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TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
BM ‚Politische Systeme‘
Wie wandeln sich politische Systeme?
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Gliederung der Vorlesung
I. Was ist Politik?II. Was ist ein ‚politisches System‘?III. Warum und wie vergleicht man politische
Systeme?IV. Wie läßt sich politische Macht ausüben und
bändigen?V. Welche Arten politischer Systeme gibt es?
VI. Wie wandeln sich politische Systeme? VII. Welche Strukturen und Funktionen besitzen die
zentralen Elemente moderner politischer Systeme?
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Gliederung des Gedankengangs
Ko-Evolution von System und Systemumwelt
Theorie der RevolutionDie Einzelformen von Systemwandel und
Systemwechsel im Zusammenhang:EvolutionRevolutionTransformation ‚Verfassungskreisläufe‘
scheiternde Staatlichkeit
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
System, Umwelt und Wandel
Reaktion des Systems auf Wandel in seiner Umwelt
Wandel
Wandel
Wan
de
l
Anpassung
Ausweichenoder Überleben in NischenEndeder Selbst-reproduktion
zentrales politisches
Entscheidungssystem
Gesellschaft
inter-nationales
System
globale Umwelt
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Basis und Überbau
Produktivkräfte:Technik & Bildung
Produktionsverhältnisse:Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen
gesellschaftliche Basis
politische Institutionen
systematisierte gesellschaftliche Leitideenund Wertemuster
Überbau
Produktivkräfte:Technik & Bildung
Produktionsverhältnisse:Funktionslogik unabhängig von Wertungen und Wünschen
gesellschaftliche Basis
Entwick
lung
‚Widerspruch‘
Reform oder Revolution
erneuerterÜberbau
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Die Revolution
Wandel:
• Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel
Funktionsdefizite des zpES
verfügbareInstitutionen
Steuerungsmuster
der Eliten
‚Auslöser‘
Autoritätsverlust des zpES
Systemerhaltung durch
Repression
Ergebnis abhängig von den Machtverhältnissen
und derTatkraft der Akteure
revolutionäre Erhebung
durchbricht die Abschreckungslogik
des zpEsProtest:System ändern!
Protest:Wandel stoppenoder korrigieren!
rascher Systemumbau
Gesellschaft
zpEs
Polarisierung
endogen exogen
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
‚Antizipationsschleifen-Politik‘Wenn ...
die Adressaten einer Handlung wissen, daß diese Handlung eintreten und sicher ganz bestimmte Folgen haben wird
oder wenn ...der Autor einer Handlung weiß, daß die Adressaten
seiner Handlung (darum) ganz sicher auf eine bestimmte Weise reagieren werden
dannreicht es für den Autor der Handlung meist aus, seine
Handlung nur anzudeuten oder zu symbolisieren,aber nur solange wie ...
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Exogener Wandel
= in der Umwelt des Systems:politische Umwelt: etwa Nachbarstaat wird
aggressiv, neue Fernwaffen schaffen Bedrohung
wirtschaftliche Umwelt: Krise im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem
gesellschaftliche: Bevölkerungsdruck in anderen Staaten und Migration aus ihnen nimmt zu
natürliche Umwelt: Klimawandel, Überflutungen, Erdbeben, GAU
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Endogener Wandel
= erzeugt im System selbst: technischer Wandel: neue Techniken verändern
die Struktur der Arbeitswelt (Produktivkräfte Produktionsverhältnisse)
wirtschaftlicher Wandel: Gesellschaft verliert internationale Konkurrenzfähigkeit, Inflation
gesellschaftlicher Wandel: Überalterung, Einwanderung ohne Lösung des Integrationsproblems, Klassenkonflikt
kultureller Wandel: Zerfall alter Wertgrundlagen, Ausbreitung neuer, mit dem bisherigen System nicht kompatibler handlungsleitender Werte
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Funktionsdefizite des zpEs Fixierung auf ideologische (Wunsch-)Vorstellungen
Festhalten an bisherigen Sichtweisen und ‚politisch korrekten‘ Lagebeurteilungen
Verlust an Responsivität Parteien, Interessengruppen, Medien entwickeln weniger
Initiative und Kritik Input wird eher abgeschottet als gesucht
Verlust an Steuerungsleistung politische Klasse befaßt sich eher mit eigenen Interessen
als mit gesellschaftlichen Problemen die politischen Institutionen funktionieren nur mit großen
Reibungsverlusten
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Desynchronisation von politischem Prozeß und Umweltwandel
unbeseitigbare Uneinigkeit über konkrete Zielsetzungen
‚Schönwetter-Institutionen‘ funktionieren nicht mehr richtig (z.B. anhaltende Regierungsinstabilität wegen verantwortungsscheuer Parteien)
friedliche Konfliktbeilegung (etwa durch allgemein
akzeptierte Mehrheitsentscheidung) gelingt nicht mehrVermittlung systemstabilisierender
politischer Wertemuster und Verhaltensweisen mißlingt bei Eliten und Bürgerschaft mehr und mehr
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Bewältigung von Wandel und politische Institutionen
in der Regel gut geeignet, Wandel zu verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer pluralistischen Demokratie
Probleme: allzu konsensabhängiges zpEs fortgeschrittener informeller Verfall der formalen
Institutionen in der Regel schlecht geeignet, Wandel zu
verarbeiten und sich ihm entsprechend selbst weiterzuentwickeln: Institutionen einer autoritären Diktatur Ausnahme: entschlossen und kompetent geführte
Entwicklungsdiktaturen während ihrer ‚Aufbruchsphase‘
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Bewältigung von Wandel und die Steuerungsmuster politischer Eliten
Reformismus: systembewahrender Wandel ‚Der wahre Konservative ist ein Reformer!‘
Einbinden der Führer von Protestgruppenzielgerichtete Responsivitätssteigerungsymbolisch-befriedende Wirkung
‚Durchwursteln‘ ‚Politik der pragmatischen Aushilfen‘
‚harte Linie‘ abnehmender Nutzen
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Begriffe
Zentrale Begriffe für die Analyse von Systemwandel sind:
EvolutionRevolutionTransformation
Ergebnis: Systemwechsel
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Evolution
schrittweise Weiterentwicklung bestehender Strukturen oder Ausdifferenzierung von Sub- bzw. Suprasystemen (‚Inkrementalismus‘)
unter den Bedingungen von Versuch und Irrtum, mit der Umwelt als ‚Überprüfungsinstanz‘ und Selektor
ohne jegliche Erfolgsgarantie, sondern mit dem Risiko, in Sackgassen der Entwicklung zu geraten
sowohl kontingent als auch pfadabhängig keinesfalls teleologisch (Historizismus) im Fall immer wieder erfolgreicher
Umweltanpassung retrospektiv erschließbar als Prozeß ‚institutionellen Lernens‘
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Kontingenz
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716): „Contingens est quod nec impossibile nec necessarium“deutsch: „Kontingent ist, was weder unmöglich noch notwendig ist“
D.h.: ‚Kontingenz‘ meint, daß den Lauf der Dinge verändernde Ereignisse und Prozesse ... aus gleich welchen Gründen mit gleich welchen Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1 in einem System oder in dessen Umwelt
auftreten und so die Entwicklung eines Systems, oder von dessen Umwelt, in wenig vorhersehbarer Weise beeinflussen.
Folgenreich für Systementwicklung und Systemgeschichte: ‚doppelte Kontingenz‘ – einesteils im System, andernteils in dessen Umwelt.
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Pfadabhängigkeit t4: zwei längst getrennte Pfade kommen wieder zusammen!
nur im Nachhinein, bei der historischen Analyse, klar erkennbare Entwicklungen
Geschichte
t4
t2: Pfade A und B trennen sich von C und
D
A
B
C
D
t3t2t1
t1: noch istalles möglich!
t3: Pfade A und B trennen sich
„kein
Weg
füh
rt meh
r von
A n
ach
D, u
nd
d
och
....!“
nicht vorhersehbare Ergebnisse
kontingente Abzweigungen
man schleppt mit, w
as man
wurde
Prägekraft ‚der Evolution‘
off
ene Z
uku
nft
–
irre
vers
ible
r Abla
uf
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Teleologie und Teleonomie
Unterschied zu verstehen analog zu dem zwischen Astrologie und Astronomie
Teleologie: ein System trägt sein Ziel in sich d.h.: es hat eine notwendige Entwicklungsrichtung und
Geschichte Teleonomie:
ein System hat eine bestimmte Struktur und Funktionslogik die Freiheitsgrade seiner Weiterentwicklung sind darum
eingeschränkt, d.h.: es kann nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt alles werden
anders formuliert: seine Entwicklung ist nicht notwendig, sondern kontingent, und dabei pfadabhängig
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Historizismus
(Irr-)Lehre, daß die Geschichte einen objektiv notwendigen Verlauf nimmt
Folgerungen aus dieser (Irr-)Lehre: Man kann den notwendigen Verlauf der Geschichte objektiv
erkennen. Das Ziel von Geschichts- und Sozialwissenschaft besteht darin,
den notwendigen Gang der Geschichte objektiv zu erkennen. Politik soll solche Erkenntnis beherzigen und – auf der Grundlage
einer derartigen ‚wissenschaftlichen Weltanschauung‘ – das geschichtlich objektiv Notwendige herbeiführen ( Gemeinwohl a priori)
NB: Nicht zu verwechseln mit ‚Historismus‘, d.h. einer geschichtswissenschaftlichen Schule und Epoche, welche ihren Gegenstand möglichst genau beschreiben und aus sich selbst heraus, am besten entlang seines Selbstverständnisses, verstehen wollte.
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Revolution
tiefgreifende Umgestaltung eines politischen Systems samt Austausch der obersten Schichten politischer Eliten
zu unterscheiden von ‚Staatsstreich‘, ‚Putsch‘ oder ‚Palastrevolution‘, bei denen nur die oberste politische Führungsgruppe ausgetauscht, in der Regel aber nicht das System verändert wird
Ausgangspunkt ist in der Regel eine – mitunter recht zufällig eingetretene – Systemkrise
ob friedlich oder gewaltsam vollzogen, hängt ganz von den je besonderen Umständen ab
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Transformation
= jener Prozeß, in demnach einem revolutionären Regimewechsel in einem sehr raschen evolutionären Prozeß
die gesamte politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Struktur einer Gesellschaft insgesamt oder in wesentlichen Teilen
umgeformt wird ... umfangreiche Theoriebildung zur
Transformationsforschung; etwa: P.
Merkel
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Transformation
Wichtige Formen von Systemwechseln
Verfall eines freiheitlichen Verfassungsstaates; Ersetzungdurch autoritäre Diktatur
Aufbau und Abklingen vonTotalitarismus
Wandel von autoritären Diktaturenzu freiheitlichen Verfassungsstaaten
ferner: ‚Scheitern‘ von Staaten
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Historische Tatsachen I ‚Staatlichkeit‘ ist eine Ausnahmeform politischer Ordnung
Beispiele: Ägypten, Hethitisches Reich, mesopotamische Reiche, Persien, griechische Poleis, Karthago, Rom/Byzanz; europäische ‚Staaten‘ seit dem Frankenreich, Rußland; China, Japan; mittelamerikanische Staaten (Maya, Azteken), Inka; Äthiopien, Timbuktu, Benin …; arabische Reiche, osmanisches Reich …
viel häufiger: ausgedehnte herrschaftslose Räume mit instabilen und oft eher clanartigen als fest institutionalisierten machtausübenden Gruppen Beispiele: große Teile des Mittelmeerraums bis zur phönizischen und
später griechischen Kolonisation; Nordeuropa bis zum (Früh-) Mittelalter, Sibirien bis zum russischen Imperialismus; große Teile von Afrika, Amerika und Australien bis zum Kolonialismus/Imperialismus
nicht selten auch: ‚Übergangszustände‘ zwischen ‚autonomen Stammesstrukturen‘ und ‚loser Oberherrschaft einer Hegemonialgewalt‘ Beispiele: Peripherie der antiken Großreiche, große Teile West- und
Mitteleuropas zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter, große Teile Afrikas in den ersten gut zwei Jahrhunderten des Kolonialismus
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Historische Tatsachen II ‚Moderne Staatlichkeit‘ entstand in Europa seit den Religions- und Bürgerkriegen
des 16./17. Jahrhunderts. Kulturelle Voraussetzungen u.a.: sehr konkretes Nachwirken von römischer Reichsidee
und römischem Recht, Institutionenmodell und Regierungspraxis der römischen Kirche. Mit der außergewöhnlichen technischen Entwicklung Europas und dem so möglich
gewordenen Kolonialismus / Imperialismus werden die Leitideen und institutionellen Formen europäischer Staatlichkeit über einen Großteil der Erde verbreitet. Achtung: zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren außer v.a. China, Japan, Thailand und
Äthiopien nur sehr wenige Gebiete der Erde nicht unter die (indirekte) Regierungsgewalt europäischer Staaten geraten!
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen Entkolonisierung und kommunistische Revolutionen in den allermeisten Ländern der Erde politische Strukturen, die der europäischen Staatlichkeit nachgebildet sind. Wichtiger Stabilisierungsfaktor: weltweit prägender Ost/West-Konflikt samt ‚Kaltem Krieg‘. In genau dieser Zeit wird das System der modernen internationalen Beziehungen immer
komplexer, dessen Rechtsgrundlagen auf der Annahme beruhen, alle bewohnten Gebiete der Erde gehörten zu für sie verantwortlichen souveränen Staaten.
Seit dem Ende des Ost/West-Konflikts beobachten wir den Wegfall von dessen Stabilisierungsleistung sowie Prozesse, in denen Staatlichkeit zusammenbricht (etwa: Somalia), mühsam von außen stabilisiert wird (z.B. multinationale Protektorate wie auf dem Balkan) oder sich nach Zerstörung von außen kaum mehr wieder errichten läßt (z.B. Afghanistan, Irak).
Faustformel: „Staatlichkeit ist ein europäischer Exportartikel, dessen Import oft mehr Probleme schuf als löste!“
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Warum brechen Staaten zusammen?
Aufpfropfen der europäischen Form von Staatlichkeit auf Gesellschaften, die dafür weder eine Notwendigkeit noch die Voraussetzungen haben und denen auch noch die Idee einer festen Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt fremd ist (= mangelnde ‚governmentality‘) trifft auf fast ganz Afrika und auf Teile Asiens zu Zusammenbruch der dortigen ‚Quasi-Staatlichkeit‘ bei Einschränkung von materieller
und militärischer Unterstützung der jeweils regierenden Eliten zu kurze Zeiten einer ‚geschützten‘ Entwicklung, bei der die einmal
implementierten ‚europäischen‘ Institutionen ihrerseits ein sich ihnen anpassendes gesellschaftliches und kulturelles Umfeld hätten schaffen können in Europa: 350jähriger Staatswerdungsprozeß zwischen Hochmittelalter und Neuzeit! Weltweites Problem hingegen:Befreiungskriege, sozialistische Revolutionsversuche,
Invasionen von Nachbarstaaten, Bevölkerungsdruck, Zerstörung des traditionellen Sozialgefüges durch neue industrielle und urbane Siedlungen, Zerstörung des regionalen Wirtschaftsgefüges durch dichten Anschluß an den Weltmarkt und seine Dynamik
ungünstiges Verhältnis zwischen dem Nutzen und den Kosten von Staatlichkeit gerade während solcher – so die Hoffnung – ‚Übergangsperioden‘
Wegfall von innerem Stabilisierungsdruck, wie ihn eine Diktatur ermöglicht etwa: Sowjetunion, Jugoslawien, Afghanistan, Irak …
Achtung: Keine einfachen Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren und dem Zusammenbruch von Staatlichkeit!
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Nachfolgeprobleme des einstigen Siegeszugs ‚europäischer Staatlichkeit‘
Zerstörung der Tradition alternativer politischer Ordnungsformen seit dem imperialistischen Institutionentransfer und den kommunistischen Revolutionen auf allen vom europäischen Kolonialismus und Imperialismus betroffenen Kontinenten ‚problemlos‘ nur dort, wo lange Zeit auch eine neu und vor allem aus Europa
zugewanderte Bevölkerung dominierte: USA, Kanada, Australien; mit Einschränkungen: Südamerika
Verbindung ‚europäischer‘ Institutionenruinen mit regionalen Traditionen zu wenig lebensfähigen politischen Systemen, v.a. in Afrika
Fehladaptation des internationalen Staatensystems auf die sehr brüchige Voraussetzung gesicherter Staatlichkeit in weiten Teilen der Erde
Umsetzung des Glaubens an den Wert europäischer Staatlichkeit (mit u.a. Gewaltenteilung, weltanschaulichem Pluralismus und Demokratie) in abenteuerliche Programme der Staatenbildung und Demokratisierung, die … ihrerseits den ‚clash of civilizations‘ auslösen (können): arabische Welt, China mangels gegebener oder willentlich schaffbarer Voraussetzungen scheitern:
Afghanistan, Irak, viele afrikanische Staaten
Das heißt: ‚scheiternde Staaten‘ sind (auch) Opfer des Scheiterns der europäischen Staatsidee unter Bedingungen, für die sie wenig
geeignet ist !
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Einige Einsichten Staatlichkeit entsteht aus dem Zusammentreffen sehr spezieller und
keineswegs allenthalben verfügbarer Vorbedingungen. Staatlichkeit ist darum keine universell anwendbare politische
Ordnungsform, sondern hat – vielleicht! – lebensfähige Alternativen. Problem: Wir kennen bislang nur die traditionelle Formen von ‚Staatlichkeit‘
oder ‚Reichsbildung‘ und wissen nicht, was von ihnen auch künftig akzeptabel oder wirksam ist (etwa wegen der Verfügbarkeit von ABC-Waffen und optimalen Bedingungen für international agierenden Terrorismus)
‚Scheitern von Staaten‘ ist darum vielfach keine Abweichung von einem Normalfall, sondern das Ende einer geschichtlichen Ausnahmesituation.
Stimmt das, so … sind bereits die normativen Grundlagen unserer internationalen Ordnung
brüchig kehren als ‚geschichtlich überwunden‘ geglaubte Formen
zwischenstaatlicher Politik wieder als aktuelle Herausforderungen zurück: Bildung einesteils von Protektoraten, andernteils von Reichen langfristige Zusammenarbeit von freiheitlichen Staaten mit Diktaturen ohne
Versuche, dort auf Systemwechsel hinzuwirken Versuche einer Abschottung gegen die nicht beseitigbaren ‚Slums der Weltpolitik‘
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Folgerungen Die vorrangige Aufgabe ist es wohl weniger, gescheiterte Staatlichkeit
‚wiederherzustellen‘, als vielmehr Möglichkeiten zu finden, mit Weltgegenden zurechtzukommen, in denen … es keine Staatlichkeit gibt Staatlichkeit so schlecht funktioniert, daß die zentralen Staatsfunktionen eben nicht
erfüllt werden (v.a.: Durchsetzung von Recht und Ordnung im Inneren). Es ist einzusehen, daß dieses Problem kleiner ist, als es zunächst erscheint:
‚Staatlichkeit‘ ist kein Entweder/Oder, sondern es gibt immer schon Übergangsstufen. Also ist ein eher traditionelles Problem zu lösen, für das wir viele geschichtliche Erfahrungswerte besitzen.
‚Entstaatlichung‘ muß nicht zu sozialer Unordnung führen. Im Gegenteil scheint erst die Einführung des Staates in Gesellschaften ohne staatliche Tradition viele Formen sozialer Unordnung erzeugt zu haben. Also kann vermutet werden, daß sich jenseits von Staatlichkeit aufs neue stabile Ordnungsformen einspielen werden.
Viele wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse brauchen gar keinen staatlichen Ordnungsrahmen ‚vor Ort‘: etwa benötigen Technik, Währung und Gerichtsbarkeit nur irgendwelche funktionierenden Staaten zur ihrer Nutzbarkeit, nicht aber notwendigerweise den Staat, in dem man sich gerade aufhält.
Bei Bedarf läßt sich seitens von NGOs oder von Staaten mit oder ohne UN-Mandat zur Behebung dringender Probleme zweckbezogen und begrenzt in staatsfreien Regionen intervenieren.
Ende des westlichen Traums einer ‚demokratischen Staatenwelt‘;freilich: kein schönes Erwachen!
Obendrein ist unklar, wohin, wie weit und wie gut die
Reise mit ‚poststaatlichen Strukturen‘ gehen wird!
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Schlußfolgerungen insgesamt
Ein demokratischer Verfassungsstaat ist eine überaus voraussetzungsreiche und darum seltene Form
eines politischen Systems; ein zwar leistungsstarker, doch auch leicht zerstörbarer
Systemtyp; der Typ eines politischen Systems, der freien, selbstbewußten
und kritikfähigen Menschen am besten angepaßt ist.
Einmal zerstört, ist es unwahrscheinlich, daß er sich bald wieder aufrichten läßt.
Darum ist es vernünftig, einen Systemwandel weg von demokratischer Verfassungsstaatlichkeit zu unterbinden.
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Damit sollte klar sein,
warum es sowohl zum Wandel als auch zum Scheitern politischer Systeme kommt
welche Systemtypen und politischen Handlungsstrategien angesichts von Wandlungsdruck am konstruktivsten sind
wie insbesondere Prozesse der Evolution und Revolution verlaufen
mit welchen Pendelschlägen zwischen Verfassungsstaatlichkeit und Diktatur zu rechnen ist
wie man mit dem Problem ‚scheiternder Staatlichkeit‘ wohl umgehen sollte
weiter mit: ‚Repräsentation und Parlamentarismus‘
TU Dresden - Institut für Politikwissenschaft - Prof. Dr. Werner J. Patzelt
Basismodul‚Politische Systeme‘
Noch Fragen? -
Bitte!