als „Türöff-ner“ für den weiteren Forschungsprozess. So konnten über den Kontakt zu Gate-keepern im Forschungsfeld weitere Subfelder des Forschungsfeldes erschlossen und über diesen Zugang wiederum weitere Datenquellen erschlossen werden. So erwies sich beispielsweise die längerfristige Präsenz in der Staatskanzlei als wichtige Voraussetzung, um Zugang zu einzelnen Sitzungen der Staatssekretärs-konferenz zu erhalten. Erst im Zuge dieser direkten Beobachtung konnten über Interviewmaterial hinausgehende Erkenntnisse über die dort geltenden Verfah-rensweisen und Organisationsprozesse gewonnen werden.

Sechstens zeigten sich allerdings auch forschungspraktische Grenzen dieses mikromethodischen Zugangs. Eine Wichtige stellte die vergleichsweise begrenz-te Zahl von Beobachtungssituationen für einen einzelnen Beobachter dar. Die Komplexität angesichts vielfältiger zur Kernexekutive gehörender institutioneller Regelsysteme machte es praktisch unmöglich, alle Institutionen der Kernexeku-tive unmittelbar im Zuge teilnehmender Beobachtung zu erschließen. Hinzu kamen Zugangsbeschränkungen, die beispielsweise eine Beobachtung des Koali-tionsausschusses von vornherein ausschlossen. Allerdings führte die methodi-sche Herangehensweise dazu, dass die Existenz zentraler Regelsysteme zumin-dest indirekt erschlossen werden konnte. Weiter ausgeleuchtet wurden diese Institutionen dann mit Hilfe der ergänzend verwendeten Methoden.

Siebtens schließlich stellte die methodische Herangehensweise eine gravie-rende Einschränkung bei der Herstellung von Intersubjektivität während des Forschungsprozesses dar. Die Nichtwiederholbarkeit der Beobachtungssituatio-nen, das wenig standardisierte Beobachtungsformat und die fehlende intersubjek-tive Überprüfbarkeit machten andere Formen der Validierung notwendig (Stein-ke 2007; Eckl 2008: 193–198). Die hier gewählte Reaktion bestand darin, über Formen der expliziten Triangulation, eine ausführliche Dokumentation des For-schungsprozesses (Kapitel 4.2) sowie eine besondere methodische Reflexion zu einer entsprechenden „Validierungsstrategie“ (Flick 2007b: 310) zu gelangen.

Gleichwohl führt die methodische Gesamtbewertung zu dem Ergebnis, dass mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung das Repertoire der Regierungs-forschung sinnvoll ergänzt werden kann. Ihre Anwendung im Rahmen dieser Arbeit zeigt, dass es zum einen keine alleine auf Erfassung von Akteursverhalten und -interaktionen begrenzte Vorgehensweise ist, sondern sie sich auch zur An-wendung im Rahmen einer institutionell ausgerichteten Struktur- und Prozess-analyse eignet. Zum anderen ist ihr besonderes Potential für theoriebildende Arbeiten hervorzuheben. Angesichts des damit zugleich möglichen Brücken-schlags zwischen politikwissenschaftlicher Analyse und praktischer Anschauung politischer Prozesse, Strukturen und Akteure verbindet sich damit das eindeutige

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Plädoyer, diese Methode stärker für die Regierungsforschung zu nutzen (so be-reits Fenno 1992: 1; Schöne 2009: 44). 6.3 Empirische Schlussfolgerungen und Hypothesen zu den Ursachen

institutioneller Transformationsdynamiken der Kernexekutive Abschließend stellt sich die Frage, welche über den Fall hinausweisende Er-kenntnisse sich hinsichtlich der Transformation der Kernexekutive in Folge eines Regierungswechsels identifizieren lassen. Die Darstellung dieser Schlussfolge-rungen erfolgt in Form verdichteter Hypothesen, die zum einen zentrale empiri-schen Befunde dieser Arbeit bündeln, theoretische Annahmen verdichten und zugleich als Basis für weitere Forschung dienen können. Diese Hypothesen komprimieren entlang des konkreten Untersuchungsgegenstands identifizierte kausale Mechanismen hinter den Transformationsprozessen der Kernexekutive und liefern damit Erklärungsansätze, warum bestimmte Veränderungs- und Sta-bilisierungsprozesse zu beobachten waren. Im Sinne einer potentiellen theoreti-schen Generalisierbarkeit werden zugleich weitere Einflussfaktoren herausgear-beitet und ergänzende Kontextbedingungen identifiziert, die sich als maßgeblich erwiesen haben. Die Hypothesen basieren zudem auf dem integrierten Zusam-menspiel der im Analyseansatz thematisierten Einflussfaktoren, wenngleich sich durchaus unterschiedliche Wirkungen und Einflussstärken einzelner Aspekte zeigen. Zur fallorientierten Illustration werden vorrangig die jeweils gleichen institutionellen Regelsysteme herangezogen, um die wechselseitige Bezugnahme der Hypothesen zu betonen. 1. Institutionelle Transformationsprozesse der Kernexekutive werden stärker durch veränderte Regelanwendungen als durch Regeländerungen ausgelöst. Die Neuinterpretation institutioneller Regeln durch Akteure wirkt als Hauptkatalysa-tor institutioneller Transformationsprozesse. Das vergleichsweise dominante Auftreten des Transformationsmodus Conver-sion deutet darauf hin, dass zahlreiche kernexekutive Transformationsprozesse durch die veränderte Bedeutungszuweisung oder veränderte Inkraftsetzung insti-tutioneller Regeln durch Akteure in Gang gebracht wurden. Gleichzeitig blieben alte institutionelle Regeln erhalten, sie wurden nicht systematisch vernachlässigt und es wurden auch keine neuen institutionellen Regeln implementiert. Es domi-nierte vielmehr der Mechanismus der institutionellen Neuausrichtung und Neuin-terpretation.

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 433

Dies zeigte sich erstens beim Wandel des Koalitionsausschusses von einem Kriseninterventionsinstrument unter der rot-grünen Vorgängerregierung hin zur zentralen Koordinations- und Steuerungsinstanz der neuen Regierungsformation. Allerdings erstreckte sich diese Transformationsdynamik nicht nur auf die klas-sischerweise der informellen Sphäre des Regierens zugeordneten Institutionen des Koalitionsmanagements, sondern erfasste zweitens auch das Kabinett als verfassungsrechtlich normiertes, formales Beschlussfassungsorgan. Die infor-melle Praxis einer Beschränkung des Kabinetts auf rein notarielle Funktionen ging ebenfalls auf eine veränderte Regelanwendung im Sinne einer Bedeutungs-verschiebung existierender Regelstrukturen zurück. Daran zeigt sich zugleich der transformative Charakter dieses Transformationsmodus, konterkarierte die in-formell veränderte Anwendung institutioneller Regeln doch gewissermaßen die dem Kabinett formal zugewiesene exekutive Führungsrolle. Während also in formaler Hinsicht auf den ersten Blick institutionelle Stabilität dominierte, zeigte sich angesichts der informellen Praxis transformierter Wandel.

Die empirischen Befunde legen unterschiedliche Gründe für diese Domi-nanz institutioneller Neuinterpretation als Katalysator institutionellen Wandels nahe: Zum einen erweisen sich einmal institutionalisierte Regeln im Sinne von Pfadabhängigkeiten als vergleichsweise stabil und entfalten ein institutionelles Eigenleben. Intentionale Änderungen, Anpassungen oder Erweiterungen dieser Regelsysteme durch Akteure sind daher immer mit Kosten verbunden. Dabei stehen mit Blick auf die Kernexekutive vor allem politische Kosten im Mittel-punkt, wie sich exemplarisch am Beispiel der Staatskanzlei nachweisen lässt: Der dem Modus des Displacement folgende Reorganisationsprozess der Regie-rungszentrale im Sommer 2006 wurde sowohl medial als auch von der Land-tagsopposition kritisch begleitet. In der öffentlichen Bewertung wurden vor al-lem die politischen Signalwirkungen sowie die mit der Restrukturierung verbun-denen finanziellen Kosten infolge von Personalveränderungen thematisiert. Wenngleich die Organisationsgewalt des Ministerpräsidenten nicht in Frage gestellt wurde, so war doch in der Einschätzung der Regierungsakteure klar, dass nicht beliebig viele weitere formale Organisationsveränderungen politisch durch-setzbar waren. Weitere Anpassungen im Zuge einer institutionellen Neuinterpre-tation, wie sie ab 2006 beobachtbar waren, bedeutete daher die Vermeidung solcher politischer Kosten bei gleichzeitig transformativem Wandel der Staats-kanzlei in der Praxis. Zudem ging mit einer Neuinterpretation institutioneller Regeln ein Zeitgewinn einher. Eine Anpassung der informellen Praxis war ver-gleichsweise schnell zu erreichen, während eine formale Strukturveränderung der Staatskanzlei monatelange Detailarbeit nach sich gezogen hätte. Auch vor diesen politischen Kosten weiterer formaler Anpassungsprozesse schreckten die Verantwortlichen zurück, banden sie doch Kapazitäten und Aufmerksamkeit.

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434 6 Fazit

2. Formale und informelle Regelsysteme unterscheiden sich nicht notwendiger-weise hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Verbindlichkeit, ihres Sanktions-potential und ihrer Regelhaftigkeit. Wie sich anhand der Entwicklungsdynamiken des Koalitionsausschusses, des Kabinetts und der Regierungszentrale ebenfalls exemplarisch illustrieren lässt, unterscheiden sich informelle und formale Regelsysteme nicht systematisch hinsichtlich ihres Verbindlichkeitsgrades, ihres Sanktionspotentials und der mit ihnen verbundenen Regelhaftigkeit.

Zwar wurden institutionelle Regeln des Koalitionsausschusses im Koaliti-onsvertrag formalisiert, aber die Wirksamkeit dieses Regelsystems entfaltete sich erst wirklich infolge der wiederholten und stringenten Anwendung zuvorderst informeller Regeln im Zeitverlauf. Das Ergebnis war eine extrem hohe Bin-dungswirkung dieser Schlüsselinstitutionen und eine dementsprechende instituti-onelle Stabilisierung, obwohl es sich um ein Instrument des „informellen Regie-rens“ (Rudzio 2005c) handelte. Trotz dieses Charakters wurde der Koalitions-ausschuss zur unhinterfragten Berufungsinstanz für alle koalitionsinternen Streit-fälle, dessen Beschlüsse dann auch faktisch als letztes Wort akzeptiert wurden.

Zweitens blieben zwar die formalen Regeln der Kabinettsarbeit erhalten, die diesem Gremium die zentrale Beschlussfassungskompetenz innerhalb der Regie-rungsformation zuwiesen. In der Praxis jedoch wurde hieraus in Folge einer Neuinterpretation der Regeln ein rein notarielles Beschlussfassungsorgan, dessen faktische politische Relevanz in keiner Weise mit dieser formalen Rollenbe-schreibung korrespondierte.

Drittens erwies sich auch die formale institutionelle Stabilität der Staats-kanzlei, wie sie als politisches Signal in Folge des Regierungswechsels 2005 intendiert gewesen war, als bestenfalls mittelfristig wirksam. Die sich in der Konsequenz wiederholt angewandter informeller Praktiken herausbildende Informalitätskultur mit ihren institutionellen Regeln erwies sich jenseits der formalen Regelstrukturen als zentral für die Arbeitsweise dieser Schlüsselinstitu-tion der Kernexekutive. Die langfristig wirksame Einflussverschiebung innerhalb der Regierungszentrale zugunsten der Planungsabteilung, die alleine auf verän-derte informelle Entwicklungsdynamiken zurückzuführen war, zeigte die mit dieser Informalitätskultur verbundene Verbindlichkeit und die daraus resultie-rende institutionelle Regelhaftigkeit kernexekutiver Informations-, Koordinati-ons- und Entscheidungsprozesse.

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 435

3. Die Akzeptanz der Repräsentation korporativer und kollektiver durch indivi-duelle Akteure auf Seiten der Repräsentierten entscheidet maßgeblich über die Wirksamkeit und Reichweite institutioneller Transformationsdynamiken der Kernexekutive. Diese Hypothese basiert auf dem Befund, dass die institutionelle Handlungsfä-higkeit individueller Change-Agents maßgeblich davon abhängig ist, inwieweit ihre Repräsentationsfunktion für weitere Teilakteure einer Regierungsformation akzeptiert oder in Frage gestellt wird. Das bezieht sich sowohl auf intentionales als auch auf nichtintendierte Nebenfolgen individuellen Akteursverhaltens. Da Akteure institutionelle Regelsysteme einerseits bewusst verändern und anderer-seits von diesen beeinflusst werden, wirken sich verändernde Akteursmerkmale sowohl direkt als auch indirekt auf institutionelle Regelsysteme zurück. Mit Umbrüchen in der Akteursqualität in Folge einer Veränderung ihrer Vertre-tungsmacht gehen folglich indirekt auch immer institutionelle Konsequenzen einher.

Entlang des untersuchten Fallbeispiels zeigt sich dieses Erklärungsmuster erneut beispielhaft mit Blick auf den Koalitionsausschuss. So blieb die zweifache individuelle Repräsentantenrolle des Ministerpräsidenten für die CDU als Regie-rungspartei einerseits sowie die exekutive Leitungsebene andererseits bis Ende 2009 weitgehend unangefochten. Folglich spielten auch weitere Vertreter der nordrhein-westfälischen CDU als Regierungspartei, wie zum Beispiel der Gene-ralsekretär, mit Blick auf die Kernexekutive keine eigenständige Rolle, sondern das parteiliche Vertretungsmonopol lag gewissermaßen ausschließlich auf Seiten des Ministerpräsidenten. Vor diesem Hintergrund führte das Akteursverhalten Rüttgers‘ mit Blick auf den Koalitionsausschuss zu einer entsprechenden Verfes-tigung der von ihm vertretenen institutionellen Regeln. Als Change-Agent konn-te er nicht nur für sich, sondern auch als Repräsentant weiterer korporativer Teil-akteure auftreten und damit zusätzliches Vertretungs- und Handlungspotential einbringen.

Anders erwies sich das im Falle Helmut Stahls. Angesichts einer durchaus kritischen Beobachtung durch Teile der CDU-Fraktion konnte der Fraktionsvor-sitzende nicht uneingeschränkt als Repräsentant dieses parlamentarischen Teilak-teurs der Regierungsformation agieren. Damit gingen auch entsprechende Folgen für die Struktur des Koalitionsausschusses einher, wurde doch der Ministerpräsi-dent zum dominanten Akteur auf Seiten der CDU, während die Rolle des Frakti-onsvorsitzenden entsprechend erodierte. Damit veränderten sich zugleich die Potentiale beider Akteure, als institutionelle Entrepreneure in Erscheinung zu treten. Die Folge war eine vor allem den Vorstellungen des Ministerpräsidenten entsprechende Regelstruktur des Koalitionsausschusses.

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436 6 Fazit

Implizit zeigt sich in dieser Frage der Repräsentationsanerkennung ein Er-klärungsmuster für die vollkommen anders gelagerte Funktionsweise des Koali-tionsausschusses unter den rot-grünen Vorgängerregierungen in Nordrhein-Westfalen. Hier wurden beispielsweise auf Seiten der Grünen deutlich mehr individuelle Akteure benötigt, um alle relevanten Teilakteure der Regierungs-formation abzubilden. Damit ging folglich eine personelle Ausweitung des Koa-litionsausschusses mit entsprechenden Funktionsdefiziten einher. Hinzu kam eine innerparteilich bedingte Reserviertheit gegenüber einer ausgeprägten Ver-tretungsmacht der Parteiführung, die sich deutlich von der CDU mit einer we-sentlich stärker ausgeprägten Führungsorientierung auszeichnete.121 Insofern war damit eine zwischen beiden Regierungsformationen abweichende Struktur des Koalitionsausschusses gewissermaßen automatisch in der deutlich unterschiedli-chen Akzeptanz individueller Repräsentationslogiken bei den jeweils vertreten-den korporativen Teilakteuren angelegt. 4. Der machtverteilende Charakter institutioneller Regelsysteme strukturiert die Kernexekutive in einem reziproken Prozess. Institutionelle Regelsysteme bedin-gen Machtasymmetrien auf Akteursebene und dort angesiedelte Machtverschie-bungen wirken ihrerseits auf Institutionen zurück. Zugleich drückte sich im kernexekutiven Gefüge von Koalitionsausschuss, Ka-binett und Staatskanzlei der reziproke Charakter institutioneller Machtvertei-lungskämpfe aus. Auf der einen Seite zeigte sich in der veränderten Bedeutung des Koalitionsausschusses sowie seiner dominanten Stellung gegenüber dem Kabinett die politische Machtposition der hier agierenden individuellen Akteure. Als individuelle Repräsentanten der zentralen Teilakteure der Regierungsforma-tion brachten sie zusätzliche Ressourcen ein, die sich auch institutionell im Sinne eines Bedeutungszuwachses auszahlten. Auf der anderen Seite zementierte der daraus resultierende institutionelle Transformationsprozess die politische Macht-position des Koalitionsausschusses zulasten des Kabinetts und stärkte damit wiederum die im Koalitionsausschuss vertretenden Akteure angesichts des hie-raus resultierenden Informations- und Steuerungsvorsprungs gegenüber anderen Akteuren der Regierungsformation. Im Sinne sich gegenseitig verstärkender Dynamiken kristallisierten sich damit deutliche akteursbezogene und institutio-nelle Machtasymmetrien heraus.

121 Deutliche Hinweise sind die Existenz einer Doppelspitze in der Parteiführung, die

Geschlechterquote bei der Besetzung von Spitzenämtern sowie die personelle Abbildung unterschiedlicher Parteigliederungen.

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 437

Eine entsprechend bedingte Transformationsdynamik zeigte sich auch hin-sichtlich der schrittweisen Einflussverschiebungen innerhalb der Staatskanzlei. Während diejenigen individuellen Akteure, die als kollektiv anerkannte Vertreter der Ministerpräsidenten innerhalb des Hauses auftreten konnten, ihren politi-schen Einfluss auch institutionell ausgebauten und absichern konnten, drückten sich personelle Marginalisierungsprozesse auf der anderen Seite auch in institu-tionellen Dynamiken aus. Die daraus resultierenden formalen und informellen Transformationsprozesse stärkten dann wiederum ihrerseits die Akteure, die Schlüsselpositionen innerhalb der Staatskanzlei einnahmen.

Der offene oder verdeckte Kampf um institutionelle Regeln und ihre Inter-pretation erweist sich damit zugleich als Kampf um politischen Einfluss, wäh-rend sich Einflussasymmetrien in unterschiedlichen Durchsetzungschancen insti-tutioneller Gestaltungsimpulse niederschlagen. Hierdurch wird der besondere machtverteilende Charakter kernexekutiver Institutionen besonders deutlich. Zugleich ergibt sich daraus ein inhärentes Einfallstor für institutionelle Verände-rungsprozesse bei gleichzeitiger Wirksamkeit von Pfadabhängigkeiten: Ver-gleichsweise kleine Machtverschiebungen können einerseits in veränderte Re-gelanwendungen münden und damit institutionellen Wandel herbeiführen. An-derseits kann eine Neuinterpretation oder differentielles Wachstum institutionel-ler Regelsysteme Folgen für die Machtverteilung zwischen relevanten Akteuren haben und damit institutionelle Veränderungsprozesse reziprok verstärken. Die Folge können vergleichsweise kleine, wenngleich langfristig durchaus transfor-mative Pfadabweichungen sein. 5. Die Verfügbarkeit und Herbeiführung von Akteurskoalitionen entscheidet maßgeblich über die Durchsetzungsfähigkeit institutioneller Interessen und damit die Dynamik kernexekutiver Transformation. Ebenfalls unter dem Gesichtspunkt akteursinduzierten institutionellen Wandels erweist sich die Verfügbarkeit und Bereitschaft zur Bildung von Akteurskoali-tionen als relevant. Innerhalb einer Regierungsformation entscheidet zudem nicht alleine die implizite oder explizite Koalition individueller Change-Agents, son-dern ihre jeweilige Repräsentantenrolle für korporative oder kollektive Akteure über die Durchsetzungsfähigkeit institutioneller Veränderungs- oder Stabilisie-rungsimpulse.

Dieses Erklärungsmuster lässt sich entlang der Akteurskoalition zwischen Andreas Pinkwart und Jürgen Rüttgers besonders deutlich illustrieren: Zum ei-nen zeichneten sich beide mit Blick auf die Strukturierung des Koalitionsaus-schusses durch gleichgerichtete individuelle Interessenlagen aus: Die Konversion

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438 6 Fazit

dieser Institution zur zentralen Schlüsselinstanz der Regierungsformation stärkte die individuelle Position beider Akteure sowohl innerparteilich als auch inner-halb der Regierungsformation insgesamt. Zugleich zeichneten sie sich durch die allgemeine politische Interessenlage aus, die koalitionsbedingte Dosierung des Parteienwettbewerbs zum wechselseitigen Vorteil zu institutionalisieren und schrieben diese Aufgabe gleichermaßen dem Koalitionsausschuss zu. Schließlich bot dieses Regelsystem beiden Akteuren die Möglichkeit, gewissermaßen partei-politisch „über Bande zu spielen“ und in der Folge mit Hilfe des jeweiligen Koa-litionspartners auch innerparteilich Interessen gegen widerstreitende Interessen durchzusetzen. Zum anderen brachten beide Akteure Vertretungsmacht für wich-tige korporative Teilakteure ein und agierten insofern auch in deren Namen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass beide eine implizite Akteurs-koalition mit dem gemeinsamen Ziel einer langfristigen Stabilisierung der insti-tutionellen Arrangements eingingen. Denn angesichts der vergleichsweise schnellen Conversion des Koalitionssauschusses zu Beginn der Legislaturperiode sicherte seine anschließende Stabilisierung einerseits die Position dieser beiden Akteure und immunisierte ihn angesichts der damit angelegten pfadabhängigen Entwicklung andererseits gegen potentielle Veränderungsimpulse Dritter. Ange-sichts der mit dieser Akteurskoalition verbundenen strukturellen Kopplung kor-porativer Teilakteure der Regierungsformation über die Parteigrenzen hinweg kam insofern ein zusätzlich stabilisierendes Element hinzu, als angesichts der hiermit repräsentierten Teilakteure die bereits existierenden Machtasymmetrien zulasten anderer institutionell „Aufständischer“ verstärkt wurden. Die breite regierungsformationsinterne Akzeptanz der veränderten Rolle des Koalitionsaus-schusses und die bestenfalls ansatzweisen Versuche institutioneller Veränderun-gen sind deutlicher Ausdruck des aus dieser Akteurskoalition erwachsenden Stabilisierungsprozesses. 6. Akteurshandeln mit Blick auf die Kernexekutive ist sowohl von institutionel-len Interessen als auch politischem Erfahrungshintergrund und politischer Sozia-lisation beeinflusst. Insbesondere individuelle Präferenzsysteme erweisen sich als langfristig wirksame Bezugspunkte institutioneller Handlungsimpulse. Jenseits von Institutionendesign auf der Grundlage klarer institutioneller Ziele beeinflussen weitere, nicht im engeren Sinne institutionell geprägte Einflussfak-toren die institutionelle Präferenzordnung von Change-Agents. Dabei spielen insbesondere politische Erfahrungswerte und persönliche Sozialisationseffekte eine Rolle. Die Folge ist die Übertragung damit verbundener institutionelle Vor-stellungen im Sinne einer Adaption auf neue institutionelle Settings.

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 439

Dieses Muster zeigte sich beispielsweise im Zuge des Reorganisationspro-zesses der Staatskanzlei 2006. Der neue Chef der Staatskanzlei, Karsten Beneke, implementierte im Zuge des begrenzten Displacements zum Beispiel mit der Wiedereinführung der Gruppenstruktur auf Abteilungsebene organisatorische Merkmale, die er aufgrund seiner bundespolitischen Erfahrungen mitbrachte und nun auf seinen neuen Zuständigkeitsbereich übertrug. Ein zweites Beispiel ist die veränderte Anlage des Koalitionsausschusses, die maßgeblich auf Rüttgers’ vorherige Erfahrungen im Bundeskabinett zurückging, und die er im Rahmen der Koalitionsgespräche auf die neue Regierungsformation übertrug.

Jenseits hiervon ausgehender kurzfristiger Veränderungsimpulse für die Kernexekutive wohnte diesen erweiterten Akteursprägungen jedoch vor allem ein stabilisierendes Momentum inne. Denn die solchermaßen ausgeprägten insti-tutionellen Vorstellungen haben insofern langfristig stabilisierenden Charakter, als das sie auch unter veränderten Kontextbedingungen aufrechterhalten werden. Eine Begründung liegt in der langfristigen Wirksamkeit politischer Sozialisati-onsprozesse, die wiederum nur begrenzt von kurzfristigen Kontextveränderun-gen beeinflusst werden.

Beispielhaft kann hier erneut die Positionierung des Ministerpräsidenten mit Blick auf den Koalitionsausschuss angeführt werden. Rüttgers erklärte diese mit der prägenden Wirkung seiner bundespolitischen Erfahrungen. Die langfristige Dosierung des Parteienwettbewerbs durch die Stabilisierung des Koalitionsaus-schusses war Ausdruck seiner kernexekutiven Präferenzen, die wiederum maß-geblich von seinen politischen Erfahrungen geprägt worden seien. Allerdings problematisierte Rüttgers rückblickend das Festhalten an dieser Institutionalisie-rung, weil seiner Einschätzung nach mit der näher rückenden Landtagswahl 2010 der reibungslose Ablauf zu medialen Aufmerksamkeitsdefiziten wegen zu gerin-ger Profilierungschancen und damit geschmälerten Wahlaussichten geführt hät-ten (Interview Rüttgers: Frage 1). Trotz veränderter Kontextbedingungen er-schien angesichts stabiler institutioneller Akteurspräferenzen kein Nachsteuern mehr möglich, was jedoch angesichts der schrittweisen Verfestigung institutio-neller Regelstrukturen im Zeitverlauf auch nicht unbedingt von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Insofern zeigt sich hier auch der wechselseitig stabilisierende Charakter von Akteurspräferenzen und institutionellen Regelsystemen.

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440 6 Fazit

7. Die Struktur der Kernexekutive folgt Akteurscharakteristika im Allgemeinen und zentralen Personalentscheidungen im Besonderen. Institutionelle Entschei-dungen werden immer mit Blick auf personelle Konsequenzen getroffen und personelle Veränderungen in der Kernexekutive ziehen meist institutionelle Transformationsprozesse nach sich. Die Kernexekutive zeichnet sich durch eine besondere wechselseitige Durch-dringung institutioneller Regeln und Strukturen auf der einen und personeller Einflussfaktoren auf der anderen Seite aus. Insbesondere Strukturentscheidungen auf der politischen Leitungsebene und im unmittelbaren Umfeld kernexekutiver Spitzenakteure werden maßgeblich von daraus resultierenden oder ihnen voraus-gehenden Personalfragen beeinflusst. „Actors matter“ in dem Sinne, dass nur bei unterstellter Kompatibilität avisierter institutioneller Regelstrukturen und persön-lichen Charakteristika intentionale Veränderungen der Kernexekutive vorange-trieben werden. Ein Vorrang von Personalfragen gegenüber rein institutionell motiviertem Institutionendesign zeigt sich dabei in zwei Richtungen: Zum einen gehen Personalentscheidungen oftmals institutionellen Strukturentscheidungen voraus. Diese werden dann, wenn möglich, an die neuen akteursspezifischen Rahmenbedingungen angepasst. Zum anderen lassen sich institutionelle Ent-wicklungsprozesse der Kernexekutive vielfach auf intentionales Akteurshandeln einerseits und nichtintentionale Nebenwirkungen in Folge der Anwendung insti-tutioneller Regeln zurückführen.

Beispielhaft illustriert der formale Reorganisationsprozess der Staatskanzlei den ersten Mechanismus. So wurde im Sommer 2006 zunächst eine Entschei-dung über die Nachfolge im Amt des Chefs der Staatskanzlei getroffen und an-schließend Karsten Beneke der Auftrag erteilt, institutionelle Veränderungen nach seinen Vorstellungen zu implementieren. Bereits unmittelbar nach dem Regierungswechsel 2005 war zudem klar gewesen, welche Akteure mit in die Regierungszentrale wechseln würden. Entlang dieser Personalauswahl wurde dann innerhalb der Regierungszentrale nach geeigneten Aufgaben Ausschau gehalten und sich daraus ergebende institutionelle Veränderungsnotwendigkeiten abgeleitet. Zugleich zeigte sich im Zuge des Umbaus der Staatskanzlei nach dem ersten Amtsjahr der Regierungsformation, dass institutionelles Displacement in vielen Fällen nur bereits wirkungsmächtige informelle Praktiken formalisierte. Dies ging ebenfalls zuvorderst auf entsprechendes Akteurshandeln zurück, wenngleich dafür entweder Institutionendesign oder ungesteuerte Institutionen-entwicklung verantwortlich zeichnete. Erneut erwies sich damit der institutionel-le Katalysatoreffekt, der von der Anwendung und Ausdeutung institutioneller Regeln ausgeht, als prägend.

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 441

8. Der zeitgeschichtliche und politische Kontext prägt die Transformation der Kernexekutive nicht unmittelbar, sondern über die jeweilige Kontextwahrneh-mung der relevanten Akteure. Schließlich zeigt sich, dass der politische Kontext, situative Umstände und zeitli-che Rahmenbedingungen nicht primär von sich aus als Einflussfaktoren auf die Kernexekutive einwirken, sondern erst in Form spezifischer Kontextwahrneh-mungen der Akteure ihre prägende Wirkung entfalten. Im Anschluss an die diese Arbeit einleitende Illustration zur Erläuterung der Problemstellung erweisen sich die politischen Umstände eines Regierungswechsels damit nicht als objektive Maßstäbe für Kontinuität oder Wandel der Kernexekutive, sondern die jeweilige Dominanz des Stabilitäts- oder des Veränderungsnarrativs in der Perzeption von Change-Agents strukturiert die Transformationsdynamik der Kernexekutive mit.

Deutlich zeigt sich das in der Kontrastierung zweier Akteure der Regie-rungsformation. Auf der einen Seite deutete Jürgen Rüttgers den Regierungs-wechsel zwar als Auftrag zu einem umfassenden Policy-Wandel. In institutionel-ler Hinsicht erwies er sich jedoch gewissermaßen als Anhänger des Stabilitäts-narrativs: Das nur begrenze Displacement in der Staatskanzlei diente als bewuss-tes Signal der Kontinuität und als entsprechende Absage an einen großen Bruch in Nordrhein-Westfalen. Dem politischen „Erdbeben“ der Landtagswahl sollte kein kernexekutives Beben mit umwälzenden Transformationsprozessen folgen. Diese Akteurswahrnehmung prägte auch die nachfolgenden Organisationsent-scheidungen des Ministerpräsidenten, die weniger von Impulsen zu umfassen-dem intentionalem Institutionendesign, sondern eher von einem Vorrang inkre-menteller Institutionenentwicklung geprägt waren. Dem stand die „revolutionä-re“ Rhetorik eines Neuanfangs des FDP-Fraktionschefs Gerhard Papke gegen-über, der sich damit als Anhänger des Veränderungsnarrativs positionierte. Aus seiner Wahrnehmung heraus, sollte dem Machtwechsel nicht nur ein Politik-wechsel folgen, sondern auch eine „geordnete Revolution“ und ein Schleifen der sozialdemokratischen „Machtkartelle“ im Land folgen (zit. nach Frigelj 2007a). Welches Narrativ sich schließlich als dominant für die Transformation einer Kernexekutive im Anschluss an einen Regierungswechsel erweist, hängt folglich weniger von der Größe des Machtwechsels, sondern vielmehr vom Zusammen-spiel institutioneller, akteursbezogener und situativer Faktoren ab, das sich in einem reziproken Wechselspiel intentionalen Institutionendesigns und inkremen-teller Institutionenentwicklung in Form unterschiedlicher Transformationsmodi entfaltet.

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442 6 Fazit

9. Institutionelle Transformationsdynamiken bedingen sich wechselseitig. Nicht lineare, sondern parallel ablaufende und miteinander verschränkte Transformati-onsprozesse strukturieren die Stabilisierung und den Wandel der Kernexekutive. Gewissermaßen als Zusammenfassung der oben stehenden Hypothesen zeigt sich somit in der Gesamtschau eine wechselseitige Beeinflussung institutioneller Transformationsdynamiken. Die Kernexekutive folgte insofern nicht einer linea-ren Stabilisierungs- oder Veränderungslogik, sondern zeichnete sich durch paral-lel ablaufende und mitunter unmittelbar miteinander verschränkte Transformati-onsprozesse aus. Hiermit wird der alle Institutionen der Kernexekutive betref-fende funktionsbezogene Zusammenhang auch hinsichtlich der Institutionenent-wicklung deutlich: Handelt es sich doch um institutionelle Praktiken, Routinen, Regeln und Verfahren, die alle eine Koordinationsfunktion für die Regierungs-formation als Ganzes erbringen, so liegt auf der Hand, dass es entsprechende Querbezüge zwischen ihrer jeweiligen institutionellen Dynamik gibt.

Exemplarisch ist die verschränkte und unmittelbar aufeinander bezogene Konversionsdynamik von Koalitionsausschuss und Kabinett anzuführen. Die Neuinterpretation der Regelsysteme ist nur vor dem Hintergrund ihres institutio-nellen Zusammenspiels mit Blick auf die Kernexekutive insgesamt zu verstehen: Ohne die Funktionsaufwertung des Koalitionsausschusses hätte das Kabinett nicht auf eine rein notarielle Funktion begrenzt werden können, denn die Folge wäre ein gravierender institutioneller Konflikt kernexekutiver Regelsysteme gewesen.

Auch die Abschreibung interfraktioneller Koordinationsinstanzen im Sinne des Modus Exhaustion war nur damit zu erklären, dass die entsprechenden Koordinationsaufgaben entlang des Transformationsmodus Conversion weitge-hend auf den Koalitionsausschuss übergegangen waren. Ohne eine entsprechen-de Funktionsübernahme dieser Institution wären unabsehbare Defizite für die Funktionalität der Regierungsformation als Ganze entstanden.

Was entwickelte sich schließlich aus der problemorientiert dargestellten Trans-formation der Kernexekutive? In der bewertenden Rückschau auf den Untersu-chungsgegenstand schließlich zeigten sich zum Ende der Amtszeit der nordrhein-westfälischen Regierungsformation aus CDU und FDP im Frühjahr 2010 gleichwohl gravierende kernexekutive Funktionalitätsdefizite. Diese äußerten sich allerdings nicht vorrangig in Form einer systematischen Inkohärenz der intentional oder in Folge ungesteuerter Institutionenentwicklung herausgebilde-ten Kernexekutivstrukturen, der entsprechenden Regelsysteme und der hieraus resultierenden spezifischen Informalitätskulturen. Maßgeblich für die mit Blick auf die näher rückende Landtagswahl 2010 erkennbaren Defizite waren vielmehr

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6.3 Empirische Schlussfolgerungen 443

die fehlende Anschlussfähigkeit dieser institutionellen Arrangements an die landes- und bundespolitischen Rahmenbedingungen sowie vor allem die NRW-CDU betreffende parteiinterne Problemlagen. Wenngleich diese angesichts eines für beide Regierungsparteien negativen Bundestrends in Folge des Regierungs-wechsels im Bund 2009 nicht alleine für den Machtverlust verantwortlich zeich-neten, so bildeten sie doch eine wichtiges Versatzstück für den erneuten Regie-rungswechsel in Nordrhein-Westfalen zugunsten einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen (hierzu Feist/Hoffmann 2010; Grunden 2011b; Niedermayer 2010). Denn die Kernexekutive erwies sich zwar während der gesamten Legisla-turperiode 2005 bis 2010 als weitgehend funktionstüchtig, die ihr zugedachten Koordinations-, Beratungs- und Entscheidungsaufgaben innerhalb der Regie-rungsformation zu erfüllen. Aber die mit diesen Regelsystemen verbundenen politischen Kosten waren hoch:

Die institutionalisierte Dosierung des koalitionsinternen Parteienwettbe-werbs erwies sich für das alltägliche Regierungsgeschäft als hilfreich, führte jedoch mit Blick auf den näher rückenden Wahltermin zu landespolitischen Aufmerksamkeitsdefiziten. Die beispielsweise in der Schulpolitik existierenden Differenzen zwischen CDU und FDP wurden durch Formelkompromisse abge-federt, aber die mangelnde inhaltliche Profilierung der Regierungsparteien in der Konsequenz führte dazu, dass dieses wichtige landespolitische Politikfeld zu einem entscheidenden Thema während des Wahlkampfes mit klaren Vorteilen für die Oppositionsparteien wurde (vgl. Feist/Hoffmann 2010).

Die institutionellen Entwicklungsdynamiken innerhalb der Staatskanzlei führten zu personellen Konzentrationsprozessen rund um die Hausspitze und beförderten eine zunehmende „Wagenburgmentalität“ des „Inner Circle“. Die Marginalisierung wichtiger Organisationseinheiten innerhalb der Regierungs-zentrale war Ausdruck dieser Transformationsdynamik und verstärkte wiederum die schrittweise Isolation und Abschottung der Hausspitze und des engeren Bera-tungs- und Entscheidungszirkels. Komplexitätsreduktion und „Komplexitätsad-äquanz“ (Grunden 2009: 391) gerieten so in ein zunehmendes Missverhältnis.

Gleichzeitig brachten politische Instinktlosigkeiten und parteiinterne Quere-len während des beginnenden Wahlkampfes vor allem die CDU zusätzlich in die Defensive. Die sogenannte Sponsoringaffäre – ausgelöst durch einen Brief des CDU-Generalsekretärs Hendrik Wüst an potentielle Sponsoren, der darin im Gegenzug für Parteitagssponsoring Termine und Gespräche mit dem Minister-präsidenten anbot und hierdurch Käuflichkeitsvorwürfe provozierte – brachte die CDU und nicht zuletzt Ministerpräsident Jürgen Rüttgers persönlich in die De-fensive. In Verbindung mit der Veröffentlichung interner Emailkommunikation aus der Parteizentrale der CDU erwies sich das als schwere politische Hypothek. Angesichts der während der vorhergehenden fünf Jahre voll und ganz auf Jürgen

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444 6 Fazit

Rüttgers zugespitzten Personalisierung wog dieser Sachverhalt umso schwerer. Vor dem Hintergrund seines fast vollständigen individuellen Repräsentations-monopols blieb Rüttgers damit nach der Wahlniederlage 2010 als Ministerpräsi-dent nichts anderes übrig, als zugleich auch von allen parteipolitischen Ämtern zurückzutreten.

Wenngleich durchaus ungewöhnlich für eine Landesregierung, so verlor die schwarz-gelbe Regierungsformation damit nach nur einer Legislaturperiode ihr Regierungsmandat wieder. Allerdings folgte dem vermeintlichen „Erdbeben“ von 2005 im Frühjahr 2010 erneut ein politischer Ausnahmefall: Denn die Land-tagswahl brachte zwar die Abwahl der bisherigen Landesregierung, aber keine neue parlamentarische Mehrheit hervor. Stattdessen kam nach einer zweimonati-gen Sondierungsphase die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung zu-stande. Gleichwohl stellte auch dieser Regierungswechsel, anknüpfend an die einleitenden Bemerkungen dieser Arbeit, weniger einen revolutionären Sonder-fall, als vielmehr den demokratischen Normalfall eines geordneten Übergangs politischer Verantwortung dar.

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Liste der Interviews Karsten Beneke

Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten (2005-2006) und Chef der Staatskanzlei (2006-2010) Interview am 5. Januar 2012 in Jülich

Dr. Boris Berger

Leiter der Abteilung III Regierungsplanung der Staatskanzlei NRW (2005-2010) Interview am 31. Januar 2012 in Bonn

Dr. Axel Emenet,

Leiter des Ministerpräsidentenbüros (2005-2010) Interview am 20. Januar 2012 in Düsseldorf

Dr. Michael Henze

Ständiger Vertreter des Abteillungsleiters und Gruppenleiter in der Abteilung III Regierungsplanung der Staatskanzlei (2005-2008) Interview am 9. Januar 2012 in Düsseldorf

Andreas Krautscheid,

Regierungssprecher und Staatssekretär für Medien (2005-2007) und Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Medien (2007-2009) Interview am 23. Januar 2012 in Köln

Prof. Dr. Manfred Mai

Mitarbeiter in Abteilung II der Staatskanzlei (2005-2010) Interview am 3. Januar 2012 in Düsseldorf

Dr. Gerhard Papke,

FDP-Fraktionsvorsitzender (2005-2010) Interview am 22. Dezember 2011 in Düsseldorf

M. Florack, Transformation der Kernexekutive, Studien der NRW School of Governance, DOI 10.1007/978-3-531-19119-5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

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476 Liste der Interviews

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Stellvertretender Ministerpräsident, Minister Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie und FDP-Parteivorsitzender in NRW (2005-2010) Interview am 30. Januar 2012 in Bonn

Dr. Jürgen Rüttgers

Ministerpräsident und CDU-Parteivorsitzender in NRW (2005-2010) Interview am 9. Februar 2012 in Düsseldorf

Helmut Stahl

CDU-Fraktionsvorsitzender (2005-2010) Interview am 16. Januar 2012 in Bonn

André Zimmermann,

Sprecher des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie (MIWFT) (2005-2010) Interview am 7. Januar 2012 in Porta-Westfalica.