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5 Hans Günter Aurich Und der Morgen leuchtet in der Ferne Lehrjahre unter zwei totalitären Regimen 1. Auflage 2007 © by Gerhard Hess Verlag, 88427 Bad Schussenried Gesamtherstellung Gerhard Hess Verlag www.gerhard-hess-verlag.de ISBN 3-87336-336-4

UndderMorgenleuchtetinderFerne · 10 das Gesicht verstecken darf, so gebt mir Thisbe auch. Ich will mit ‘ner terriblen feinen Stimme reden: ,Ach, Pyramus, mein Liebster schön!

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Hans GünterAurich

Und der Morgen leuchtet in der Ferne

Lehrjahre unter zwei totalitären Regimen

1. Auflage 2007© by Gerhard Hess Verlag, 88427 Bad SchussenriedGesamtherstellung Gerhard Hess Verlagwww.gerhard-hess-verlag.de

ISBN 3-87336-336-4

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Hans Günter Aurich

Und der Morgen leuchtet in der Ferne

Lehrjahre unter zwei totalitären Regimen

Roman nach Tatsachen

Gerhard-Hess-Verlag

Hans Günter Aurich, geboren 1932 in Meuselwitz/Thür. Zunächst Studium der Pädagogik mit den Fächern Chemie und Biologie in Leipzig. 1952 Verhaftung durch die sowjetische Besatzungs-macht. Verurteilung zu 25 Jahren Arbeitslager wegen antisowjetischer Propaganda, Gruppenbil-dung und angeblicher Spionage. Verschleppung in die damalige Sowjetunion, Lageraufenthalt in Workuta. 1955 Entlassung nach Adenauers Mos-kau-Besuch. Studium der Chemie in Marburg. Nach Promotion und Habilitation bis 1998 als Professor für Organische Chemie in Marburg tä-tig. Im Ruhestand verfasste er den Roman „Und der Morgen leuchtet in der Ferne“.

Im Mittelpunkt dieses Entwicklungsromans mit zeitgeschichtlichem Hin-tergrund steht der 1931 geborene Wolfgang Hartwig. Schon früh sind Hel-dentum, Kampf und Eroberung die Ideale, die ihn faszinieren. Unter dem Einfl uss staatlicher Propaganda, der besonders junge Menschen nahezu schutzlos ausgesetzt sind, wird er zum begeisterten Anhänger des Natio-nalsozialismus. Der totale Zusammenbruch 1945 zerstört sein Weltbild völ-lig. Dies und ein familiäres Problem stürzen ihn in eine tiefe Krise. Seine Teilnahme an einer Schüleraufführung des „Sommernachtstraums“ im Jahr 1946 gibt ihm neue Kraft. Er entdeckt die Liebe zum Theater und zur Litera-tur und fi ndet Zugang zu den Ideen von Aufklärung und Humanismus.Doch der Alltag in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR lässt ihn bald erkennen, dass sich mit der so genannten Diktatur des Pro-letariats ein System etabliert, das in seiner Missachtung von Menschen-würde und individueller Freiheit dem Nationalsozialismus sehr ähnlich ist. So schließ er sich Kreisen an, die sich den Widerstand gegen das neue System zum Ziel gesetzt haben. Inzwischen Medizinstudent trifft er nach fünf Jahren seine Partnerin aus dem Sommernachtstraum wieder, in die er sich schon damals verliebt hatte. Zwischen ihnen entwickelt sich eine inni-ge Liebesbeziehung. Diese endet jedoch abrupt mit Wolfgangs Verhaftung durch die sowjetische Besatzungsmacht und seiner Verschleppung in die Sowjetunion.Im Nachwendejahr 1990 fi ndet am selben Ort wieder eine Schülerauffüh-rung des „Sommernachtstraums“ statt. Im Zusammenhang damit erwach-sen einem jungen Lehrer auf der Suche nach seinen Wurzeln wichtige Er-kenntnisse.

ISBN 3-87336-336-4

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Für Ruth und Octavia

***

In Gedenken an Wolfgang Ostermann, Heinz Eisfeld,Helmut Paichert, Heinz Baumbach, Ludwig Hayne

und Fritz Humprecht

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Meiner Tochter und meinem Schwiegersohn,Octavia und Robert Prätzler,

möchte ich ganz herzlich für ihre Hilfebei der Korrektur des Manuskripts danken.

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Erster Teil

1. Kapitel

Aus einer Schneise im Gebüsch brechen plötzlich sechs junge,schäbig gekleidete Burschen hervor. Mit ungelenken Bewegungenhüpfen sie auf der angrenzenden Wiese im Schatten mächtiger, alterBuchen und Eichen im Kreise herum. Im Hintergrund erklingt Mu-sik von Mendelssohn. Die Dreizehn- bis Vierzehnjährigen verkör-pern biedere, derbe Handwerker aus Athen, die Rüpel. Die Wieseund ein leicht erhöhtes Plateau hinter ihr sind der Schauplatz einerSchüleraufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ imMeuselwitzer Schlosspark an einem Juniabend des Nachkriegs-sommers 1946. Das ins Licht der milden Abendsonne gehüllte, mitBüschen und kleinen Bäumen bewachsene Plateau dient als natür-liche Kulisse für den Palast des Herzogs von Athen, Theseus. Vordem Palast hat Egeus die Klage über seine ungehorsame TochterHermia vorgetragen, die Lysander liebt und nicht den von ihm aus-gewählten Demetrius heiraten will. Hier haben später auch Lysanderund Hermia ihre Flucht aus Athen beschlossen.

Nach ihrem Tanz vor den Bäumen am Rande der Wiese beratendie Rüpel über ein Stück, das sie zur Hochzeit ihres Herzogs Theseusaufführen wollen: Die höchst klägliche Komödie von Pyramus undThisbe. Klaus Zettel, der Weber, ist für die Rolle des LiebhabersPyramus vorgesehen. „Ein Liebhaber, der sich auf die honettesteManier vor Liebe umbringt.“ Und dieser Klaus Zettel räsoniert mitwilden Gebärden: „Das wird einige Tränen kosten bei einer wahr-haftigen Vorstellung. Wenn ich‘s mache, lasst die Zuschauer nachihren Augen sehn! Ich will Sturm erregen, ich will einigermaßenlamentieren. Nun zu den übrigen; eigentlich habe ich das beste Ge-nie zu einem Tyrannen; ich könnte einen Herakles kostbarlich spie-len, oder eine Rolle, wo man alles kurz und klein schlagen muss.“Aber damit nicht genug, er will auch die Thisbe spielen: „Wenn ich

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das Gesicht verstecken darf, so gebt mir Thisbe auch. Ich will mit‘ner terriblen feinen Stimme reden: ,Ach, Pyramus, mein Liebsterschön! Deine Thisbe schön, und Fräulein schön!‘“ Zuletzt möchteer sich auch noch als Löwe produzieren. „Lasst mich den Löwenauch spielen. Ich will brüllen, dass es einem Menschen im Leibewohltun soll, mich zu hören. Ich will brüllen, dass der Herzog sagensoll: ,Nochmal brüllen! Nochmal brüllen!‘“

Wolfgang Hartwig, ein vierzehnjähriger Meuselwitzer Oberschü-ler, von etwas gedrungener Gestalt mit langem, schwarzem, glattnach hinten gekämmtem Haar, spielte die Rolle des Klaus Zettelsehr überzeugend, temperamentvoll und vorlaut, seinem eigenen Na-turell entsprechend. In den letzten Monaten vor derAufführung hat-te sich Wolfgang allerdings stark verändert gehabt. Irgendetwasmusste ihn sehr bedrückt haben. Er schien sehr ruhig und nach-denklich geworden zu sein.Aber dies hier war wieder der alte Wolf-gang Hartwig, wie man ihn schon lange kannte. Einen besserenDarsteller für diese Rolle hätte sein Lehrer und Schulleiter, Dr. Bau-er, der dieAufführung mit Schülern derAltenburger und MeuselwitzerOberschulen inszeniert hatte, wirklich nicht finden können. DieMeuselwitzer Schüler hatten dabei die Rollen der Rüpel übernom-men. Von ihnen hatte nur Klaus Zettel größere gemeinsame Auftrit-te mit den anderen Akteuren. So verlief die Aufführung glatt undohne Probleme, obwohl es wegen der schlechten Verkehrsverbin-dungen zwischen den beiden Städten, ein Jahr nach Kriegsende, garkeine gemeinsame Probe gegeben hatte.

Der Zauber des „Sommernachtstraums“ mit seinen märchen-haften Szenen, dem Streit zwischen der Elfenkönigin Titania undihrem Gatten Oberon – dem der ruhelose Droll, Herrscher über Gei-ster und Magie, stets zu Diensten ist – zieht die Zuschauer immerstärker in den Bann. Die einzigartige Harmonie von Handlung undUmgebung schafft eine Atmosphäre, die die harte Realität dieserZeit für einige Stunden vergessen lässt. Die von Droll mit Hilfe sei-nes Zauberkrauts heraufbeschworenen Irritationen zwischen denLiebespaaren Hermia Lysander und Helena Demetrius sorgen für

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heitere Spannung. Aber auch der verärgerte Oberon verzaubert dieschlafende Titania so, dass sie sich nach dem Erwachen in das ersteGeschöpf verlieben muss, das sie erblickt. Und Droll hat den WeberKlaus Zettel in einen Esel verwandelt.

Als Zettel, mit einem Eselskopf aus Pappmaché maskiert, mitrauer Stimme wenig melodisch ein Lied singt, erwacht Titania. Zet-tel, alias Wolfgang Hartwig, noch etwas desorientiert unter der un-gewöhnlichen Maske, vernimmt direkt neben seinem Eselsohr eineweiche, warme Stimme: „Weckt mich von meinem Blumenbett‘ einEngel?“ Mit einer schnellen Bewegung gelingt es ihm, den Esels-kopf so zurechtzurücken, dass er durch die Augenlöcher der Maskegut hindurchschauen kann. Und er blickt in ein Augenpaar, dessenklares Grün ihn fasziniert. Er nimmt die ganz in Weiß gehüllte Elfen-königin Titania wie eine außerirdische Erscheinung wahr. Auf ihremGesicht liegt ein verführerisches Lächeln. Das lange, dunkelblondeHaar fällt auf die Schultern herab, ihre Augen scheinen ihn nichtmehr loszulassen. Er fährt fort zu singen, aber er hat Mühe, seineinnere Erregung zu verbergen, so sehr ist er vom Anblick Titaniasüberwältigt. Nachdem er seinen lächerlichen Reim beendet hat, ziehtsie ihn vollends in ihren Bann mit den Worten: „Ich bitte dich, duholder Sterblicher, sing‘ noch einmal! Mein Ohr ist ganz verliebt indeine Melodie, auch ist mein Auge betört von deiner lieblichen Ge-stalt, gewaltig treibt mich deine schöne Tugend, beim ersten Blickdir zu gestehen, zu schwören: Dass ich dich liebe.“ Ihm scheinen dieGrenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit zu verschwimmen, er spürtsein Herz immer heftiger schlagen. So sehr wünscht er sich, dieseWorte der Titania würden ihm selbst, dem Akteur Wolfgang Hart-wig, gelten, dass er einen Moment Mühe hat, mit seinem Text fort-zufahren. Seine Gefühle stehen im krassen Widerspruch zu den plum-pen Bemerkungen des Klaus Zettel, die dessen Eselsdasein ent-springen. Nach ihrem Kompliment „du bist so weise, wie du reizendbist“, wird ihm jedoch urplötzlich die Absurdität der Situation deut-lich. Jene bildschöne Titania betet, wie von einem Dämon verführt,einen blöden Esel an. Im selben Augenblick stimmt sein eigenerWunsch völlig mit dem des verwandelten Zettel überein. Er möchte

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aus diesem Wald entkommen, ganz weit weg. Sie aber entgegnet:„Begehre nicht, aus diesem Hain zu fliehn; du musst hier, willig odernicht, verweilen! Ich bin ein Geist nicht von gemeinem Stande, einewg‘er Sommer zieret meine Lande. Und sieh‘, ich liebe dich! Drumfolge mir, ich gebe Elfen zur Begleitung dir; sie sollen Perlen ausdem Meer dir bringen, und, wenn du leicht auf Blumen schlummerst,singen. Ich will vom Erdenstoffe dich befrein, dass du so luftig sollstwie Geister sein.“ Langsam gelingt es ihm doch, wieder ganz inseine Rolle einzutauchen und das Publikum mit witzigen Sprüchenund spaßigen Gesten zu erheitern.

In einer späteren Szene werden seine Gefühle allerdings nocheinmal völlig durcheinander gebracht. Nur scheinbar unwillig kommter Titanias Aufforderung nach: „Komm, lass uns hier auf Blumen-betten kosen.“ Sie zieht ihn sanft nach unten. Gedanklich völlig ab-wesend, automatisch seinen Text sprechend, bittet er die ElfenBohnenblüte und Senfsamen, seinen Kopf zu kratzen und verlangteine Krippe voll Futter, trockenen Hafer und gutes süßes Heu, dazuein oder zwei Handvoll Erbsen.Als er sich plötzlich müde fühlt, legtTitania zärtlich ihren linken Arm um seine Schulter und erfasst mitihrer rechten Hand seine Hand mit den Worten: „Schlaf du, dich sollindes mein Arm umwinden.“ Und als sie mit ihrer sanften, warmenStimme hinzufügt: „Wie ich dich liebe, wie ich dich vergött‘re!“, ent-fährt ihm ein Seufzer. Die Zuschauer halten dies für eine seinerwitzigen Einlagen. Er aber spürt deutlich, dass dieser Seufzer einemechten Gefühl entsprungen ist.

So nimmt die Komödie ihren Fortgang, und nachdem Oberonund Droll zuvor die Verwirrungen um die Liebespaare HermiaLysander und Helena Demetrius beseitigt haben, entfernt Oberonauch den Zauber von Titania, und Droll erlöst schließlich auch Zettelvon seiner Verwandlung. Nun ist der Weg frei für ein glücklichesEnde mit den Hochzeiten des Herzogs und seiner Braut, und zwi-schen den beiden Liebespaaren. Den Rüpeln bleibt es vorbehalten,anlässlich dieser Hochzeiten am Hofe des Herzogs mit der Auffüh-rung der „tragischen Komödie“ von Pyramus und Thisbe, in der bei-

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de den Tod finden, in ihrer dumpfen, scheinbar geistlosen Art undWeise die Heiterkeit des Publikums zu erregen. Zu der Atmosphäream Hofe des Herzogs bilden diese Szenen einen interessanten Kon-trast, der letztlich den Charme des „Sommernachtstraums“ ausmacht.

Das Publikum dankte den jungen Akteuren mit viel Beifall. In-nerhalb einer Woche wurde die Aufführung noch zweimal in Alten-burg wiederholt. Auf diese Weise erspielten die Schüler aus Alten-burg und Meuselwitz einen beachtlichen Geldbetrag, der mit zumWiederaufbau der beim letzten Bombenangriff auf Meuselwitz zer-störten Oberschule verwendet werden sollte.

Noch ganz in der euphorischen Stimmung, in die ihn seine Rolleund besonders die Begegnung mit Titania versetzt hatte, machte sichWolfgang zusammen mit seinen Schulkameraden, den fünf Rüpeln,auf den Nachhauseweg. Nach dem Verlassen des Schlossparks wur-den sie jedoch rasch wieder aus ihrem Sommernachtstraum in dieRealität der Nachkriegszeit zurückgeholt. Vor ihnen lagen als Zeu-gen eines Luftangriffs die Überreste des Schlosses und des Ritter-gutes der von Seckendorffs. Von dem ehemals schönen und belieb-ten Gasthof „Zur goldenen Weintraube“ auf der gegenüberliegen-den Straßenseite waren auch nur noch einige Grundmauern stehengeblieben. Und auf Wolfgangs Weg durch die Bahnhofstraße, dieHauptgeschäftsstraße der ost-thüringischen Kleinstadt, erinnertenmehrere Ruinen an diesen Angriff. Doch die düsteren Erinnerungenan den Krieg waren schon wieder von ihm gewichen, als er dieTreppe des Hauses an der Kreuzung zwischen Bahnhofstraße undFreiligrathstraße emporstieg, in dem er zusammen mit seinen Elternin der zweiten Etage wohnte.

An diesem Abend konnte er lange nicht einschlafen. Die Bilderdes „Sommernachtstraums“ hielten ihn gefangen. Die Szenen mitTitania erschienen immer wieder deutlich vor seinen Augen. Er hat-te sich in dieses ein bis zwei Jahre ältere Mädchen verliebt. Aber erspürte auch die tiefe Kluft, die ihn von diesem reiferen Mädchentrennte. Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm, dass die kuriose

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Situation der Komödie direkt auf seine Stellung zur Darstellerin vonTitania übertragbar sei. Hier die Königin der Elfen als Inbegriff desSchönen, dort der törichte, dummdreiste Zettel in der Gestalt einesEsels. So nahm Wolfgang – wahrscheinlich recht realistisch – an,dass er für die Darstellerin der Titania nicht mehr war als ein –vielleicht amüsanter – jüngerer Partner einer romantischen Thea-teraufführung. Sie waren sich an dieser Stelle zufällig begegnet, dannliefen ihre Wege wieder auseinander. Doch seine Erinnerungen andie zauberhafte Titania gingen nie ganz verloren, obwohl sie im Lau-fe der Zeit verblassten.

Auch in anderer Hinsicht war die Aufführung für ihn ein ent-scheidendes Erlebnis. Er hatte seine Rolle mit viel Freude und En-gagement gespielt und war dabei regelrecht in einen Rausch gera-ten. Der Applaus, den die Zuschauer am Ende ihm speziell gespen-det hatten, tat seinem Selbstwertgefühl sehr gut. Er hatte eine be-sondere Leistung gezeigt, die ihn aus der Menge abhob. Er konntewieder Vorbild sein, das hatte er doch schon immer gewollt. Diebedrückende Stimmung der letzten Monate war urplötzlich von ihmgewichen. Er hatte das Gefühl, an einer wichtigen Station seinesLebens angekommen zu sein, von der aus ein neuer Abschnitt be-gann. Und dann tauchten auch die Bilder aus den glücklichen Tagenseiner frühen Kindheit wieder auf, gefolgt von den Erinnerungen andie immer schwieriger werdende Zeit in den Kriegsjahren und denharten Monaten der Nachkriegszeit. Sie fügten sich wie zu einemFilm seines bisherigen Lebens zusammen. Erst nach mehreren Stun-den schlief er völlig übermüdet ein

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2. Kapitel

Wolfgang war hier in Meuselwitz aufgewachsen. Er liebte dieseStadt und ihre Umgebung, obwohl es ein reiner Industriestandortwar, der weitgehend von Braunkohlebergbau und Maschinenbaugeprägt wurde. Meuselwitz war zwar formal nicht sein Geburtsort,sondern die Kreisstadt Altenburg. Aber das hatte ganz einfach prak-tische Gründe. Die Ehe seiner Eltern war viele Jahre kinderlos ge-blieben, und seine Mutter näherte sich 1931, im Jahr seiner Geburt,schon stark ihrem 40. Lebensjahr. Aus diesem Grund schien ihr diedamals allgemein übliche Hausgeburt mit Hilfe einer Hebamme zuriskant, und sie ging zur Entbindung in das Kreiskrankenhaus nachAltenburg.

Wolfgangs Eltern waren sehr gegensätzlich. Sein Vater Ernst,damals schon weit jenseits der Vierzig, hatte noch am ersten Welt-krieg teilgenommen. Er, listig aus den flinken, braunenAugen schau-end, mit kurzem Bürstenhaarschnitt, der ihn jünger aussehen ließ,war ein fröhlicher Mensch. Manchmal neigte er zum Leichtsinn undtrank auch schon mal gern ein Bier oder einen Schnaps zu viel.Mutter Alma machte einen sehr strengen Eindruck. Äußerlich wur-de das noch durch ihre Frisur unterstrichen. Die glatten, grauenHaare waren einfach zu einem Zopf verflochten, der dann in Formeiner Spirale hinten aufgesteckt wurde. In ihren hellbraunen Augenspiegelte sich jedoch Güte wider. Wolfgang hatte ganz das Naturellseines Vaters, flink und schlagfertig, und war immer zu einem Streichaufgelegt. Der eher von seiner Mutter ererbte ernste Wesenszugkam zwar nur selten zum Durchbruch, aber wenn er sich einmal einZiel gesetzt hatte, dann war plötzlich alle Leichtigkeit von ihm gewi-chen, und er verfolgte dieses Ziel ganz konsequent. Seinen Elterngegenüber hatte er schon sehr frühzeitig seine Durchsetzungskrafterprobt und bewiesen. Der Vater nahm die Streiche seines Sohnesnicht so ernst und ließ ihn meistens gewähren, sehr zum Leidwesender Mutter, die dann doch mit ihren Vorhaltungen bald resignierte.

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Der Alltag der dreiköpfigen Familie spielte sich in der Wohnkü-che ab, wie das damals bei weniger begüterten Familien üblich war.Das eigentliche Wohnzimmer, die sogenannte „gute Stube“, wurdenur an Sonn- und Feiertagen benutzt. In der Küche befand sich einErker, von dessen niedrigem Fenster aus sich sowohl Teile der sehrbelebten Bahnhofstraße, als auch der Freiligrathstraße übersehenließen. Das war an ungemütlichen Regentagen Wolfgangs Lieblings-platz. Er fand schon sehr früh Gefallen daran, auf den vor dem Fen-ster stehenden Stuhl zu klettern und das geschäftige Treiben auf derBahnhofstraße zu beobachten. Ihm wichtig erscheinende Ereignis-se verkündete er dann mit lauter Stimme und bedeutungsvoller Mie-ne mit dem Zeigefinger in Richtung Bahnhofstraße weisend. Auchspäter war er nicht von diesem Beobachtungsposten wegzubringen,wenn es besonders interessante Dinge zu sehen gab. Bei schönemWetter spielte er aber viel lieber mit seinen Freunden im Hof oderauf der wenig belebten Freiligrathstraße.

Manchmal zog Wolfgang auch einen Stuhl vor das Küchenbuffetund kletterte darauf, um eine Fotografie seines Vaters in Soldaten-uniform während des ersten Weltkriegs aus der Nähe zu betrach-ten, die auf dem Buffet stand. Mit dem Bild in der Hand verkündeteer ganz stolz: „Das ist mein Papa als Soldat!“ Uniformen übten aufihn eine besondere Faszination aus. Fritz, der Sohn der alten Berlings,die in der ersten Etage wohnten, war Sanitäter und trug als Sanitätereine noch prächtigere Uniform mit roten Kreuzen auf dem grauenStoff. Auf den Kragenspiegeln waren auch noch kleine rote Kreuzeangebracht. Von dieser Uniform war Wolfgang ganz besonders an-getan. Er konnte gar nicht verstehen, dass Fritz bei seiner Hochzeitvor kurzem einen schwarzen Anzug und nicht diese Uniform getra-gen hatte. Wolfgangs Entschluss stand jedenfalls fest. Er wollte späternach seiner Schulzeit Sanitäter werden. Das verkündete er stolzseinen Freunden und auch den Erwachsenen, die ihn nach seinemBerufswunsch fragten.

Vater Ernst hatte ganz andere Pläne mit seinem Sohn. Er selbststammte aus einer armen, kinderreichen Familie in Breitenhain, ei-

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nem der vielen kleinen Dörfer in der Nähe von Meuselwitz und hat-te sich in seinem Leben schwer durchbeißen müssen.Aber mit Fleißund Ausdauer hatte er es bis zum Werkmeister in der Maschinenfa-brik Heymer & Pilz-Söhne, den späteren Wilhelm-Gustloff-Werken,gebracht, einem der Hauptarbeitgeber in dieser Region, neben denKohlegruben. Das war für die Verhältnisse im ersten Drittel deszwanzigsten Jahrhunderts ein beachtlicher sozialerAufstieg. Er wollteseinem Sohn vor allem eine gute Ausbildung mitgeben, und so einesolide Grundlage für einen einträglichen Beruf und eine gutbürger-liche Existenz schaffen.

DasVerhältnis der Eltern untereinander war merkwürdig kühl. Mut-ter Alma war eine sehr religiöse Frau katholischen Glaubens. VaterErnst, aus einer protestantischen Familie stammend, war in jungenJahren zum katholischen Glauben übergetreten. Aber Ernst sah sei-nen Konfessionswechsel als rein formalen Akt an, und blieb der Kir-che nach der Konversion ebenso fern wie zuvor. Sie war dagegen inder protestantischen Diaspora eine praktizierende Katholikin geblie-ben und besuchte jeden Sonntagmorgen die Kirche im benachbartenZipsendorf. Wolfgang fühlte sich mehr zu seinem Vater hingezogenals zu seiner Mutter. An Sommerabenden begleitete er seinen Vateroft in den kaum hundert Meter entfernten Garten an der von-Seckendorff-Straße. Während sein Vater mit Gartenarbeit beschäf-tigt war, trieb er allerlei Unfug. Er grub Löcher in bepflanzte Beete,entfernte Pflanzen als Unkraut oder kletterte auf niedrigen Bäumenherum. Das Verhältnis zu seiner Mutter war eher distanziert. Sie sorgtefür sein leibliches Wohl, wie sie ihre häuslichen Pflichten korrekt undsorgfältig erfüllte. Aber sonst hatte sich doch eine unsichtbare Wandzwischen ihnen gebildet, seit sie bemerkt hatte, dass ihr Sohn ihrenreligiösen Eifer genau wie ihr Mann gering schätzte.

Der räumlichen und geistigen Enge seines Elternhauses standWolfgangs ausgeprägter Betätigungsdrang entgegen. So trieb es ihnfrüh auf die Straße.Auf der gegenüberliegenden Seite der Freiligrath-straße stand ein Haus mit einem Anbau, der sich von der Straßeweg weit nach hinten erstreckte. In diesem Gebäudekomplex wohn-

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ten viel mehr Familien als in den anderen Häusern dieser Gegend,und so gab es dort auch viele Kinder. Anstelle der Gärten, die sichsonst auf der von der Straße abgewandten Seite an die Häuser an-schlossen, fand man dort einen großen Hinterhof vor. Das war derKristallisationspunkt für eine Gruppe von Jungen, die sich selbst alsBande bezeichnete. Ihr Anführer, ein kräftiger, zehnjähriger Junge,mochte den quirligen, kleinen Wolfgang, und dieser sah wiederum inJoachim sein Vorbild. Als jüngstes Mitglied der Bande nahm Wolf-gang an den Streifzügen zur Erkundung der näheren Umgebung teil.Ihr bevorzugtes Ziel war der Schlosspark mit einem Teich an seinerwestlichen Grenze. Nur dort konnten die Banditen an zwei schma-len Stellen über einen hohen Zaun in den für die Allgemeinheit nichtzugänglichen Park eindringen. Dort angelangt bestiegen sie meistdie Oberseite einer etwa drei Meter hohen Grotte, die sich direkt amSchlossteich befand. Voller Stolz standen sie dann auf der Grotteund fühlten sich wie Eroberer. An einem trüben Herbsttag kam eshier zu einem Bandenkampf mit Jungen aus dem benachbartenZipsendorf, die nach ihnen versuchten, den Zaun zu übersteigen unddie Grotte zu erstürmen. Steine flogen hin und her. Wolfgang wurdevon einem Stein an der Schulter getroffen. Es schmerzte zwar, docher steckte das tapfer weg. Plötzlich jubelte er. Mit einem gut geziel-ten Wurf hatte er einen Zipsendorfer am Kopf getroffen, als der imBegriff war, über den Zaun zu steigen. Fluchend tauchte der Ge-troffene wieder nach unten ab. Die Verteidiger waren natürlich imVorteil, da sie auf der Grotte liegend den Geschossen der Gegnereine viel geringere Fläche für Treffer boten. So gelang es ihnen, denAngriff der zahlenmäßig überlegenen Zipsendorfer abzuwehren.Nachdem die Angreifer sich zurückgezogen hatten, feierten die Ver-teidiger ihren Sieg mit lautem Geschrei. Wolfgang als der Kleinstetriumphierte am lautesten.

Wenn Wolfgang auch sonst sehr umtriebig war, so konnte er dochbei Dingen, die ihn interessierten, intensiv und lange zuschauen. Be-sonders gern sah er durch das offene Tor der Schmiede in derAltenburger Straße dem Schmied bei seiner schweren Arbeit zu.Wenn die Hufe eines Pferdes neu beschlagen wurden, ging er nicht

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weiter, bevor auch das letzte Hufeisen festgeschlagen war. Ähnlichfasziniert war er von den Rangierarbeiten auf dem Güterbahnhof.Hier wurden auf etwa einem halben Dutzend Gleisen häufig mehre-re Züge gleichzeitig zusammengestellt, in der Mehrzahl aus Wag-gons mit Kohlebriketts.

Eine ganz andere Welt erschloss sich dem jungen Wolfgang durchseine ersten Kinobesuche. In der „Schauburg“, dem größeren derbeiden Kinos in Meuselwitz, fanden an den SonntagnachmittagenKindervorstellungen statt. Schon als knapp Fünfjähriger wurde Wolf-gang ein begeisterter Kinogänger. Besonderen Gefallen fand er anden Filmen nach Abenteuergeschichten von Karl May (1). Es impo-nierte ihm, wie der Held dieser Filme, Winnetou, häufig mit Unterstüt-zung seines Gefährten Old Shatterhand, den zu Unrecht Verfolgtenhalf und ihre verbrecherischen Gegner zur Strecke brachte. Dadurchfestigte sich in ihm der Glaube, am Ende würde immer Gerechtigkeithergestellt und das Gute würde über das Böse siegen. So war es nichtverwunderlich, dass später ein Film über die Nibelungensage bei ihmzu sehr heftigen Reaktionen führte. Nachdem der mutige Siegfriedden Drachen in einem langen, harten Kampf besiegt hatte, jubelteWolfgang auf. Gespannt verfolgte er, wie der Held durch das Bad imDrachenblut unverwundbar wurde, mit Ausnahme einer Stelle zwi-schen den Schulterblättern, die ein Lindenblatt bedeckt hatte. Ammeisten beeindruckte ihn Siegfrieds Tarnkappe. Es gefiel ihm, wie dertapfere Held mit ihrer Hilfe plötzlich verschwand und – unsichtbargeworden – König Gunther half, die starke Königstochter Brünhildezu besiegen. Darüber, dass Hagen später seinen Speer an der unge-schützten Stelle in den Rücken des ahnungslos vor einem Brunnenknieenden Siegfried bohrte, geriet der junge Zuschauer in maßlosenZorn.Als Siegfried mit einem furchtbaren Schrei zusammenbrach undtot auf der blutgetränkten Erde liegenblieb, sprang Wolfgang von sei-nem Sitz auf. Empört über diesen hinterhältigen Mord stampfte erwütend mit dem Fuß auf, trat gegen den Sitz in der Reihe vor ihm undprotestierte lautstark mit den Worten: „Das ist eine große Gemeinheit.Ich werde Hagen, diesen Lumpen umbringen!“ Den älteren Knabenneben ihm gelang es nur mit Mühe, denAufgebrachten zu beruhigen.

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Noch auf dem Nachhauseweg schimpfte er wüst vor sich hin. Ganzaußer Atem – so schnell war er die Treppe bis zur zweiten Etagenach oben gestürmt – stürzte Wolfgang in die Küche mit den Worten:„Hagen, das Schwein, hat Siegfried ermordet. Das war gemein undhinterlistig!“ Seine Mutter tadelte ihn wegen seinerAusdrucksweise.Ernst Hartwig, der sich bei seiner Zeitungslektüre gestört fühlte,brummelte vor sich hin: „Siegfried war ja auch hinterlistig, als er Kö-nig Gunther – unsichtbar unter seiner Tarnkappe – im Kampf mitBrünhilde beistand.“ Wolfgang war erstaunt darüber, dass sein Vaterdie Geschichte kannte. Aber dessen Bemerkung erregte ihn erneut,und er zog sich schmollend zurück.

Mehr Aufmerksamkeit fand Wolfgang bei seinem Vater, als erihm einige Zeit später von dem Film „Alcazar“ erzählte. Dieser Filmschilderte die heldenhafte Verteidigung desAlcazars von Toledo durchjunge Kadetten und ihre Offiziere gegen eine gewaltige Übermachtrepublikanischer Truppen zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs1936. Mit dem Entsatz der Verteidiger nach zwei Monate dauern-dem, zähem Kampf durch Truppen des Generals Franco endete die-ser Film für Wolfgang zufriedenstellend. Sein Vater versuchte ihmzu erklären, dass in diesem Bürgerkrieg Spanier gegen Spanierkämpften, weil sie total unterschiedliche Interessen hatten und sichauf friedlichem Wege nicht einigen konnten. Aber das interessierteWolfgang weniger. Für ihn war der Heldenmut der Kadetten dasEntscheidende. Ihnen galt seine ganze Sympathie. Er glaubte, sol-chen Heldenmut hätten auch er und seine Kameraden bewiesen, alssie die Grotte im Schlosspark gegen eine Übermacht ZipsendorferJungen erfolgreich verteidigten. In seiner Phantasie vermischten sichdie Bilder dieses Kampfes mit denen des Films.

Mit großer Begeisterung hatte Wolfgang die Bilder der Wochen-schau über den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich imMärz 1938 aufgenommen. Es machte ihn glücklich zu sehen, wiedie Menschenmassen in Wien und anderen Orten Österreichs demFührer Adolf Hitler zujubelten. Als Deutscher war er sehr stolz dar-auf, dass es jetzt ein Großdeutsches Reich gab.

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Das Jahr 1938 brachte mit der Einschulung am Sonnabend nachOstern einen wichtigen Einschnitt in Wolfgangs Leben. Zusammenmit seinem Vater, der sich dafür einen Tag Urlaub genommen hatte,ging Wolfgang am Morgen zur Knabenschule in der Inselstraße, derspäteren Pestalozzistraße, die an der Peripherie der Stadt lag. Imgrößten Raum der Schule, dem Zeichensaal, versammelten sich dieSchüler gemeinsam mit ihren Eltern. Rektor Pfeifer in brauner Partei-uniform eröffnete die kleine Feier zur Aufnahme der Erstklässlermit dem obligatorischen Gruß: „Heil Hitler!“. In einer kurzen An-sprache ermahnte er die Schüler an ihre Pflichten als junge Mitglie-der der Volksgemeinschaft: „In einer für das Vaterland sehr schwe-ren, aber auch großen Zeit, müsst Ihr Euren Weg durch die Schuleder Nation beginnen. Da sind Disziplin und unbedingter Gehorsamsowie großer Fleiß erforderlich, damit ihr der Volksgemeinschaftauf dem Posten, auf den man euch später stellt, mit ganzer Kraftdienen könnt.“ Danach wurden die beiden Klassenlehrer vorgestelltund die Schüler auf die beiden neuen Klassen aufgeteilt. WolfgangsKlassenlehrer war ein freundlich aussehender, älterer Herr namensOswald. Der spannendste Moment für die Schulanfänger kam abererst mit dem Verlassen der Schule. Vor dem Gebäude warteten näm-lich ihre Angehörigen mit den Zuckertüten auf sie. Wolfgang hatteschnell seine Mutter entdeckt und stürmte auf sie zu, um die rechtgroß ausgefallene Zuckertüte in Empfang zu nehmen.

Einer der weiteren Höhepunkte des Tages war für den Schulan-fänger das gemeinsame Kaffeetrinken mit Mutter und Vater in derguten Stube. Dabei brachte der ABC-Schütze das Gespräch einmalmehr auf einen für die Familie heiklen Punkt. Nicht nur, dass erkeine Geschwister hatte, er vermisste besonders an diesem Tag auchGroßeltern, Onkel und Tanten. War ihm doch am Vormittag aufge-fallen, dass einige der Schulanfänger auch von ihren Großeltern oderanderen Verwandten von der Schule abgeholt worden waren. Erempfand es jedenfalls als ungerecht, dass beide Großeltern schontot waren, wie ihm Vater und Mutter schon öfter erzählt hatten. Unddass er Onkel und Tanten nur an weit entfernten Orten wie Fuldahaben sollte, erschien ihm auch nicht einleuchtend.

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Die ersten Schultage waren für Wolfgang sehr ereignisreich. In sei-ner Klasse gewann der kontaktfreudige, manchmal etwas vorlauteJunge rasch neue Freunde. Mit Rolf Köhler, dem Sohn eines Leh-rers an der Knabenschule, entwickelte sich eine Freundschaft aufrecht ungewöhnliche Weise. Nach einer heftigen Prügelei auf demSchulwege gingen die beiden Kampfhähne in der großen Pause auf-einander zu, gaben sich die Hand und beschlossen Freunde zu wer-den. Mit Georg Thaler, dem Buchhändlerssohn, hatte Wolfgang schongelegentlich in der Vorschulzeit zusammen in der Wohnung von des-sen Eltern gespielt. Im Gegensatz zu dem temperamentvollen, ener-gischen Wolfgang war Georg sehr ruhig und zurückhaltend. Trotz-dem verstanden sich die beiden recht gut.

Überraschenderweise fand Wolfgang auch am Unterricht Ge-fallen. Bisher hatte ihm sein Vater viele Freiheiten gelassen und sichrelativ wenig um ihn gekümmert. Vor der Einschulung führte er aberein sehr ernsthaftes Gespräch mit ihm. Ernst Hartwig versuchte,seinem Sohn klar zu machen, dass die Schule die wichtigste Voraus-setzung für den Erfolg im späteren Leben sei. „Nur, wenn du in derSchule gut aufpasst und fleißig lernst, kannst du später einen gutenBeruf ergreifen und viel Geld verdienen. Und das brauchst du, da-mit du dir auch die Dinge kaufen kannst, die du gern haben möch-test. Du musst also deinem Lehrer unbedingt gehorchen, darfst dichwährend des Unterrichts nicht mit anderen Dingen beschäftigen undnatürlich auch den Unterricht nicht stören,“ sprach Ernst Hartwig,schaute seinen Sohn mit ungewöhnlicher Strenge an, und forderteihn auf, durch ein „Wort unter Männern“ die Einhaltung dieser For-derungen zu versprechen. Da das Argument mit dem Geld für Wolf-gang sehr einleuchtend war, gab er dieses Versprechen ohne Wider-rede ab und bekräftigte es durch Handschlag. „Du weißt, wenn mansein Wort gibt, muss man es auch unbedingt halten. Das ist eineSache der Ehre, und ein Mensch ohne Ehre taugt nichts,“ ermahnteErnst Hartwig seinen Sohn. Und dieser – so wild und ungestüm erauch sonst war – bemühte sich in der Schule redlich, die Forderun-gen seines Vaters zu befolgen.

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Beim Erlernen der grundlegenden Fähigkeiten des Schreibens,Lesens und Rechnens gab sich Wolfgang jedenfalls Mühe. Seineleichte Auffassungsgabe kam ihm dabei zu Hilfe. Da er sehr baldden Erfolg sah, bereitete ihm die Schule Freude, obwohl sie dochseine Freizeit einschränkte. Selbst die Hausaufgaben störten ihnkaum. Er erledigte sie sorgfältig, aber doch mit recht geringem Zeit-aufwand. So blieb ihm immer noch genügend Zeit, zusammen mitseinen Spielgefährten aus der Nachbarschaft den alten Leidenschaf-ten nachzugehen. Sein Lehrer, Herr Oswald, erkannte bald, dassWolfgang Hartwig ein begabter und disziplinierter Schüler war, undernannte ihn nach wenigen Wochen zum Klassenführer. Wolfgangempfand das als eine besondere Auszeichnung, und so war es wohlauch gedacht. Jeden Morgen, sobald Herr Oswald das Klassenzim-mer betrat, rief Wolfgang mit durchdringender Stimme: „Achtung!“Die Schüler stellten sich daraufhin vor ihren Plätzen auf. Wolfgangtrat dem Lehrer entgegen, schlug die Hacken zusammen, streckteden rechten Arm zum Hitlergruß aus und meldete: „Klasse 1a mit22 Schülern zum Unterricht angetreten!“ Herr Oswald nahm dieMeldung entgegen, wandte sich der Klasse zu und begrüßte sie mit:„Heil Hitler!“ Die Schüler antworteten mit einem vielstimmigen „HeilHitler!“ Dann befahl der Lehrer „Setzt euch!“, und der Unterrichtbegann.

Der Sommer des Jahres 1938 brachte für Meuselwitz ein beson-deres Ereignis. Vom 2. bis 7. Juli fand ein großes Heimatfest statt.Anlass dafür war der Beginn des Braunkohle-Bergbaus inMeuselwitz und Umgebung vor hundert Jahren. In diesen Tagenschienen beinahe alle Einwohner ständig unterwegs zu sein. GroßeMenschenmassen bewegten sich durch die Straßen der Stadt, undes herrschte echte Festtagsstimmung. Die Häuser waren mit Fah-nen geschmückt, meist Hakenkreuzfahnen – rote Fahnen mit einemschwarzen Hakenkreuz in einem kreisförmigen, weißen Feld in derMitte. Daneben gab es aber auch Fahnen mit den Stadtfarben inBlau und Schwarz, und häufig war auch das Stadtwappen zu sehen.Es war ein Schild, das im oberen Teil , in Silber eingefasst, die Sym-bole des Bergbaus – Hammer und Schlägel – auf schwarzem Grund

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zeigte, während ein Weberschiffchen auf blauem Grund im unterenTeil auf die lange Tradition der Weberei hinwies.

Ernst Hartwig hatte für 50 Reichspfennige ein Festabzeichenerworben, das den Besuch aller Veranstaltungen erlaubte. Zusam-men mit seinem Sohn nahm er am Sonnabendnachmittag an derFlaggenhissung auf demAdolf-Hitler-Platz teil. Zur Eröffnung sprachder Erste Bürgermeister, der auch Ortsgruppenleiter der National-sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei NSDAP (2) war, ein Gruß-wort. Natürlich hatte Wolfgang den tieferen Sinn der Rede nichtverstanden. Doch es war ihm klar geworden, dass Heimat etwasbeinahe Heiliges zu sein schien. Besonders beeindruckt hatte es ihn,wie dann unter den Klängen der ersten Strophe des Deutschlandlie-des und des Horst-Wessel-Liedes, das während des dritten ReichsBestandteil der Nationalhymne war, die Hakenkreuzfahne ganz lang-sam am Fahnenmast emporgezogen wurde. Die feierliche Atmo-sphäre der Zeremonie hatte in ihm ein bisher unbekanntes Gefühldes Stolzes auf seine Heimat erweckt.

Jahre später fiel ihm eine Broschüre über das Heimatfest 1938 (3)in die Hände. Als er darin das Grußwort des Bürgermeisters las, erin-nerte er sich seiner Stimmung damals. Das Grußwort lautete: „ImJahre 1938, wo wir den Zusammenschluss mit der deutschen Ost-mark Österreich erleben, wo sechseinhalb Millionen Brüder undSchwestern heimkehrten ins Reich, da hat das Wort ,Heimat‘ einenganz besonderen Klang. Heimat – das ist nicht ein fernes müdes Glok-kenläuten, sondern es jubeln heute aus diesem Worte die Fanfaren-stöße einer neuen, großen Zeit. Heimat ist aber nichts Zeitgebunde-nes, sondern ewig. Heimat ist auch nicht Wald und Wiese, Bach oderRain, Haus oder Stadt, sondern der heiße Strom des Herzens undBlutes, und die heilige Sehnsucht der Seele lässt aus einem StückErde ,Heimat‘ werden. Es ist jene mystische Verbundenheit, aus deres kein Entrinnen gibt, jahrhundertelang empfunden, heute in das Son-nenlicht wachen Erlebens und Erkennens gerückt.“ Und am Endestanden die Sätze: „O, es ist schön, eine Heimat zu wissen und danneinmal Einkehr und Heimkehr zu halten. So feiern wir Heimatfest. So

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feiern wir 100 Jahre Bergbau als 100 Jahre Arbeit und Mühe, alsFleiß und Kampf. 100 Jahre unerhörten Schaffens und rüstigen Auf-stiegs. Das verdient einmal ein Stillstehen und Rückschau- und Aus-schauhalten. Wir haben uns alle durch Adolf Hitler wiedergefunden,und er hat uns allen über die engere die größere Heimat Groß-deutschland wiedergegeben. Lassen wir uns die Julitage 1938 zumstarken, nachhaltigen Erlebnis der Heimat werden und aus ihnen dieKraft gewinnen, die wir brauchen, um heute und immerdar den Kampffür unser ewiges Deutschland zu führen.“

Am Rande des Wirker-Parks gab es einen Platz inmitten einesBirkenhains. Von dieser höchsten Stelle des Parks aus hatte maneinen herrlichen Blick über einen Teil von Meuselwitz. Dort wurdeam Sonntag morgen zuerst eine Feierstunde der NSDAP veranstal-tet, später fand ein Platzkonzert statt. Ernst Hartwig war kein Par-teimitglied, die Feierstunde interessierte ihn nicht. Aber zu dem an-schließenden Platzkonzert war er zusammen mit seinem Sohn auf-gebrochen. Auf dem Weg dahin kamen sie im Park an einem 1913errichteten Gedenkstein vorbei, der an die Völkerschlacht bei Leip-zig im Oktober 1813 erinnerte. Der Stein trug die Inschrift: „Enkelmögen kraftvoll walten, schwer Errungenes zu erhalten“. Doch die-ser Wunsch hatte sich damals in den Jahren nach 1913 nicht erfüllt.Ernst Hartwig erzählte seinem Sohn zunächst von der Völkerschlacht,in der die vereinten russischen, preußischen, österreichischen undschwedischen Truppen der französischen Armee unter Napoleoneine entscheidende Niederlage zugefügt hatten, so dass sich diesebis hinter den Rhein zurückziehen mußte. Dagegen waren im Welt-krieg 1914 -1918 die deutschen und österreichischen Heere von denFranzosen, Engländern und derenAlliierten geschlagen worden. Deranschließende Friedensvertrag von Versailles mit unerfüllbarenReparationsforderungen hatte für Deutschland Jahre der wirtschaft-lichen Not und Demütigungen gebracht. Erst nach der Machtüber-nahme durch Adolf Hitler war es mit Deutschland wieder aufwärtsgegangen. Deshalb standen die Deutschen – jedenfalls die Mehr-heit von ihnen – hinter ihrem Führer. Wolfgang hatte zwar den Wor-ten seines Vaters aufmerksam zugehört, aber dann hatte er an dem

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Platzkonzert mit zackiger Militärmusik und schönen Volksweisen imWechsel mehr Gefallen gefunden. Doch die geschichtlichen Faktenwaren nicht verloren gegangen, sondern hatten sich in seinem Ge-dächtnis eingegraben, und im Laufe der Jahre hatte Wolfgang dieBedeutung der Daten 1813 und 1918 für die deutsche Geschichteimmer besser ermessen können.

Höhepunkt des Festes war der große Festzug am Sonntagnach-mittag, der natürlich auch durch die Bahnhofstraße führte. So beob-achtete Wolfgang den Festzug vom Erkerfenster aus mit Begeiste-rung: die Gruppen der Handwerker in ihrer Arbeitskleidung mit denBergleuten an der Spitze, die Vertreter der staatlichen Organisatio-nen und der Heimat- und Sportvereine. Den Abschluss der Festtagebildeten am Donnerstagabend ein Lampionumzug der Kinder undein Feuerwerk. Für den Umzug hatte sich Wolfgang einen Mond alsLampion ausgesucht, und er trug ihn mit großem Stolz vor sich her.Er fühlte sich ganz glücklich, als er in der Schar der Kinder mit denvielen bunten Lampions auf Wegen am Rande der Stadt, vorbei anSchrebergärten und durch Parkanlagen, durch das Dunkel der Nachtzog. An diesem Tag musste er nicht wie üblich schon um acht Uhrim Bett liegen. Mit seinem Vater zusammen durfte er sich auchnoch anschließend das Feuerwerk auf dem städtischen Sportplatzanschauen. Das heftige Krachen der explodierenden Feuerwerks-körper und die in bunter Vielfalt scheinbar in den nächtlichen Him-mel gezeichneten Figuren, die so schnell wieder verschwanden, wiesie erschienen waren, riefen bei Wolfgang wahre Begeisterungs-stürme hervor. So wurde dieses Heimatfest für ihn zu einem wun-derschönen Ferienerlebnis. Es regte sich bei ihm auch keine Spurvon Neid, als Rolf Köhler am ersten Schultag von seinen Ferien imAllgäu, den unheimlich hohen Bergen und den Almhütten erzählte.Auf Herrn Oswalds Frage, wer denn in den Ferien verreist gewe-sen sei, hatte sich Rolf als Einziger in der Klasse gemeldet. Alleanderen Schüler hatten wie Wolfgang die Ferien zu Hause verbracht.

Wolfgang spürte zunächst kaum etwas von den Spannungen, diesich in der Welt der Erwachsenen in der zweiten Jahreshälfte auf-

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gebaut hatten. Seine Sphäre war der Schulalltag und in noch stärke-rem Maße die Freizeit, die er zusammen mit seinen Freunden mitden üblichen Spielen und öfter auch mit Raufereien verbrachte. Aneinem Septembertag erlebte er, zusammen mit Rolf Köhler und Ge-org Thaler, auf dem Nachhauseweg von der Schule eine Überra-schung. Die Schlossstraße, die sie überqueren mussten, schien vonMilitärfahrzeugen überzuquellen. Es war ihnen nur mit Mühe gelun-gen, auf die andere Straßenseite zu kommen. Während Georg we-nig Interesse zeigte und nach Hause trottete, blieben er und Rolfnoch lange stehen und beobachteten die nicht endenwollendeFahrzeugkolonne, die sich über den Markt, vorbei an der Kirche unddem Rathaus, zur Altenburger Straße bewegte. Soldaten auf Last-wagen und offenen Fahrzeugen fuhren vorüber, dazwischen Staf-feln von Motorradfahrern mit Beiwagen. Dann folgten Geschützekleineren und mittleren Kalibers, die von Fahrzeugen gezogen wur-den.Auch Sanitätsfahrzeuge rollten vorbei und sogenannte „Gulasch-kanonen“, die die Soldaten mit Proviant und der üblichen Erbsen-suppe versorgen mussten. Das besondere Interesse der beiden er-regten einige gepanzerte Fahrzeuge, deren Ketten auf dem Stra-ßenpflaster einen höllischen Lärm erzeugten. So merkten die beidengar nicht, wie die Zeit verstrich. Erst als sie hungrig wurden, beweg-ten sie sich langsam nach Hause.

Wolfgang ignorierte die Schelte seiner Mutter wegen der unge-wöhnlichen Verspätung und erzählte seinemVater ganz begeistert vonseinen interessanten Beobachtungen. Ernst Hartwig, der wie vieledamals den Ausbruch eines Krieges wegen der Sudetenfrage (4) be-fürchtete, hatte sehr nachdenklich zugehört. Seine Augenbrauen zo-gen sich leicht zusammen, und auf seiner Stirn erschienen Falten. „Wieviele der Soldaten, die heute hier durchgezogen sind, werden wohlnicht wiederkommen?“, sprach er mit resignierendem Unterton undbrach auf zu seiner Arbeit in der nahegelegenen Fabrik.

Nach einigen Tagen kam dann die erlösende Nachricht, dass dieKriegsgefahr gebannt sei und der Führer durch seine konsequenteFriedenspolitik die Eingliederung des Sudetenlandes in das Groß-

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deutsche Reich erreicht habe. Für Wolfgang schien das ein ganznatürlicher Vorgang zu sein, beinahe selbstverständlich.Als sein Vatersich später die Rede Hitlers im Radio anhörte, nahm der Erstklässlerimmerhin einige wichtige Bruchstücke auf. Die Stimme des Füh-rers, hart und keinen Widerspruch duldend, überzeugte ihn davon,dass dieser Mann die Rechte des deutschen Volkes ganz entschlos-sen vertreten hatte und auch immer wieder vertreten würde. Sokönnte man sich auch darauf verlassen, dass er der Welt den Frie-den erhält. Im Kino hatte Wolfgang in den Wochenschauen denFührer schon mehrmals in seiner väterlich-gütigen Art im Umgangmit Kindern beobachtet. „Diesem Mann kann man schon vertrauen,er wird für Deutschland das Beste tun“, glaubte er. So war ihm dieAufgeregtheit seines Vaters, der einen Kriegsausbruch befürchtethatte, völlig unbegründet erschienen.

Mit den EreignissenAnfang November 1938 kam Wolfgang auchauf dem Schulweg in Berührung. Eines Morgens hatte er vor einemGeschäft in der Bahnhofstraße eine Ansammlung von Menschenbemerkt, die heftig miteinander redeten. Näher kommend stellte erfest, dass das Geschäft nicht geöffnet war. Die Rollläden der Ein-gangstür und des Schaufensters waren heruntergelassen, und davorlagen Glasscherben. Dicke rote Buchstaben bedeckten denSchaufensterrollladen, und es roch nach frischer Farbe. Wolfgangwechselte zur anderen Straßenseite hinüber, damit er den Zusam-menhang der klobigen Buchstaben besser erfassen konnte und be-gann zu buchstabieren. Die Buchstaben fügten sich nur langsamaneinander zu einem drohenden „Judas verrecke“. Er konnte daszuerst nicht verstehen. Dann erinnerte er sich aber, dass seine Mut-ter vor längerer Zeit einmal auf einen Juden geschimpft hatte, weildieser sie angeblich betrogen hatte. „Die Juden sind eben doch allewie Judas, der unseren lieben Herrn Jesus Christus verraten hat“,hatte sie damals gesagt. Darauf hatte sein Vater provozierend ent-gegnet, Christus sei aber doch auch ein Jude gewesen. Diesen Ein-wand wollte sie jedoch nicht gelten lassen. Wolfgang überlegte, obder Inhaber dieses Geschäfts vielleicht auch jemanden betrogen hatte.Da ihm diese Frage nicht so wichtig erschien, ging er schließlich

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weiter. Doch auf der Meeden, einem Platz, auf dem dörfliche undstädtische Elemente eine seltsame Symbiose eingegangen waren,bot sich ihm ein ähnliches Bild. Wieder gab es vor einem Haus eineMenschenansammlung.Auch hier lagen die Scherben zerbrochenerFensterscheiben auf dem Bürgersteig, und die Hauswand war vonschrillen roten Buchstaben überzogen. Die Menschen waren voneiner großen Unruhe ergriffen, manche von ihnen schimpften auf dieJuden. In diesem Moment kam gerade Georg Thaler und forderte ihnmit den Worten: „Komm, die spinnen ja alle“, zumWeitergehen auf.

In der Schule erschien zum Ende der ersten Unterrichtsstundeein anderer Lehrer, Herr Breuer, in der braunen SA-Uniform imKlassenzimmer und berichtete darüber, wie man es den Juden heuteaber gezeigt habe. „Auf der Meeden haben wir einen alten Judendurch das ganze Haus gejagt. Bis ins Scheißhaus haben wir ihnverfolgt. Es hat ihm auch nicht geholfen, dass er sich dort verbarri-kadiert hatte. Wir haben die Tür eingetreten und ihn da herausge-holt. Dann haben wir ihm anständig die Knochen poliert“, brüstetesich der Lehrer in SA-Uniform. „In Paris ist ein deutscher Diplomatvon einem Juden erschossen worden. Jetzt müssen wir an den Ju-den Vergeltung üben.“ Damit begründete er das Vorgehen der SA-Männer. Das überzeugte Wolfgang. Einige Tage danach hatte dannauch Herr Oswald den Schülern erklärt, dass der ReichsministerDr. Goebbels im „Völkischen Beobachter“, der Parteizeitung derNSDAP, die Verfolgung der Juden mit der Bemerkung gerechtfer-tigt habe: „Der Jude Grünspan war Vertreter des Judentums. DerDeutsche vom Rath war Vertreter des deutschen Volkes. Das Ju-dentum hat also in Paris auf das deutsche Volk geschossen.“ Damitstand für Wolfgang fest, dass die Juden ein Feind des deutschenVolkes sind.

Und plötzlich war doch Krieg. Am Morgen des 1. September1939 verbreitete der Großdeutsche Rundfunk die Nachricht: „Seit 4Uhr 45 wird zurückgeschossen. Nach dem polnischen Überfall aufden Reichssender Gleiwitz hat der Führer den Befehl zum Angriffauf Polen gegeben.“ Wolfgang hörte die Nachricht mit einer gewis-

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sen Genugtuung. Für ihn war es keine Frage, dass das Recht aufder Seite Deutschlands war. Rundfunk, Wochenschauen und Filmebestärkten ihn immer mehr in diesem Glauben. Sie berichteten überGräueltaten an Volksdeutschen in Polen, mit dem Höhepunkt amsogenannten Blutsonntag in Bromberg. Das rief bei ihm Zorn undAbscheu hervor. Aber er war von der Unbesiegbarkeit Deutsch-lands überzeugt. Die Siegesmeldungen rissen nicht ab. Eifrig ver-folgte er den deutschen Vormarsch in Polen auf der Landkarte. Inden Wochenschauen konnte er sich von der Tapferkeit der deut-schen Soldaten und der Überlegenheit der deutschen Waffen über-zeugen. Eindrucksvoll wurde gezeigt, wie die Stukas mit dröhnen-den Motoren im Sturzflug ihre Ziele angriffen und vernichteten. Undsiegreich rollten die Panzer unaufhaltsam über die Straßen, mar-schierte die Infanterie immer weiter vorwärts.

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3. Kapitel

Als für Wolfgang und seine Mitschüler im März 1941 das dritteSchuljahr seinem Ende entgegenging, forderte Herr Oswald einesTages die Schüler auf, in der großen Pause das Klassenzimmer nichtwie üblich zu verlassen. Zu Beginn der Pause betrat ein etwa sech-zehn Jahre alter Jugendlicher in Jungvolkuniform, HauptjungzugführerBamberger, den Raum. Er las die Namen der Schüler vor, die vordem 1. Juli 1931 geboren waren. Sie sollten in diesem Frühjahr alsPimpfe in das Jungvolk aufgenommen werden. Für die Zehn- bisVierzehnjährigen war der Dienst in dieser Untergliederung der Hitler-jugend Pflicht. Wolfgang Hartwig stand neben anderen nicht aufBambergers Liste, da er nach dem Stichtag geboren war. Er gingaber sofort zu Bamberger und sagte zu ihm: „Ich bin erst im Okto-ber geboren, doch ich werde deswegen kein schlechterer Pimpf seinals die anderen und will auch mit aufgenommen werden.“ Das schienBamberger zu imponieren, und er antwortete: „Wenn du dich frei-willig meldest, dann nehmen wir dich auch auf.“ Als Wolfgang spä-ter seinem Vater voller Begeisterung davon erzählte, nahm der alteHerr das eher zurückhaltend auf und meinte: „Dafür wäre es aberwirklich im nächsten Jahr noch früh genug gewesen“, wohl wis-send, dass jetzt nichts mehr rückgängig gemacht werden konnte.Wolfgang antwortete ganz bestimmt: „Aber ich habe mich freiwilliggemeldet und werde aufgenommen, und damit ist die Sache erle-digt.“ So wurde Wolfgang Pimpf im Jungvolk.

Am 19. April, dem Vorabend des Führer-Geburtstags, erfolgtedann die feierliche Aufnahme des neuen Jahrgangs in das deutscheJungvolk. Dazu waren alle Pimpfe des Standorts Meuselwitz imEhrenhain im Wirker-Park angetreten. Der Standortführer der HJ,ein Mittzwanziger, der im Frankreichfeldzug schwer verwundet wor-den war und danach die Wehrmachtsuniform mit der braunen HJ-Uniform vertauscht hatte, gab das Kommando zur Fahnenhissung.Unter Fanfarenstößen wurde die Hakenkreuzflagge am Fahnenmastemporgezogen. Danach sangen die Pimpfe gemeinsam das Lied:

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„Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit,Reißt die Fahnen höher, Kameraden.Wir fühlen nahen unsere Zeit,Die Zeit der jungen Soldaten.Und vor uns marschieren mit sturmzerfetzten FahnenDie toten Helden der jungen Nation.Und über uns die Helden mahnen:Deutschland, Vaterland, wir kommen schon.“

Während der erste Teil des Liedes in seiner rhythmischenAbgehackheit die Form eines Aufrufs hatte, schien der zweite Teilzugleich Gebet und Schwur zu sein. Das Echo des Liedes erweckteden Eindruck, als hätten unsichtbare Kameraden ringsum in denGesang eingestimmt. Ein Gefühl der Freude, vermischt mit Stolzund Dankbarkeit, befiel Wolfgang in diesem Augenblick. Ab jetztgehörte er direkt dazu.

Dann ergriff der Erste Bürgermeister Kurt Franke das Wort:„Wir führen dem Führer Adolf Hitler heute einen neuen Jahrgangzu. Mit der Aufnahme ins Jungvolk werdet ihr noch stärker in diePflicht genommen, unserem deutschen Volke zu dienen. Ihr werdethier eine Erziehung erfahren, die euch dazu befähigen wird, mitzu-helfen bei der Bewältigung der großen Aufgaben, die vor uns liegen.,Deutsche Jungen müssen hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder undflink wie Windhunde sein‘ sagt der Führer. Ihr müsst wissen, derFührer baut auf euch. Mit dieser jungen Generation wird er dasdeutsche Volk in eine glorreiche Zukunft führen. Mit euch will ereine neue Ordnung, nicht nur für Deutschland, sondern für Europa,ja, für die ganze Welt schaffen.“ Wolfgang, der den Worten desBürgermeisters andächtig zugehört hatte, bemerkte, dass sein Nach-bar zur Rechten, ergriffen von der Feierlichkeit der Situation, feuch-teAugen bekommen hatte. Georg Thaler, der links neben ihm stand,schaute dagegen unbeteiligt, vielleicht auch nachdenklich, nach un-ten. Zum Abschluss sangen noch alle gemeinsam „Deutschland,Deutschland, über alles, über alles in der Welt“ und das Horst-Wessel-Lied.

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DieAlltagswirklichkeit im Jungvolk war dann allerdings ernüch-ternd. Die Pimpfe mussten jeden Mittwoch und Sonnabend nach-mittags zum Dienst antreten. Der begann um 14.30 Uhr und endetein der Regel gegen 18.30 Uhr, konnte aber gelegentlich viel längerdauern. Aus besonderen Anlässen fand auch manchmal noch amSonntagvormittag Dienst statt. Die Neulinge waren im Jungzug vierzusammengefasst, der den Namen des Westgotenkönigs „Alarich“trug. Der Jungzug war in drei Jungenschaften zu je zehn bis zwölfPimpfen untergliedert. Er bildete zusammen mit den drei Jungzügender höherenAltersstufen das Fähnlein zwölf, mit dem Namen „West-goten“. Die frischgebackenen Pimpfe erhielten zunächst eine Grund-ausbildung. Dabei exerzierten sie meist auf dem Schulhof der Kna-benschule. Wenn der etwa drei Jahre ältere Jungzugführer JoachimMaus schlechte Laune hatte, dann artete das in eine regelrechteSchleiferei aus. Er wollte natürlich die Macht demonstrieren, dieihm sein Amt gab. Ganz besonders schlimm benahm er sich, wennMädchen seines Alters in der Nähe waren.

Eine andere Möglichkeit, seine Untergebenen zu schikanieren,ergab sich für Maus beim Lernen der vielen Marsch- und Kampflie-der. Meist sangen ihm die Pimpfe nicht laut genug. So ertönte häufigseine schrille Stimme: „Lied aus! Was war denn das für ein Ge-krächze? Wir sind doch hier nicht in der Kirche. Ihr werdet dasschon noch richtig lernen.“ Dann musste der Jungzug einige Kilo-meter weit marschieren und das Lied dabei so oft wiederholen, bisMaus es mit den Worten: „Warum geht das nicht gleich so?“, für gutbefand. Weil Wolfgang darüber in Wut geraten war, hatte er einmalbesonders laut, aber absichtlich falsch gesungen. „Dir haben sie wohlins Gehirn geschissen, Hartwig?“, brüllte Maus. Und Wolfgangmusste nach Dienstende noch eine Stunde nachexerzieren. Auchsonst hatte er mehrfach rebelliert, das machte seine Situation nurnoch schlimmer. Schließlich meldete er sich eine Zeitlang krank.

Im Widerstreit der Gefühle zwischen Pflichterfüllung und Rebel-lion siegte dann doch die Pflichterfüllung. Wolfgang nahm wiederregelmäßig am Dienst teil. Kurze Zeit später wurde Maus vor dem

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versammelten Fähnlein abgesetzt. Dabei standen ihm die Tränen inden Augen. Der neue Jungzugführer Bernd Friedrich war kein soschlimmer Schleifer. Er fand anscheinend, dass der junge Hartwigein zackiger und brauchbarer Pimpf sei. So begeisterte sich Wolf-gang doch noch für den Dienst im Jungvolk. Viel Freude bereitetenihm die Geländespiele in den bewaldeten Bereichen der Umgebung.Dabei verteidigte ein Teil des Jungzugs, möglichst gut getarnt, einObjekt gegen Angreifer, die sich unter Ausnutzung der Tarnungs-möglichkeiten des Geländes an das Ziel heranpirschten. Am Endegab es dann eine gewaltige Rauferei. Auf dem Rückmarsch wurdenhauptsächlich Kampflieder gesungen. Sehr häufig ließ JungzugführerFriedrich das Lied von der Fahne singen, für das er anscheinendeine besondere Vorliebe hatte.

„Unsere Fahne flattert uns voran,In die Zukunft zieh‘n wir Mann für Mann.Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not,Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.“

Der Refrain endete mit dem bedeutungsschweren Satz: „Ja, dieFahne ist mehr als der Tod .“ Wolfgang sang diesen Text, wie maneben ein Lied singt, ohne dabei über den Sinn der Worte nachzuden-ken, und bei seinen Kameraden war das sicher nicht anders. Esdachte wohl kaum einer von ihnen daran, dass er in eine Situationgeraten könnte, wo diese Worte tatsächlich einen realen Sinn erhal-ten würden. Und so war es mit vielen Dingen, die von den Jungeneinfach hingenommen wurden, ohne dass sie sich ihrer wirklichenBedeutung bewusst waren.

Der Höhepunkt in Wolfgangs erstem Jahr im Jungvolk war dieTeilnahme an einem zweitägigen Lager des Fähnleins, das als „Fahrt“bezeichnet wurde. An einem Sonnabendmorgen in den großen Feri-en zogen die vier Jungzüge des Fähnleins zwölf in Marschformationmit dem Lied „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“ durchdie Stadt in Richtung auf das etwa zehn Kilometer entfernte Wilden-hain los, das sie nach einigen Stunden erreichten. Dort bezogen sie

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Quartier in einer großen Scheune, die als Nachtlager diente. DieKochstellen für die vier Jungzüge in ausreichendem Abstand vomWaldrand waren schnell errichtet, das notwendige Holz aus demWald herbeigeschafft. So war bis 13 Uhr die Erbsensuppe zuberei-tet. Wolfgang, der zusammen mit seinem Freund Rolf die Suppe fürseinen Jungzug austeilte, lobte sie: „Das ist eine extra feine Erbsen-suppe, schmeckt viel besser als bei Muttern und sättigt besondersgut!“ Dabei schwang er die Suppenkelle, als wolle er der Suppedamit den letzten Schliff geben. Auch wenn es am Abend und amnächsten Mittag nochmals Erbsensuppe gab, waren doch alle mitdem Gemeinschaftsessen sehr zufrieden.

Am Nachmittag hatte jeder Jungzug für sich Holz für ein zünfti-ges Lagerfeuer aufgestapelt. Als es langsam zu dämmern begann,wurden die Holzstöße angezündet. Die Jungen saßen um die Feuerherum und erzählten lustige Geschichten. Als die Dämmerung wei-ter fortgeschritten war, konnte man den Wald nur noch als dunkleSilhouette wahrnehmen. Die Flammen loderten immer höher in denAbendhimmel hinein, und bald begannen auch die ersten Sterne zuleuchten. Unter den Jungen breitete sich eine romantischeLagerfeuerstimmung aus. Die von ihnen gesungenen Abenteuer-lieder verstärkten diesen Eindruck noch. DenAbschluss bildete eineOde an Deutschland, die sehr getragen gesungen wurde.

„Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit,Über die Zeiten fort, sei‘st du gebenedeit.Heilig sind deine Seen, heilig dein WaldUnd der Kranz deiner stillen Höh‘n,bis an das weite Meer.“

An diesem Abend spürte Wolfgang, dass sie innerhalb wenigerMonate zu einer echten Gemeinschaft zusammengewachsen wa-ren, getreu dem Motto ,Einer für alle, alle für einen!‘ Der nächsteMorgen verlief dann mit denAufräumarbeiten eher langweilig. Nachdem Mittagessen trat das Fähnlein den Rückmarsch an.

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„Die Kosaken kommen!“ Mit diesen Worten wurden einmaligeReiterdarbietungen von Kosaken für Sonnabend, den 21. Juni 1941,auf dem Gelände neben dem Sportplatz am Penkwitzer Weg ange-kündigt. Kosaken waren eine Elite-Einheit, ein spezieller Teil desrussischen Heeres, nämlich die leichte Kavallerie. Sie waren wilde,gefürchtete Krieger, bekannt für ihren Wagemut, ihre Tapferkeit undihre überragenden Reitkünste. Natürlich ließ Wolfgang sich die Sen-sation nicht entgehen. Er war begeistert von den artistischen Dar-bietungen der Kosaken, die auf ihren Pferden durchs Feuer ritten,als sei das nichts Besonderes. „Mensch, das ist wirklich ein Wunder,dass die Pferde sich dabei nicht den Arsch verbrennen,“ entfuhr esihm.

Als am Morgen des 22. Juni der Großdeutsche Rundfunk dieMeldung verbreitete, die deutschen Truppen seien im Morgengrau-en auf breiter Front zumAngriff auf die Sowjetunion angetreten, umeinem sowjetischen Angriff zuvorzukommen, waren die meistenMenschen völlig überrascht. Gestern hatten die Meuselwitzer nochdie Kosaken als willkommene Gäste begrüßt und gefeiert, heutewaren sie Feinde. Deutschland hatte mit Russland, genauer der kom-munistischen Sowjetunion, seitAugust 1939 einen Nichtangriffspakt.Es gab intensive Handelsbeziehungen, und das Verhältnis der bei-den Staaten schien beinahe freundschaftlich zu sein. Wolfgangs Vaterwusste zu berichten, dass noch zwei Tage zuvor von den Gustloff-Werken hergestellte Spezialmaschinen für Russland das Werk ver-lassen hatten. Er äußerte sich sehr skeptisch über den Feldzug, weiler den Beginn eines riskanten Zweifrontenkrieges bedeutete. Aberim Rundfunk folgte Siegesmeldung auf Siegesmeldung. Wolfgangverfolgte den Vormarsch der deutschen Truppen sehr genau. Ermarkierte auf einer Landkarte die eroberten Städte in den von denSowjets bisher besetzten polnischen Gebieten, den annektierten bal-tischen Staaten, den weißrussischen, ukrainischen und russischenSowjetrepubliken. In mehreren großen Kesselschlachten wurden diesowjetischen Truppen geschlagen und ganze Truppenteile gefangen-genommen. Und im Jungvolk wurden jetzt bevorzugt Lieder gesun-gen wie:

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„Gen Ostland wollen wir reiten“und„Siehst du im Osten das Morgenrot,ein Zeichen der Freiheit, der Sonne.Wir halten zusammen, auf Leben und Tod,mag kommen, was immer da wolle.Da gibt es kein Klagen, hört auf mit dem Hadern,Noch fließt uns deutsches Blut in den Adern.Volk ans Gewehr, Volk ans Gewehr!“

Am ersten Schultag nach den großen Ferien versammelten sichdie Schüler aller Klassen auf dem Flur im ersten Geschoss der Schule.Vor der Fensterfront an der Schmalseite des Flurs befand sich einmit grünen Kacheln ausgelegtes Brunnenbecken. Die sich links undrechts des Beckens anschließende Erhöhung war ebenfalls mit grü-nen Kacheln ausgelegt. Auf diese Erhöhung stieg der SchulleiterPfeifer in seiner hellbraunen Parteiunifom und erklärte den Schü-lern, dass die deutsche Wehrmacht am 22. Juni auf Befehl des Füh-rers und obersten Befehlshabers Adolf Hitler einem Überfall dersowjetischen Truppen auf das deutsche Volk zuvorgekommen sei.„Es war das Ziel einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung, dasdeutsche Volk zu vernichten“, ereiferte sich Pfeifer. „Wie die Hor-den Dschingis-Khans wären diese Untermenschen in Deutschlandeingefallen, hätten gebrandschatzt und gemordet, wie sie das zuBeginn des ersten Weltkriegs in Ostpreußen taten, bis ihnen beiTannenberg von den deutschen Truppen unter Hindenburg undLudendorff eine vernichtende Niederlage bereitet wurde. So weithat es der Führer diesmal gar nicht erst kommen lassen.“ Und Wolf-gang erinnerte sich an die Bilder von gefangenen Russen in denWochenschauen. Sie sahen heruntergekommen und verdreckt aus.Manche von ihnen hatten unverkennbar mongolische Züge. Jüdi-sche Kommissare sollten sie in den Kampf getrieben haben, undwer zurückwich, wurde mit Genickschuss erledigt. Pfeifer fuhr fort:„Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa wäre von den rotenHorden überflutet worden, wenn sich nicht der deutsche Soldat ih-nen entgegengestellt hätte. Wir werden diese Gefahr ein für allemal

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beseitigen und für das deutsche Volk, den germanischen Menschen,neuen Lebensraum im Osten gewinnen. Der Herrenmensch wirdüber den Untermenschen triumphieren. Aber neben unseren tapfe-ren Helden an der Front müssen auch die Menschen an der Heimat-front ihren Beitrag zum Endsieg leisten.“ Er erinnerte daran, dassdeutsche Frauen in den Rüstungsbetrieben wie in der HASAG undden Gustloff-Werken in Meuselwitz bei der Produktion der moder-nen Waffen aufopferungsvoll mitwirkten und forderte die Schülerauf, wo immer das möglich sei, in diesem Kampf auf Leben und Todmitzuhelfen. Aus dem Halbdunkel des Flures heraus, inmitten derMasse der Schüler stehend, nahm Wolfgang die Gestalt da vorn inder hellbraunen Parteiuniform, umflutet von dem durch das breiteFenster einfallenden Licht, wie einen Propheten wahr. Und Pfeiferschloss mit den Worten: „Diesmal darf nicht wieder dieses furcht-bare Wort ,Umsonst‘ über den Gräbern unserer toten Helden ste-hen!“ Dieser eine Satz löste bei Wolfgang einen regelrechten Schockaus. Für einen kurzen Moment hatte ihn der Gedanke erfasst,Deutschland könne doch den Krieg verlieren, und seine Menschenkönnten dem Untergang geweiht sein. Aber seine Zweifel warenschnell wieder verflogen, und das Vertrauen in den Führer brachteihm den Glauben an den Endsieg zurück.

Ein besonders langes Schuljahr von Frühjahr 1941 bis Sommer1942 lag hinter den Schülern, denn der Beginn des neuen Schuljah-res und aller folgenden war im gesamten Reichsgebiet auf den Herbstneu festgesetzt worden. Am Ende seines vierten Schuljahres hatteWolfgang dieAufnahmeprüfung für die Oberschule – und zuvor dieals Voraussetzung dafür erforderliche Aufnahmeprüfung für dieHauptschule (5) – abgelegt. Nach den Ferien würde Wolfgang alsodie Oberschule in Meuselwitz besuchen, jetzt wollte er aber ersteinmal die Ferien richtig genießen.

Im Süden und Osten von Meuselwitz markiert ein meist stetigerAnstieg des Geländes das Ende der Leipziger Tieflandsbucht. Einentiefen Einschnitt in die Landschaft findet man aber an einer Stellesüdlich der Stadt. Hier erstreckt sich unterhalb des Hainbergs auf

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einer Länge von etwa einem Kilometer ein See, der bis zu dreihun-dert Meter Breite erreicht. An der Wende vom 19. zum 20. Jahr-hundert war dort Braunkohle imTagebau abgebaut worden. Im Laufeder Jahrzehnte hatte dann das Grundwasser den Tagebau in einenleicht schwefelhaltigen See verwandelt, in den vom Westen her eineschmale Halbinsel hineinragte.An seinem langen Südufer zum Hain-berg hin gab es an mehreren Stellen kleine, dünenartige Erhebungenaus feinkörniger, weicher Erde, der an heißen Sommertagen ein leich-ter Schwefelgeruch entströmte. Nicht allzu weit vom Südufer ent-fernt führte ein schmaler Weg am See entlang. Er endete am West-ufer in einem flachen, teilweise sumpfigen Areal. Der steileAnstiegjenseits dieses Weges deutete an, wie der Tagebau sich hier in dieLandschaft hineingefressen hatte. Aber die Natur hatte im Laufeder Zeit alle Narben geheilt. Der Hang, mit kleinen Bäumen undSträuchern dicht bewachsen, war mit dem Ufergelände und demSee zu einer idyllischen Landschaft verschmolzen. So war der Hain-bergsee zu einem idealen Badegelände geworden. Dort verbrachteWolfgang 1942 den größten Teil seiner Sommerferien. Zusammenmit Rolf Köhler, Georg Thaler und anderen Schulfreunden brach ermeist schon morgens zum Hainbergsee auf. Am westlichen Ufernahe der Halbinsel gab es einige kleinere Buchten, in denen derBoden des Sees nicht so steil abfiel wie am südlichen Ufer. Dortwar das mit vielen jungen Birken bewachsene Gelände auch nahezueben und nicht sumpfig. Hier hatten sie ihren festen Platz, von demaus sie sich Abkühlung im Wasser verschafften, durch das Geländestreiften oder sich auch mit Ballspielen beschäftigten.

Beinahe hätten die Badefreuden für Wolfgang ein schlimmesEnde genommen. Er konnte nämlich noch nicht schwimmen undhatte deshalb im seichten Gewässer geübt. Dabei stieß er sich im-mer mal mit dem Fuß auf dem Boden ab. So schaffte er es dann imLaufe der Zeit, einige Züge zu schwimmen. Wagemutig wie er war,versuchte er eines Tages, eine kleine Badebucht von etwa zehnMetern Breite zu durchschwimmen, obwohl er annehmen musste,dass es in der Bucht Stellen gab, an denen er nicht mehr stehenkonnte. Als er etwa die Mitte der Bucht erreicht hatte, ging er plötz-

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lich unter. Rolf, der selbst auch nicht schwimmen konnte, hatte dasglücklicherweise bemerkt.Aber außer ihm war niemand in der Nähe.Wolfgang hatte instinktiv noch einmal tief Luft geholt, bevor er un-terging. In diesem Moment überkam ihn eine seltsame Ruhe. Nichtdie Spur von Panik erfasste ihn. Im Gegenteil, er hatte ein Gefühldes Geborgenseins, so als würde er gleich in einen tiefen Schlafversinken. Wahrscheinlich hatte das nur wenige Sekunden gedau-ert, und ohne eigenes Dazutun war er plötzlich wieder aufgetaucht.Da stand auch schon Rolf, einen Arm nach ihm ausstreckend, bisüber das Kinn im Wasser. Nach einer Schwimmbewegung mit denArmen konnte Wolfgang RolfsArm erfassen und sich dann von ihmins seichte Wasser ziehen lassen. „Da hast du aber verdammtesSchwein gehabt, das hätte auch leicht schiefgehen können“, bemerkteRolf trocken. „Danke dir!“, mehr konnte Wolfgang nicht sagen. Jetztschossen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Im Nachhineinerfasste ihn Panik. Er konnte selbst nicht verstehen, warum er inder kritischen Situation so ruhig geblieben war. „Normalerweise hätteich doch sehr heftig reagiert, und das wäre genau falsch gewesen“,dachte er für sich. Er glaubte bestimmt nicht an einen Gott, wieseine Mutter ihn in seinen frühen Kindertagen als gütigen Vater imHimmel beschrieben hatte, der über die Menschen wacht und siebelohnt oder bestraft und den man durch Gebete und Wohlverhaltengünstig stimmen kann. Aber es musste doch eine höhere Macht ge-ben, die ihm beigestanden hatte, ganz gleich, ob man sie nun Gott,Schicksal oder Vorsehung nennt. Zu dieser Überzeugung war Wolf-gang gekommen, nachdem ihm klar geworden war, wie dieserSchwimmversuch hätte ausgehen können.

Noch selbstbewusster als vor über vier Jahren trat Wolfgangnach den großen Ferien 1942 den Schulweg an, der ihn in den näch-sten Jahren in das Gebäude der Oberschule am oberen Ende derRathausstraße führen sollte. Sein Vater hatte ihn – nicht ganz uner-wartet – zuvor ermahnt, er müsse sich anstrengen und sein Bestesgeben, denn das Schulgeld sei hoch, und wenn er versage, müsse erzur Volksschule zurück. „Das wirst du nicht erleben. Ich werde dichbestimmt nicht enttäuschen, da kannst du sicher sein“, hatte ihm

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Wolfgang entgegnet. Am ersten Unterrichtstag wurden die neuenSchülerinnen und Schüler im Rahmen einer Feierstunde in derAulader Schule vom Schulleiter begrüßt. Das Rednerpult war mit einerHakenkreuzfahne bespannt, und von der Wand mahnte in großenLettern der Spruch „Nordisches Blut verpflichtet.“ Für Wolfgangwar es eine große Genugtuung, aus dem Munde des Schulleiters zuhören, dass nicht die äußere Erscheinung den nordischen Menschen,den Germanen, ausmache, sondern dass Haltung, Einstellung undCharakter das Entscheidende seien. „So kann in kleinen, dunkelhaa-rigen Menschen mit braunen Augen genauso wertvolles nordischesBlut fließen wie in großen, blonden mit blauen Augen“, verkündeteder Schulleiter, der selbst zum ersten Typ gehörte, pathetisch. DieseFeststellung befriedigte Wolfgang sehr. Er hatte das noch nie in sodeutlicher Weise gehört. Stolz erzählte er später seinen Eltern: „Wennich auch keine blonden Haare und keine blauen Augen habe, so binich doch ein richtiger Germane. Das Entscheidende sind der Cha-rakter und die Einstellung. Das hat unser neuer Schulleiter heuteerklärt.“

Zu dieser Zeit begann Wolfgang mit tagebuchartigen Aufzeich-nungen. Zu den interessantesten Punkten darin gehörten die Bemer-kungen über seine Lehrer. Sein Mathematiklehrer war ein respektein-flößender Mittvierziger, namens Althaus, eine äußerlich wenig sym-pathische Erscheinung mit glattpolierter Glatze, der immer in Partei-uniform erschien. Er versuchte, die Schüler zu selbständigem Denkenzu erziehen. Bei aller Strenge war Althaus immer sehr gerecht undverteilte Lob und Tadel in angemessener Weise. Als er nach einemhalben Jahr die Schule verließ, bedauerte Wolfgang das sehr. SeinNachfolger für den Mathematikunterricht war Herr Holtz, der alsHauptfach Musik unterrichtete. Sein Auftreten war äußerst theatra-lisch. Er mimte den Künstler, und mit einiger Phantasie konnte manihn für einen Nachkommen Richard Wagners halten. Seinem schma-len Gesicht mit der leicht nach hinten verlaufenden Stirn verlieh die zugroße Nase einen Zug von Grobheit. Ein unverkennbares Markenzei-chen von ihm waren grau-melierte Knickerbockerhosen, die er fastimmer trug. Fritz Holtz leitete den Schulchor, der auch häufig bei au-

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ßerschulischen Veranstaltungen im Ort und in der Umgebung auftrat.So wurde der Chor unter dem Namen ‘Holtz-Chor’ allgemein be-kannt. Der Leitspruch von Fritz Holtz war: „Wo man singt, da lass‘dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Für Wolfgangwar es ein großes Handicap, dass er nicht gut singen konnte, obwohler eigentlich nicht unmusikalisch war. So wurde er von Holtz in dieGruppe der Brummer eingeordnet, und das war gleichbedeutend mitder Charakterisierung als Schüler zweiter Klasse. In schroffem Ge-gensatz zur musischen Grundhaltung von Holtz stand die Gestaltungseines mathematischen Unterrichts. Das A und O aller Mathematikschien für ihn das große Einmaleins zu sein. Das wurde tagtäglich inunregelmäßiger Reihenfolge abgefragt. Eine falsche Antwort hattebei den Jungen sofort eine Ohrfeige zur Folge, die Mädchen strafteHoltz dagegen nur verbal ab. Wenn er schlechter Laune war undeinen seiner besonderen „Freunde“ prüfte, stand er schon mit erhobe-ner Hand vor ihm und schlug auch manchmal bereits zu, wenn dieAntwort nicht sofort kam. Widerspruch duldete er überhaupt nicht.Das Wort „Nein“ im Sinne einerAblehnung durfte nicht benutzt wer-den, und als Wolfgang stattdessen „doch“ sagte, hatte er sich soforteine Ohrfeige eingehandelt.

Holtz war erst Anfang dreißig. Er musste ganz besondere Bezie-hungen haben, denn um 1942/43 waren die meisten Männer diesesAlters längst zum Militär eingezogen, wenn sie nicht aus gesund-heitlichen Gründen als absolut dienstuntauglich galten. Holtz aberavancierte zu diesem Zeitpunkt zum Standortführer der Hitlerjugend.Das war wohl kaum auf seine Verdienste als Leiter des Choreszurückzuführen. Für Wolfgang war es ein ganz ungewohntes Bild,als er Holtz zum ersten Mal in brauner Gala-Uniform mit Schild-mütze anstatt in den üblichen Knickerbockerhosen sah.

Ein anderer relativ junger Lehrer, Herr Etzold, verlor sehr schnellseine Stellung und wurde trotz massiver gesundheitlicher Problemeeingezogen, weil er sein Missfallen an einer Strafaktion des Bürger-meisters Franke erkennen ließ. Eine junge Frau hatte ein Verhältnismit einem französischen Kriegsgefangenen gehabt.Auf Geheiß von

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Franke wurde sie durch die Stadt geführt, kahlgeschoren, mit einemSchild „Ich habe mich mit einem Feinde eingelassen!“Als der etwasseltsame Zug, die Frau begleitet von lärmenden und grölenden Schau-lustigen, die obere Rathausstraße passierte, rief Etzold seine Schü-ler ans Fenster und sprach: „Das müsst ihr gesehen haben. Das istja tiefstes Mittelalter.“ Der letzte Satz wurde ihm zum Verhängnis.Wolfgang aber hatte in seinen Aufzeichnungen geschrieben: „Ichfinde, die Bestrafung der Frau geht in Ordnung. Sie hat nicht nur einVerbot übertreten, sondern auch ihren Mann betrogen, der an derFront steht und das Vaterland verteidigt.“

Ein Ereignis in seiner Nachbarschaft beschäftigte Wolfgang sehr.Als er am 1. Mai 1943 vom Festumzug und der anschließenden Kund-gebung nach Hause ging, hielt vor einem der Häuser in der Bahnhof-straße in der Nähe seiner elterlichen Wohnung ein Krankenwagen.Zwei Sanitäter trugen auf einer Trage eine Frau zum Sanitätsauto. Eswar die Zahnärztin Frau Glaser, eine Mittvierzigerin, die ihn gelegent-lich behandelt hatte, wenn einer seiner Zähne plombiert werden musste.Sie war immer sehr nett zu ihm gewesen, hatte sich über die Schuleund über seine Freunde erkundigt. Irgendwie hatte er das Gefühl,dass sie ihn mochte. Nun lag sie da auf der Trage und wurde abtrans-portiert. Wie sich in der kleinen Stadt schnell herumsprach, hatte siesich mit Schlaftabletten umbringen wollen. Aber die Ärzte imAltenburger Krankenhaus konnten ihr noch rechtzeitig den Magenauspumpen und brachten sie durch. Auch der Grund für ihren Selbst-mordversuch war rasch bekanntgeworden. Sie war wegen „zerset-zender Äußerungen“ zu einer halbjährigen Zuchthausstrafe verurteiltworden. „Wie kann man denn deshalb versuchen, sich das Leben zunehmen?“, hatte Wolfgang beimAbendessen verwundert gefragt. „Fürdie meisten Menschen meiner Generation, insbesondere aus bürgerli-chen Kreisen, ist eine Zuchthausstrafe eine große Schande“, antwor-tete sein Vater. „Es ist eine schlimme Demütigung, zusammen mitKriminellen eingesperrt zu sein, Sträflingskleidung zu tragen und dieHaare geschoren zu bekommen. Das Schlimmste aber ist die Ver-achtung, mit der die Menschen der Gesellschaft danach auf einen Ex-Sträfling herabschauen.“ „Aber sie hat doch überhaupt kein Verbre-

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chen begangen. Das ist doch eine ganz andere Sache“, erwiderteWolfgang. Tatsächlich hatte Frau Glaser in einem Dorfgasthof, in demsie schon häufig mit ihrer Familie zu Mittag gegessen hatte, bei derAbgabe der Lebensmittelmarken für das Essen geäußert: „Den Mit-gliedern unserer Regierung nimmt man bestimmt keine Lebensmittel-marken fürs Mittagessen ab, die essen in ihren speziellen Restau-rants, zu denen einfache Menschen gar keinen Zugang haben undgenießen auch sonst alle möglichen Privilegien.“ Der Besitzer desGasthofs zeigte Frau Glaser daraufhin an. Wolfgang fand dieses Ver-halten empörend, ebenso das Urteil des Richters. „Man muss doch imAugenblick der Verärgerung auch einmal richtig schimpfen dürfen,schließlich hat die Frau ja niemandem geschadet“, hatte er zu diesemFall in seinenAufzeichnungen vermerkt. „Ich halte das für einen aus-gemachten Unsinn. Der Führer hätte hier sicher eine Bestrafung ver-boten, wenn er den Fall gekannt hätte.“ Tatsächlich sagten viele Men-schen damals, wenn nach ihrer Meinung etwas nicht in Ordnung war:„Das weiß der Führer bestimmt nicht!“ Frau Glaser hatte nach ihrerGesundung die Strafe verbüßt. Als Wolfgang ihr später auf der Stra-ße begegnete, grüßte er sie besonders freundlich.

Kurz vor Führers Geburtstag war Wolfgang zum Jungzugführerbefördert worden. Er übernahm die Führung des Jungzugs, der ausden neu aufgenommenen, jüngsten Pimpfen gebildet wurde. SeineKlassenkameraden Gunter Kretzschmar und Helmut Lange sowiesein Freund Siegfried Schenk wurden als Jungenschaftsführer fürdiesen Jungzug bestimmt. „Wir vier zusammen werden einen Jungzugaufbauen, da werden die anderen nur staunen“, erklärte Wolfgangvollmundig gegenüber dem Fähnleinführer. Siegfried Schenk kannteer schon von der Volksschule, und er schätzte ihn nicht weniger alsseine beiden jetzigen Klassenkameraden. Siegfried war vaterlos großgeworden. Seine Mutter hatte es nicht leicht, die kleine Familie, zuder auch noch ihre eigene Mutter gehörte, von dem schmalen Ge-halt einer Sekretärin zu ernähren. Siegfried besuchte die Hauptschule,eine neue Einrichtung des dritten Reiches, von der nach zwei Jahrennoch der Übergang zur Oberschule möglich war. Wolfgang besprachmit Gunter, Helmut und Siegfried seine Vorstellungen über den

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Umgang mit den neuen Pimpfen. Aufgrund seiner eigenen unange-nehmen Erfahrungen mit dem früheren Jungzugführer Maus wollteer zwar ein strenger, aber gerechter Jungzugführer sein, ein Vorbildfür seine Jungen und kein wild gewordener Schleifer. Zusammenmit seinen drei Freunden gelang es ihm tatsächlich, aus den neuenPimpfen eine Gemeinschaft zu bilden, die in jeder Hinsicht vorbild-lich war. Das machte ihn besonders stolz.

Einer der erstenAuftritte von Wolfgang mit seinem Jungzug nachder feierlichen Aufnahme der Pimpfe war der Empfang des zweitenMeuselwitzer Ritterkreuzträgers, des Jagdfliegers Oberleutnant Bel-ler, in seiner Heimatstadt. Der Bahnhof war mit Girlanden geschmücktworden. HJ, BDM, Jungvolk und Jungmädel bildeten ein Spalier, dassich vom Bahnhof bis zur elterlichen Wohnung des Ritterkreuzträgersdirekt neben der damaligen Post erstreckte. Bürgermeister Frankebegrüßte den Helden am Bahnhof und fuhr dann mit ihm im offenenWagen die kurze Strecke bis zur Wohnung. Grenzenloser Jubel be-gleitete diese Fahrt. Der Wagen wurde mit Blumensträußen über-schüttet. Der Jubel steigerte sich noch, als Oberleutnant Beller in derersten Etage des Eckhauses Bahnhofstraße/Pfitznerstraße ans offe-ne Fenster trat und den Jungen und Mädchen zuwinkte.

Für die Meuselwitzer war der Krieg ganz allmählich näher ge-kommen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 waren die Men-schen nachts öfter durch das Heulen der Sirenen aus dem Schlafgerissen worden. Einige Male war Wolfgang zusammen mit seinemVater während des Alarms auf den Dachboden gestiegen. Sie hat-ten auf einem alten Stuhl stehend durch die Dachluke beobachtet,wie die Scheinwerfer den nächtlichen Himmel absuchten. MächtigeStrahlenbündel wanderten wie von Geisterhand gezogen über denNachthimmel, überkreuzten sich oft, blieben dann plötzlich wie an-geheftet an einem Punkt stehen, meist von einer Zunahme des Flak-feuers begleitet, um dann wieder vorsichtig tastend weiterzuwandern.„Das Bild ist ja eine volle Wucht,“ kommentierte Wolfgang das Spielder Lichter, „man glaubt, die Scheinwerfer stehen in der nächstenStraße, dabei sind sie doch etliche Kilometer entfernt.“

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Nach den Sommerferien 1943 wurde Wolfgang von SiegfriedSchenk gefragt, ob er denn einmal mit zu seinem Freund Horst Kunzekäme, sie könnten einen dritten Mann zum Skatspielen gut gebrau-chen. Wolfgang war sofort begeistert, und so spielten die drei in derWohnung von Horsts Eltern mehrmals miteinander Skat. Horst Kunzebesuchte auch die Oberschule, er war aber ein Jahr älter als Wolf-gang und deshalb eine Klasse über ihm. An einem regnerischenSeptembernachmittag saßen die drei wieder Skat spielend um einenkleinen, runden Holztisch in Horsts Zimmer. An diesem Tag schienSiegfried eine absolute Glückssträhne zu haben. Nachdem er schonmehrere Spiele nacheinander gewonnen hatte, riskierte er einen „NulOuvert“, und seine Gegenspieler hatten erneut das Nachsehen. „Dasgibt es ja nicht. Irgend etwas ist hier faul. Ich glaube, du betrügst uns“,sagte Wolfgang. „Wenn du das nächste Spiel wieder gewinnst, er-schieße ich dich“, drohte Horst im Scherz. Neben ihm lag die Pistoleseines Vaters, die er seinen Mitspielern schon vorher voller Stolz ge-zeigt hatte. Mit einem Schussversuch hatte er ihnen demonstriert, dasssie keine Patronen enthielt und außerdem auch gesichert war. HorstsVater war Berufssoldat. Die Waffe hatte schon seit der Vorkriegszeitin einem alten Schrank in der Dachbodenkammer gelegen. Horst hat-te sie erst kürzlich dort entdeckt. Nachdem Horst und Wolfgang beider nächsten Partie erneut gepasst hatten, spielte Siegfried einen„Grand ohne Zweien“. „Pass auf, Horst, diesmal ziehen wir ihm dieHosen aus“, feuerte Wolfgang seinen Mitspieler Horst an. Es war einspannendes Spiel, und die Entscheidung musste ganz knapp ausgefal-len sein. Rasch wurden die Karten gezählt. Die Spannung in Sieg-frieds Gesicht wich einem triumphierenden Lächeln. Mit der Gesteeines Siegershielt er die Kartenhoch und verkündete: „Einundsechzig!“„Das darf nicht wahr sein“, bemerkte Wolfgang und addierte noch-mals die „Augen“ der von Horst und ihm gemachten Stiche. „Tat-sächlich, nur neunundfünfzig!“ Horst nahmdaraufhin die Pistole, rich-tete sie auf Siegfried und drückte ab. Ein ohrenbetäubender Knallschreckte die Spieler auf. Dann schienen sich die Sekunden zu Minu-ten zu dehnen. Siegfried lächelte noch immer, aber aus seiner Stirnquoll Blut. Scheinbar imZeitlupentempo fiel er vornüber mit demKopfauf die Tischplatte. Ein lähmendes Entsetzen hatte Wolfgang erfasst.

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Er schaute hinüber zu Horst. Der hatte die Pistole fallen lassen, sahfahlweiß aus, als sei alles Blut aus seinem Körper gewichen, undschien doch noch immer nicht zu begreifen, was geschehen war. Dannstieß er plötzlich einen markerschütternden Schrei aus und begannjämmerlich zu weinen wie ein kleines Kind. Siegfrieds Oberkörper lagleblos auf der Tischplatte, von der sich ein Blutstrom auf den Fußbo-den ergoss. Die Minuten wurden zu Stunden. Horst und Wolfgangversuchten, ihren Freund aufzurichten. Doch der Körper fiel sofortwieder in sich zusammen. Er gab kein Lebenszeichen von sich. Derherbeigerufene Arzt konnte nur noch Siegfrieds Tod feststellen. „Ichwerde diese Bilder wohl nie vergessen können“, schrieb Wolfgangspäter nieder.

Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ergaben, dass sich nur einePatrone in der Pistole befunden hatte. Die Waffe musste wohl imLauf des Nachmittags versehentlich entsichert worden sein. HorstsVater wurde wegen Verletzung derAufsichtspflicht und grober Fahr-lässigkeit zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. DieFamilie verließ Meuselwitz wenige Wochen später.

In der Friedhofskapelle nahm Wolfgang Abschied von seinemFreunde. Die Stirn des Toten war von einem Verband umhüllt, aberdie Züge seines Gesichts waren so friedlich, als schliefe er nur. Dabeidurchlebte Wolfgang noch einmal die furchtbare Tragödie mit allenEinzelheiten. Ein einzigerAugenblick, ein scheinbar unwesentlichesDetail wie der falsch positionierte Sicherungshebel, verkettet miteiner Reihe von anderen zufälligen Kleinigkeiten konnte über Lebenund Tod entscheiden. So grausam war das Schicksal manchmal.Warum hatte Horst nicht wenigstens zuvor nochmals mit einemSchussversuch geprüft, ob die Waffe ungeladen oder zumindest ge-sichert war, wenn er schon solchen unverantwortlichen Blödsinnmachen musste, sie auf einen Menschen zu richten? Oder hatte er,Wolfgang selbst, nicht vielleicht beim Spiel einen Fehler gemacht,der dazu geführt hatte, dass Siegfried gewann? Schon bei einerAugenzahl von 60 : 60 wäre das Spiel für Siegfried verloren gewe-sen, und dann wäre wohl alles ganz anders gekommen. Möglicher-

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weise hätte Horst die Pistole aber auch auf ihn selbst, seinen Part-ner, gerichtet, wenn er einen offensichtlichen Fehler begangen hät-te, durch den das Spiel verloren gegangen wäre. Erst als der protes-tantische Pfarrer in seiner Trauerrede von dem unerforschlichenEntschluss Gottes sprach, diesen zwölfjährigen Jungen so früh ausdem Leben abzuberufen, wurde Wolfgang jäh aus seinen Gedankengerissen. Er war wütend über die Worte des Pfarrers. Wenn Gottwirklich die Geschicke der Menschen lenken würde, dann konntedies doch nicht absichtlich geschehen sein, dann müsste er dochnach Wolfgangs Verständnis einen Fehler gemacht haben. Nochmehr empörte er sich innerlich über die Rede des BürgermeistersFranke. Dieser hatte die Bolschewisten und die Imperialisten, diediesen Krieg vom Zaune gebrochen hätten, letztendlich für den Todvon Siegfried verantwortlich gemacht. Ohne den Krieg wäre diePistole nicht in die Hand des Unglücksschützen gekommen, so ar-gumentierte Franke. Wolfgang erkannte die bewusste Verfälschungder Tatsachen durch den Bürgermeister sofort. Diesem Menschenkonnte man nicht trauen, er würde ohne Skrupel lügen, wenn er einbestimmtes Ziel verfolgen wollte.

Anschließend bewegte sich der Trauerzug durch ein Spalier derPimpfe des Fähnleins 12 langsam in Richtung auf einen der frischaufgeworfenen Erdhügel am Rande des Friedhofs zu. Als der Sargin das Grab herabgelassen wurde, musste Wolfgang sehr mit denTränen kämpfen. Aber er versuchte sich zu beherrschen. Schließ-lich konnte er sich diese Blöße vor seinen Pimpfen nicht geben.Hatte er ihnen doch eingeschärft: „Ein deutscher Junge weint nicht!“Siegfrieds Mutter aber brauchte ihren Schmerz nicht zu verbergen.Tiefste Verzweiflung sprach aus ihrem Gesicht. Sie war eine gebro-chene Frau. Nichts auf dieser Welt war ihr geblieben. Sie hatte mitihrem Sohn alles verloren, was ihr im Leben etwas bedeutet hatte.

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4. Kapitel

Die Zahl der Bombenangriffe nahm immer mehr zu mit einer starksteigenden Zahl an Todesopfern unter der Zivilbevölkerung. In denZeitungen war jetzt noch öfter als zuvor vom ungebrochenen Wider-standswillen der Bevölkerung zu lesen, und es wurde Vergeltung fürdie Leiden der Zivilbevölkerung gefordert. In einer seiner seltenergewordenen Reden kündigte der Führer diese Vergeltung mit Hilfeneuer Wunderwaffen an. So richteten sich auch Wolfgangs Hoffnun-gen immer stärker auf diese Wunderwaffen. Er glaubte noch immerfest an die Worte des Führers. Hatte ihm sein Vater doch schon vonfrühester Kindheit an eingeschärft: „Ein Mensch muss zu seinemWortstehen, daraufmuss mansichunbedingt verlassen können.“Alsomussteman den Worten des Führers ganz besonders vertrauen können. DerEinsatz der Wunderwaffen würde die Situation mit einem Schlagezugunsten Deutschlands verändern. Und so wie er dachten auch nochviele Erwachsene.

Zu Beginn des Jahres 1944 drangen alliierte Bomberverbände nichtnur häufiger, sondern vor allem immer tiefer in den deutschen Luft-raum ein. In Mitteldeutschland wurde das ganz besonders nach derInvasion spürbar. Bei Fliegeralarm gingen die Hartwigs jetzt mit zweikleinen Koffern, in denen sich wichtige Dokumente und ein paar le-bensnotwendige Dinge befanden, in das Nachbarhaus und suchtendort den vermeintlich sichereren Luftschutzkeller auf. Der Hausbe-sitzer, Herr Peter, ein frühererArbeitskollege von Ernst Hartwig, hat-te ihnen das angeboten. Da es auch tagsüber öfter Fliegeralarm gab,musste der Schulunterricht häufig unterbrochen werden. Wolfgangnahm dann zwei seiner Klassenkameraden, die in Dörfern der Umge-bung wohnten, mit zu sich nach Hause.Aber die Jungen gingen erst inden Luftschutzkeller, wenn es scheinbar kritisch wurde. Man glaubteeinfach, das tagsüber besser beurteilen zu können. Vom Garten desNachbargrundstücks aus beobachteten sie die Wege der feindlichenBomberverbände, die in geordneter Formation von zwanzig bis drei-ßig Maschinen die Gegend überflogen und Bahnen von Kondensstrei-

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fen hinterließen. Kleine, weiße Wölkchen zeigten die explodierendenFlakgranaten um den Verband herum an. „Aber warum zielt denn dieFlak so schlecht? Die müssten doch wenigstens ab und zu ein Flug-zeug abschießen“, meckerte Wolfgang. Nur ein einziges Mal konntensie einen Volltreffer beobachten. Inmitten des feindlichen Verbandesleuchtete plötzlich ein runder Feuerball auf, und danach war eine deut-liche Lücke im Pulk entstanden. „Den hat‘s aber erwischt“, jubelteWolfgang. Aber so viele Bomberverbände sie noch vorüberfliegensahen, sie konnten keinen weiteren Abschuss beobachten. „Wo sindeigentlich unsere Jäger?“, bohrte Wolfgang weiter. „Ich will doch end-lich einmal einen richtigen Luftkampf sehen.“ Nach seinen Vorstel-lungen hätten die Bomberverbände doch gar nicht so weit nachDeutschland eindringen dürfen. Sie hätten doch längst versprengt seinmüssen, wenn die deutschen Jäger so erfolgreich waren, wie immerberichtet wurde.

Aber die feindlichen Flugzeuge warfen nicht nur Bomben ab, son-dern auch Flugblätter mit Nachrichten, die aus der Sicht der deut-schen Behörden für die Bevölkerung äußerst schädlich waren. Somussten Schüler und Schülerinnen zeitweise an Stelle von Unterrichtüber Felder und Wiesen und durch Wälder streifen, und Flugblättereinsammeln. Natürlich durften diese nicht gelesen werden, sie wur-den vielmehr anschließend sofort vernichtet. Während WolfgangsKlasse zu einer solchen Aktion unterwegs war, gab es plötzlich Flie-geralarm. Die Schüler waren jedoch zu weit von der Stadt entfernt,um noch einen Luftschutzkeller erreichen zu können. Um vor eventu-ellen Tieffliegern sicher zu sein, nahm die ganze Klasse in einem nahegelegenen Waldstück Deckung. Sie legten sich längs auf den Bodenund schützten den Kopf mit Händen undArmen. Das war auch nötig,denn die herabfallenden Splitter von explodierten Flakgranaten schlu-gen pfeifend und zischend ringsherum ein. Zum Glück wurde nie-mand ernsthaft verletzt. Nur einer der Schüler, Heinz Böttcher, hattevon einem kleineren Splitter einen Kratzer am Oberarm abbekom-men.Wolfgangklappte seinTaschenmesser auf und rief: „,Streifschuss‘komm mal her. Ich glaube, wir müssen denArm amputieren.“ Von daan wurde Heinz von allen „Streifschuss“ genannt. Aber es grenzte

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fast an ein Wunder, dass alles so glimpflich abgelaufen war, denn indem Waldstück und der Umgebung lagen viele mittlere und großeSplitter herum.

Doch die Bombeneinschläge nähertensichMeuselwitz immermehr.Ab Mitte 1944 wurden die beiden Hydrierwerke an der BahnstreckeAltenburg-Zeitz, die Brabag bei Tröglitz und die DEAbei Rositz, ab-wechselnd bombardiert. „Hier ist Schneewittchen, hier ist Schnee-wittchen“, meldete sich gegen Mittag des 30. Novembers der Flak-sender, „feindliche Bomberverbände von Martha-Emil 2 und Martha-Emil 10 mit Kurs auf Martha- Emil 8.“ Daraufhin schaltete Wolfgangsofort das Radio aus und raste, immer zwei Stufen auf einmal neh-mend, die Treppe hinunter. Er lief und lief, bis er völlig außerAtem imKeller des Nachbarhauses angekommen war. Seine Eltern hatten gleichzu Beginn des Fliegeralarms den Luftschutzraum aufgesucht, Wolf-gang aber verfolgte seit einigen Wochen den Weg der feindlichenMaschinen mit Hilfe der Meldungen eines Flaksenders und verließdie Wohnung erst, wenn sich diese Meuselwitz, dem Planquadrat Mar-tha-Emil 8, näherten. In das immer stärker werdende Flakfeuer misch-ten sich wie Donnerschläge die Detonationen von Bomben. Im Kellerwar es ungewöhnlich still geworden. Es schien, als warte jeder aufden nächsten Einschlag. Nach einiger Zeit wurden die Detonationenseltener, und dann war plötzlich alles vorbei. Niemand wusste, wielange es eigentlich gedauert hatte, so war allen das Zeitgefühl abhan-den gekommen. Der Angriff hatte den im Osten der Stadt liegendenHASAG-Werken gegolten. Dort wurden neben anderem wichtigenKriegsmaterial die berüchtigten Panzerfäuste hergestellt, mit denenEinzelkämpfer, aus Entfernungen um die hundert Meter, Panzer ab-schießen konnten. Die Verwüstungen auf dem Werksgelände warenverheerend, aber vieles wurde in relativ kurzer Zeit von Fremdarbei-tern und Häftlingen (6) wieder aufgebaut. Neben den HASAG-Wer-ken wurden hauptsächlich die Wohnviertel in deren unmittelbarerUmgebung getroffen. In seinenAufzeichnungen, die er offensichtlichnoch nachträglich ergänzt hatte, bezieht sich Wolfgang auf einen Be-richt aus der Nachkriegszeit. Dort ist von 33 total zerstörten und über300 leicht bis mittelschwer beschädigten Gebäuden die Rede. Die

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Zahl der Toten wird mit 90 angegeben, darunter 38 KZ- Häftlinge undein französischer Kriegsgefangener auf dem Gelände der HASAG.

Seit Anfang September 1944 waren endlich die Vergeltungswaf-fen V1 – unbemannte Flugzeuge mit Sprengkopf und intermittieren-dem Strahltriebwerk – und V2 – Großraketen mit Flüssigkeitsantrieb– gegen England im Einsatz. Viele Menschen schöpften dadurch wie-der Hoffnung auf eine Wende im Kriegsverlauf. Verstärkt wurde die-se, als am 16. Dezember an der Westfront eine für dieAlliierten völligüberraschende deutsche Offensive in denArdennen begann. Obwohldiese Offensive nicht erfolgreich war und letztlich steckenblieb, hattesie doch die amerikanische Front arg durcheinander gebracht. Daswirkte sich auch auf die Aktivitäten der alliierten Luftwaffe aus. Sonahm in Mitteldeutschland von diesem Zeitpunkt an die Zahl der Flie-geralarme deutlich ab. Wolfgang vermerkte: „Wir hatten über dieWeihnachtsfeiertage bis in den Januar hinein eine relativ ruhige Zeit.Es tat wirklich sehr gut, mehrere Nächte ohne Fliegeralarm durch-schlafen zu können. Trotzdem war es ein trauriges Weihnachtsfest.“

Am 3. Januar musste Wolfgang sich in einem Heim des JungvolksinAltenburg zu einem siebentägigen Lehrgang einfinden, an demetwafünfzig Pimpfe seines Alters aus dem Kreisgebiet teilnahmen. Dabeiwurden die Dreizehn- bis Vierzehnjährigen von sogenannten Ausbil-dern, sechzehn- bis achtzehnjährigen Hitlerjugendführern, unter Lei-tung eines etwa dreißigjährigen höheren Führers, sehr intensiv aufihre geistigen Fähigkeiten, ihre politische Einstellung und ihre sportli-che Leistungsfähigkeit getestet. Eines Nachts erschien der Führervom Dienst im Schlafsaal und brüllte: „Alles aufstehen, anziehen undzum Abmarsch antreten!“ Es war nicht etwa Fliegeralarm. Nein, derFührer vomDienst erklärte den Pimpfen: „Es sind amerikanische Fall-schirmjäger abgesprungen, die sich im Herzog-Ernst-Wald verborgenhalten. Wir werden jetzt den Wald durchkämmen, um dieAmerikaneraufzuspüren.“ ImWald angekommen, schickte der Führer vom Dienstdie Pimpfe einzeln mit einem gewissen zeitlichen Abstand los. Siesollten zunächst dem leicht abfallenden Waldweg einige hundert Me-ter folgen, dann an einer Abzweigung links abbiegen, eine Brücke

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überqueren und sich etwa hundert Meter nach der Brücke an einemSammelpunkt treffen. Es war also ganz offensichtlich, hier handeltees sich um eine so genannte Mutprobe. Wolfgang war sehr wütend.Der Tag war ziemlich anstrengend gewesen. Er hatte sich am Abendtodmüde auf seinem Strohsack ausgestreckt und war sofort einge-schlafen. Und jetzt wurden sie alle wegen solcher Kindereien, wie ermeinte, um den Schlaf gebracht. Wolfgang wurde als Letzter auf denWeg geschickt.Als er gerade nach links in Richtung Brücke abbiegenwollte, traten plötzlich zwei „Amerikaner“, in weiße Betttücher ge-hüllte Gestalten, aus dem Gebüsch hervor und verstellten ihm denWeg. Er war nur mit seinem Fahrtenmesser bewaffnet. Aber daskonnte er natürlich nicht benutzen. Er wollte ja auch niemanden ernst-lich verletzen. Da fiel ihm der Schulterriemen ein. Blitzschnell hakteer diesen vorn und hinten vom Koppel los und schlug mit ihm auf dieKöpfe der beiden „Amerikaner“ ein. Das war offenbar nicht ganzschmerzlos und kam wahrscheinlich auch so überraschend, dass sieihm sofort Platz machten und ihn vorbeiziehen ließen. Unmittelbar vorder Brücke kamen vier weitere Gestalten in Weiß auf ihn zu. Dochdie waren – möglicherweise vorgewarnt – schneller als Wolfgang.Noch bevor er seinen Schulterriemen aushaken konnte, hatten sie ihnan Händen und Füßen gepackt und zur Brücke getragen. Er versuch-te sich loszureißen, aber sie hatten ihn fest im Griff. Sie hoben ihnüber das Holzgeländer der Brücke und ließen ihn über dem Flüsschenhängen. „Ach, du Scheiße, ist das vielleicht die Pleiße?“, dachte Wolf-gang und wunderte sich über seine poetische Phantasie in dieser un-gemütlichen Situation. „Lasst mich doch fallen, ich komme schon wie-der heraus, wenn es auch ein bisschen kalt wird“, murmelte er vorsich hin. Sie aber hoben ihn wieder über das Geländer zurück, legtenihn im Schnee auf der Holzbrücke ab und verschwanden. Wolfgangstand auf und ging zum Sammelplatz. Danach marschierten die Pimp-fe in Richtung Heim.

Zusammen mit fünf anderen Pimpfen stapfte Wolfgang am Nach-mittag des 10. Januar durch den frisch gefallenen Schnee. Der Zugnach Zeitz über Meuselwitz stand auf einem etwas weiter vomBahnhofsgebäude entfernten Gleis bereit. Die Jungen besetzten ein

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Abteil im vorderen Bereich des Zuges und mussten noch eine gutehalbe Stunde bis zur Abfahrt warten. Kurze Zeit später fuhr auf dembenachbarten Gleis ein Güterzug ein. Der Zug wurde sofort von be-waffnetem Militär umstellt. Wolfgang saß am Fenster und konnte al-les genau beobachten. In der Mitte des Güterwagens gegenüber wur-de eine Tür geöffnet. In dem Waggon waren Menschen in Sträflings-kleidung zusammengepfercht. Zwei Soldaten holten vier Sträflingeaus dem Waggon. Es waren ausgemergelte Gestalten mit eingefalle-nen Gesichtern. Sie trugen den Judenstern auf der Sträflingskleidung.Einer von ihnen erinnerte Wolfgang an seinen Vater. Der Mann bück-te sich, schob mit den Händen etwas Schnee zu einem kleinen Hau-fen zusammen und führte ihn zum Mund. Offensichtlich hatte er gro-ßen Durst. Der Wachtposten neben ihm versetzte ihm darauf mit demGewehrkolben einen kräftigen Schlag in den Rücken. Der Häftlingprallte mit dem Kopf gegen den Waggon und blutete stark aus derNase. Ein anderer Posten trat einen der Häftlinge ins Kreuz. Derhatte sich wohl nicht richtig aufgestellt. „Die geben`s aber den Juden-schweinen!“ rief einer der Pimpfe im Abteil. „Das ist aber nicht fair.Ein Soldat sollte nicht auf Wehrlose einschlagen“, sagte Wolfgang lei-se vor sich hin. „Du bedauerst die wohl auch noch?“ fuhr der Pimpfihn an. „Ich habe nur festgestellt, dass es nicht fair ist, auf Wehrloseeinzuprügeln“, entgegneteWolfgang. „Aber das sind doch unsere Fein-de!“ fühlte sich der Pimpf im Recht. „Trotzdem ist es unfair“, dachteWolfgang, „die werden bestimmt niemandemetwas tun können.“ Docher zog es vor, nichts mehr zu sagen.

Plötzlich war Bewegung ins Wageninnere gegenüber gekommen.Wolfgang traute seinenAugen nicht. Drei leblose Körper wurden ausdem Waggon auf den Bahnsteig geworfen. Je zwei der Häftlingemussten eine Leiche aufheben und unter Bewachung wegtragen. Fürdie dritte Leiche wurden noch zwei Träger aus dem Waggon geholt.Sie wurden mit Kolbenhieben angetrieben. Nach wenigen Minutenkehrten die Gefangenen zurück. Die Wagentüren wurden wieder ver-riegelt, und der Zug setzte sich bald danach in Bewegung. Die Ab-drücke der toten Körper im Schnee auf dem Bahnsteig waren schonverwischt, zurückgeblieben waren nur die Spuren von Stiefeln, und an

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einer Stelle war noch ein kleiner roter Fleck im Schnee zu sehen.Wolfgang war sehr nachdenklich geworden und sagte bis zurAnkunftin Meuselwitz kein einziges Wort mehr, während die anderen Pimpfeüber ganz alltägliche Dinge sprachen.

Nach Wolfgangs Rückkehr ausAltenburg gab es wieder öfter Flie-geralarm, sogar noch häufiger als vor der deutschen Ardennen-offensive. Die feindlichen Bomber schienen jetzt wie Heuschrecken-schwärme über das Land herzufallen. Der Höhepunkt der Terroran-griffe war die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945. Genaueine Woche später, am 20. Februar, kurz vor vier Uhr morgens, zerrissdas Heulen der Sirenen wieder einmal die Stille der Nacht. Als Hart-wigs mit ihren beiden Köfferchen im Nachbarhaus verschwanden,war schon der Motorenlärm der Bomber zu hören, zeitweise unter-brochen und übertönt vom starken Abwehrfeuer der Flak. Wolfgangwollte gerade die Haustür hinter sich schließen, als der Hof plötzlichwie in gleißendes Licht getaucht erschien. „Das kann nur das Lichtvon ,Christbäumen‘ sein, jenen Leuchtkörpern, die von sogenannten,Pfadfinder-Maschinen‘ abgesetzt werden, um die Ziele für die nach-folgenden Bomberverbände taghell zu erleuchten“, schoss es ihmdurchden Kopf. PanischeAngst befiel den sonst doch sehr mutigen Jungen.Als er den Keller betrat, waren schon die Detonationen der erstenBombeneinschläge zu hören.Angst spiegelte sich auch in den Gesich-tern der anderen Menschen im Keller wider. Die Detonationen ka-men immer näher, wurden immer häufiger, und plötzlich ging das Lichtaus. Der Keller wurde nur noch spärlich von einem Notlicht erhellt.Es war ein gespenstisches Bild. Wolfgang saß neben seiner Mutter.Sie hatte die Hände ihres Mannes ergriffen und hielt sie ganz fest.Wolfgang war sehr überrascht von dieser Geste, sie war für seineEltern ganz ungewöhnlich. In dieser Situation hätte er viel eher erwar-tet, dass seine Mutter die Hände zum Gebet falten würde. Das Ge-sicht des 67jährigen Herrn Peter wirkte wie versteinert. Seine Toch-ter Eleonore Becker – seit über zwei Jahren Kriegerwitwe – blicktebesorgt zu ihm hin. Sie hatte ihre vierjährige Tochter Irmtraud fest ansich gepresst. Die Kleine fühlte sich wohl durch ihre Mutter ausrei-chend beschützt und verhielt sich ganz ruhig. Ein gewaltiger Donner-

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schlag ließ alle zusammenzucken. Die Scheiben des kleinen Keller-fensters zerbarsten, und durch das Fenster und den Kellergang drangdichter Staub in den Keller ein. Jetzt schützten alle Mund und Nasemit nassen Tüchern. Neben der kleinen Irmtraud saß ihre Tante VeraPeter. Die noch sehr junge Frau war erst kurz vor Weihnachten mitwenig Gepäck aus ihrer ostpreußischen Heimat geflüchtet und hatteim Hause ihres Schwiegervaters Unterkunft gefunden. Ihr Mann, einOffizier im Generalstab, hatte ihr wegen der bevorstehenden russi-schen Offensive, die besonders Ostpreußen bedrohte, eindringlich zurFlucht geraten. Sollte sie, dem furchtbaren Schicksal vieler ostdeut-scher Frauen – derVergewaltigung durch sowjetische Soldaten – recht-zeitig entgangen, nun imVaterhaus ihres Mannes von Fliegerbombenbegraben werden? Die Intervalle zwischen den Detonationen derBomben wurden immer kürzer. Wolfgangs Blick fiel auf Frau Albert– eine Freundin von Eleonore Becker – und ihre beiden Söhne, diezusammengekauert auf einer Bank hockten. Sie hatten die Nachrichtvom Tod ihres Mannes bzw. Vaters erst in der Vorweihnachtszeiterhalten. Ihr Schmerz über diesen Schicksalsschlag war noch ganzfrisch und unvernarbt. Und die Wucht der Detonationen verstärktesich noch mehr. Das Notlicht erlosch, und Finsternis schloss dieAngstder Menschen ein. Putz rieselte von der Decke und den Wänden, dieErde schien zu beben, und der Keller schwankte bedrohlich. Manmusste befürchten, das Haus würde zusammenstürzen und sie alleunter sich begraben. JederAugenblick konnte das Ende bringen.Aberjeder Einschlag, den man noch wahrnehmen konnte, wurde von einerBombe verursacht, die das eigene Leben nicht direkt gefährdete. Nurab und zu hörte man ein leichtes Hüsteln. Der Staub war so dicht,dass er auch durch die nassen Tücher vor Mund und Nase nicht völligzurückgehalten wurde. Wolfgang war überzeugt, dass sie ihr Zuhausenebenan nur noch als Trümmerhaufen wiederfinden würden. Das warihmjetzt aber völlig gleichgültig. Er wollte hier nur lebend wieder her-auskommen. Doch merkwürdigerweise war er immer ruhiger gewor-den, je näher die Einschläge kamen, je größerdieGefahr wurde. Ähnlichwar es ihm auch ergangen, als er im Hainbergsee unterzugehen droh-te. Es war wie eine Eingebung; das Gefühl, er werde dieses Infernoüberleben, wurde immer stärker. Der Wille zum Überleben und das

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Vertrauen in das Schicksal waren die Wurzeln dieser Selbsttäuschung.Erst als die Einschläge sich weiter entfernten und viel seltener wur-den, schlichen sich bei ihmwieder Befürchtungen ein, eine Nachzügler-bombe könne ihm und der Kellergemeinschaft noch zum Verhängniswerden. Langsam verebbten der Motorenlärm und das Flakfeuer. Undplötzlich war es ganz still. Nach einigen Minuten wagte sich HerrKönig, ein Ingenieur der von Berlin nach Meuselwitz verlagerten Elek-trotechnik-Firma Görler, nach oben, um die Lage zu erkunden. Dieanderen folgten ihm kurze Zeit später. Ein Feuerschein im oberen Teilder Freiligrathstraße, südlich von der Bahnhofstraße, erhellte die Nacht.Dort war die Straße von Trümmerbergen übersät, die von den Hallender Gustloff-Werke und den gegenüberliegendenWohnhäusern stamm-ten. Die untere Freiligrathstraße war dagegen von Bombentreffernverschont geblieben.

Verwundert stellte Wolfgang fest, dass ihr Wohnhaus noch stand.Doch vom Druck der Explosionswellen waren in der Umgebung alleFensterläden eingedrückt, Fensterscheiben zerborsten und sogar man-che Türen herausgerissen worden. Die Hausbewohner hatten sichzunächst im Erdgeschoss im Wohnzimmer von Frau Richter einge-funden. Jeder hatte sich in dem vom Staub und kleinen Trümmerteilenüberzogenen Wohnzimmer einen Platz gesucht. Es war recht unge-mütlich, denn der Wind pfiff durch die Fensteröffnungen. Aber wenkümmerte das schon. Jeder war froh, überlebt zu haben. Plötzlichwaren Stimmen von außen zu hören. Drei dunkle Gestalten klettertenüber die Trümmerberge in der Freiligrathstraße. Frau Richter forder-te sie auf hereinzukommen. Ihre Gesichter waren rußverschmiert, siesahen aus wie Schornsteinfeger. Erst bei näherem Hinsehen erkannteWolfgang die Frau und ihre beiden Töchter, die in der oberen Freilig-rath-Straße gewohnt hatten. Ihr Haus war zerstört worden, aber derKeller hatte Stand gehalten, und sie konnten nach draußen gelangen,ehe das Feuer vom Nachbargebäude auf die Überreste ihres Hausesübergegriffen hatte. Wenige Minuten später stürzte ein Unbekannterin Frau Richters Wohnzimmer: „Die Feuerwehr muss unbedingt geru-fen werden, sonst brennt noch der ganze Häuserblock ab. Das Feuerhat sich über die Müller‘sche Druckerei sehr schnell ausgebreitet. Es

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muss sofort jemand ins Rathaus laufen, um die Feuerwehr anzufor-dern.“ „Ich werde gehen, ich bin als Melder für dieses Haus einge-teilt“, antwortete Wolfgang.Auf seinemWeg durch die Bahnhofstraßemusste er an der Kreuzung mit der Schulstraße einen mannshohenTrümmerberg überwinden. Die Mädchenschule war schwer getrof-fen worden, und große Steinbrocken waren bis auf die Bahnhofstraßegeschleudert worden. Im Rathaus schienen in dieser Krisensituationnur sehr wenige Menschen zu sein. „Eine Feuerwehr steht am Orts-rand, aber sie kommt nicht durch den Penkwitzer Weg in die Stadt, dadieser völlig mit Trümmern zugeschüttet ist“, erklärte ein Mitarbeiterdes Bürgermeisters. „Die neueren Hallen des Gustloff-Werkes linksund rechts des Penkwitzer Weges sind schwer getroffen worden.Versuche, die Feuerwehr irgendwie in die Stadt zu schleusen! Aberkomm danach sofort zurück, wir brauchen hier jeden.“ Und Wolfgangmachte sich auf den Weg. Er musste sich regelrecht durch die Trüm-mer in der Bahnhofstraße und den sich anschließenden PenkwitzerWeg kämpfen. Erst jetzt konnte er das ganze Ausmaß der Zerstörungwahrnehmen. Ungefähr 50 Meter von dem von seinen Eltern und ihmbewohnten Haus entfernt hatte eine Bombe einen riesigen Krater inden Garten eines Villengrundstücks und die angrenzende Bahnhof-straße gerissen. Ein besonders hoher Trümmerhaufen hatte sich naheder Kreuzung der Bahnhofstraße mit der Pfitznerstraße aufgetürmt,verursacht durch einen Volltreffer in der Post. Diese Stelle wurdespäter abgesperrt, weil unter dem Trümmerhaufen ein Blindgängerausgemacht worden war. Hier hatten vor noch nicht allzu langer Zeitdie Jungen und Mädchen der Hitlerjugend dem Ritterkreuzträger Bel-ler zugejubelt. Bei aller Konzentration auf seinen Weg hatte Wolfgangdoch bemerkt, dass es nördlich der Bahnhofstraße keine Bombenein-schläge gegeben hatte. Also leitete er die an der Unterführung derBahnlinie Altenburg-Zeitz wartende Feuerwehr über Felder und denAbstellplatz einer Baufirma an die von-Seckendorff-Straße heran.Vondort aus konnten sie dann ungehindert die Kreuzung erreichen. DasEckhaus, das dem von Hartwigs bewohnten Haus schräg gegenüber-lag, stand inzwischen schon in Flammen.Aber da die Feuerwehr nunvor Ort war, ging Wolfgang davon aus, dass dem von ihnen bewohn-ten Haus keine unmittelbare Gefahr mehr drohe. So lief er sofort zum

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Rathaus zurück. Auf halbem Wege zu seiner Rechten brannte dieMädchenschule jetzt lichterloh. Obwohl er in ziemlicher Entfernungvom Zentrum des Brandes über die Trümmerberge kletterte, spürteer im Gesicht und an den Händen eine sengende, kaum zu ertragendeHitze.

Ins Rathaus zurückgekehrt schickte ihn Bürgermeister Franke zumBahnhof. Für viele der Verletzten war dringend eine Krankenhausbe-handlung inAltenburg erforderlich. So sollte er erkunden, ob die Bahn-strecke nach Altenburg noch intakt war und für einen Krankentrans-port genutzt werden konnte. Die Beamten am Bahnhof lächelten nurüber diese Frage und erklärten, es gäbe nicht einmal mehr eine Tele-fonverbindung. Nachdem ihm anschließend im Rathaus nicht gleichwieder eine neue Aufgabe zugewiesen worden war, entschloss sichWolfgang, erst einmal zu Hause vorbeizuschauen. Schon von weitemsah er, wie die dreieckigeAlpina-Uhr in Flammen stand, die vomHausedes Juweliers und Uhrmachers Bernhard in die Bahnhofstraße ragteund die er von frühester Kindheit an vom Erkerfenster aus immer mitgroßem Interesse betrachtet hatte. Das Feuer hatte also auch diesesHaus noch erfasst und völlig niedergebrannt. Aber der Feuerwehrgelang es dann doch, eine weitere Ausdehnung des Feuers in derBahnhofstraße zu verhindern.

Die gesamte Wohnung der Hartwigs war in einem schlimmenZustand, besonders die Räume zur Bahnhofstraße hin. Alle Fensterwaren kaputt, eine Tür war aus dem Rahmen gerissen worden. Alleswar mit Staub und Dreck überzogen. Am nächsten Morgen gingWolfgang zu einer Zimmereifirma und holte ein paar Bretter, damitwenigstens das Schlafzimmerfenster vorübergehend zugenagelt wer-den konnte. Als er zurückkam, stand auf der Kreuzung zwischenBahnhofstraße und Freiligrathstraße ein mit Schimmeln bespannter,an den Seiten und nach hinten offener Leichenwagen, auf dem meh-rere Särge aufgestellt waren. Dann sah er einen Mann mit einemjungen Mädchen auf demArm zum Leichenwagen gehen. Ihr langesblondes Haar fiel nach unten und reichte fast bis zum Erdboden. Wolf-gang ließ die Bretter fallen, ihm wurde übel. Er stützte sich mit den

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Armen an einer Hauswand ab und schloss die Augen. Er meinte,dieses Mädchen erkannt zu haben. Sie hatte in einem der zerstörtenHäuser in der oberen Freiligrathstraße gewohnt. Er war ihr öfter be-gegnet, sie mochte ein oder zwei Jahre jünger sein als er. Nachdem ersich wieder gefasst hatte, hob er seine Bretter auf und ging, vomLeichenwagen wegblickend, direkt auf das Haus zu, das er mit seinenEltern bewohnte. Die Zahl der Toten dieses zweiten Angriffs wurdemit 175 angegeben. 923 Häuser wurden zerstört oder beschädigt, etwa400 Bomben oder Luftminen waren auf die kleine Stadt gefallen.

Schritt für Schritt normalisierte sich das Leben der Familie Hart-wig mit jedem Tag etwas mehr. Am 24. Februar glich die Wohnungaber noch eher einer Höhle, als Wolfgang im Radio die letzte Prokla-mation des Führershörte.Darin prophezeite Hitler das Ende desKriegesinnerhalb der nächsten zehn Monate mit einem deutschen Sieg. DieseBotschaft richtete Wolfgang wieder auf. In den letzten Wochen hat-ten ihn manchmal Zweifel befallen. Aber des Führers Wort konnte jakeine Lüge sein. Dieser hatte bestimmt noch eine Wunderwaffe inder Hinterhand, die den Krieg zugunsten Deutschlands entscheidenwürde. Doch die Fliegeralarme nahmen nicht ab, sondern wurdeneher noch häufiger. In Meuselwitz war so viel zerstört, dass ein wei-terer Angriff wenig wahrscheinlich schien. Die Hauptgefahr drohtejetzt durchAngriffe von Tieffliegern, die auch schon mal auftauchten,ohne dass es zuvor Alarm gegeben hatte. Häufig wurden Eisenbahn-züge von Tieffliegern angegriffen oder sogar einzelne Personen au-ßerhalb der Stadt. Von den drei Schulen in Meuselwitz waren zweizerstört. In der unzerstörten Knabenschule waren zunächst Verletzte,dann ausgebombte Familien und Flüchtlinge untergebracht. So fandseit dem 20. Februar kein Schulunterricht mehr statt. Der Schulausfallwurde teilweise durch vermehrten Jungvolkdienst ausgeglichen. DiePimpfe mussten besonders bei denAufräumarbeiten in der Stadt mit-helfen.

Anfang März erhielt Wolfgang eine Einladung zu einem siebentä-gigen Lehrgang vom 17. bis 24. März an der Gebietsführerschule inCamburg. Wolfgang hatte inoffiziell erfahren, dass es sich dabei um

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einenAusleselehrgang für dieAufnahme an einerAdolf-Hitler-Schu-le handelte. Bei diesem Lehrgang trafen Pimpfe aus allen Teilen Thü-ringens zusammen.Aus dem KreisAltenburg kamen noch drei weite-re Teilnehmer, die Wolfgang schon von dem Januar-Lehrgang herkannte. Der Lehrgang verlief ähnlich wie der in Altenburg. Nur einer„Mutprobe“ mussten sich die Pimpfe diesmal nicht unterziehen. Wäh-rend des Lehrgangs gab es sehr viele Unterbrechungen des Programmsdurch Fliegeralarme. Die Teilnehmer fanden dann in einem in denFelsen gebauten Brauereikeller Schutz. Die Ausbilder waren sieb-zehn-bis achtzehnjährige Hitlerjugendführer. DerAusbilder, demWolf-gangs Gruppe unterstand, äußerte eines Tages die Meinung, der Kriegsei verloren. Wolfgang widersprach sofort heftig: „Ich glaube an denEndsieg. Der Führer wird bald neue Wunderwaffen einsetzen. Er hatja vorausgesagt, dass in spätestens zehn Monaten der Krieg beendetsein wird.“ Tatsächlich war Wolfgangs Glaube daran inzwischen dochetwas erschüttert worden. Aber er wusste, er konnte an dieser Stellenur so antworten. Und Schweigen wäre womöglich als Zustimmungangesehen worden. Ihn hätte es natürlich interessiert, ob der Ausbil-der die Pimpfe nur provozieren wollte, oder ob er wirklich seine per-sönliche Meinung gesagt hatte. Die allgemein pessimistische Stim-mung spiegelte sich auch in einem Geländespiel wider, das am vor-letzten Tag veranstaltet wurde. Etwa zehn ausgewählte Pimpfe, dar-unter Wolfgang, mussten eine kleineAnhöhe in einemWaldstück ver-teidigen. Sie standen fürdiedeutscheWehrmacht underhielten „Spezial-waffen“, an Stöcken befestigte faustgroße Schlagbälle. Der Rest desLehrgangs, etwa 60 bis 70 Pimpfe, das waren die „Russen“. Die soll-ten die Anhöhe einnehmen. Die Verteidiger leisteten erbitterten Wi-derstand gegen die gewaltige Übermacht der Angreifer, wie man dasvon ihnen erwartet hatte. Aber am Ende wurden sie doch bezwun-gen. Wolfgang hatte einen der Angreifer bei dem Gefecht mit demSchlagball amAuge getroffen. Der arme Kerl musste mit einem blau-en Auge nach Hause fahren.

AmAbend des 24. März kehrte Wolfgang ziemlich deprimiert nachHause zurück. Amerikanische und britische Truppen hatten am 22.und 23. März an zwei Abschnitten den Rhein überquert und waren

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auf breiter Front im Vormarsch. Die Russen standen an der Oder undhatten schon einen Brückenkopf auf dem linken Oderufer errichtet.Die militärische Lage war hoffnungslos. Anfang April hatten ameri-kanische Truppen Thüringen erreicht und durchquerten es in rasan-tem Tempo. In Meuselwitz wurde wie in allen anderen Orten der„Volkssturm“ ausgerufen. So wurden alle nicht der Wehrmacht ange-hörenden Männer imAlter von 16 bis 60 Jahren zur Verteidigung ihrerengeren Heimat herangezogen. Sie trugen Zivil, waren aber durcheineArmbinde alsAngehörige des Volkssturms gekennzeichnet. IhreAusrüstung war sehr mangelhaft. Nicht einmal jeder von ihnen hatteein Gewehr. Es gab nur ein paar Panzerfäuste. An den Ortseingängenund Ortsausgängen wurden Panzersperren von ihnen errichtet. „Vornicht allzu langer Zeit haben wir im Jungvolk gedankenlos gesungen:,HeiligVaterland in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen. VonGefahr umringt, heilig Vaterland, alle stehen wir Mann bei Mann‘“,erinnerte sich Wolfgang, „ jetzt ist das Wirklichkeit geworden, undkeiner weiss, wie es ausgehen wird.“ Ein letztes Aufgebot regulärerInfanterie marschierte durch den Ort westwärts, nur ausgerüstet mitKarabiner und Handgranaten. Die Bevölkerung erhielt Lebensmittel-zuteilungen für sechs bis acht Wochen im Voraus. Kurz vor dem Ein-marsch der Amerikaner passierte Bürgermeister Franke in der Uni-form eines Leutnants des Heeres auf dem Fahrrad eine der Panzer-sperren in Richtung „Front“. Einer der Volkssturmleute rief ihm nach:„Sieh zu, dass du die Kurve noch kriegst!“ Zu dieser Volkssturm-einheit gehörte auch der Hitlerjugend-Standortführer Fritz Holtz.Alseiner der Wortführer wies er darauf hin, dass es Wahnsinn sei, unterden gegebenen Umständen – nicht ausgebildet und kaum bewaffnet– Widerstand leisten zu wollen.Aber bei diesem allerletztenAufgebotwar eigentlich kaum noch Überzeugungsarbeit notwendig. WenigeStunden vor dem Einzug derAmerikaner löste sich der MeuselwitzerVolkssturm auf. Das allgemeine Chaos ausnutzend, gingen die Män-ner einfach nach Hause.

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5. Kapitel

AmFreitag, dem 13.April, signalisierten die Sirenen in Meuselwitz„Feindalarm“. Jetzt wurde noch schnell ein Textillager der Marineaufgelöst. Die Wollsachen wurden an Meuselwitzer Geschäfte ver-teilt. Sonnabendvormittag hatten sich vor den Geschäften riesigeMenschentrauben gebildet. Doch bevor der Verkauf begann, schlu-gen plötzlich mehrere Salven von Panzergranaten in der Stadt ein.In den Straßen brach ein Chaos aus. Die Leute strömten massen-weise in die umliegenden Luftschutzkeller. Glücklicherweise wurdean der Spitze des Rathausturms schnell eine weiße Fahne gehisst.Daraufhin stellten die Amerikaner den Beschuss ein. Die Aufforde-rung aus dem Rathaus, an den Häusern ebenfalls weiße Fahnen zuhissen, verbreitete sich schnell. Bald hingen an jedem Haus weißeTücher oder Bettlaken unter den Fenstern. Wenige Stunden späterdurchquerten amerikanische Panzer und andere Militärfahrzeuge dieStadt von der Zeitzer Straße kommend und über die AltenburgerStraße wieder verlassend. Es gab nur wenige Menschen, die auseinigermaßen sicherer Entfernung den Durchzug der amerikanischenTruppen beobachteten. Noch blieb alles relativ ruhig. Die Geschäftekonnten am Sonntag in aller Frühe mit dem Verkauf der Textilienbeginnen. Wolfgang hatte sich schon lange vor Geschäftseröffnungangestellt und erstand einen sehr dicken Marinepullover und ein Paarähnlich fester, wollener Marinestrümpfe. Seine Mutter trennte dieTextilien auf und bestrickte später mit der Wolle die ganze Familie.

Am frühen Nachmittag des 15. April rückte dann ein größererVerband amerikanischer Truppen über den Penkwitzer Weg und dieBahnhofstraße in Meuselwitz ein. Wolfgang vermied es, sich direktam Fenster aufzuhalten. Selbst aus dem Hintergrund konnte er Pan-zer auf Panzer und Jeep auf Jeep durch die Bahnhofstraße rollensehen. Unter den Soldaten auf den Panzern und in den Jeeps warenauch farbige Amerikaner. Wolfgang hatte, wie wohl fast alleMeuselwitzer, vorher noch nie einen Farbigen gesehen. Plötzlich klin-gelte es. Draußen stand ein amerikanischer Soldat mit einer Pistole

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in der Hand. Er herrschte den öffnenden Ernst Hartwig an: „Comeout!“ Dann kamen auch Wolfgang und seine Mutter in den schma-len Korridor. Der Amerikaner fragte kurz: „Is anybody else here?“Wolfgang brachte nur ein kurzes „No“ heraus. Daraufhin winkteder Amerikaner ab, sagte „okay“ und stieg die Treppe weiter nachoben. Wolfgang traute sich jetzt näher an den seit frühen Kinder-tagen beliebten Aussichtsposten, das Erkerfenster, heran. Auf denBürgersteigen herrschte ungewohnter Betrieb. Fremdarbeiter lie-fen bepackt mit Beutegut umher. Er konnte beobachten, wie in demBekleidungsgeschäft an der Ecke Bahnhofstraße/Ziegelstraße kräftiggeplündert wurde.

Meuselwitz war also nun eine besetzte Stadt. Die Amerikanerhatten eine Reihe von Häusern beschlagnahmt, meist Villen odervillenartige Gebäude, die von ihren Soldaten belegt wurden. DieBewohner dieser Häuser mussten sich innerhalb weniger Stundenbei Verwandten oder Bekannten eine Bleibe suchen und durften nurdas Notwendigste mitnehmen. Die Besatzer forderten alle Einwoh-ner auf, ihre Fotoapparate und Schreibmaschinen abzugeben. Eswurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, und die Stadtaus-gänge sowie einzelne wichtige Gebäude und Straßenkreuzungenwurden vom Militär bewacht. Zu diesen Gebäuden gehörte auchdas Haus in der Bahnhofstraße, in dessen Erdgeschoss sich die Bank„Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt“ ADCA befand. Als Wolf-gang an einem der folgenden Tage auf der anderen Straßenseitevorbeiging, rief ihn einer der beiden Wache stehenden Soldaten:„Hallo, come here!“ Wolfgang war nicht wohl zumute. Aber derAmi fragte ihn nur, wie alt er sei und wie er heiße. „Wolfgang Hart-wig“ wiederholte der Soldat. Mit amerikanischem Akzent und ent-sprechender Betonung hörte sich das für Wolfgang ganz fremd an.Plötzlich griff derAmi in seine Brusttasche, holte einen Riegel Scho-kolade heraus und hielt ihn Wolfgang hin. Der war zuerst unsicher,ob er ihn nehmen sollte. Aber Stolz hin und Stolz her, der Kerl warnett und benahm sich nicht wie ein Feind. Jahrelang hatte Wolfgangkeine Schokolade mehr gegessen, und so nahm er den Riegel schließ-lich dankend an. Der Ami grinste spitzbübisch, als er sah, wie Wolf-

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gang die Schokolade mit großem Genuss verspeiste. Dann unter-hielten sie sich. Wolfgang erfuhr, dass sein Gesprächspartner Bobhieß, fünfundzwanzig Jahre alt und verheiratet war, aus Milwaukeekam und dort in einer Schuhfabrik gearbeitet hatte. Bob schienWolfgang zu mögen, er gab ihm jeden Tag einen Riegel Schokoladeund auch noch andere Süßigkeiten. Auch andere Jungen unterhiel-ten sich mit den Wachtposten an der ADCA und erhielten von ihnenSchokolade, Kekse und Kaugummi. Die amerikanischen Soldatenwaren allgemein sehr großzügig. Manchmal wurden sie regelrechtvon bettelnden Jungen belagert.

Der deutsche Widerstand konzentrierte sich jetzt nur noch aufdie Ostfront. Um Berlin wurde schwer gekämpft, bevor es am 2.Mai kapitulierte. Am 1. Mai hatte Wolfgang über den ReichssenderLaibach die Meldung des Großdeutschen Rundfunks gehört: „Un-ser FührerAdolf Hitler ist heute Nachmittag in seinem Befehlsstandin der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzuge an der Seite seinerSoldaten kämpfend, für Deutschland gefallen.“ Der amerikanischeRundfunksender AFN meldete kurz darauf, dass Hitler im Führer-bunker in der Reichskanzlei Selbstmord begangen habe und dass ereinen Tag zuvor noch seine Geliebte Eva Braun geheiratet habe.Wolfgang war von dieser Nachricht schockiert. Er hatte diesemManne bedingungslos vertraut, und nun stand auch noch am Endedieses Lebens eine große Lüge. Er erkannte in diesem Moment,dass die Macht Hitlers über sein Volk über Jahre hinweg auf Lügenaufgebaut gewesen war. Er fühlte sich belogen und betrogen, undwie ihm erging es vielen Deutschen. Alle Opfer waren umsonst ge-wesen. Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren oder warenzu Krüppeln geworden, waren aus ihrer Heimat vertrieben worden,hatten ihr Hab und Gut verloren, und wie viele Frauen und Mädchenwaren geschändet worden. Er mußte an die Rede des Rektors Pfei-fer denken: „Nie wieder darf das furchtbare Wort ,Umsonst‘ überden Gräbern der Toten stehen!“ Nun war die Lage noch viel schlim-mer als nach dem ersten Weltkrieg. Deutsche hatten in diesem Kriegim Namen des deutschen Volks furchtbare Verbrechen begangen,hatten unsagbares Leid über die Völker Europas gebracht. Jetzt war

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Deutschland besiegt, von seinen Feinden besetzt und lag völlig amBoden. Es war zum Heulen. Aber selbst in dieser Stunde der bitte-ren Erkenntnis hielt er sich an das, was ihm immer wieder einge-trichtert worden war: „Ein deutscher Junge weint nicht!Wenigstens“,so versuchte er sich zu trösten, „sind wir nicht von den Russen be-setzt worden.“ Was würde nun werden?

Als Wolfgang am Morgen des 1. Juli 1945 aus dem Fenster schau-te, stellte er fest, dass an der ADCA keine amerikanischen Postenstanden. Nach dem Frühstück lief er schnell zum Rathaus. Wederdort noch vor der benachbarten Sparkasse waren amerikanischePosten zu sehen. Dann waren die Gerüchte also doch wahr, die inden letzten Tagen immer wieder aufgetaucht, aber auch immer wie-der als falsch bezeichnet worden waren. Diesen Gerüchten zufolgesollten die Russen das von den Amerikanern eroberte Thüringensowie auch die restlichen Teile von Sachsen-Anhalt und Sachsenübernehmen. Im Gegenzug sollten die USA, Großbritannien undFrankreich dafür Besatzungsbereiche in Berlin bekommen, das invier Sektoren unterteilt und Sitz des Alliierten Kontrollrats werdensollte. Jetzt waren dieAmerikaner abgezogen. Über der AltenburgerStraße entdeckte Wolfgang ein rotes Spruchband mit weißen kyril-lischen Buchstaben. Vom Restaurant „Zur Börse“ zum Haus aufder gegenüberliegenden Straßenseite wurde von mehreren Män-nern ein ähnliches Spruchband angebracht. Ein schon etwas älterer,krummbeiniger Mann von kleiner, gedrungener Gestalt, gab mit knar-render Stimme den Männern Anweisungen. In der Mitte der Straßestehend schaute er mal nach links, mal nach rechts. Als das Spruch-band zunächst etwas schief über der Straße hing, lief sein beinahequadratisches Gesicht vor Zorn rot an. Mit donnernder Stimme be-schimpfte er die Männer und bezichtigte sie der Sabotage. Nunwürden also doch die Russen einziehen. Tief enttäuscht wandte sichWolfgang ab und ging nach Hause. Am Nachmittag rückten danndie Russen ein. Panjewagen auf Panjewagen rollte durch dieAltenburger Straße, am Rathaus vorbei, über den Marktplatz in Rich-tung Zeitzer Straße. Dazwischen gab es auch Marschkolonnen undeinzelne Jeeps. Wolfgang stand einige Zeit am Marktplatz. Die

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Schaulustigen waren sehr zurückhaltend. Nur einige wenige Men-schen winkten den Russen zu. Vereinzelt wehten auch rote Fahnenan Häusern. Einer seiner früheren Pimpfe grüßte Wolfgang im Vor-beigehen mit „Heil Moskau!“ „Ach, scher dich zum Teufel!“, mur-melte Wolfgang leise vor sich hin.

In einem Artikel des Altenburger Echos (7) vom 3. Juli 1945hieß es dann: „An die Soldaten der Roten Armee! Endlich seid Ihrda! Mit heißem Herzen haben wir Altenburger Antifaschisten aufden Tag Eurer Ankunft gewartet. …Eure Gegenwart hilft uns, denKampf gegen den Faschismus energisch fortzusetzen. Mit EurerHilfe wollen wir den letzten Vertreter des Nazismus anprangern,vor der antifaschistischen Bevölkerung bloßstellen und, wenn nö-tig, unschädlich machen... Wo Ihr jetzt steht, da wollen wir auchhin! Dass der große Teil der Deutschen noch nicht die sittliche undpolitische Reife für dieses Ziel besitzt, lässt sich nicht leugnen.Aber jeder für sich und jeder durch den anderen wird den Wegfinden zu innerer und äußerer Freiheit, zu sozialer und nationalerFreiheit, wie sie einem Kulturvolk zukommt, das sich von dem mit-telalterlichen Dunkelmännertum der Rassenideologie und desostelbisch-preußischen Militarismus, dieses Nährbodens des Nazi-bazillus, freigekämpft hat. Lasst uns beweisen, dass wir wert sind,Mitstreiter für die Menschenfreiheiten zu sein, dass wir für dieseshehre Ziel Seite an Seite mit der Roten Armee und seinem großenFührer, Generalissimus Stalin, marschieren. Tod dem Faschismus!Freisetzung aller sittlichen und materiellen Werte für die Höher-entwicklung der Menschheit – das ist das Ziel aller aufrechtenAntifaschisten, und davon gehen wir nicht mehr ab. Das und nichtsanderes ist unser heißer Dank an Euch! Es lebe die siegreicheRote Armee! Es lebe ihr Führer, Generalissimus Stalin! DerAusschuss der Antifaschistischen Front“ – Wolfgang warf dieZeitung weg. Er war angewidert von dieser Speichelleckerei. Schonwieder war die Rede von einem großen Führer. Schon wieder wurdeversucht, die Wirklichkeit mit großen Worten zu verschleiern. Wiesah es denn in der Realität aus?

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Das, was man zuvor über die Verhältnisse in dem bisher sowje-tisch besetzten Teil Deutschlands gehört hatte, sollte sich jetzt be-stätigen. Besonders in den ersten Monaten gab es Übergriffe durchsowjetische Soldaten. Sie machten vom „Recht der Sieger“ Gebrauchund nahmen der deutschen Zivilbevölkerung die verschiedenstenDinge ab. Uhren und Fahrräder waren die bevorzugten Beuteartikel.In Städten mit größeren Truppenkontingenten wurden auch Fällevon Vergewaltigungen bekannt. Aber die Situation war nicht ver-gleichbar mit der in den letzten Kriegsmonaten, als sowjetische Sol-daten regelrecht über die deutschen Frauen herfielen. Trotzdem trau-ten sich Frauen und Mädchen abends kaum noch auf die Straße. InMeuselwitz blieb es relativ ruhig. Nach außen trat noch die russi-sche Viehstation am stärksten in Erscheinung, die auf dem Sport-platz am Penkwitzer Weg errichtet worden war. Beinahe jeden Tagwurden große Rinderherden durch die Stadt getrieben. Dass dieStraßen danach mit Kuhfladen übersät waren, störte in dieser Zeitniemanden. Für Unruhe und Furcht sorgten vielmehr Dinge, die sicheher der direkten Wahrnehmung entzogen. So verschwanden Per-sonen, ohne dass etwas über ihren Verbleib bekannt wurde. Auch16- bis 18jährige ehemalige Hitlerjugendführer waren darunter. Doches waren nicht nur ehemalige Nazis, die über Nacht scheinbar imNichts versunken waren.

Ganz langsam, Schritt für Schritt, begann sich das öffentlicheLeben in Meuselwitz zu normalisieren. Jeder versuchte, so gut esging, über die schwierigen Zeiten zu kommen. Die Wohnungsnotwar groß in der zerbombten Stadt. Die Lebensmittelrationen warensehr knapp. Der Hunger beherrschte denAlltag. Wolfgang fuhr häufigmit dem Fahrrad über Land, um zu „hamstern“. Von den meistenHamsterfahrten brachte er Obst und Gemüse mit nach Hause. Daswar in der Meuselwitzer Umgebung nicht so knapp, und man konntees noch für Geld allein bekommen. Wenn er großes Glück hatte undihn eine Bäuerin besonders nett fand, konnte er auch schon einmalein paar Kartoffeln oder sogar ein Brot erstehen. Aber das war diegroße Ausnahme.

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Eine andere Möglichkeit zur Aufbesserung der Ernährungs-situation waren das „Ährenlesen“ nach dem Abernten der Felderund zeitlich später das „Kartoffelstoppeln“ nach der Kartoffelernte.Wie viele andere lief Wolfgang über gerade abgeerntete Getreide-felder und suchte nach liegengebliebenen Ähren. Zu Hause wurdendann die Getreidekörner ausgeklopft und anschließend in der Kaf-feemühle zu Mehl vermahlen. Wenn die Landarbeiter die Kartof-feln von den Feldern für die Bauern aufgelesen hatten, wurden dieFelder freigegeben und die „Stoppler“ durften dann Kartoffeln, dieübersehen worden waren, für sich einsammeln. Als Wolfgang einesTages in der Nähe von Breitenhain, einem Dorf in fünf KilometerEntfernung, Kartoffeln stoppelte, fiel ihm auf, dass ein junges Mäd-chen im Alter von etwa achtzehn Jahren ihn mehrmals interessiertansah. Auch am nächsten Tag trafen sie sich auf einem anderenFeld zufällig wieder. Sie ging eine Zeitlang neben ihm her, aber er tatso, als bemerke er nicht, dass sie ihn beobachtete. Plötzlich fragtesie ihn: „Wie heißt du denn?“ „Das geht dich doch überhaupt nichtsan“, antwortete er etwas bissig. „Aber es interessiert mich, du siehstmeinem älteren Bruder sehr ähnlich.“ Darauf wurde er noch grö-ber: „Spinnst du? Was soll denn das heißen?“ „Wenn du mir deinenNamen nicht verrätst, will ich dir meinen sagen. Ich heiße IreneHartwig.“ Wolfgang blickte überrascht zu ihr auf. „Das ist nichtwahr!“ „Aber natürlich ist das wahr. Ich bin die Tochter von Ri-chard Hartwig, und deine Reaktion lässt mich vermuten, dass du derSohn von Ernst Hartwig, dem jüngeren Bruder meines Vaters, bist.“Wolfgang war völlig sprachlos, er verstand die Welt nicht mehr. Sei-ne Eltern hatten ihm nie erzählt, dass sein Vater einen Bruder hat,der noch dazu ganz in der Nähe wohnt. Wieso eigentlich? Was stecktedahinter? Erst langsam fand er seine Sprache wieder und brachtestotternd hervor: „Du hast Recht, ich bin der Wolfgang, Ernst Hart-wigs Sohn. Aber ich wusste überhaupt nicht, dass mein Vater einenBruder hat. Ich verstehe das alles nicht, du musst es mir erklären.“„Lass uns für heute Schluss machen mit dem Stoppeln. Wir setzenuns am Rande des Dorfs auf eine Bank, und ich werde dir alleserzählen“, schlug Irene vor. „Wahrscheinlich haben dir deine Elternsehr vieles verschwiegen. Du weißt vielleicht gar nicht, dass deine

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Mutter die zweite Frau deines Vaters ist“, begann sie später. Wolf-gang schaute sie schockiert an und bestätigte das mit einem Kopf-nicken. „Aber lass uns von vorn beginnen. Lange vor dem erstenWeltkrieg war dein Vater zum Militärdienst in Fulda. Dort hat erseine erste Frau Hilde kennengelernt. Nach der Militärzeit habensie in Breitenhain geheiratet und auch da eine Wohnung bezogen.Dein Vater war vor der Hochzeit zum katholischen Glauben überge-treten. Zu Beginn des ersten Weltkriegs wurde er eingezogen undkam wieder nach Fulda in die Garnison. Dort hat er dann Alma,deine Mutter, kennengelernt. Er hat ihr wohl die Ehe versprochen,obwohl er schon verheiratet war. Das Problem war sicher, dasskatholische Ehen damals nicht geschieden werden konnten. So hatdann seine Mutter, unsere Großmutter Pauline, entweder eine Er-klärung abgegeben, ihr Sohn Ernst sei ledig oder irgendeine Beschei-nigung besorgt, aus der das hervorging. Dadurch konnte dein VaterErnst deine Mutter Alma in Fulda heiraten. Wahrscheinlich war manbei solchen Kriegstrauungen mit den Unterlagen auch nicht so ge-nau. Als Hilde das erfahren hat, räumte sie hier einfach das Feldund kehrte nach Fulda zurück. Ihre Ehe mit deinem Vater ist bisheute nicht geschieden. Das alles hat mir meine Mutter erzählt. Siehatte noch bis vor wenigen Monaten brieflichen Kontakt mit Hilde.Nach dem Krieg sind deine Eltern nach Meuselwitz gezogen. DeineMutter hatte überhaupt nichts von der ersten Ehe deines Vatersgewusst. Jahre später hat es in der Familie Streit gegeben, und je-mand hat deine Mutter über die unglückselige Situation aufgeklärt.Das hat ihr einen schweren Schock versetzt. Sie soll wochenlangnicht ansprechbar gewesen sein und war in eineArt religiösen Wahnverfallen. Erst ganz allmählich soll sich ihr Zustand gebessert ha-ben. Jedenfalls haben deine Eltern danach jeden Kontakt zu allenMitgliedern der Familie deines Vaters abgebrochen.“ „Und deswe-gen haben sie mir immer erzählt, die Großeltern seien tot und sonstgebe es keine Verwandten meines Vaters“, bemerkte Wolfgang, dervöllig fassungslos Irenes Erzählung aufgenommen hatte. „Wenig-stens deine Großmutter hättest du noch sehen können. Sie ist 1940achtundachtzigjährig hier in Breitenhain gestorben. Und dein Vaterhat drei Brüder, die mit ihren Familien hier und in der Umgebung

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leben“, ergänzte Irene. Diese schier unglaubliche Geschichte hatteWolfgang völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sein Vater waralso bis heute eigentlich mit zwei Frauen verheiratet.

Als er nach Hause kam, bemerkte seine Mutter sofort, dass mitihm etwas nicht stimmte und fragte ihn: „Wolfgang, was ist los mitdir?“ „Es ist alles in Ordnung, es gibt nichts Besonderes. Ich war nurheute beim Kartoffelstoppeln nicht sehr erfolgreich“, log er. Erst alser einige Tage später mit seinemVater allein war, sprach er ihn auf dieGeschichte an. „Warum habt ihr mich Zeit meines Lebens belogen?Ich habe erfahren, dass du drei Brüder hast, dass meine Großmutterbis vor fünf Jahren noch in Breitenhain gelebt hat und dass du eigent-lich mit zwei Frauen verheiratet bist. Es hat gar keinen Zweck zuleugnen, meine Cousine, die Tochter deines Bruders Richard, hat miralles erzählt.“ Ernst Hartwigs Gesicht wurde kreidebleich. Er begannetwas zu stammeln, doch dann riss er sich zusammen und sagte: „Esist wirklich alles wahr. Ich wollte es dir erzählen, wenn du noch etwasälter bist. Es tut mir leid, dass du es jetzt von jemandem anderen er-fahren hast. Bitte, erwähne deiner Mutter gegenüber nichts davon.Sie hat damals schwer darunter gelitten und war eine Zeitlang psy-chisch am Ende. Ich weiß, dass ich ihr unsagbar weh getan habe undbereue das auch sehr. Aber ich habe keine andere Möglichkeit gese-hen. Erspare ihr jetzt neues Leid und schweige darüber. Ich bitte dich.“„Ich verachte dich dafür, dass du dein Leben und auch mein Lebenauf Lüge und Betrug aufgebaut hast. Du hast mich bitter enttäuscht,ich kann dir das nicht verzeihen“, entgegnete Wolfgang in scharfemTon und zog sich auf sein Zimmer zurück.

Diese Lebenslüge seines Vaters beschäftigte Wolfgang wochen-lang immer wieder. Da brachte ihm wenigstens der Alltag, so trauriger auch war, etwas Ablenkung. Neben seinen Hamsterfahrten ging ernoch mehrmals in der Woche zum Steineklopfen zu den Trümmer-bergen am Rittergut und an der Oberschule. Das war eine mühevolleArbeit. Aus Brocken von Mauerresten wurden mit einem Spitzham-mer einzelne ganze Ziegelsteine losgeklopft. Dann musste der festge-backene Mörtel von ihnen noch so weit entfernt werden, dass sie

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wieder als Baumaterial verwendet werden konnten. So leisteten dieSchüler einen wichtigen Beitrag beim Wiederaufbau ihrer Schule.

Am 1. Oktober 1945 begann für die Meuselwitzer Schüler nachmehr als siebenmonatiger Pause der Schulunterricht wieder. Da vonden drei Schulen am Ort nur noch die Knabenschule intakt war,mussten die Schülerinnen und Schüler der beiden Grundschulen undder Oberschule in diesem Gebäude betreut werden. Deshalb fandfür die einzelnen Klassen anfangs der Unterricht nur an zwei, späteran drei Halbtagen in der Woche – vormittags oder nachmittags –statt. In der Regel sah das so aus, dass die Aufgaben des vorherge-henden Unterrichtsages besprochen wurden und danach neue – denUmständen entsprechend umfangreiche – Hausaufgaben gestelltwurden. Außerdem führte die Entlassung der meisten Lehrer, dieder NSDAP angehört hatten, zu einem eklatanten Lehrkräftemangel.

Zu den vielen Alltagsproblemen der Menschen kam noch einweiteres, als der Winter einbrach. Obwohl Meuselwitz direkt im Koh-legebiet lag, bekam die Bevölkerung nur völlig unzureichende Men-gen an Braunkohlenbriketts zu Heizzwecken zugeteilt.Auf den Ran-giergleisen des Güterbahnhofs standen aber tagtäglich lange Züge,deren Waggons mit Briketts beladen waren. Wer nicht total kaltsitzen wollte, konnte dieser Versuchung nicht widerstehen. So gingWolfgang wie viele andere Meuselwitzer mehrmals in der Wocheauf Kohlenklau. Hinter der Unterführung der Bahnstrecke nach Zeitzam Penkwitzer Weg konnte man nach Ersteigen eines Bahndammsdurch ein Loch im Zaun relativ leicht an die abgestellten Züge her-ankommen. Wolfgang kletterte dann auf einen der Güterwaggons,packte 20 bis 25 Briketts in eine riesige Tasche aus festem Stoff, dieer über die Schulter hängte. Mit der schweren Last stieg er vomWaggon herab und trat den Heimweg an. Dabei musste er natürlichvor der Polizei auf der Hut sein, die häufig am Penkwitzer Wegauftauchte, um die Kohlendiebe zu fassen.

So war das Leben der Menschen in Deutschland nach Kriegsen-de von Hunger, Kälte, Hoffnungslosigkeit undAngst vor der Zukunft

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geprägt. Aber noch mehr als die materielle Notlage bedrückte esWolfgang, dass die Pfeiler eingestürzt waren, auf denen sein Lebenbisher geruht hatte. Zu seinem Vater hatte er das Vertrauen verloren,seit er von dessen charakterlosem Verhalten erfahren hatte. Die aufdie militärische Niederlage Deutschlands folgenden Enthüllungen überdie grausamen Verbrechen, die im Namen Deutschlands begangenworden waren, hatten ihn zutiefst getroffen. Er hatte zwar gewusst,dass Konzentrationslager existierten, aber was in ihnen geschah, hat-te er doch nicht ahnen können. Gegen Ende des Kriegs war er ausseiner relativ heilen Welt, der Unbekümmertheit der Kindheit, heraus-gerissen worden und hatte Tod und schweres Leid aus nächster Nähekennengelernt. Das hatte ihn reifen lassen. Jetzt erst konnte er wirk-lich fühlen und begreifen, welch furchtbares Verbrechen es war, wehr-lose, unschuldige Menschen, Männer und Frauen, Kinder und Greiseumzubringen, in Gaskammern zu schicken. Nun erkannte er auch diePrimitivität und Hinterlist der Argumentation der Nazis: Ein Jude er-schießt einen Deutschen, also sind die Juden Feinde der Deutschen.Dieser Krieg hatte furchtbares Leid über die Völker der Welt ge-bracht, und es hatte meist Unschuldige getroffen. Das wurde auchwieder an den Opfern der Atombombenabwürfe auf Hiroshima undNagasaki im August 1945 deutlich. Beinahe alles, woran er bishergeglaubt hatte, war falsch und unwahr gewesen. Er fühlte sich ver-führt und betrogen. Dieses innere Eingeständnis hatte ihn in eine tiefeKrise gestürzt. Aus dem einst so aktiven, tatendurstigen Knaben warein häufig missmutiger, mit sich selbst und der Welt unzufriedenerJunge geworden, der sich ziellos und orientierungslos in den Bahneneines tristen Alltags bewegte.

Erst als der neue Schulleiter, sein Deutsch- und Lateinlehrer Dr.Bauer, mit den Schülern im Frühjahr 1946 den Plan für eineAuffüh-rung des „Sommernachtstraums“ besprach und ihn, Wolfgang Hart-wig, für die Rolle des Klaus Zettel auswählte, änderte sich das bei-nahe schlagartig. Jetzt hatte er eine Aufgabe, auf die er sich kon-zentrieren konnte. Er hatte ein Ziel vor sich. Er wollte sich und denanderen beweisen, was in ihm steckte, und so ging er von Anfang anmit Begeisterung an diese Aufgabe heran.

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Zweiter Teil

1. Kapitel

Im Sommer 1990, dem ersten Jahr nach der Wende, fand imMeuselwitzer Schlosspark am selben Ort wie vor 44 Jahren wiedereine Schüleraufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“statt. Der Schauplatz hatte sich selbst nach dieser langen Zeit nichtgrundlegend verändert. Nur der Zaun hinter dem Schlossteich, derfrüher den Zugang zum Schlosspark versperrt hatte, existierte nichtmehr. An einem warmen, freundlichen Sommerabend Anfang Juligelang es den Akteuren – Schülern der Oberschule Meuselwitz –auch diesmal, dem Publikum in einer märchenhaften Atmosphäreden Zauber des „Sommernachtstraums“ zu vermitteln. Die Wahldes Stücks und des Ortes war aber kein Zufall. Christa Fritzsche,eine der Lehrerinnen der Oberschule für die Fächer Deutsch undEnglisch, hatte diese Aufführung initiiert und dann auch inszeniert.Die zweiunddreißigjährige, attraktive Frau war die Nichte von RolfKöhler, der 1946 den Peter Squenz gespielt hatte. Von ihm hatte siesehr viel über die damalige Aufführung und auch über das Schicksalder anderen Rüpel, insbesondere des Klaus Zettel, alias WolfgangHartwig, erfahren. Bei ihrer Vorliebe für Shakespeare war es nurein kleiner Schritt zu dem Entschluss jetzt, 44 Jahre später, den Ver-such einer erneutenAufführung des Stücks mit Schülern ihrer Schulezu wagen. Gespannt verfolgte sie den Ablauf des Geschehens aufder Naturbühne und wurde mit jeder Szene entspannter und zufrie-dener. Neben ihr saß Wolfgang Naumann, ein siebenund-dreißigjähriger Kollege, der erst seit dem Frühjahr an dieser Schuledie Fächer Biologie und Chemie unterrichtete. Er war ein sportli-cher Typ, dunkelblond mit traurigen braunen Augen. Sie fand ihnsehr sympathisch und meinte zu fühlen, dass auch er ähnliche Emp-findungen für sie hatte, obwohl er ihr bisher eher scheu und zurück-haltend begegnet war. Wolfgang Naumann beobachtete den Gangder Dinge auf der Bühne mit großem Interesse. Die Aufführung

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bereitete ihmsichtlich Vergnügen. Besonders lustig fand er denAuftrittdes verwandelten Klaus Zettel mit der Eselskopf-Maske. Als dannjedoch die erwachende Titania mit den Worten „Weckt mich vonmeinem Blumenbett ein Engel“, diesen Esel ansah und sich in ihnverliebte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck sehr schnell. Einenkurzen Moment erschien er sehr nachdenklich und überrascht, ja,beinahe erschrocken. Dann plötzlich verriet ein leichtes Zucken derGesichtsmuskeln eine starke innere Anspannung, die in eine nervö-se Unruhe überging. Die folgenden Szenen mit den Turbulenzen umdie beiden Liebespaare ließ er teilnahmslos an sich vorbeiziehen.Seine Gedanken schienen weit weg vom Geschehen auf der Bühnezu sein. Erst der nächste Auftritt der Elfenkönigin mit der Schar derElfen und dem zum Esel verwandelten Zettel fesselte wieder seineAufmerksamkeit.Als dann Titania mit den Worten: „Schlaf du! Dichsoll indes meinArm umwinden“ ihrenArm um die Schulter des Eselslegte, huschte für Bruchteile einer Sekunde ein zufriedenes Lächelnüber sein Gesicht. Die Änderung seiner Körperhaltung verriet, dassplötzlich eine ungeheure Spannung von ihm gewichen war. Völliggelöst verfolgte er nun den Rest der Komödie. Danach gratulierteer seiner Kollegin:„Das war eine zauberhafteAufführung, dazu kannman Sie nur beglückwünschen!“ „Danke, aber gratulieren Sie denSchülerinnen und Schülern, mein Anteil an dem Erfolg ist wirklichnicht groß. Aber ich hatte den Eindruck, dass einige Szenen desStücks Sie besonders bewegt haben“, fügte sie indirekt fragend hin-zu. Daraufhin zog er eine Fotografie aus seiner Brieftasche, auf derein ganz in Weiß gekleidetes junges Mädchen zusammen mit einemunter der Maske eines Esels verborgenen Burschen abgebildet war,und erklärte ihr mit einer gewissen Befriedigung: „Der heutigeAbendhat mir die Aufklärung eines für mich sehr wichtigen Rätsels ge-bracht. Ich kannte den ,Sommernachtstraum‘ nicht, und deshalb warmir der Hintergrund dieses Bildes unklar. Ich habe die Fotografieerst vor wenigen Tagen bekommen.“ Zu seinem Erstaunen entgeg-nete sie: „Ich besitze das gleiche Foto. Es stammt von einer gemein-samen Aufführung von Schülern und Schülerinnen der Altenburgerund Meuselwitzer Oberschulen im Jahr 1946, die an der gleichenStelle stattfand. Mein Onkel spielte damals den Peter Squenz, und

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Klaus Zettel, der Esel, war sein Freund. Die Erzählungen meinesOnkels haben mich dazu angeregt, das Stück nach 44 Jahren nocheinmal an derselben Stelle aufzuführen. Übrigens habe ich nochandereAufnahmen von der damaligenAufführung.“ „Die würde ichauch gern einmal sehen.“ „Dann kommen Sie morgen Nachmittagzu einer Tasse Tee bei mir vorbei“, nutzte sie die Gelegenheit zueiner Einladung. „Ich werde sehr gern kommen und Ihnen dann aucherzählen, auf welch merkwürdige Art und Weise ich das Foto erhal-ten habe. Es ist eine sehr lange Geschichte.“

Der im Dezember 1952 geborene Wolfgang Naumann war inPotsdam aufgewachsen. Sein Vater, ein höherer SED-Funktionär,hatte ihn streng kommunistisch erzogen. Nach dem bitteren Endedes Prager Frühlings (8) und den negativen Auswirkungen auf dasgesamte kommunistische Lager kam es Ende 1968 zu einem ern-sten Zerwürfnis zwischen dem knapp Sechzehnjährigen und seinemVater, einem strikten Verfechter der orthodoxen kommunistischenIdeologie. Bis zum Tode seines Vaters im Jahr 1987 hatte sich Wolf-gang nie wieder richtig mit ihm ausgesöhnt. Um einem politischenEngagement aus dem Weg zu gehen, so weit es unter den damali-gen Zuständen möglich war, wandte er sich den Naturwissenschaf-ten zu. Nach dem Studium war er als Lehrer für Biologie und Che-mie an einer Oberschule in Schwerin tätig. Seine Ehe mit einer Kol-legin hatte nur zehn Jahre Bestand, 1987 kam es in beiderseitigemEinverständnis zur Scheidung. Seitdem war der Kontakt zu seinerMutter in Potsdam wieder etwas enger geworden.

Am späten Nachmittag des 9. November 1989 erhielt WolfgangNaumann ein Telegramm, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass seineMuttermit einer lebensgefährlichen Erkrankung in ein Potsdamer Kran-kenhaus eingeliefert worden sei. Er fuhr sofort nach Potsdam undfand seine Mutter am Morgen des 10. November in einem sehr kriti-schen Zustand vor. Sie war zeitweise nicht bei Bewusstsein und er-kannte ihn erst nach einiger Zeit. Die Ärzte hatten ihn darauf vorbe-reitet, dass mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. So saß er stunden-lang an ihrem Bett und bangte um ihr Leben. Am Nachmittag be-

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merkte er plötzlich ein seltsames Leuchten in ihren hellblauenAugen.Mit großer Kraftanstrengung brachte sie – öfter größere Pausen ein-legend – immer nur ein paar Worte hervor. „Mein Wolfgang – ichverlasse dich jetzt – für immer.“ Er streichelte ihr die Wangen undnahm ihre Hände in die seinen. Tränen standen ihm in den Augen.„Du bist nicht“ – ungeduldig wartete er auf ihre nächsten Worte –„wirklich unser Sohn.“ Ihm drohte das Blut in denAdern zu erstarren.„Wir haben dich – im Alter von zwei Jahren adoptiert.“ „Wer sindmeine leiblichen Eltern?“, stieß er hastig hervor und bereute sofort, indiesem Moment eine solche Frage zu stellen. „Vater unbekannt“, ihreStimme wurde immer leiser, „Mutter aus Altenburg.“ Dann hauchtesie noch ganz leise: „Sonja.“ Er glaubte jedenfalls diesen Namen ver-standen zu haben. „Sob“ und sie setzte erneut an. Ihre Augen schie-nen stärker hervorzutreten, die Pupillen weiteten sich. „Sob“, aber dasWort erstarb ihr auf den Lippen, und dann fiel ihr Körper in sich zu-sammen. Er begriff, dass sie nun für immer von ihm gegangen warund weinte bitterlich. Er hatte diese Frau sehr geliebt, und die Tatsa-che, dass sie nicht seine leibliche Mutter war, änderte nichts an seinenGefühlen für sie. Mit ihrem letzten Atemzug hatte sie ihm doch nochdie Wahrheit anvertraut. Und er war sich sicher, dass sie ihn wie ihreigenes Kind geliebt hatte. Aus Furcht, ihr inniges Verhältnis könnedarunter leiden, hatte sie wohl nie zuvor mit ihm darüber gesprochenund das Geheimnis erst auf dem Sterbebett preisgegeben. In allerStille beerdigte er die Frau, die ihm eine liebevolle, gute Mutter gewe-sen war. Zu einem Zeitpunkt, da die Menschen um ihn herum freudigund ausgelassen den Fall der Mauer feierten, war er mit seiner Trauerallein geblieben.

Von jetzt an ließ ihn die Frage nach seiner Herkunft nicht mehrlos. „Warum hat meine leibliche Mutter mich weggegeben? In wel-chen Verhältnissen hat sie gelebt? Ist sie noch am Leben? Oder gibtes vielleicht Verwandte, die Auskunft auf meine Fragen geben kön-nen? Hat man wirklich nicht gewusst, wer mein Vater ist?“ Noch inder Vorweihnachtszeit fasste Wolfgang Naumann den Entschluss,die Suche nach Spuren seiner leiblichen Mutter aufzunehmen. Esgelang ihm, im Frühjahr 1990 seine Versetzung an die Oberschule

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Meuselwitz im Kreis Altenburg zu erreichen. Bei seinen Recher-chen musste er allerdings feststellen, dass weder in Altenburg nochin einem anderen Ort in der Umgebung Unterlagen über eine Adop-tion durch die Naumanns existierten. Er fragte sich, ob es vielleichtirgendwelche politischen Gründe dafür gab. Da er annahm, dassneben seinem Geburtsdatum auch der Vorname bei der Adoptionunverändert geblieben war, schaute er in Altenburg im Geburtenre-gister unter dem Datum des 6. Dezember 1952 nach. Unter diesemDatum fand er tatsächlich einen Eintrag über die Geburt eines Wolf-gang Swoboda. Als leibliche Mutter war Sonja Swoboda, geborenam 9. Oktober 1929 in Rositz, KreisAltenburg, angegeben. Ein Ein-trag über den Vater fehlte. Das alles stimmte mit den Angaben sei-ner Adoptivmutter überein, und so konnte er davon ausgehen, dasser wirklich als Wolfgang Swoboda in Altenburg das Licht der Welterblickt hatte. Das russische Wort „Swoboda“ bedeutet Freiheit. Soweit reichten seine rudimentären Russischkenntnisse gerade noch.Es musste also ein slawischer Name sein. Diese besondere Bedeu-tung des Wortes machte die Spurensuche nach seinen Wurzeln fürihn noch interessanter.

Im Einwohnerverzeichnis von Altenburg war nur eine Persondieses Namens aufgeführt, eine Renate Swoboda. Sie suchte er alsoauf und bat um ein kurzes Gespräch. „ Mein Name ist WolfgangNaumann, ich bin 1954 oder 1955 von Herrn und Frau Naumannadoptiert worden, habe aber Grund zu der Annahme, dass ich imDezember 1952 hier in Altenburg als Sohn einer Sonja Swobodageboren worden bin. Kennen Sie diese Sonja Swoboda? Wenn ja,was können Sie mir über diese erzählen?“ Renate Swoboda, einevollschlanke Endsechzigerin mit lebhaften dunklenAugen, war über-rascht und reagierte zunächst etwas zurückhaltend auf seine Frage.Dann bat sie ihn doch einzutreten und erzählte ihm, dass SonjaSwoboda ihre Schwägerin gewesen sei. Sie selbst sei aber schon1948 von Sonjas älterem Bruder Peter geschieden worden und habeseitdem keinen Kontakt mehr mit der Familie gehabt. „Ich habe al-lerdings gehört, dass Sonja einige Jahre später in anderen Umstän-den war und ihr Elternhaus verlassen hatte. Noch später erfuhr ich

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dann mehr zufällig von ihrem Tod. Auch Sonjas Eltern sind in derZwischenzeit wahrscheinlich verstorben.“ Wolfgang, erfreut darüber,vielleicht doch einen wichtigenAnhaltspunkt gefunden zu haben, batRenate: „MeineAdoptivmutter hat mir erst kürzlich, unmittelbar vorihremTod offenbart, dass ich nicht ihr leiblicher Sohn bin. Jetzt möchteich natürlich Näheres über meine eigentlichen Wurzeln erfahren.Können Sie mir denn einiges über Sonja und ihre Familie erzählen?“„Es tut mir leid, ich besitze nicht einmal eine Fotografie von Sonja.Die Umstände meiner Scheidung waren so unschön, dass ich da-mals sofort Rositz, den Wohnort der Familie, verlassen und allesvernichtet habe, was mich an diese Familie erinnert hat. Aber Sonjawar ein ganz lieber Mensch. Ich habe sie sehr gemocht. Sie war inihrem Charakter ihrer Mutter ähnlich. Das war auch eine liebe Frau,gutmütig und sehr verträglich. Aber sie war ihrem Manne absoluthörig. Sonjas Vater, Karl Swoboda, tyrannisierte die ganze Familie.Für ihn stand die kommunistische Partei und später die SED an al-lererster Stelle. Er war schon in den zwanziger Jahren Mitglied derkommunistischen Partei geworden. Seine tschechischen Vorfahrenwaren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Böhmen kommend nach Mit-teldeutschland eingewandert. Wie er immer betonte, verpflichteteihn sein Name, für die Freiheit der Massen, der arbeitenden Klasse,einzutreten. In seiner Borniertheit erkannte er nicht, dass er sich inWirklichkeit zumWerkzeug einer unmenschlichen Unterdrückungs-maschinerie gemacht hatte.“ Hass und Verachtung für diesen Mannspiegelten sich in den Augen von Renate Swoboda wider.

Karl Swoboda war 1933 zusammen mit seiner Frau, demdreizehnjährigen Sohn und der knapp vierjährigen Tochter in die So-wjetunion übergesiedelt. Die Familie verbrachte dort die meiste Zeitin Sibirien in einem Lager, einer Art Ghetto, in dem deutsche Emi-granten angesiedelt worden waren. Peter und später auch Sonjagingen dort zur Schule und lernten dabei natürlich auch Russisch.Der Vater war manchmal wochenlang fern von der Familie mitAuf-trägen für die Partei unterwegs. 1938 kehrte Karl Swoboda mit derFamilie aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück. Als Grundfür seine Rückkehr gab er an, er sei vor die Alternative gestellt wor-

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den, entweder die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen undgleichzeitig die deutsche aufzugeben oder nach Deutschland zurück-zukehren. Im Meuselwitzer „Schnauderboten“ wurde ein Berichtvon ihm veröffentlicht, in dem er sich sehr kritisch über das Leben inder Sowjetunion geäußert hatte. Ähnlich kritische Äußerungen hat-te er auch in einer öffentlichen Versammlung gemacht. Karl Swobodabegann wieder, in seinem Beruf als Ingenieur im Raffineriewerk derDEA bei Rositz zu arbeiten. Die Familie lebte in sehr bescheidenenVerhältnissen und wohnte in einem kleinen, unauffälligen Einfamili-enhaus in Rositz zur Miete. Der Sohn Peter hatte noch zu Beginn desKrieges Renate geheiratet. Bald danach wurde er zum Militär einge-zogen und war dann während des Russlandfeldzugs im Stab der Hee-resgruppe Nord in Südfinnland als Dolmetscher tätig. Gegen Kriegs-ende geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Die Tochter Sonja be-suchte von 1940 an das Mädchengymnasium in Altenburg, das nachdem Krieg mit der Jungen-Oberschule und dem humanistischen Gym-nasium zur Karl-Marx-Oberschule zusammengelegt wurde.

Als imApril 1945 dieAmerikaner Thüringen eroberten, setzten sieumgehend Karl Swoboda als Polizeikommandanten im benachbartenMeuselwitz ein. Dadurch entstand wohl auch das Gerücht, er seiwährend des Krieges im Untergrund tätig gewesen und habe alsAgentder Sowjets eine wichtige Rolle gespielt. Karl Swoboda war es auch,der im Juli 1945 im gesamten Kreisgebiet dafür sorgte, dass zur Be-grüßung der einrückenden sowjetischen Truppen über den Durch-gangsstraßen rote Spruchbänder mit Dankessprüchen an die ruhm-reiche Rote Armee und den weisen Führer der Sowjetunion,Generalissimus Josef Stalin, aufgehängt wurden. Seine sowjetischenFreunde ernannten ihn zum Kommandanten der Polizei im gesamtenKreis Altenburg. Er durfte trotz allgemeiner Wohnungsnot aus demsehr bescheidenen Häuschen in eine geräumige Villa in Rositz umzie-hen. Dort fanden fortan große Trinkgelage mit Offizieren der sowje-tischen KommandanturAltenburg statt. Karl Swoboda wurde zur rech-ten Hand der Russen, wie die Bevölkerung die Sowjets vereinfachendbezeichnete. Er verfolgte Faschisten und Kapitalisten, sowie Men-schen, die er dafür hielt, mit harter Hand. Seine Lieblingssprüche „Wer

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nicht für uns ist, ist gegen uns“ und „Wer nicht arbeitet, soll auch nichtessen“, waren charakteristisch für seine Einstellung, für die Rigorosi-tät, mit der er bei der Durchsetzung von Zielen der sowjetischenBesatzungsmacht und der kommunistischen Partei oder später derSED vorging. Wegen seines sonderbaren Ganges wurde der überallgefürchtete, krummbeinige Mann mit dem fast quadratischen Gesichtwenig liebevoll der „Dackel“ genannt.

Für Renate Swoboda war es schicksalhaft, dass laufend sowje-tische Offiziere bei ihren Schwiegereltern verkehrten. Dadurch lerntesie den Oberleutnant Grigori Pawlowitsch Schtschebatow kennenund verliebte sich in ihn. Ihre Schwiegereltern bemerkten sehr bald,dass Renate anscheinend ein Verhältnis mit Grigori hatte und über-raschten die beiden eines Tages in Renates Wohnung. In Abwesen-heit des Ehemanns Peter, der sich noch in sowjetischer Gefangen-schaft befand, wurde Renates Ehe auf Betreiben ihres Schwieger-vaters sofort geschieden. Grigori Pawlowitsch verschwand unmit-telbar nach dem Vorfall.

Nachdem Wolfgang Naumann so viel Negatives über seinen ver-meintlichen Großvater erfahren hatte, bereute er es jetzt fast, RenateSwoboda aufgesucht zu haben. Als sie ihre Schilderung beendet hat-te, starrte sie plötzlich sehr nachdenklich vor sich hin. Dann sprang sieauf und lief ins Nachbarzimmer. Nach kurzer Zeit kam sie zurück undüberreichte Wolfgang das Foto der Elfenkönigin mit dem Esel. „Mirist glücklicherweise noch rechtzeitig eingefallen, dass ich vor Jahrennoch ein Bild von Sonja irgendwo beim Aufräumen gefunden habe.Da hatte ich schon so viel Abstand zu den damaligen Ereignissen,dass ich mich entschloss, die Fotografie zu behalten. Ich weiß aller-dings nicht, wie und unter welchen Umständen sie entstanden ist. Ichschenke Ihnen das Bild. So haben Sie wenigstens ein ganz kleinesAndenken an Ihre Mutter.“ Wolfgang verließ Renates Wohnung sehrglücklich. Wenn ihm die Aufnahme auch sehr merkwürdig erschien,so wusste er jetzt wenigstens, wie seine Mutter als junges Mädchen,einige Jahre vor seiner Geburt, ausgesehen hatte. Vielleicht würde esihm doch gelingen, noch mehr über sie zu erfahren.

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Bei seinem Besuch am Tage nach der Aufführung des „Som-mernachtstraums“ hatte Wolfgang Naumann seiner Kollegin Chris-ta Fritzsche zunächst seine ungewöhnliche Geschichte erzählt. Siezeigte ihm danach mehrere Fotos von der früheren Aufführung. Ammeisten interessierte ihn natürlich ein Foto der Elfenkönigin Titania,umgeben von ihren acht Elfen.Auf diesem Bild konnte er sie in ihrervollen Größe sehen. Einerseits war er stolz darauf, welch schöneMutter er doch gehabt hatte, andererseits sehr traurig darüber, dasser sie so früh verloren hatte und sich daher überhaupt nicht an sieerinnern konnte.Auf einem anderen Foto war der Elfenkönig Oberonabgebildet zusammen mit seinem dienstbaren Geist, dem allgegen-wärtigen und ständig Unruhe stiftenden Droll, in dieserAufführungvon einem jungen Mädchen verkörpert. Und dann gab es noch Fo-tos der sechs Rüpel, wie sie ungelenk daherkamen und wie sie inentsprechender Verkleidung die traurige Komödie von Pyramus undThisbe darboten. Christa Fritzsche erzählte ihm von den Rüpeln:von ihrem Onkel Rolf Köhler als resoluten Anführer Peter Squenzund von seinem Freund Wolfgang Hartwig, dem Star der Truppe,der als Klaus Zettel und Pyramus glänzte. Wolfgang Naumann wun-derte sich darüber, wie genau seine Kollegin über die 44 Jahre zu-rückliegende Aufführung und die einzelnen Darsteller Bescheidwusste, mit wieviel Temperament sie ihm alles schilderte.Aber Chri-sta Fritzsche erklärte ihm, dass ihre Mutter und später auch ihr inWestdeutschland lebender Onkel Rolf ihr sehr viel über die Schul-zeit der Rüpeldarsteller und die folgenden Jahre erzählt haben unddass sie sogar Aufzeichnungen von Wolfgang Hartwig besitze. Dasalles habe sie ja auch bewogen, unter den jetzt total verändertenBedingungen noch einmal den „Sommernachtstraum“ zu inszenie-ren. „Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie von den Personen derdamaligen Aufführung wissen“, bat Wolfgang Naumann seine Kol-legin. Ihn interessierte es, wie die Schüler in dieser Zeit so kurz nachKriegsende gelebt hatten. Vielleicht würde ja auch das nur sehr ver-schwommene Bild, das er jetzt von seiner Mutter hatte, dadurch einkleines bisschen deutlicher werden. Schließlich hatte er auf dieseWeise einen Grund, länger bei der ihm sehr sympathischen, jungenFrau zu bleiben. Für Christa Fritzsche war es geradezu ein Bedürf-

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nis, ihrem Kollegen alles, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte, sogenau wie möglich zu schildern. So entwickelte sich ein langes Ge-spräch, bei demWolfgang Naumann seine Kollegin nur hin und wie-der mit einer Frage unterbrach.

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2. Kapitel

Nach der Aufführung des „Sommernachtstraums“ im erstenNachkriegsjahr 1946 hatten sich die äußeren Lebensumstände fürWolfgang Hartwig und die anderen Rüpel zunächst kaum geändert.Der Hunger beherrschte noch immer den Alltag.

Die Schulsituation hatte sich im Laufe des Jahres 1946 normali-siert. Es fand wieder täglich Unterricht statt. Ende 1946 wurde inder sowjetischen Besatzungszone eine Schulreform durchgeführt.Für alle Schülerinnen und Schüler wurde die achtjährige Grundschuleeingeführt. Nach dem Grundschulabschluss sollte dann entwederder Eintritt ins Berufsleben oder der Übergang zur vierjährigen, mitdem Abitur abschließenden Oberschule erfolgen. Gymnasien undOberschulen wurden zu Einheitsoberschulen mit einem sprachlichenund einem naturwissenschaftlichen Zweig und einemAufbauzweigzusammengefasst. Wolfgang und seine Kameraden wurden direktin die Klassen 9a und 9b der Oberschule neuen Typs überführt. Erhatte sich für die stärker naturwissenschaftlich orientierte Klasse9b entschieden.

In den Wirren der Nachkriegszeit gab es eine sehr große Fluk-tuation der Lehrkräfte an den Schulen. Die Hauptursache dafür warein häufiger Wohnortwechsel der neuen Lehrkräfte im Gefolge vonFlucht und Vertreibung oder Familienzusammenführung. So war ei-nes Tages für Wolfgangs Klasse eine neue Lehrerin für die FächerDeutsch und Englisch angekündigt worden. Die Klasse war zu die-sem Zeitpunkt in einem ziemlich düsteren Raum im Keller der Kna-benschule untergebracht. Kurz nachdem das Klingelzeichen das Endeder Pause angekündigt hatte, wurde die Tür geöffnet und energischenSchrittes trat eine große, hagere Person um die vierzig in einemärmlichen, grünen Kostüm aus einfachem Stoff ein. Das Raunen,das durch die Klasse ging, unterbrach sie sofort mit einer schrillenZurechtweisung: „Da gibt es kein A und kein O, mein Name istFoerster mit OE.“ Die flinken Augen in dem schmalen, kantigen

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Gesicht schienen in Sekundenschnelle jede Schülerin und jeden Schü-ler zu erfassen. Ihr kurzes, unordentlich frisiertes Haar und die fahleGesichtsfarbe erweckten den Eindruck, sie sei auf direktem Wegevon der Flucht in das Klassenzimmer gekommen. Mit ihrer kräfti-gen Stimme und der forschen Art verschaffte sie sich sofort Re-spekt auch in dieser Klasse, die einigen ihrer Kollegen das Lebenziemlich schwer machte. Ihre äußere, nicht gerade attraktive Er-scheinung störte Wolfgang weniger, sie passte eigentlich gut in diedamalige Zeit. Nach wenigen Wochen löste dieAnna – wie die Schü-ler ihre Lehrerin nur noch nannten, wenn sie von ihr sprachen – Dr.Bauer als Direktor der Schule ab. Und sie war für die Schule einabsoluter Glücksfall. Mit ihrer energischen Art erreichte sie beimKreisschulrat und im Kultusministerium in Weimar sehr viel, wassowohl die Ausstattung mit Lehrkräften, als auch den Aufbau deszerstörten Schulgebäudes in der Rathausstraße betraf.

Ein herber Verlust für die Schule war das plötzliche Verschwin-den von Dr. Bauer. Niemand war über seinen Verbleib informiert,weder die Direktorin noch die Kollegen. So hielt sich hartnäckig dasGerücht, er sei von den Russen verhaftet und verschleppt worden,ohne dass es dafür eine Bestätigung gab. Der Lehrkörper bestanddann nur noch aus jüngeren Lehrkräften, die zum großen Teil infol-ge der Kriegsereignisse ihr Hochschulstudium nicht abgeschlossenhatten und in den Schuldienst gegangen waren. Zu ihnen kamenEnde 1947 noch zwei Oberschulhelfer, Konrad Funke für Lateinund Gegenwartskunde und Rolf Menge für Biologie. Die beiden warenunmittelbar nach ihrem Abitur in Kurzlehrgängen ausgebildet wor-den und waren nur wenige Jahre älter als die Schüler, die sie jetztunterrichteten. Zu diesem Zeitpunkt war auch das alte Schulgebäu-de in der Rathausstraße so weit wiederhergestellt, dass zunächstnur einige, wenige Monate später jedoch alle Klassen dort unter-richtet werden konnten. Es gab zwar so noch manche Mängel, überdie wurde damals aber leicht hinweggesehen.

Die Aufführung des „Sommernachtstraums“ hatte bei WolfgangHartwig das Interesse am Theater und an der Literatur geweckt.

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Wie eine im Verborgenen schlummernde Kraft urplötzlich durch einEreignis freigesetzt wird und sich dann wie eine Lawine verviel-facht, so schuf er sich auf diesem Gebiet neue Ziele. Das half ihmüber die Probleme und Sorgen des Alltags hinweg. Shakespearewar für ihn die Eingangspforte in diesen ihm bisher verschlossenenBereich des Lebens. In der Thaler‘schen Buchhandlung kaufte ersich nacheinander zum Preis von weniger als einer Reichsmark dieReclam-Ausgaben der Texte vieler Shakespeare‘scher Theaterstük-ke, angefangen von „Romeo und Julia“ bis hin zu den Königsdramen.Er las die Texte mit großem Einfühlungsvermögen, so als müsse erselbst eine Rolle in demjeweiligen Stück übernehmen. Dieser Prozessdes Hineinwachsens in die Literatur wurde durch den Schulunter-richt noch weiter gefördert. Neben Goethe und Schiller stand auchLessing an hervorragender Stelle im Lehrplan. Durch dessen Büh-nenstück „Nathan der Weise“ wurde Wolfgang an das Gedanken-gut von Aufklärung und Humanismus herangeführt. Jetzt erkannteer, dass die Freiheit des Individuums das erstrebenswerte Ziel fürjede Gesellschaftsordnung ist, so wie der Marquis Posa es von sei-nem König Philipp in Schillers „Don Carlos“ fordert: „Geben SieGedankenfreiheit !“ Im Zuge dieser Entwicklung fand Wolfgang auchin wachsendem Maße Zugang zu den Prosawerken. Ausgangspunktseines Interesses war die Klassik mit den „Leiden des jungen Wert-her“. Neben den Werken Fontanes befasste er sich besonders in-tensiv mit der Romanliteratur des 20. Jahrhunderts. Die unbarmher-zige Schilderung des Frontalltags im 1. Weltkrieg in Erich MariaRemarques „Im Westen nichts Neues“ beeindruckte ihn dabei ammeisten. Nachdem Wolfgang während des dritten Reichs so fest andie nationalsozialistische Idee geglaubt hatte, erschien es ihm nun,als sei er aus einem bösen Traum erwacht. Er hatte sich endgültigvon der nationalsozialistischen Ideenwelt gelöst und verstanden, dassauch die Ideale „Heimat“ und „Nation“ von den Nazis nur zur Ver-schleierung ihrer wirklichen Ziele benutzt worden waren. Das sollteihn in Zukunft gegen ähnliche Verführungen immun machen.

Im Herbst 1947 war Dieter Gerth neu in Wolfgangs Klasse ge-kommen. Er musste eine Ehrenrunde drehen. Der für sein Alter

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etwas kleine, schmächtige Junge mit der spitzen Zunge war nachder Flucht aus Pommern 1945 zusammen mit seiner Mutter nachMeuselwitz, der Heimat seines Vaters, übergesiedelt. Sein früh ver-storbener Vater war Arzt gewesen. Zwischen Dieter und Wolfgang,die sich zuvor kaum gekannt hatten, entwickelte sich sehr schnelleine feste Freundschaft. Auf Anregung von Dieter besuchten siegemeinsam Theateraufführungen in Altenburg. Nach der Auffüh-rung von Bert Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ diskutier-ten sie noch lange über diese Geschichte aus dem DreißigjährigenKrieg, in deren Mittelpunkt eine Marketenderin steht. Sie warenfasziniert von der genialen Art des Autors, wie er am Schicksal die-ser Frau, die zunächst am Krieg verdient, aber dabei nacheinanderihre drei Kinder verliert, den Zuschauern die Grausamkeit und Un-barmherzigkeit des Kriegs vor Augen führt. In seinen Aufzeichnun-gen bedauerte Wolfgang sehr, dass man kaum die Möglichkeit hatte,moderne Theaterstücke westlicher Autoren wie z.B. Anouilhs „An-tigone“ oder Giroudaux‘ „Der trojanische Krieg findet nicht statt“ inder sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR auf der Büh-ne zu sehen. Genau über diese beiden Stücke hatten sie imGegenwartskundeunterricht ausführlich gesprochen, und sein Leh-rer Konrad Funke hatte ihm danach die Texte geliehen.

In den ersten Nachkriegsjahren waren die Theateraufführungenimmer gut besucht. Es gab noch kein Fernsehen, und so war man auföffentliche Veranstaltungen angewiesen, wenn man dem Alltag ent-fliehen wollte. Theaterkarten waren daher, besonders für Auswärti-ge, schwer zu bekommen. So war es ein glücklicher Zufall, dass deram Altenburger Landestheater engagierte Schauspieler Carl Bucherim Nachbarhaus von Dieter Gerth wohnte. Wegen seiner gut-nachbarlichen Beziehungen zu Carl Bucher gab es für Dieter keineProbleme bei der Beschaffung von Theaterkarten. So besuchten Die-ter und Wolfgang gemeinsam auch viele Opernaufführungen. Wolf-gangs Lieblingsoper war Mozarts „Zauberflöte“. In ihr konnte er sei-ne neuen Ideale wiederfinden. Sie atmete den Geist der Humanität,verband die heitere, burleske Art der einfachen Menschen in Gestaltvon Papageno und Papagena mit der erhabenen, edlenWelt desTamino

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und der Pamina und fand ihre Krönung in demweisen Priester Sarastro,der die Ideale der Menschheit verkündete.

Im Herbst 1947 besuchte Wolfgang die Tanzstunde. Später ginger dann sonnabends oder sonntags öfter zum Tanzen in Meuselwitzoder in Zipsendorf in den Ratskeller. Dort war nichts mehr zu spü-ren von der einigermaßen gediegenen Atmosphäre der Tanzstunde.DerAndrang in den beiden Lokalen war so groß, dass die Sitzplätzean den Tischen bei weitem nicht ausreichten. In den Pausen zwi-schen den Tänzen standen dann viele der Besucher auf den Gängenzwischen den Tischen oder auf der Tanzfläche herum. Während derTänze war die Tanzfläche immer stark überfüllt. So wurde mancherTanz zu einem regelrechten Kampf um ein freies Fleckchen aufdem Parkett, wobei die Paare natürlich gehörig ins Schwitzen ka-men. Besonders anziehend wirkte auf die jungen Menschen, dassdie Tanzorchester noch bevorzugt westliche Schlager spielten. Zudiesem Zeitpunkt hatten sich die SBZ und die westlichen Besat-zungszonen schon deutlich auseinander entwickelt. Während derWesten Deutschlands für Einflüsse aus den USA und Westeuropavöllig offen war, wurde die SBZ in immer stärkerem Maße dagegenabgeschirmt. Jazz und moderne Schlager waren für die Jugendli-chen eine der letzten Brücken zum Westen. Sie vermittelten ihneneinen Tick westlichen Lebensgefühls, ebenso wie Schuhe mit Krepp-sohlen und Ringelsöckchen. Wolfgang kannte natürlich die Texteder Schlager wie die meisten seiner Altersgenossen. Wenn Melodi-en erklangen wie „Wenn auf Kuba silbern der Mond scheint“, „AmZuckerhut, am Zuckerhut, da geht‘s den Senoritas gut“, „Wenn beiCapri die rote Sonne im Meer versinkt“ oder „Ganz Paris träumtvon der Liebe“, dann meinte er, doch etwas vom Hauch der großen,weiten Welt zu spüren. Und es erfasste ihn ein Fernweh, vielleichtgerade weil er glaubte, er würde diese Orte wohl nie in seinem Le-ben kennen lernen. Doch auch der Traum von der großen Liebeerfüllte sich für Wolfgang bei diesen Tanzveranstaltungen nicht.Manchmal begleitete er ein Mädchen, mit dem er mehrmals getanzthatte, nach Hause. Dann gab es vor der Haustür einenAbschiedskussoder auch mehrere. Aber dabei blieb es.

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Zu dieser Zeit schwärmteWolfgangfür Blondinen. So begannWolf-gang vorsichtig, eine Verbindung zu einem jüngeren, sehr hübschenblonden Mädchen namens Inge Böttcher zu knüpfen, die im Herbst1947 in die unterste Klasse aufgenommen worden war. Aber natür-lich war Wolfgang nicht auf diesen hellblonden Typ festgelegt. EinesNachmittags fuhr er mit dem Zug von Altenburg nach Meuselwitzzurück, nachdem er sich in der Landesbibliothek mit neuem Lesestoffversorgt hatte. Der Zug war brechend voll. Er stand in einer Ecke desGanges und hatte sich durch eine Drehung gerade etwas mehr Platzverschafft. Da erblickte er in etwa drei Meter Entfernung das Ge-sicht eines Mädchens, das ihn sofort faszinierte. Es war ein feinge-schnittenes Gesicht mit einer schmalen, vielleicht ein ganz klein wenigzu kurz geratenen Nase und einem wohlgeformten, kleinen Mund.Das rehbraune, glatt nach hinten gekämmte Haar war am Ende ein-fach zusammengebunden. Ihre Blicke trafen sich, und ihre wunder-baren, hellbraunen Augen schienen eine magische Anziehungskraftauf ihn auszuüben. Er war ganz unglücklich, dass er dieses Mädchennicht ansprechen konnte. Aber eigentlich schien das gar nicht not-wendig zu sein, denn ihre Augen sprachen miteinander eineunmissverständliche Sprache. Zu seinem großen Bedauern verließdas Mädchen in Kriebitzsch, eine Station vor Meuselwitz, den Zugauf der von ihm aus entgegengesetzten Seite. Er hatte zu spät be-merkt, dass sie aussteigen wollte und stand so ungünstig in der Ecke,dass er sich bis zur Weiterfahrt des Zugs nicht mehr bis zur Tür hättedurchkämpfen können. Das Bild dieses Mädchens verfolgte ihn wieeine Fata Morgana noch viele Tage, und er war traurig darüber, dasser sie vielleicht nie wiedersehen würde.Aber schließlich sagte er sich:„Es gibt ja noch andere hübsche Mädchen“, und wandte im neuenJahr sein Interesse wieder der blonden Inge zu.

Im Karneval 1948 veranstaltete die Oberschule ein Kostümfestin einer Gaststätte im nahe gelegenen Bünauroda. Da die Schüler-zahl in den vier Jahrgangsstufen nicht sehr groß war, gab es über-haupt keine Platzprobleme. So unterschied sich dieses Kostümfestauf angenehme Weise von den öffentlichen Karnevalsveranstaltungenmit ihren hoffnungslos überfüllten Sälen. Wolfgang und Inge hatten

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zusammen mit Dieter Gerth und Gudrun Wagner, einer Klassenka-meradin von Inge, an einem Tisch Platz genommen. Es herrschtekein Kostümzwang. Trotzdem hatten viele der Schülerinnen undSchüler versucht, mit einfachen Mitteln etwas zu improvisieren. Wolf-gang trug ein schwarzes Hemd und eine rote Hose aus dünnemStoff mit weiten Hosenbeinen. Der breitkrempige Hut aus Strohge-flecht und der Schnurrbart, den er sich angemalt hatte, machten ihnhalbwegs als Spanier erkenntlich. Dieter mit Augenbinde und Ta-bakspfeife im blauweiß-gestreiften Hemd mimte den Piraten. Gud-run hatte sich als Harlekin zurechtgemacht. Auf ihrer königsblauenBluse waren verschiedenfarbige, bunte Tupfen aus dünnem Papieraufgenäht, auf dem Kopf hatte sie eine spitze Pappmütze, und ihreWangen waren rot angemalt. Inge war nicht kostümiert. Sie trug einhellblaues Kleid mit einem Muster Ton in Ton, das dem schlanken,blonden Mädchen mit den hellblauen Augen außerordentlich gutstand.

Mit dem Schlager „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt,wer hat so viel Pinke-Pinke, wer hat so viel Geld?“ eröffnete dieKapelle das Tanzvergnügen und sorgte sofort für eine bombige Stim-mung. Es schien ein vergnüglicher Abend zu werden. Nach zweiweiteren populären Schlagern kündigte die Kapelle durch ein kurzesund energisches Bumm-bumm, Bumm-bumm das Ende des erstenTanzes an. Wolfgang und Inge stürzten sich gleich nach der kurzenPause sofort wieder in das Getümmel auf der Tanzfläche. Und nachdem Motto „Wir tanzen wieder Polka, wie früher Tante Olga,“ tanz-ten sie Polka. Ganz zufällig schaute er zur Eingangstür des Saaleshinüber. Dort fiel ihm ein Mädchen in roter Bluse, schwarzem Rock,mit einem Kopftuch aus schwarzem Tüll und einem ungewöhnlichgroßen Ring im Ohr auf. Sie hatte das Gesicht zur Seite gewandtund unterhielt sich mit einer Schülerin aus der 9. Jahrgangsstufe, mitder sie offensichtlich gerade gekommen war. „Aha, jetzt haben wiralso auch eine Spanierin hier“, dachte Wolfgang und wollte das ge-rade Inge mitteilen, die der Eingangstür den Rücken zukehrte. Daverschlug es ihm die Sprache. Er war wie vom Blitzschlag getrof-fen: Die Spanierin hatte den Kopf zur Tanzfläche hingewendet, und

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er erkannte das Mädchen aus dem Zug. Im selben Moment trafensich ihre Blicke. Ein verführerisches Lächeln von ihr versetzte ihn infreudige Erregung, ein tiefes Glücksgefühl kam über ihn. Diesmalwürde er mit ihr sprechen können, mit ihr tanzen und ihre unmittel-bare Nähe spüren. Dann fand er seine Sprache wieder, wechselteein paar belanglose Sätze mit Inge und erzählte ihr ganz beiläufig,dass soeben eine Spanierin den Saal betreten habe. „Da wirst duwohl auch einmal mit deiner Landsmännin tanzen müssen“, kom-mentierte die ahnungslose Inge seine Bemerkung. Wolfgang dauer-te es viel zu lange, bis das Bumm-bumm, Bumm-bumm der Kapelleden Tanz beendete. Als habe er Wolfgangs geheimen Wunsch erra-ten, forderte Dieter die blonde Inge zum nächsten Tanz auf. Wolf-gang konnte gar nicht schnell genug an den Tisch der schönen Un-bekannten kommen. Er verbeugte sich mit einem Lächeln vor ihr.„Darf ich Sie um diesen Tanz und am besten gleich noch um vielefolgende bitten?“ „Sehr gern“, entgegnete sie, erhob sich von ihremStuhl und schritt auf ihn zu. Erst jetzt bemerkte er, dass sie nicht nurein schönes, ebenmäßiges Gesicht hatte, sondern auch eine tadello-se Figur. Sie schmiegte sich beim Tanz eng an ihn, und er hatte dasGefühl, sein Blut begänne zu kochen. „Welch ein glücklicher Zufall,dass wir uns hier wieder begegnen. Ich hatte schon befürchtet, ichwürde Sie nie wiedersehen, nachdem neulich im Zug die Mitreisen-den zwischen uns verhinderten, dass wir uns näher kommen konn-ten“, begann er das Gespräch. „Merkwürdig“, antwortete sie miteinem schalkhaften Lächeln, „mir hat eine innere Stimme gesagt,ich würde Sie bald wieder treffen“, und sie schaute ihn dabei ganzlieb an. „Ich bin Wolfgang Hartwig, aber für Sie natürlich nur Wolf-gang“, stellte er sich vor. „Ich wohne, wie Sie vielleicht vermuten, inMeuselwitz und besuche seit mehr als fünf Jahren diese Schule, dieden heutigen Ball veranstaltet. Da Sie in Kriebitzsch ausgestiegensind, nehme ich an, dass Sie dort oder in der Umgebung wohnen.“„Es ist schon noch ein Stück von Kriebitzsch entfernt. Ich kommeaus Wintersdorf und heiße Jutta Hilpert“, entgegnete sie. „Wenn Sieeinverstanden sind, lassen wir das blöde ,Sie‘ und gehen zum ,Du‘über, das ist ohnehin im Fasching üblich“, schlug Wolfgang ihr vor.„Ich bin damit einverstanden, doch du gehst ganz schön forsch ran“,

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bemerkte Jutta. „Aber wir haben doch seit unserer ersten flüchtigenBegegnung schon eine Menge Zeit verloren“, erwiderte Wolfgangund presste sie noch fester an sich. Einer der Musiker war ans Mi-krofon getreten und sang mit krächzender Stimme den Text zu einerMelodie, die bei Wolfgang immer eine Sehnsucht nach der Fremde,dem Unerreichbaren, erweckt hatte. „South of the border downMexico way, that‘s where I fell in love when stars above came outto play. And now as I wander my thoughts ever stay south of theborder down Mexico way.“ Aber jetzt wollte er gar nicht nach Me-xiko unterwegs sein. Er fühlte sich in diesem Moment in Bünaurodagenau am richtigen Ort. Selbst der so genannte Gesang des Solistenstörte ihn nicht. Er kommentierte ihn allerdings mit den Worten, ihmsei jetzt klar, warum die Lateiner sowohl für Singen als auch fürKrähen dasselbe Wort benutzten. Da Jutta kein Latein konnte, er-klärte Wolfgang ihr, dass das lateinische Wort „cantare“ beide Be-deutungen haben könnte. Aber dann waren sie schon wieder ganzmit sich selbst beschäftigt. Sie tanzten eng umschlungen, Wange anWange, und ihre Gesichter glühten vor Leidenschaft. Und sie nah-men jeden Tanz mit und schienen die Welt um sich herum zu verges-sen. Unterbrochen wurde diese Abnabelung vom Geschehen um sieherum nur durch die Polonaise, die zunächst durchaus gemäßigtbegann, dann aber enorm an Fahrt gewann und sich zu einem Orkanan Ausgelassenheit steigerte. Hier ließen Jutta und Wolfgang imallgemeinen Toben ihren Glücksgefühlen freien Lauf. Danach igno-rierten die beiden beim Tanzen das Geschehen um sie herum wiedervöllig. „Herrschaften, jetzt ist aber Schluss!“ Die schrille Stimmeder Anna riss sie aus ihren Träumen. „Alles hat einmal ein Ende“,verkündete die gestrenge Direktorin. Sie fühlte sich dafür verant-wortlich, dass die Veranstaltung fristgerecht um ein Uhr beendetwurde, wie das in der behördlichen Genehmigung zur Auflage ge-macht worden war. Sie hatte den ganzen Abend über, gelegentlicheine Zigarette rauchend, ein Bier und ein Schnäpschen trinkend, vonihrem Tisch aus mit einem milden Lächeln das lustige Treiben ihrervermeintlichen Schutzbefohlenen beobachtet. Einige Mitglieder desLehrkörpers hatten ihr dabei abwechselnd Gesellschaft geleistet.Die Kapelle spielte zum Abschluss noch „Auf Wiedersehn, auf

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Wiedersehn, bleib nicht so lange fort, das nächste Mal wird‘s dop-pelt schön, darauf hast du mein Wort“. Und dann erfolgte der großeAufbruch.

Jutta und Wolfgang machten sich auf den Weg nach Wintersdorf.Es war eine frostige Februarnacht. In ihren dünnen Faschingskostü-men waren sie nicht gerade warm angezogen, obwohl sie natürlichihre Wintermäntel darüber trugen. So liefen die beiden Hand in Handzunächst sehr schnell durch Bünauroda hindurch, um sich zu erwär-men. Nachdem sie auf die Landstraße gekommen waren, blieben sieerst einmal stehen und küssten sich. Dann wärmten sie sich durcheinen Zwischenspurt wieder auf, um sich nach etwa fünfhundertMetern erneut um den Hals zu fallen und heftig zu küssen. So kamensie trotz der häufigen Pausen gut voran und erreichten Wintersdorfgegen zwei Uhr. Vor dem Haus ihrer Eltern angekommen, umschlangsie ihn und küsste ihn. Nie zuvor war er so leidenschaftlich geküsstworden. „Kann ich mit zu dir kommen?“, flüsterte er ihr fragend insOhr. „Ich muss erst sicher sein, dass meine Eltern schlafen. Dannöffne ich dir das Fenster meines Zimmers zum Hof hin. Im Licht-schein wirst du darunter denAschekübel erkennen.Auf den musst duhinaufsteigen, von da aus kannst du dann in mein Zimmer klettern. Ichwerde dir dabei natürlich helfen“, erklärte sie ihm. „Aber du musstganz leise sein, mein Vater schlägt mich grün und blau, wenn er etwasmerkt.“ Für den sportlichen Wolfgang war das kein Problem, und sogelangte er auf dem etwas unromantischen Weg über den Müllkübelin Juttas Zimmer. Sie sperrte vorsichtshalber noch die Tür ab undlöschte dann das Licht. In der Dunkelheit streiften sie ihre Kostümewie Hüllen ab. Sie küssten und umarmten sich mit stürmischer Lei-denschaft. Mit großer Mühe unterdrückten sie verräterische Lauteihrer Gefühle und gaben nur ein leises Stöhnen von sich, das in dernächtlichen Stille des Hauses verschluckt wurde. Wolfgang schienendie Sinne zu schwinden, und Jutta ging es wohl ähnlich. Und dannfolgte auf den Höhepunkt der sinnlichenAnspannung urplötzlich einetiefe Entspannung. Sie lagen glücklich nebeneinander, liebkosten undküssten sich ganz zärtlich, bis Jutta – nach seinem Gefühl viel zu früh

– sagte: „Wolfgang, du musst jetzt wirklich gehen. Mein Vater ist ein

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Frühaufsteher, er muss sehr früh zur Arbeit, und zuvor musst du ausdem Haus sein.“ Nachdem Wolfgang sein Kostüm und den Mantelwieder angezogen hatte, küsste er Jutta zum Abschied und flüsterte:„Jutta, du hast mich sehr glücklich gemacht.“ „Ich kann dir das nurzurückgeben, Wolfgang“, erwiderte sie leise. Dann setzte er sich aufden Fenstersims und stieg von da auf den Müllkübel. Da Jutta vor-sichtshalber das Licht nicht angemacht hatte, trat er in der Dunkelheitmit dem linken Fuß unglücklicherweise auf die Kante des fast leerenMetallkübels, so dass dieser durch die ungleichmäßige Belastung um-kippte und beimAufschlagen auf den steinernen Boden des Hofs einlautes Geräusch verursachte. Wolfgang, der noch rechtzeitig abge-sprungen war, richtete den Kübel blitzschnell wieder auf und ver-schwand nach einem kurzen Sprint um die Hausecke in der Dunkel-heit der Nacht. Erst jetzt bemerkte er, dass sein rechter Fuß gewaltigschmerzte. Als er nach Hause kam, war der Knöchel stark ange-schwollen. Das nahm er aber gern in Kauf, wenn nur Jutta keineProbleme bekommen hatte.

Sie hatte imAugenblick des Krachs geistesgegenwärtig das Fen-ster geschlossen und die Tür entriegelt. Als ihr Vater, durch denKrach aufgeweckt, ihre Zimmertür öffnete, um nach ihr zu schau-en, lag sie scheinbar in tiefem Schlaf. Obwohl Jutta am Abend aufseine Frage behauptete, sie habe nichts gehört, misstrauten Vaterund Mutter ihr doch. Nach einem gemeinsamen Kinobesuch amfolgenden Wochenende hatte sie Wolfgang gesagt, er könne vorläu-fig nicht wieder mit zu ihr ins Zimmer kommen. Es gäbe eine Kata-strophe, wenn ihr Vater sie dort beide ertappen würde. Tatsächlichbemerkte sie später, dass ihre Eltern die Schlafzimmertür offen ge-lassen hatten, um sie bei ihrer Heimkehr besser kontrollieren zu kön-nen. So besuchten die beiden Liebenden in den folgenden Wochengemeinsam häufig Kinovorstellungen, in denen sowjetische Filmegezeigt wurden. In dem fast leeren, aber warmen Kinosaal konntensie dann ungestört miteinander schmusen und mussten nicht stun-denlang in der Kälte vor der Haustür stehen. Allerdings mussteWolfgang feststellen, dass der Zauber des Faschingsballs, an demseine Leidenschaft für Jutta mit elementarer Kraft entbrannt war,

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nicht wiederkehren wollte. Sie trafen sich dann immer seltener, bisWolfgang im Mai mit seiner Klasse und der stärker sprachlich ori-entierten Klasse 10a für vierzehn Tage zu einem von der Schuleorganisierten Einsatz zur Borkenkäferbekämpfung fuhr.

Es war an einem Sonnabend im Mai 1948 gegen 23 Uhr 30 imWartesaal des Bahnhofs Weißenfels. Wolfgang und seine Mitschü-ler und Mitschülerinnen der Klassen 10a und 10b – etwa vierzig ander Zahl – hatten den vorher leeren Wartesaal soeben besetzt. Siewaren erst wenige Minuten zuvor mit dem Zug von Meuselwitz überZeitz angekommen, hatten ihr Gepäck in einer Ecke des Wartesaalsverstaut und mussten sich nun die Nacht hier um die Ohren schla-gen. Einige versuchten, ein bisschen zu pennen, was angesichts desLärms nicht so einfach war. An einem der Tische hatte sich einSkatklub gebildet, bestehend aus Werner Gentzsch, Rolf Köhler,Gunter Kretzschmar und Wolfgang. Manche der Jungen albertenmit den Mädchen aus der 10a herum. Dem Skatklub gegenüber saßFrieder Bach und verspeiste ein Schinkenbrot. „Man merkt dochgleich, wer aus der Landwirtschaft kommt, der hat auch zu späterStunde noch etwas zum Kauen“, frotzelte Gunter. „Halt die Klap-pe“, gab Frieder zurück, „ich musste ja anders als die meisten voneuch schon nachmittags um 5 Uhr von zu Hause weg und habeauch ein Recht auf Hunger.“ „Da wirst du ja tatsächlich mehr als 24Stunden unterwegs gewesen sein, wenn wir in Suhl ankommen“,meldete sich Werner zu Wort und nahm die beiden Karten vomTisch,den Skat, auf. „Verdammt, da hättest du ja auch etwas Bessereshinlegen können“, beschwerte er sich bei Wolfgang, der gerade dieKarten verteilt hatte und fuhr mit dem Schimpfen fort: „Vermutlichmüssten wir ja nicht wegen der schlechten Zugverbindungen dieganze Nacht hier herumsitzen, wenn die Russen nicht auf fast allenBahnstrecken das zweite Gleis abgebaut und nach Russland ge-bracht hätten.“ „Erstens hättest du ja zu Hause bleiben können“,fuhr Frieder ihm in die Parade, „und zweitens solltest du daran den-ken, was wir in Russland alles zerstört haben. Da kann man sichwirklich nicht beschweren, wenn die Sowjets im Rahmen der Repa-rationen das zweite Gleis abgebaut haben.“ „Wenn du davon sprichst,

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was wir alles zerstört haben, so muss ich dich darauf aufmerksammachen, dass ich nicht dabei gewesen bin“, bemerkte Werner bis-sig. Als Frieder erneut zu einer Entgegnung ansetzen wollte, misch-te sich Rolf energisch ein. „Jetzt gebt endlich Ruhe, ihr Streitham-mel. Werner, du weißt genau, wie das gemeint war, und von deinenrhetorischen Fähigkeiten, lieber Friedrich, musst du uns schon langenicht mehr überzeugen.“ Daraufhin begannen alle in der Runde zulachen, und die Diskussion war beendet.

Als dann am Sonntagmorgen der Schnellzug Leipzig-Köln inWeißenfels einfuhr, stürmten die Schülerinnen und Schüler die Ab-teile und besetzten die Hälfte eines 3. Klasse-Waggons. Dieter Gerthmeinte: „Da könnte ich ja gleich bis zu meiner Schwester nach Kölndurchfahren.“ „Die würden dich an der Grenze aber ganz schnellherausholen, wenn du keinen Interzonenpass hast“, belehrte ihn Rudi,der Junge mit dem prächtigen Haarschopf. „Und dann würdest duwohl wegen eines Versuchs zum illegalen Grenzübertritt erst einmalfür einige Zeit aus dem Verkehr gezogen werden.“

Infolge der Trennung in einen naturwissenschaftlichen und einensprachlichen Zweig waren in Wolfgangs Klasse, der jetzigen10b, nurnoch Jungen, während in der sprachlichen Klasse, der 10a, die Mäd-chen eine knappe Majorität hatten. Jetzt waren sie endlich einmalwieder alle beisammen, und es herrschte eine bombige Stimmung.Wolfgang sang: „Sachen Se, men Härr, fährt dieser Zuch nachKötzschenbroda?“ Und Rudi klinkte sich ein „Ja, wenn de Gohle nochreecht!“Alle kannten das Lied, aber keiner wusste, wo Kötzschenbrodawirklich liegt. Dann kam derAuftritt der kessen Elfriede, die den fol-genden Schlager mimisch und gestenreich unterlegte: „In einer Nachtam Ganges bei Mondenschein gelang es, der Maharadscha war mitihr allein. Er sagte ihr auf Indisch, ach Liebling sei nicht kindisch undsag nicht immer wieder ,Nein‘.“ Und am Ende der Geschichte wurdesie Maharani. Nach einigen weiteren leicht frivolen Einlagen zogWolf-gang seine Schuhe aus, stellte sich auf seinen Sitz und verkündetelautstark: „Im Harem sitzen heulend die Eunuchen, und einer unterihnen hat gefehlt. Wie ist das wohl passiert, wenn die Lieblingsfrau

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des Sultans einen Sohn erwartet, der Sultan aber ein ganzes Jahr ver-reist war?“ Just in diesem Moment bremste der Zug, und Wolfgangkonnte sich gerade noch am Gepäcknetz festhalten. Frieder abersprach, sein allen bekanntes schelmisches Grinsen unterdrückend, mittodernstem Gesicht: „Ihr Kulturbanausen, wir fahren in Weimar einund ihr lasst den nötigen sittlichen Ernst vermissen.“ Bald darauf er-reichten sie Erfurt, wo sie erneut umsteigen mussten und einige Stun-den Aufenthalt hatten. Wolfgang hatte sich wie die meisten seinerSchulkameradinnen und Schulkameraden ein Plätzchen imWartesaalgesucht, verspeiste die letzten seiner Brote, die ihm seine Mutter fürdie Reise eingepackt hatte, und trank den letzten Schluck Ersatzkaffee

Marke Kathreiner – im Volksmund Muckefuck genannt – aus derThermosflasche. Am Nachmittag ging es dann mit dem Bummelzugweiter in Richtung Suhl, dem Ziel ihrer Reise. Wegen des geringenReiseverkehrs am Sonntag hatten sie in dem in Erfurt eingesetztenZug einen ganzen Waggon für sich allein belegen können. Bei Wolf-gang zeigten sich, wie auch bei den meisten anderen, doch gewisseErmüdungserscheinungen. Sie hingen jetzt an den Fenstern und ge-nossen einfach die wunderschöne Landschaft des Thüringer Waldes.

Nach der Ankunft in Suhl mussten die Schüler und Schülerinnennoch fast eine Stunde laufen, bis sie ihre Unterkunft in einem klei-nen Dorf erreichten. Die Jungen waren im Saal einer früheren Gast-wirtschaft untergebracht. Auf dem Fußboden lagen Strohsäcke, zurWand hin war etwas Platz für das Gepäck und die persönlichenSachen geblieben, das war alles. Außer zwei Hockern gab es keineweiteren Sitzgelegenheiten in diesem Raum. Über die Qualität derWaschanlagen und Toiletten konnte ebenfalls nichts Positives be-richtet werden. Die am anderen Ende des Ortes liegenden Unter-künfte der Mädchen waren nach deren Aussagen etwas wenigerprimitiv.

Am nächsten Morgen gegen 7 Uhr 30 wurde das Frühstück ge-bracht: Ein Kübel mit Haferflockensuppe, ein Behälter mit Ersatz-kaffee, eine Schüssel mit Marmelade und für jeden ein Kanten Brot,der bis zumAbend reichen musste. Das gab es allerdings zusätzlich

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zu den auf Lebensmittelmarken erhältlichen, recht spärlichen Ratio-nen. Aber die Schüler hatten hier ohnehin kaum Gelegenheit, etwasauf ihre Lebensmittelmarken einzukaufen. Also hatten die meistendie Marken zu Hause gelassen. Man hatte ihnen ja gesagt, sie wür-den hier ausreichend verpflegt. Nach dem Frühstück wurde die Grup-pe abgeholt und erreichte nach einem halbstündigen Waldmarschihren Arbeitsplatz. Die Mädchen waren schon etwas früher ange-kommen. Nach einer kurzen Einweisung in ihre Aufgaben machtensich die Schülerinnen und Schüler an dieArbeit. Die befallenen Bäumewurden von Waldarbeitern gefällt, aber der eine oder andere Schü-ler half auch schon mal dabei mit. Ihre Hauptaufgabe bestand je-doch darin, die Äste von den gefällten Stämmen mit Säge und Beilabzutrennen und danach mit großen Spezialmessern die Rinde vonden Stämmen zu entfernen. Äste und Rinde wurden anschließendzu einem Sammelplatz getragen und später dort verbrannt. Gegen12 Uhr 30 gab es eine halbstündige Mittagspause für das aus demmitgebrachten trockenen Brot bestehende Mittagessen. Um 17 Uhrtraten die Schüler den Rückweg zu ihren Quartieren an. Dort trafgegen 18 Uhr dasAbendessen ein, bestehend aus einem Kübel Sup-pe – abwechselnd Erbsensuppe oder Graupensuppe – einem Kan-ten Brot und einem Stück einfachen Käse, der alles andere aberkein Fett enthielt. Von der ungewohnten Arbeit an der frischen Luftwaren die Schüler dann so müde, dass sie kaum noch besondereAktivitäten entfalteten. Einige spielten eine Runde Skat, andere un-terhielten sich, aber spätestens um 22 Uhr schliefen alle. So vergin-gen die Tage recht schnell. Am Sonntag, dem einzigen arbeitsfreienTag, machten sich die Schülerinnen und Schüler gemeinsam auf denWeg nach Suhl. Dort trennte man sich. Mehrere kleine Gruppenbesichtigten die Stadt, eine Gruppe ging ins Kino und eine andereschaute sich ein Fußballspiel an. Überall in der Stadt stieß man aufSpruchbänder über den Straßen mit Parolen: „Mit den antifaschi-

stisch- demokratischen Kräften für die nationale Einheit“ – „Gegendie Versklavung durch Marshall-Plan und anglo-amerikanischeKriegstreiber“ – „Ewige Freundschaft mit den Völkern der Sowjet-union“ – „Die Werktätigen kämpfen unter der Führung der Parteider Arbeiterklasse für die Erhaltung des Friedens“ – „Seite an Seite

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mit der großen Sowjetunion kämpfen wir für Frieden und Fortschritt“– „Die Sowjetunion ist der Garant für die Sicherung und Erhaltungdes Friedens“.

Am Abend entwickelte sich in der Unterkunft der Schüler einehitzige Diskussion. Werner Gentzsch erklärte, die vielen Transpa-rente in Suhl mit ihren absurden Parolen seien ihm auf die Nervengegangen. „Was sind denn das für Freunde, die alles aus Deutsch-land herausschleppen?“ „Ich habe dich ja schon darauf aufmerk-sam gemacht, dass die deutschen Truppen in der Sowjetunion ge-waltige Zerstörungen hinterlassen haben“, entgegnete Frieder er-bost. „Bei ihrem Rückzug haben sie die Taktik der verbrannten Erdeangewandt. Zahlreiche Morde an der Zivilbevölkerung wurden vonden Faschisten begangen. Schließlich hat die Sowjetunion die Haupt-last des Krieges getragen. Da muss sie doch durch Reparationenwenigstens teilweise entschädigt werden. Wir können froh sein, dasswir noch einigermaßen glimpflich davongekommen sind.“ DochWerner zeigte sich uneinsichtig: „Du übersiehst, welche Verbrechenan der deutschen Zivilbevölkerung beim Einmarsch der Russen be-gangen worden sind. Und wir haben im Osten riesige Landstrichemit allem, was dort stand – wahrscheinlich für immer – verloren:Ostpreußen, fast ganz Schlesien, große Teile von Pommern und Teilevon Brandenburg. Auch durch die Bombenangriffe der Westmäch-te sind zahlreiche unschuldige Menschen ums Leben gekommen.“„Aber wir Deutschen haben den Krieg begonnen, und Hitler hat dieSowjetunion überfallen.“ Die Diskussion wurde immer heftiger.Werner warf sich mit einer schnellen Bewegung des Kopfes dieHaare aus der Stirn. „Es sind ja nicht nur ganze Werke demontiertund nach Russland transportiert worden. Aus unserer laufendenProduktion erfolgen auch erhebliche Entnahmen. Werke wie dieBrabag bei Zeitz wurden in sowjetische Aktiengesellschaften um-gewandelt, und Spezialisten wurden zusammen mit ihren Familien indie Sowjetunion deportiert. Dazu fordern die Russen auch noch ganzeIndustrieanlagen aus dem Ruhrgebiet als Reparationen.“ Werner kamimmer mehr in Fahrt. „Und was die Russen nicht herausschleppten,wurde verstaatlicht, sogar die Banken. Man versucht, kleine Hand-

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werksbetriebe und Selbstständige kaputtzumachen. Mit der Enteig-nung der größeren Bauern im Zuge der Bodenreform und der Ver-teilung des Landes an Neusiedler und Kleinbauern wird der Land-wirtschaft das Rückgrat gebrochen. So kann doch keine Wirtschaftfunktionieren, alles wird vor die Hunde gehen.“ Frieder wurde rotvor Zorn. „Du bist wirklich ein arroganter, uneinsichtiger Kerl“, warfer Werner vor. „Alle diese Maßnahmen, die Enteignung und Ver-staatlichung großer Betriebe und Banken und die Enteignung derGroßgrundbesitzer, dienen der Abschaffung der Ausbeutung, einergerechten Verteilung der Produktionsgüter. Die Kapitalisten,Kriegsgewinnler und Junker werden entmachtet. Dadurch wird dasFundament für das Wiedererstehen des Faschismus endgültig zer-stört.“ Jetzt griff Wolfgang in die Diskussion ein und versuchte zu-nächst zu schlichten. „Was die Reparationen betrifft, so ist FriedersStandpunkt sicher nicht falsch, wenn es uns auch schwer fällt, daseinzugestehen. Wir haben den Krieg begonnen und ihn verloren.Jetzt müssen wir dafür zahlen und müssen irgendwie durch dieseNotsituation hindurch.“ Werner wandte sich verärgert ab und ver-ließ den Schlafsaal. Aber Wolfgang fuhr fort: „Viel schlimmer ist ,was diese sogenannten Reformen bewirken. Ich möchte das schlichtund einfach als Sowjetisierung der sowjetischen Besatzungszone be-zeichnen. Der Alliierte Kontrollrat (9) hatte die Einführung der De-mokratie in ganz Deutschland angekündigt. Das bedeutet freie Wahlenund freie Betätigung der Parteien, die den Willen des Volkes reprä-sentieren. Was aber passiert in der sowjetischen Besatzungszonewirklich? Es läuft fast alles nach dem Willen der Russen ab. DieKommunisten diktieren nahezu alles. Da die KPD keine Chancehatte, stärkste Partei in der SBZ zu werden, wurde die stärkereSPD 1946 von den Russen zur Vereinigung mit der KPD gezwun-gen. Wer sich widersetzte, wurde kaltgestellt. Die Führungspositio-nen in der so entstandenen SED wurden zwar paritätisch besetzt,aber das Sagen haben überall letztlich die Kommunisten.“Als Friederihn hier unterbrechen wollte, setzte Wolfgang sich zur Wehr. „Jetztlass mich erst einmal ausreden, dann bist du wieder dran. In deneinzigen, einigermaßen freien Wahlen, den Landtagswahlen im Ok-tober 1946, erhielt die SED in Thüringen zwar eine relative Mehr-

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heit der Stimmen, in einigen der größeren Städte Thüringens wieErfurt, Weimar, Jena und Eisenach lag ihr Stimmenanteil aber deut-lich unter dem der LDP. Seither wurden die beiden bürgerlichenParteien immer stärker in den ,antifaschistisch-demokratischenBlock‘ eingebunden, in dem neben der SED auch noch die ,demo-kratischen‘ Massenorganisationen Freier Deutscher Gewerkschafts-bund (FDGB), Freie Deutsche Jugend (FDJ), DemokratischerFrauenbund Deutschlands und Kulturbund vertreten sind. Die füh-renden Vertreter dieser Massenorganisationen sind natürlich über-wiegend SED-Genossen, so dass der Block eindeutig von den Kom-munisten dominiert wird. Das ist absolut undemokratisch.“ „Das lasseich so nicht gelten.“ Mit ausgestrecktem Zeigefinger dozierte Frieder:„Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands repräsentiert dieMehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Nur sie vertritt konsequentderen Interessen, und daher kommt ihr auch die führende Rolle inunserer Gesellschaft zu.“ Hier hakte Wolfgang ein. „Aber das istkeine Demokratie. In der von der Sowjetunion, Großbritannien undden USA 1945 auf der Konferenz von Jalta (10) abgegebenen Er-klärung wird allen Völkern das Recht auf die Wahl der Regierungs-form, unter der sie leben wollen, zugesprochen. Wir aber haben kei-ne Demokratie. Auch Presse und Rundfunk, das Schulwesen unddie Justiz werden in immer stärkerem Maße von der SED und damitindirekt von den Russen gelenkt.“ „Als besiegtes Land sind wir jetztin einer Übergangsphase. In einiger Zeit werden wir sicher die glei-chen Rechte haben wie die anderen Völker“, versuchte Frieder zuerklären. „Und wie ist das mit Polen und der CSR?“, warf Wolfgangein. „In Polen wurde 1945 von den eingerückten Russen eine sowjet-freundliche Regierung etabliert, obwohl in London eine polnischeExilregierung existierte. Vor drei Monaten haben die Kommunistenin der CSR einen Umsturz inszeniert, bei dem die Kontrolle über sozentrale Bereiche wie Polizei, Justiz, Schul- und Bildungswesen,Presse und Rundfunk von Kommunisten übernommen wurde. Dakann doch nicht die Rede davon sein, dass die Völker Osteuropasselbst über ihr Schicksal bestimmen können.“ „Diese Ereignisse sindeine Folge des imperialistischen Verhaltens der USA“, entgegneteFrieder. „DieAmerikaner versuchen ihre Einflusssphäre immer weiter

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nach Osten auszudehnen und betreiben eine gegen die Sowjetuniongerichtete Politik. Da ist es doch nur zu verständlich, dass die So-wjetunion an ihren Grenzen keine feindlichen Staaten haben will.Mit dem jetzt ins Spiel gebrachten Marshall-Plan (11) wollen dieUSA die osteuropäischen Staaten und die sowjetisch besetzte ZoneDeutschlands wirtschaftlich versklaven.“ Diese Äußerung brachteWolfgang in Rage. Aus der Diskussion war längst ein handfesterStreit geworden. „Das glaubst du selbst nicht“, fuhr Wolfgang sei-nen Gegenüber an. „Die Amis bieten den europäischen Völkern –auch den osteuropäischen – wirtschaftliche Hilfe im Rahmen einesGesamtplans für Europa an, der auch die Sowjetunion einschließt.Aber die Sowjetunion lehnt den Marshall-Plan ab und verbietet denStaaten in ihrer Einflusssphäre eine Teilnahme. Wo ist denn da diewirtschaftliche Versklavung?“ „Das ist ja gerade der Punkt. DieseStaaten würden sich dadurch in Abhängigkeit von den USA bege-ben, wie das die westeuropäischen Staaten tun“, konterte Frieder.„Und durch die Einbeziehung der drei westlichen Besatzungszonenin den Plan betreiben die Westmächte die Spaltung Deutschlands.Dagegen hat sich die Sowjetunion bei den Außenministerkonferen-zen in Paris, Moskau und London immer konsequent für die EinheitDeutschlands eingesetzt.“ „Die Russen wollen doch nur das ganzeDeutschland unter ihren Einfluss bringen,“ Wolfgang schrie Friederregelrecht an, „sie hoffen, dass ein neutrales, wirtschaftlich am Bo-den liegendes Deutschland der beste Nährboden für eine kommuni-stische Machtergreifung ist.“ „Was redest du denn da für Unsinn,“Frieder wurde auch immer heftiger, „es sind ja gerade die westdeut-schen Revanchisten, die mit amerikanischer Unterstützung die so-wjetische Besatzungszone schlucken wollen. Sie beabsichtigen, auchhier bei uns die Macht der Konzerne wiederherzustellen. Die Ade-nauer, Erhard und Schumacher wollen Kriegsgewinnler, Spekulan-ten und Schieber weiter gewähren lassen. Aber die Arbeiterklasseunter Führung von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl wird das ver-hindern. Bei uns werden alle Werktätigen die Früchte der Aufbau-arbeit genießen können.“ „Na, darauf wirst du lange warten müs-sen. Mir wäre es lieber, es geht allen gut und einigen noch besser,als allen gleich schlecht, wie das mit euerer sozialistischen Planwirt-

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schaft zu befürchten ist,“ entgegnete Wolfgang provozierend. „Leu-te, jetzt hört doch endlich auf zu streiten,“ mischte sich Rudi ein.„Weder die Russen, noch die Amis werden uns aus purer Men-schenfreundlichkeit helfen, jeder verfolgt nur seine eigenen Interes-sen. Und ihr könnt so lange diskutieren, wie ihr wollt, ihr werdetnichts an unserer Situation ändern. Also haltet endlich die Klappe.“Die Kampfhähne waren wohl des Streitens müde geworden. Wolf-gang wandte sich ab und ging zu seinem Schlafsack, Frieder schimpftezwar noch vor sich hin über die Opportunisten, die Verrat an derdeutschen Einheit begehen würden, gab dann aber doch auch Ruhe.

Die zweite Woche verging wie die erste, angefüllt mit nicht gera-de abwechslungsreicher Arbeit, ohne besondere Vorkommnisse.AmSonnabendmorgen traten die Schülerinnen und Schüler, allen Frusthinter sich lassend, fröhlich und erleichtert die Heimreise an, diewegen der viel günstigeren Zugverbindungen an Werktagen deut-lich schneller verlief als die Anreise.

Als WolfgangAnfang Juni seinen Schulfreund Rolf Köhler wie-der einmal zu Hause besuchte, sagte dieser mit einem bedeutungs-vollen Ausdruck im Gesicht: „Komm mal mit in den Keller!“ Aufdem Weg dahin erklärte Rolf, er habe vor einigen Monaten Kir-schen mit Alkohol angesetzt und so ein sehr köstliches Getränk er-halten. Kurz die Augen schließend und den Kopf leicht nach hintenneigend, untermalte er seine Behauptung mit einem tiefen, genieße-rischen Atemzug durch den zugespitzten Mund. In einem Keller-regal standen tatsächlich mehrere mit Kirschen und Alkohol gefüllteEinweckgläser, nicht verschlossen, sondern nur abgedeckt. Wolf-gang konnte sich mit einer Kostprobe davon überzeugen, dass Rolfnicht zu viel versprochen hatte. „Das Gesöff schmeckt ja wirklichausgezeichnet“, lobte Wolfgang Rolfs Produkt. „Wie bist du denn anden Alkohol gekommen?“ „Mein Vater ist schon einige Zeit bei ei-ner Landwirtschaftlichen Produktions-Genossenschaft (LPG) inDobitschen beschäftigt. Zu dieser LPG gehört eine riesigeKirschplantage. Die habe ich im letzten Sommer in den Ferien zeit-weise bewacht. Später half ich beim Pflücken. Dafür bekam ich

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eine größere Menge Kirschen. Einen Teil davon habe ich gegenAlkohol eingetauscht. Du kennst doch Peter Berger in der Klasseüber uns, der schiebt in großem Maßstab. Du kannst von ihm fastalles, was du willst, bekommen. Ich habe übrigens eine geniale Idee.Ich spendiere das ,Kirschwasser‘, und wir feiern in unserem Gartenein Fest.“ „Das wäre die Wucht in Tüten“, fand Wolfgang. Und Rolfhatte schon weiter geplant. „Wir laden noch Werner Gentzsch undseinen Freund Gunter Kretzschmar ein. Werner könnte vielleicht nochetwas Schnaps und ein paarAmi-Zigaretten mitbringen. Er scheint jaauch zu vielem Zugang zu haben. Dann habe ich auch noch an PeterBerger gedacht, der könnte auch noch Frauen besorgen.

Rolf war ein Mann der Tat. Er organisierte alles, und zwei Wo-chen später, an einem Sonnabend, fand das Fest statt. Da seineEltern an diesem Wochenende nicht zu Hause waren, konnten dieDinge ungestört ihren Lauf nehmen. Rolf und Wolfgang hatten amNachmittag den Garten in der Kolonie an der von-Seckendorff-Straßemit allerlei buntem Papier und Papierschlangen geschmückt. Wolf-gang war beim Kramen auf dem Dachboden noch auf den Mondgestoßen, den er vor zehn Jahren beim Lampion-Umzug anläßlichdes Heimatfestes durch Meuselwitz getragen hatte. Jetzt sollte derMond zu später Stunde den Festteilnehmern vom Laubeneingangaus leuchten.Außerdem standen für die Beleuchtung nach Einbruchder Dunkelheit noch zwei Sturmlaternen, Vorkriegsprodukte derHASAG, und eine Reihe von Notlichtern zur Verfügung. Gegen 19Uhr begrüßte Rolf als Gastgeber die Mädchen und Jungen. Etwaszögernd begann er mit der Feststellung, er sei kein großer Rednerund wolle sich kurz fassen. Nach wenigen Sätzen kam er dann auchschnell zum Kern der Sache: „Wir haben doch auch ein Anrecht aufetwas Freude und Frohsinn und wollen deshalb heute hier zusam-men feiern. Damit wir gleich gut in Stimmung kommen, sollten wirzuerst einmal von meinem selbst bereiteten ,Kirschwasser‘ probie-ren.“Auf dem Tisch standen zehn einfache Gläser, die Rolf mit demroten Getränk unter Zugabe einiger mit Alkohol vollgesogener Kir-schen füllte. In der Laube wirkte alles etwas improvisiert, aber esgab wenigstens für jeden eine Sitzgelegenheit. Man trank auf ein

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gutes Gelingen des Festes. Danach begann man, auf den Steinplat-ten vor der Laube und dem gepflasterten Gang zum Gartentor zutanzen. Rolf hatte ein altes Grammophon mitgebracht, das mit einerHandkurbel immer wieder aufgezogen werden musste. Er und Wolf-gang erledigten das abwechselnd. Die Schallplatten stammten na-türlich auch noch aus der Vorkriegszeit, die meisten wahrscheinlichsogar aus den zwanziger Jahren. Es waren uralte Schlager wie „TangoBolero“, „Tanze mit mir in den Himmel“, „O mia bella Napoli“, „Zweirote Lippen und ein guter Tarragona“. Aber man konnte doch da-nach tanzen. Werners Freundin Eva, ein sehr lebhaftes, mittelblondesMädchen, war sogar begeistert von den alten Schlagern. Sie hatteeine Vorliebe für solche Melodien. Mit ihr zusammen war die rot-blonde, sommersprossige Gudrun gekommen, die Partnerin von Gun-ter. Wolfgang tanzte meist mit Rita, einem nordischen Typ mit kla-ren, hellblauen Augen und blondem Haar, das zu Schlangenlockengeformt auf Schultern und Rücken herabfiel. Gelegentlich kam esbeim Tanzen auch mal zum Partnertausch, aber die Paare fandenimmer wieder zueinander. Plötzlich wurde die Musik langsamer. DasGrammophon gab noch einen Jaulton von sich und verstummte dannganz. Rolf und Wolfgang hatten einfach vergessen, es rechtzeitigwieder aufzuziehen. „Nutzen wir die Gelegenheit zu einer Zigaret-tenpause“, schlug Werner vor und bot allen eine „Lucky Strike“ an.„Das ist wirklich eine richtige Zigarette und nicht so ein Kraut, wiewir es hier zu rauchen bekommen,“ stellte Rolf lobend fest.

Nachdem die Gläser mit den letzten Resten des „Kirschwas-sers“ und den alkoholhaltigen Kirschen geleert worden waren, brachteWerner noch eine Flasche „Danziger Goldwasser“, einen wasser-hellen, süßen Gewürzlikör mit Blattgoldflittern, unters Volk. „Das istaber ein besonderes Gefühl, wenn einem das Gold durch die Kehlerinnt“, bemerkte Wolfgang, nachdem er einen kräftigen Schluck da-von genommen hatte. „Was sind denn das für altmodische Platten“,meckerte Peter, „danach haben doch schon Oma und Opa getanzt.Wir müssten doch etwas Moderneres haben.“ „Nun halt mal dieLuft an, wir sind eben wie in allem in unseren Möglichkeiten be-schränkt“, verteidigte sich Rolf, „man muss das Beste aus der Situa-

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tion machen. Schließlich können wir danach tanzen.“ Also wurdeweiter getanzt. Es war inzwischen dunkel geworden. Neben demMond am Laubeneingang warf auch der Mond vom selten klarenSternenhimmel dieses Juniabends sein mildes Licht auf die Party-gäste. Sie wurden mehr und mehr von einer romantischen Stim-mung erfasst.

Nach einiger Zeit erklärte Rolf etwas ernüchtert: „Die Plattensind jetzt durch, wir müssen von vorn beginnen.“ „Das ist doch Un-sinn“, warf Gunter, schon leicht angeheitert, ein. „Da singe ich dochlieber mal die ,Caprifischer‘.“ Und der einstige Star des Holtz-Cho-res sang aus voller Brust: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meerversinkt, und am Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt ... .“Nachdem der Beifall verklungen war, erklärte Rolf: „Du singst jabesser als Rudi Schuricke (12), wenigstens nicht so schmalzig.“ UndPeter ergänzte: „Darauf müssen wir noch einen trinken.“ Er öffnete

eine Flasche „Glühwürmchen“, die er mitgebracht hatte – ein sehr

süßer, grünlich fluoreszierender Likör – und goss allen etwas ein.Gunters Glas aber füllte er bis zum Rand. „Das musst du jetzt aber,ex‘ trinken.“ Das tat Gunter tatsächlich, nachdem er zuvor noch mitPeter angestoßen hatte. Kurz darauf aber brach er zusammen undlandete im Stachelbeerstrauch. Die Mädchen machten besorgteGesichter, aber Werner erklärte mit dem Anspruch des Experten:„Der kommt gleich wieder zu sich. Am besten täte es ihm, wenn wirihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gießen würden.“ „Pechgehabt, die Regentonne ist leer, nachdem es so lange nicht geregnethat“, stellte Rolf fest. Peter, erschrocken und doch etwasschuldbewusst, beugte sich über Gunter, rüttelte ihn durch und gabihm rechts und links ein paar Ohrfeigen. Das schien wirklich gehol-fen zu haben, denn Gunter öffnete die Augen und fragte: „Wo binich?“, ehe er langsam begriff, was geschehen war. Bald darauf stander, wenn auch etwas unsicher, wieder auf seinen beiden Beinen.

„Der Gedanke mit dem kalten Wasser ist gar nicht so schlecht.Im Stadtbad gibt es bestimmt genug Wasser, lasst uns doch alle einkühles Bad nehmen“, schlug Peter vor. „Das ist wirklich eine glän-zende Idee“, pflichtete ihmWolfgang bei, „wir steigen über den Zaun

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und springen einfach ins Wasser.“ „Aber wir haben doch gar keineBadesachen dabei“, wandte Eva ein. „Alles kein Problem, wir ba-den einfach nackt. Es ist ja sowieso fast dunkel, und außer uns wirdwohl um diese Zeit niemand im Bad sein“, entkräftete Rolf den Ein-wand, drückte Wolfgang eine der beiden Sturmlaternen in die Handund holte eine kleine Leiter hinter der Laube hervor. Es war einseltsam anmutender Zug, der sich kurz vor Mitternacht durch dieGartenkolonie zum Zaun des angrenzenden, städtischen Freibadsbewegte. Wolfgang mit der Sturmlaterne schritt allen voran, dichthinter ihm Rolf mit der Leiter, dann folgten zwei Mädchen und diedrei anderen Paare. Gudrun hatte Gunter so gut im Griff, dass erjetzt nicht einmal mehr mit dem Laufen Probleme hatte. An einergünstigen Stelle legte Rolf die Leiter am Bretterzaun des Bades an,kletterte nach oben und sprang über den Zaun auf die andere Seite.Werner stieg als Zweiter über den Zaun. Die beiden fassten danndie Mädchen anArmen und Schultern, bevor diese die höchste Spros-se der Leiter erreichten, und hoben sie nach unten. Mit vereintenKräften wurde auch Gunter über den Zaun gebracht. NachdemWolf-gang sich ausgezogen hatte, tönte er: „Jetzt werde ich erst einmalprüfen, ob auch Wasser im Becken ist“, und sprang kopfüber insWasser. Nach und nach folgten die anderen. Das kühle Wasser wirk-te dann doch auf alle ernüchternd, und selbst Gunter fühlte sichschnell wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.

Lange dauerte es nicht, bis es den Badenden doch zu kühl wur-de, und so verließen sie bald das Becken wieder. Die Jungen rubbel-ten die stärker fröstelnden Mädchen erst einmal trocken und warm.Sie kleideten sich alle an und stiegen über die Leiter wieder in dieGartenkolonie zurück. Danach verteilten sich die Paare von Köh-lers Garten aus auf die Lauben der Nachbargärten, soweit dieseohne Probleme zugänglich waren. Am einfachsten war das natür-lich für Wolfgang, er musste den Laubenschlüssel im nahe gelege-nen Garten seiner Eltern nur aus dem Versteck holen. Gegen dreiUhr morgens trommelte Rolf die Versprengten wieder zusammen,und sie verließen gemeinsam die Gartenkolonie. Für Wolfgang wardieses Gartenfest der Beginn der wilden Jahre. Er ging an den Wo-

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chenenden häufig zum Tanzen, machte dabei die Bekanntschaft vonMädchen ganz unterschiedlicher Herkunft und schleppte sie ab –wie das im Jargon seiner Altersgenossen hieß – ohne dass sich dar-aus engere Beziehungen entwickelten.

Am Morgen des 20. Juni 1948 hörte Wolfgang in den Nachrich-ten von RIAS (13), dass in den drei westlichen Besatzungszonenmit der Durchführung der Währungsreform begonnen worden sei.Jeder Bürger dieser Zonen konnte zunächst 60 Reichsmark im Ver-hältnis 1:1 gegen die neue Währung, die D-Mark, eintauschen. DerRest wurde im Verhältnis 10:1 oder 10: 0,65 abgewertet.Wenige Tagedanach lief in der sowjetischen Besatzungszone die Währungsum-stellung an. Hier erhielt jeder Bürger für 70 Reichsmark 70 Markder neuen sowjetzonalen Währung. Wie Wolfgang durch die Be-richte westlicher Sender erfuhr, waren im Westen praktisch überNacht die Schaufenster mit allen erdenklichen Waren gefüllt. DieMenschen konnten für ihr Geld alles kaufen. Die Zwangsbewirt-schaftung war aufgehoben worden, und die Wirtschaft sprang dankgroßzügiger amerikanischer Anleihen – die Teil des Marshall-Planswaren – an. In der Ostzone änderte sich jedoch nichts. Planwirt-schaft und Zwangsbewirtschaftung dauerten an, die Schaufenster-auslagen waren trostlos wie eh und je, und die Lebensmittelrationenblieben die gleichen wie zuvor. So war es nicht verwunderlich, dasssich für den inoffiziellen Tausch der beiden Währungen sehr bald

ein Kurs von 1:4 zugunsten der Westwährung herausbildete.

Die politische Situation hatte sich in beängstigendem Maße ver-schärft. Am 24. Juni 1948 blockierten die Sowjets alle Land-verbindungen von Westdeutschland nach Berlin, so dass die Westal-liierten auf dem Landwege keinen Zugang mehr zu ihren Besatzungs-bereichen, den westlichen Sektoren in Berlin, hatten. Nur die Luft-korridore waren ihnen noch als Verbindungen geblieben. So organi-sierten die Westmächte eine Luftbrücke nach Berlin, durch die alli-ierte Flugzeuge die Stadt mit allen lebenswichtigen Gütern von denNahrungsmitteln bis zur Kohle für die Energieerzeugung in den West-sektoren versorgten. Erst nach knapp elf Monaten beendete die

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Sowjetunion angesichts der Unwirksamkeit ihrer Maßnahmen dieBlockade. Zuvor war das überwiegend aus Vertretern der demo-kratischen Parteien bestehende Berliner Parlament und die demo-kratisch gewählte Regierung der Stadt von SED-hörigen Demon-stranten aus dem Ostteil der Stadt vertrieben worden. Das führtedann praktisch zur Teilung der Stadt mit jeweils einem Parlamentund einer Regierung im Westen und im Osten. Wolfgang empörtesich über die Versuche der Sowjets, ganz Berlin unter ihre Kontrollezu bringen. Es erfüllte ihn mit tiefer Genugtuung, als er im RIAS dieRede des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter vor über 300.000versammelten Berlinern hörte, die in dem Satz gipfelte: „Ihr Völkerder Welt, schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadtund dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt!“Natürlich diskutierten die Schüler seiner Klasse das aktuelle politi-sche Geschehen im Gegenwartskunde-Unterricht, und Wolfgangstellte fest, dass der überwiegende Teil seiner Mitschüler nicht pro-kommunistisch eingestellt war. Von Beginn des neuen Schuljahrs antraf er sich jeden Nachmittag mit seinen Freunden, Dieter Gerth undGeorg Thaler. Sie erledigten gemeinsam die Hausaufgaben und be-reiteten sich auf das langsam näher rückende Abitur vor. Die dreiwaren sich längst einig, dass in der Ostzone die Sowjetisierung im-mer stärker voranschritt. Aber auch ihr Lehrer, der nur wenige Jah-re ältere Oberschulhelfer Konrad Funke, war ganz offensichtlichein Gegner des kommunistischen Systems. Funke unterrichtete La-tein und Gegenwartskunde. Er wohnte inAltenburg und kam täglichmit dem Zug nach Meuselwitz. Mit ihm unterhielten sich Wolfgang,Dieter und Georg gelegentlich auch noch nach dem Unterricht, weildann jeder seine Meinung offener aussprechen konnte.

Anfang Januar erklärte Konrad Funke der Klasse, er erwarte innächster Zeit den Besuch des Schulrats Winkler und des Leiters derAltenburger Oberschule Dr. Münch. Er wolle in dieser Stunde mitder Klasse eine UNO-Sitzung zum Problem Deutschlandfrage in-szenieren und legte im Voraus fest, welche der wichtigsten Mit-gliedsländer von welchen Schülern vertreten werden sollten. KurzeZeit später fand dann im Beisein der beiden Herren die simulierte

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UNO-Sitzung statt. Frieder Bach als Vertreter der Russischen So-zialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) eröffnete die De-batte mit der folgenden Feststellung: „Die Sowjetunion hat bei denbisherigenAußenministerkonferenzen der Siegermächte, die sich mitder deutschen Frage beschäftigten, immer konsequent die Interes-sen des deutschen Volkes vertreten, getreu der These des Vorsit-zenden des Rates der Volkskommissare Josef Stalin folgend: ,DieHitler kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staatbleiben bestehen.‘ Sie hat immer die Erhaltung der Einheit Deutsch-lands angestrebt, während die Westmächte versuchen, Deutschlandzu spalten und Westdeutschland, ihre Besatzungszonen, in den ge-gen die Sowjetunion gerichteten imperialistischen Block einzubezie-hen. Die Einführung einer eigenen Währung für die westlichen Be-satzungszonen zeigt das ganz deutlich. Durch die danach gewährteMarshallplan-Hilfe soll Westdeutschland in völligeAbhängigkeit vonden USA gebracht werden.“ An dieser Stelle unterbrach SchulratWinkler und stellte dazu einige Fragen an die Schüler.Aber die Dis-kussion über diesen Punkt verlief eher schleppend und vorsichtig,bis Dr. Münch den Schulrat schließlich bat, die simulierte UNO-Sitzung doch einfach weiterlaufen zu lassen. Nun ergriff Dieter Gerthals Sprecher der USA das Wort: „Wir wurden doch zu dieser Vorge-hensweise gezwungen. Es war doch gerade die Sowjetunion, diesich ständig Maßnahmen zur Normalisierung der Lage in Deutsch-land widersetzt hat. Sie behinderte laufend die Arbeit des Kontroll-rats und forderte für sich das Recht, bei einer Währungsumstellungdie neue Währung nach eigenem Ermessen drucken zu dürfen, an-statt einer gemeinsamen Kontrolle des Geldumlaufs zuzustimmen.Im Interesse einer raschen Verbesserung der noch immer katastro-phalen wirtschaftlichen Lage in Deutschland mussten wir einen sol-chen Vorschlag kategorisch ablehnen. Was die Marshallplan-Hilfebetrifft, so will ich nur darauf hinweisen, dass unserAngebot für diesowjetisch-besetzte Zone, ebenso wie für die Sowjetunion selbst unddie osteuropäischen Länder, zurückgewiesen worden ist.“ Und Wolf-gang Hartwig, der Vertreter Großbritanniens, fügte hinzu: „Eine wirt-schaftliche Stabilisierung Deutschlands wird noch zusätzlich von derSowjetunion durch weit überzogene Reparationsforderungen gefähr-

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det. Die umfangreichen Reparationslieferungen aus der sowjetischenZone in die Sowjetunion, die Verstaatlichungen und die Einführungder Planwirtschaft werden eine Gesundung dieses Teils Deutsch-lands auf lange Sicht verhindern.“ Hier schaltete sich WalterReichardt, der Vertreter der Weißrussischen (Bjelorussischen) So-zialistischen Sowjetrepublik, ein: „Die Sowjetunion hat im Kampfgegen den Hitler-Faschismus bei weitem die größten Opfer gebrachtund den höchsten Blutzoll entrichtet. Es ist daher ihr gutes Recht,angemessene Entschädigungen zu fordern. Die Westmächte lehnendas nur ab, um die deutschen Revanchisten und Militaristen zu be-wegen, sich in die imperialistische Front gegen die friedliche So-wjetunion einzureihen.“ „Wenn schon von Fronten und von Milita-rismus die Rede ist, dann muss auch der Aufbau einer kaserniertenVolkspolizei als Vorläufer einer Armee in der SBZ angesprochenwerden“, konterte Werner Gentzsch als französischer Delegierter.„Wir sprechen uns klar gegen eine Remilitarisierung Deutschlandsaus, auf welcher Seite auch immer. Übrigens, was die Truppenstär-ken betrifft, so muss ich doch darauf hinweisen, dass die Stärke dersowjetischen Streitkräfte in der SBZ die der drei westlichen Mächtezusammen in ihren Besatzungszonen um ein Vielfaches übertrifft.“Wieder ergriff Frieder Bach das Wort: „Es liegt doch auf der Hand,dass die Aufforderung der Westmächte an die Deutschen zur Bil-dung einer verfassunggebenden Versammlung in ihren Besatzungs-zonen nichts anderes ist als dieAufforderung zur Bildung eines west-deutschen Separatstaates.“ „Aber spricht es nicht gerade für dieReife der verantwortlichen westdeutschen Politiker, wenn sie denprovisorischen Charakter solcher Institutionen dadurch betonen, dasssie keine verfassunggebende Versammlung, sondern einen parla-mentarischen Rat gebildet haben und anstelle einer Verfassung einGrundgesetz anstreben? Wie der Berliner Regierende Bürgermei-ster Ernst Reuter sehr richtig argumentierte, wird die SpaltungDeutschlands nicht erst durch die Gründung eines provisorischenWeststaats vollzogen, sie existiert bereits infolge der starren undunnachgiebigen Haltung der Sowjetunion in allen Fragen, dieDeutschland betreffen“, hielt Dieter Gerth dagegen. Doch FriederBach beharrte auf seinem Standpunkt: „Die Sowjetunion fordert je-

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denfalls die Bildung einer gesamtdeutschen Zentralinstanz und dieSchaffung einer demokratischen Verfassung unter Mitwirkung vonBeauftragten der Länder, sowie Beauftragten der Parteien, derGewerkschaften und anderer ,antifaschistischer Organisationen‘. Siesieht in dem vom zweiten Volkskongress gewählten Volksrat eineberufene Repräsentation des deutschen Volkes, der die völlige Ent-machtung der Faschisten und die Entfaltung aller demokratischenKräfte garantieren könnte. Aus Wahlen sollte dann eine gesamt-deutsche Regierung hervorgehen, deren Hauptaufgabe die allseitigeDemokratisierung Deutschlands sein müsste.“ „Es ist richtig, dasdeutsche Volk muss frei über seine Zukunft entscheiden können.Deshalb müssen freie und geheime Wahlen zu einem Parlament inganz Deutschland unter internationaler Kontrolle stattfinden. Dannkann am Ende dieses Prozesses eine gesamtdeutsche Regierungdie Geschicke des Landes in ihre Hände nehmen“, stellte mit Wolf-gang Hartwig der Vertreter Großbritanniens fest. An dieser Stelleunterbrach Dr. Münch die simulierte Debatte mit den an Wolfganggerichteten Worten: „Ihr Vorschlag ehrt Sie, aber das ist ihre per-sönliche Sicht der Dinge und nicht die Stellung Großbritanniens. IhrVorschlag entspricht vielmehr der sowjetischen Position. Sie sehen,wie schwierig es ist, ohne Einbringen der eigenen Meinung einenfremden Standpunkt zu vertreten.“ Mit einem Lob für das gelunge-ne Experiment und das Engagement der Schüler verabschiedetensich die beiden Herren. Wolfgang aber dachte: „Dr. Münch weißdoch genau, dass die Sowjets gerade freie Wahlen mit internationa-ler Kontrolle fürchten wie der Teufel das Weihwasser und dass icheben doch den Standpunkt der Westmächte vertreten habe. Aberdie Lüge ist wieder überall auf dem Vormarsch, in der Schule wie inden Medien. Das hatten wir doch schon einmal.“

„Hochöfen gibt‘s in Deutschland vier, und die steh‘n hier!“ Die-ser Text war auf einem Transparent in der Maxhütte (14) inUnterwellenborn zu lesen. Jedesmal, wenn die Schüler auf demWegzurArbeit oder von der Arbeit an diesem Spruchband vorbeikamen,kochte in Wolfgang eine unglaubliche Wut hoch. Er hatte sich imLauf der Zeit daran gewöhnt, dass Spruchbänder mit irgendwelchen

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– nach seiner Meinung unsinnigen – Parolen in der SBZ zumAlltaggehörten. Aber den Text dieses Transparents hielt er für den Gipfelder Unverschämtheit, und daraus machte er auch keinen Hehl. Be-inhaltete dieser Text doch klar und deutlich, dass nur die SBZ alsDeutschland anzusehen sei. Das Ruhrgebiet und auch andere Ortein Westdeutschland mit einer insgesamt viel größeren Zahl an Hoch-öfen sollten demnach Ausland sein.

Die Schüler der Klassen 11a und 11b, deren Zahl sich beim Über-gang vom 10. zum 11. Schuljahr aus verschiedenen Gründen auf fastdie Hälfte reduziert hatte, waren imApril 1949 – mehr oder wenigerunfreiwillig – zusammen mit Schülern der 10. Jahrgangsstufe demRufe „Max braucht Wasser“ gefolgt. Unter diesem Motto wurdenJugendliche zum freiwilligen Arbeitseinsatz – natürlich unbezahlt –beim Wasserleitungsbau für die Maxhütte aufgefordert. Da aber ge-rade zum Zeitpunkt ihrer Ankunft Arbeitskräfte als Hilfe bei der Re-konstruktion des Hochofens III benötigt wurden, mussten dieMeuselwitzer Oberschüler hier in die Bresche springen. Sie waren inausgedienten, mit fortschrittlichen Parolen bemalten Eisenbahnwag-gons untergebracht und schliefen auf Strohsäcken, diesmal immerhinin doppelstöckigen, hölzernen Bettgestellen. Sie arbeiteten zwei Wo-chen lang täglich acht Stunden im vorübergehend stillgelegten, abernoch immer ungemütlich warmen Hochofen, und entfernten mit Spitz-hacken, Hämmern und Meißeln im Bodenstein (15) eingebrannteSchlacken- und Eisenreste in mühevoller Kleinarbeit. Es war eineharte Arbeit. Sie waren froh, wenn sie am Schichtende mit verstaub-ten, dreckverschmierten Gesichtern den Hochofen verlassen konn-ten.Aber keiner von ihnen murrte. Der Hochofen glich einer Baustel-le, überall wurde geklopft und geschweißt. Auf einem Gerüst eineEtage über ihnen verrichteten die Schweißer ihre Arbeit. Einer vonihnen, die Schüler nannten ihn die „Blaue Brille“, fiel ihnen auf, weil erhäufig zwei oder manchmal sogar drei Schichten hintereinander imEinsatz war. Wolfgang bedauerte diesen nicht mehr jungen, abgema-gerten, erschöpften Mann, der, demAktivistenAdolf Hennecke nach-eifernd, offensichtlich seine Gesundheit aufs Spiel setzte. Als sehrunangenehmen Typ hatten die Schüler den für die Rekonstruktion des

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Hochofens Verantwortlichen kennen gelernt. Er war immer nur amHerumschnauzen und trieb die Arbeiter ständig an. Am Sonnabendhatten die Schüler sich bei der Einsatzleitung erkundigt, ob sie aucham Sonntag arbeiten müssten. Das war eindeutig verneint worden.Als am Sonntagmorgen nach einer Woche anstrengender Arbeit alleausschlafen wollten, stürzte derAntreiber laut schreiend in den Eisen-bahnwaggon und beschimpfte die Schüler, weil sie nicht zur Arbeiterschienen waren. Er hörte nicht auf zu schreien. Die nun auch laut-stark vorgetragenen Hinweise der Schüler auf die gegenteilige Aus-kunft, ließ er nicht gelten. Für ihn war ihr Verhalten nichts anderes alsSabotage, und er drohte ihnen sogar. Total verärgert gingen die Schü-ler in dieser vergiftetenAtmosphäre dann doch auch am Sonntag nochzurArbeit.Angesichts dieser Erlebnisse schrieb Wolfgang später vollbitterer Ironie in sein Tagebuch: „Wie glücklich bin ich doch, dass ichjetzt in einer Gesellschaft lebe, in der die Ausbeutung der Menschendurch den Menschen beseitigt worden ist.“

Am 1. Mai, wenige Tage nach seiner Rückkehr aus der Max-hütte, besuchte Wolfgang eine Sportveranstaltung auf dem städti-schen Sportplatz am Park. Im Anschluss daran sprach der örtlicheGewerkschaftssekretär Beinlich von einer eigens für den 1. Maierrichteten Tribüne herab. Seine Rede war mit den üblichen Phra-sen und Parolen durchsetzt. Danach erhielt ein unscheinbar ausse-hender Mann aus der Bevölkerung das Wort, um seine Gedankenzum 1. Mai zu äußern. Nach einem wenig spektakulären Beginn derRede wurden allmählich merkwürdige, manchmal auch etwas wirreZwischentöne hörbar. Doch dann donnerte der knapp Dreißigjähri-ge ganz plötzlich los: „Wir lassen uns nicht alles vorschreiben, undwenn der ,Freie Bauer‘ verboten wird, dann lesen wir eben den,Kleingärtner‘.“ Mit dieser Kritik am Verbot einer Zeitung war aberfür die Funktionäre auf der Tribüne die Grenze des Zumutbaren über-schritten. Sie stellten einfach das Mikrofon ab. Aber der ungestümeRedner ließ sich nicht bremsen. Das Publikum wurde unruhig, weiles wohl doch gern auch den Rest der Botschaft direkt aus demVolke verstanden hätte. Da stürzten sich mehrere Funktionäre aufden Mann, der seine Rede fortsetzen und den Platz nicht räumen

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wollte. Sie packten ihn an Armen und Beinen, zerrten ihn von derTribüne und trugen ihn zu viert über den Sportplatz. Sofort war dieGruppe von einer Menschenmenge umringt. Polizisten und einigewillfährige Helfer versuchten, die Massen an einer Seite abzudrän-gen. Doch die Massen rückten immer wieder nach. Die vier Vertei-diger der öffentlichen Ordnung, unter ihnen GewerkschaftssekretärBeinlich, konnten sich so mit ihrem Opfer nur sehr langsam auf einhinter dem Sportplatz stehendes Auto zu bewegen. Der Rebell ver-suchte vergeblich, sich loszureißen, aber die vier hatten ihn sicherim Griff. Einer von ihnen schlug den Mann brutal mit der Faust insGesicht, so dass er aus Mund und Nase blutete. „Ich sterbe fürDeutschland,“ rief der leicht verwirrte Mann. Der Schläger war der„Dackel“, jener krummbeinige Mann mit dem quadratischen Ge-sicht, der für die freundschaftliche Begrüßung der Sowjettruppenbei ihrem Einzug und später als Polizeikommissar für Angst undSchrecken unter der Bevölkerung gesorgt hatte. Vorsichtige Rufe:„Feiglinge“, und: „So macht man Leute mundtot“, waren aus demHintergrund zu hören. Man hatte den Eindruck, gleich würde derunsichtbare Damm brechen und die Menge über die vier herfallen,um das Opfer zu befreien. Doch der Funke, der die Explosion aus-gelöst hätte, blieb aus. Nach mühevollem Kampf durch die Men-schenmassen wurde der Rebell, der jetzt jede Gegenwehr aufgege-ben hatte, ins Auto gepackt und unter sicherem Geleitschutz ab-transportiert.

Wenige Tage später wurden Wolfgang Hartwig, Dieter Gerth undGeorg Thaler nach dem Unterricht von ihrem Lehrer Konrad Funkeangesprochen. Er eröffnete ihnen, dass inAltenburg eine Widerstands-gruppe existiere, die sich das Ziel gesetzt hatte, gegen dieAusbreitungder kommunistischen Ideologie, besonders an den Schulen, zu kämp-fen. Nach ihrem gemeinsamen Entschluss, sich der Gruppe anzuschlie-ßen, trafen sich die drei Schüler mit Konrad Funke und Karl-HeinzBörner, genannt „Six“, eines Abends in Georgs Elternhaus. Six wareinAltenburger Oberschüler, der in Zschernitzsch wohnte, einem klei-nen, an Altenburg angrenzenden Dorf, in dem sein Vater das Pfarr-amt ausübte. Georg kannte ihn schon aus seiner Schulzeit am Alten-

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burger Gymnasium. Konrad erläuterte, dass aus Sicherheitsgründenimmer nur drei Mitglieder der Gruppe zusammenarbeiten sollten. Sowürden die Kenntnisse einzelner über die Zugehörigkeit anderer Per-sonen zur Gruppe eng begrenzt. Er wolle ihnen von Zeit zu Zeit Flug-blätter mitbringen, die sie dann persönlich – unabhängig voneinander– an vertrauenswürdige Schüler weitergeben sollten. Jeder von ihnensolle auf diese Weise nur drei Mitschüler versorgen, von denen auchwieder jeder Kontakt zu drei weiteren Personen aufnehmen könne.Außerdem riet Konrad den dreien, in die FDJ (16) einzutreten. Einer-seits sei das Abitur ohne Mitgliedschaft in dieser Organisation kaumnoch möglich, andererseits könne man sich dann über die aktuellenAbsichten und Ziele dieser kommunistisch gelenkten Organisation bes-ser informieren, und schließlich sei man als FDJ-Mitglied wenigerverdächtig, ein Gegner des Systems zu sein. Die drei befolgten Kon-rads Rat bald. Dieter wurde sogar kurz darauf zum Kulturleiter derFDJ-Oberschulgruppe gewählt und gründete einen Literaturzirkel. ImRahmen dieses Zirkels versuchte er, den jüngeren Mitschülern huma-nistisches und pazifistisches Gedankengut zu vermitteln und unter demSchutz von Buchbesprechungen oppositionelle Meinungen zu äußern.Gerade unter dem Eindruck des beginnenden Aufbaus einer Armeeunter dem Deckmantel der kasernierten Volkspolizei waren Bücherwie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ als Argu-mente gegen Krieg und Militarismus besonders gut geeignet. In die-ser Weise wirkte Dieter dann bis zu seinem Abitur 1950.

Konrad versorgte die drei Freunde auch mit verbotener, anti-kommunistischer Literatur wie Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“und Edwin Erich Dwingers „Und Gott schweigt“. Diese Bücherwaren unvorsichtigerweise innen noch mit einem Stempel „Anti-Kominform“ versehen, dem Namen derAltenburger Gruppe. Georglas gerade das letzte der beiden genannten Bücher und hatte es inseinem Zimmer auf dem Schreibtisch liegenlassen, da tauchte plötz-lich der „Dackel“ im Thaler‘schen Hause auf. Gegen einen von Ge-orgs älteren Brüdern, der nach dem Tod der Eltern zusammen mitseiner Familie und mit Georg das Haus bewohnte, waren irgendwel-che Anschuldigungen erhoben worden. So schnüffelte der „Dackel“

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im ganzen Haus herum. Dabei fiel ihm auch das besagte Buch in dieHand. Georg schien in diesem Augenblick das Herz stehen zu blei-ben. Aber wegen des Titels und der bekannten Religiosität der Fa-milie hielt der Mann es wohl für ein Buch mit religiösem Inhalt undlegte es wieder an seinen Platz zurück, ohne hineinzuschauen.

Der Inhalt der Flugblätter, die Konrad den dreien mitbrachte unddie von ihnen weitergegeben wurden, richtete sich insbesonderegegen die Aufstellung einer einzigen Einheitsliste bei den Wahlenzum sogenannten Volkskongress, gegen das Übermaß der Repara-tionen, die von den Sowjets aus ihrer Besatzungszone herausgepresstwurden, gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und den Hassund die Lüge in den Medien als Mittel des Kampfes gegen alle Geg-ner des Kommunismus. Die Zahl der Flugblätter blieb allerdings rechtbegrenzt, denn im Juli, am Ende des Schuljahres, wurde KonradFunke an das Landschulheim inWindischleuba in der Nähe vonAlten-burg versetzt. Dadurch riss der konspirative Kontakt zu seinenMeuselwitzer Schülern eigentlich ab, selbst wenn Wolfgang ihn nochein- oder zweimal in seinerAltenburger Wohnung besuchte. Bei die-ser Gelegenheit hatte Wolfgang eher beiläufig von den Verbindun-gen der Altenburger Gruppe zur Kampfgruppe gegen Unmensch-lichkeit (KgU) in West-Berlin erfahren. Das beunruhigte ihn, dennes war allgemein bekannt geworden, dass diese und ähnliche Organi-sationen inzwischen von Spitzeln der DDR durchsetzt waren.

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3. Kapitel

Mit Beginn des neuen Schuljahres Ende August 1949 wurde fürWolfgang und seine Klassenkameraden die letzte Runde vor demAbitur eingeläutet. Die Zahl der Schüler in der neuen 12b hatte sichauf vierzehn verringert. Da die sprachlich orientierte Klasse 12ajetzt nur noch aus vier Schülerinnen und vier Schülern bestand, wur-de der Unterricht in mehreren Fächern wie Deutsch, Geschichte/Gegenwartskunde, Englisch, Biologie und Geographie für die beidenKlassen zusammengelegt. Englisch blieb glücklicherweise imAbiturdie erste Fremdsprache, obwohl in der DDR allgemein Russisch dieerste Fremdsprache sein sollte. Den Deutschunterricht in der parti-ell vereinigten Klasse übernahm nun die Direktorin Fräulein Foersterselbst. Klassenlehrer wurde ein neues Mitglied des Kollegiums,Günter Brandt. Die Schüler nannten den sympathischen, sehr im-pulsiven Lehrer ‘Brandi’. Er unterrichtete Englisch, Geschichte undGeographie. Brandi war um die dreißig, hatte dunkles, leicht gewell-tes Haar und einen so starken Bartwuchs, dass er immer unrasiertwirkte. Er wohnte in Altenburg und kam täglich mit dem Zug nachMeuselwitz. Während des Krieges war er in den USA in Gefangen-schaft gewesen. Er hatte dort sogar studieren können und sprachnatürlich ein hervorragendes Englisch. Das zweite wichtige Fach,das er in der Klasse unterrichtete, war Geschichte/Gegenwartskun-de. Das war deshalb so wichtig, weil in diesem Fach imAbitur jederSchüler in die mündliche Prüfung musste. Da es nach dem Kriegüberhaupt keinen Geschichtsunterricht gegeben hatte, musste nundie gesamte deutsche Geschichte in einem Schuljahr durchgenom-men werden. Ein weiterer wichtiger Lehrer für die 12b war KurtPenndorf, der die Klasse schon mehrere Jahre in Mathematik un-terrichtet hatte, nun aber auch noch für die Fächer Chemie und Physikzuständig war, beides Hauptfächer für den naturwissenschaftlichenZweig, wie auch Biologie. Penny, wie er von den Schülern genanntwurde, hatte als Kriegsversehrter Chemie studiert. Seine pädagogi-schen Fähigkeiten schätzten die Schüler sehr, denn er konnte einenSachverhalt sehr gut erklären und die Zusammenhänge deutlich

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machen, was nicht für jeden Lehrer zutraf. Die Physik lag ihm aller-dings weniger.

Werner Gentzsch hatte bisher nicht zu den Fleißigsten gehörtund spürte nun wohl, dass die Lage langsam ernst wurde. So fragteer gleich zu Beginn des Schuljahres bei Wolfgang, Dieter und Georgan, ob er sich zusammen mit seinem Freund Gunter Kretzschmar anderen Arbeitsgemeinschaft beteiligen könne. Es sei auch möglich,sich an den Abenden und eventuell auch an den Wochenenden beiihm zu treffen und zusammen im Büro des elterlichen Geschäfts zuarbeiten. Dort stünden auch zwei Schreibmaschinen zur Verfügungund man habe mehr Platz. Wolfgang, Dieter und Georg erklärtensich damit einverstanden unter der Voraussetzung, dass wirklich ernst-haft gearbeitet würde. Häufig stieß auch noch Helmut Lange ausder 12a zu der Gruppe, und die sechs arbeiteten wirklich erfolgreichzusammen. Wenn abends nach 23 Uhr die Arbeit getan war, ludWerner die anderen meist noch zu einem Bier ein. Sie zogen dann indieses oder jenes Lokal und tranken jeder ein Bier. Werner waroffensichtlich in vielen Lokalen kreditwürdig, denn er ließ fast im-mer anschreiben. Anfangs war es Wolfgang und seinen Freundenpeinlich, dass sie sich nicht revanchieren konnten, denn sie warenarme Schlucker. Wie oft hatten sie zuvor die letzten Reste ihresTaschengelds zusammengekratzt und für 30 Pfennige drei Zigaret-ten gekauft, die sie dann einzeln rauchten, indem abwechselnd jedereinen Zug machte. Doch Werner beschwichtigte sie: „Macht euchdeshalb keine Sorgen, ich kann das ohne Probleme bezahlen.“ UndWolfgang dachte so für sich, da wird er sicher ein ziemlich dickesTaschengeld von seinen Eltern bekommen. Als Getreidegroßhändlerdürfte sein Vater bestimmt nicht arm sein.

Die Meuselwitzer Oberschüler müssen 1949 doch sehr beschäf-tigt gewesen sein, denn erst kurz vor Jahresende stellte man fest, dassin diesem Jahr überhaupt noch kein Wandertag stattgefunden hatte.So wurde kurioserweise der letzte Schultag vor Weihnachten, der 21.Dezember, als Wandertag vorgesehen. Doch vor die Kür hatte derKreisschulrat die Pflicht gesetzt. Aus Anlass des 70. Geburtstages

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von Josef Stalin musste an diesem Tag eine Gedenkfeier veranstaltetwerden. Die Festrede in der Aula vor der versammelten Schüler-schaft und dem Lehrerkollegium hielt der Leiter der FDJ-Oberschulgruppe Klaus Hoffmann. Wie man bei einem solchenAnlasserwartete, war Klaus natürlich mit einem FDJ-Blauhemd bekleidet.Dieter Gerth war heilfroh, dass der übereifrige Klaus, ein Schüler ausder 11b, nicht auf den Gedanken gekommen war, diese Aufgabe anihn, den Kulturleiter zu delegieren. Er wäre dann wohl in große Ge-wissenskonflikte gestürzt. Aber Klaus löste seine Aufgabe im Sinneder Staatsmacht ganz hervorragend. Er lobte Stalin als den genialenFührer der werktätigen Massen, der sich für sie aufopfert, ihre Sor-gen und Nöte kennt und sie in eine bessere Zukunft führt. Er pries ihnals den hervorragenden Wissenschaftler, der den Marxismus-Leninis-mus in genialer Weise weiterentwickelt hat. Wolfgang wurde übel beiso viel Schleimscheißerei. Weder Wolfgang noch seine Freunde hat-ten die Rede des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck auf der Fest-veranstaltung amVorabend von Stalins Geburtstag gehört, sonst wäreihnen aufgefallen, dass Klaus Hoffmann sich stark an dieser Redeorientiert hatte. Im „Neuen Deutschland“, dem Parteiorgan der SEDvom 21.12.1949, war die Rede natürlich abgedruckt, und man konntedort u.a. lesen: „Er <Stalin> ist der Genius der werktätigen Massen.Er kennt die Nöte, die Wünsche und die Sehnsucht der einfachenMenschen, er verleiht ihnen Ausdruck, er ist es, der die Massen inklarer, wissenschaftlicher Erkenntnis auf demWeg ihrer Befreiung zuWohlstand und Glück führt. (...) Und eben darum sind die MillionenMenschen-Massen in allen Ländern dem Genossen Stalin in tieferLiebe zugetan, darum sind sie Stalin treu ergeben und folgen zuver-sichtlich seinem siegreichen Banner. Stalin ist der Genius der Massen,er ist es seiner Herkunft, seinem Leben, seinem Werke nach.“

Da Wolfgang und seine Freunde die Rede Piecks nicht gehörthatten, war ihnen natürlich auch Folgendes entgangen: Im Umkreisvon Altenburg war die Übertragung dieser Rede am Abend des 20.Dezembers häufig von Störsignalen überlagert und unverständlichgemacht worden. Am Ende konnte man einen kurzen Kommentardazu hören, der ganz sicher nicht über die DDR-Rundfunkanstalten

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ausgestrahlt worden war. Tatsächlich hatten Mitglieder der Gruppeum Konrad Funke in einem waghalsigen Unternehmen einen Sen-der zusammengebastelt und die Rede auf diese Weise gestört. TrotzungewöhnlicherAnstrengungen konnte die Polizei nicht den gering-sten Hinweis auf die Urheber dieser Aktion erhalten.

Schon während der Feier in der Aula begann es, in Strömen zuregnen. Wolfgang meinte später zu Georg: „Der Himmel hat alleSchleusen geöffnet, um durch dicke Tränen seine Meinung über dieseVeranstaltung kundzutun.“ Der Wandertag musste also sinnvoll um-gestaltet werden. So zogen die Klassen 12a/b und 11a zusammen mitBrandi, Penny und der Klassenlehrerin der 11a, Fräulein Hellwig, zumnahe gelegenen Bahnhof und fuhren mit dem 12-Uhr-Zug RichtungLeipzig bis zur ersten Haltestelle Meuselwitz-Heurekagrube. Dortmusste man nur über die Straße gehen, um zur Gaststätte „FröhlicheWiederkunft“ zu gelangen. Werner Gentzsch kannte den Sohn desInhabers gut. Mit Hilfe dieser Beziehung konnten die „Wanderer“ ineinem etwas größeren Raum der Gaststätte ungestört ihren Wander-tag auf recht unkonventionelle Weise gestalten. Die Atmosphäre warsehr locker. Es wurden Bier und Limonade getrunken, Witze undAn-ekdoten erzählt. Da und dort hatten sich zwischendurch auch kleineGruppen gebildet. So verging die Zeit, man hatte Spaß und saß imTrockenen. Die beiden Lehrer spendierten einigen Schülern sogar eineRunde Schnaps, verbunden mit der Anregung, die Stimmung durcheinige Gesellschaftsspiele noch zu steigern. Und das geschah dannauch.Allen, die nicht mit geschlossenenAugen durch die Welt liefen,musste dabei auffallen, dass Brandi Gefallen an der dunkelblondenSigrid Haas aus der 11a gefunden hatte, und die Zuneigung schienauch von ihr erwidert zu werden. Sigrid, das Häschen genannt, warnach Wolfgangs Einschätzung eher ein etwas unscheinbares Mäd-chen. Den Schülern und Schülerinnen machte es offensichtlich Spaß,bei den an sich harmlosen Gesellschaftsspielen Brandi und Häschenimmer wieder zusammen zu bringen. Obwohl diesmal die zum Auf-bruch mahnende Stimme der Anna fehlte, verließen die Wandererkurz vor 24 Uhr das Lokal, um mit dem letzten Zug zurückzufahren.An der Zughaltestelle sangen sie noch bis zur Ankunft des Zugs laut-

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stark ihren Klassensong, den Brandi ihnen beigebracht hatte: „Showme the way to go home“. Aber Brandi ließ sich den Weg nach Hausenicht zeigen. Er und das Mädchen blieben in der Gaststätte zurück,was manchen der Wanderer nicht überraschte. Christian kommen-tierte das mit demAusspruch: „Wieder eine Jungfrau weniger!“ Dochauch Penny übernachtete in der „Fröhlichen Wiederkunft“ zusammenmit Christine Lehmann, einer groß gewachsenen, etwas eingebildetenSchülerin. Nach den Weihnachtsferien ging Penny sofort wieder aufDistanz zu Christine. Jeder konnte sich vorstellen, dass er bei dernächsten Gelegenheit sie in seiner betont energischenArt fragen würde:„Lehmann, warum haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht?“Doch die Beziehung zwischen Brandi und dem Häschen dauerte anund entwickelte sich zu einer folgenschweren Affäre.

An einem Montagmorgen – es muss wohl der 23. Januar gewe-sen sein – erschien ganz unerwartet Fräulein Foerster zur erstenUnterrichtsstunde in der Klasse 12a/b. In ungewöhnlich strengemTon begann sie: „Ich habe erst gestern erfahren, dass Herr Brandtein Verhältnis mit Sigrid Haas hat. Alle haben es gewusst, nur FrauBrandt und ich nicht. Selbst in der Stadt wurde schon darüber ge-sprochen. Ich missbillige das sehr und bin auch ungehalten darüber,dass mich niemand über die Angelegenheit informiert hat. HerrBrandt hat jetzt einen Nervenzusammenbruch. Er ist erst einmalkrank geschrieben und wird danach auch nicht wieder an unsereSchule zurückkommen.“ Den Schülern war der Schreck in die Glie-der gefahren. Zwei, drei Minuten lang herrschte erst einmal betre-tenes Schweigen in der Klasse. Dann raffte sich Dieter Gerth auf:„Fräulein Foerster, wir stehen wenige Wochen vor dem Abitur. Dieschriftlichen Prüfungen beginnen Anfang Mai, und Herr Brandt un-terrichtete zwei von sechs Prüfungshauptfächern bei uns. Es wäreeine Katastrophe, wenn er in dieser Situation die Schule verlassenwürde. Versuchen Sie doch bitte alles, um das zu verhindern.“ „Ichkann da überhaupt nichts mehr machen“, antwortete dieAnna, „FrauBrandt besteht darauf, dass ihr Mann an eine andere Schule wech-selt, eine reine Jungenoberschule. Es hat wohl schon früher einmalein ähnliches Problem gegeben. Es tut mir leid, aber so liegen die

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Dinge. Durch Herrn Brandts Fehlen werden Sie jetzt erst einmaleine Freistunde haben.Ab morgen wird die Vertretung geregelt sein.“Danach verließ sie das Klassenzimmer. Unter den Schülern beganneine heftige Diskussion. Schließlich erklärten sich Dieter Gerth undHelmut Lange bereit, in der großen Pause noch einmal mit der Annazu sprechen. Aber dieAnna blieb bei ihrer Einschätzung der Situati-on, sie habe da keine Einflussmöglichkeiten mehr. „Das Einzige, wasSie noch tun könnten, wäre selbst mit Frau Brandt zu sprechen.Aber so wie ich die Lage beurteile, haben Sie kaum eine Chance,dass Frau Brandt ihren Standpunkt ändern wird. Sollte sie das aberwirklich tun, dann müsste Sigrid Haas an eine andere Schule wech-seln“, erklärte die Direktorin.

Dieter und Helmut fuhren mit dem Nachmittagszug nach Alten-burg. Nach einigem Suchen hatten sie Straße und Hausnummer ge-funden und klingelten schließlich an der Wohnungstür in der erstenEtage. Eine kleine, schmächtige Frau, die aber einen sehr energischenEindruck machte, öffnete. „Bei der werden wir wohl auf Granit bei-ßen“, dachte Dieter. Die beiden stellten sich vor und sagten, HerrBrandt sei ihr Klassenlehrer, und sie hätten gern mit ihm und seinerFrau gesprochen. Für einen kurzenAugenblick verdrängte ein schalk-haftes Lächeln die Strenge aus ihrem Gesicht: „Ihre Namen sind mirschon bekannt, mein Mann hat mir von Ihnen erzählt. Es ist nett vonIhnen, dass Sie uns besuchen. Mein Mann hatte einen Nervenzusam-menbruch und ist dabei, sich langsam wieder zu erholen. Jetzt hat erendlich einmal Zeit für Dinge, zu denen er bisher einfach nicht ge-kommen ist. So stand schon lange eine größere Zahnreparatur an, dienun inAngriff genommen worden ist.Aber treten Sie doch bitte ein.“Als die beiden Schüler das Wohnzimmer betraten, stellten sie ver-wundert fest, dass am Kaffeetisch neben Brandi auch Penny saß, derzweite „Sünder“. Nach der Begrüßung wurden Dieter und Helmutvon Brandi und seiner Frau zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Schnellkamen Dieter und Helmut auf den Grund ihres Besuchs zu sprechenund schilderten Frau Brandt die katastrophale Situation, in die sie durchden Weggang ihres Mannes so kurz vor dem Abitur geraten würden.Sie aber blockte sofort heftig ab. „Es hat schon früher an einer ande-

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ren Stelle einen ähnlichen Fall gegeben. Daher wird mein Mann inZukunft nur noch an einer reinen Jungenoberschule unterrichten.“„Aber Sigrid Haas müsste auf jeden Fall an eine andere Schule wech-seln, wenn Ihr Mann zurückkäme“, argumentierte Helmut. „Das hatdie Direktorin, Fräulein Foerster, als unumstößliche Bedingung fest-gelegt“, ergänzte Dieter. Penny unterstützte die beiden nach Kräften,und Brandi versprach seiner Frau, dass es in Zukunft keine solchenFehltritte mehr geben werde. Über zwei Stunden dauerte das zäheRingen, dann war der Widerstand gebrochen, und Frau Brandt erklär-te sich damit einverstanden, dass ihr Mann wieder an die MeuselwitzerOberschule zurückkehre, sobald er gesund sei und Sigrid Haas dieSchule verlassen habe.

Sehr erleichtert und zufrieden über dieses positive Ergebnis mach-ten sich Helmut und Dieter zusammen mit Penny auf den Weg zumBahnhof. Unterwegs erzählte Penny ihnen, was sich schon am Mor-gen im Kollegium herumgesprochen hatte. Als Frau Brandt von derAffäre ihres Mannes erfahren habe, sei sie mit dem Nudelholz aufihn losgegangen. Das sei die Ursache für die jetzt fällige Zahn-reparatur. „Ja, das angeblich schwache Geschlecht hat doch immerdie besseren Waffen, und wenn sie aus dem Küchenarsenal stam-men“, bemerkte Helmut lakonisch. Aber was auch immer gewesenwar, die Angelegenheit schien jetzt im Sinne der Schüler geregelt zusein. Und tatsächlich nahm Brandi nach etwas über zwei WochenPause seine Unterrichtstätigkeit wieder auf.

Nach dem Weggang seines älteren Bruders war Georg in dasNachbarhaus umgezogen und bewohnte dort in der zweiten Etageein Zimmer, das ihm eine alte Tante abgetreten hatte. Am Abenddes 25. März, einem Sonnabend, las er bei Kerzenschein ArthurKoestlers „Sonnenfinsternis“. Aus Gründen der Energieeinsparungwar im Bereich der Stadt wieder einmal der Strom abgeschaltetworden, wie das wöchentlich drei- bis viermal geschah. Plötzlichwurde er durch ein leises Geräusch gestört, das sich anhörte, als seiein Steinchen gegen die Fensterscheibe geflogen. Kurz darauf ver-nahm er noch einmal ein kurzes „Klick“. „Ach ja, die Klingel funk-

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tioniert wegen der Stromsperre nicht“, dachte Georg, „aber wer willdenn um diese Zeit noch zu mir?“ Er ging zum Fenster und konnteauf der Straße in der Dunkelheit nur die Umrisse eines Manneswahrnehmen. Bedächtig ging er mit der Kerze in der Hand die alte,schon etwas klapprige Treppe hinunter. Als er die Tür geöffnet hat-te, erkannte er Six alias Karl-Heinz Böhme. „Du Six, zu so späterStunde?“, fragte Georg erstaunt. „Ich erkläre dir gleich alles, lassuns erst einmal das Fahrrad unterbringen.“ Georg bemerkte erstjetzt, dass Six mit dem Fahrrad gekommen war. In der Wohnungangekommen, brach es aus Six heraus: „Unsere Altenburger Grup-pe ist aufgeflogen. Konrad Funke ist verhaftet worden und wenigs-tens noch zwei weitere Leute. Ich fürchte aber, es sind noch vielmehr. Ihr drei Meuselwitzer müsst jedoch nichts befürchten. AußerKonrad weiß nur ich über euch Bescheid. Ich bin überzeugt, Kon-rad wird eure Namen nicht preisgeben. Außerdem seid ihr ja auchnicht in unsere Aktivitäten des letzten halben Jahres verwickelt ge-wesen. Kann ich denn bei dir übernachten? Ich werde erst morgenAbend versuchen, über Zeitz nach West-Berlin zu fliehen.“ (17)Georg war kreidebleich geworden, so war ihm der Schreck in dieGlieder gefahren. „Aber natürlich kannst du so lange hierbleiben.Jetzt bereite ich dir erst einmal ein kleines Abendbrot, und dann er-zählst du mir, was im Einzelnen geschehen ist“, antwortete Georg,jedes Wort betonend. Schon während des Abendessens begann Sixmit der Schilderung seiner Flucht. „Wir hatten glücklicherweise amDienstag, das war der 21., ebenfalls Stromsperre. Nach 22 Uhr klopf-te plötzlich jemand sehr heftig an die Haustür. Ich ging mit der Ker-ze in der Hand nach unten und öffnete die Tür. Vor mir standen dreiverdächtig gekleidete Männer. Sie hielten mich bei der spärlichenBeleuchtung offensichtlich für meinen Vater, denn einer von ihnensagte: ,Wir müssen dringend Ihren Sohn sprechen!‘ Mir wurden dieKnie weich, aber ich riss mich zusammen und fragte mit pastoralemUnterton: ,Um welchen meiner beiden Söhne handelt es sich denn?‘,Es geht um Ihren Sohn Karl-Heinz‘, antwortete der Mann im Re-genmantel. Die beiden anderen tuschelten miteinander, trotzdembemerkte ich, dass einer von ihnen einen russischen Akzent hatte.Mir schien es fast die Kehle zuzuschnüren, als ich betont langsam

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sprechend antwortete: ,Karl-Heinz schläft schon, aber ich werdeihn wecken. Es wird jedoch einen Moment dauern, er muss sich jaerst ankleiden.‘ So hoffte ich, einen kleinen, zeitlichen Vorsprung zugewinnen. Ich ließ die Tür offen, um keinen Verdacht zu erregenund schlurfte leicht gebückt nach oben. Auf der Rückseite des Hau-ses sprang ich von einem Fenster aus in den Garten und kletterteüber den Zaun auf das Nachbargrundstück. Von dort aus gelangteich dann auf Schleichwegen von Zschernitzsch nach Altenburg. Erstjetzt wurde mir klar, wie knapp ich den Häschern entkommen war,wie eng das gewesen ist. Trotzdem war ich noch längst nicht inSicherheit. Ich vermied es natürlich, zu meiner Freundin zu gehen,weil ich vermutete, man würde dort zuerst nach mir suchen. Alsoklingelte ich mitten in der Nacht einen guten Bekannten aus demSchlaf. Der gewährte mir auch Unterkunft für die erste Nacht mei-ner Flucht. Aber vorsichtshalber habe ich in der Zeit von Mittwochbis heute mehrfach meinen Aufenthaltsort gewechselt. Gestern mit-tag gelang es mir noch, in meinem Versteck Kontakt mit einem Mit-glied unserer Gruppe aufzunehmen. Von ihm erfuhr ich, dass Kon-rad Funke am Dienstag und zwei weitere Mitglieder der Gruppe inden frühen Morgenstunden des Freitags verhaftet worden seien.Außerdem erzählte er mir, dass meine Freundin wenige Stundennach dem Versuch meiner Verhaftung mitten in der Nacht aus demBett geholt worden sei, weil man mich bei ihr vermutete. Sie hatdanach den Rest der Nacht im Polizeigewahrsam verbracht undwurde erst am Vormittag wieder freigelassen.“

Am Sonntagmorgen ging Georg zunächst zu Wolfgang und batihn mitzukommen. Six berichtete auch diesem über seine Flucht unddie Verhaftungen in Altenburg. Er bat Wolfgang, ihn am Abend inRichtung Zeitz zu bringen, da er vorsichtshalber nicht in Meuselwitz,sondern an einer kleineren Station in den Zug einsteigen wolle. „Dasist überhaupt kein Problem“, erklärte Wolfgang, „ich werde dich zumBahnhof nach Rehmsdorf bringen, der übernächsten Station nachMeuselwitz. Ich kenne mich da sehr gut aus, und wir können aufwenig benutzten Wegen dahin gelangen.“ Am Nachmittag fuhrWolfgang aber erst noch nach Altenburg, um die Situation dort zu

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erkunden. Karl-Heinz hatte ihm die Namen dreier Schulkameradengenannt, die nicht mit zur Gruppe gehörten, aber als absolut zuver-lässig galten und niemanden verraten würden. Er solle einfach sa-gen, er käme von Six. Dann wisse jeder Bescheid, dass er wirklichin seinemAuftrag käme. Die Namen Frank Becker, Thomas Eichlerund Rudi Geiger und die Adressen prägte sich Wolfgang gut ein.Trotzdem fühlte er sich nicht ganz wohl bei seinem Vorhaben. Sowar es ihm ganz recht, dass er auf dem Bahnhof in MeuselwitzIsolde Werner traf, eine Schulkameradin aus der 11a, die auch nachAltenburg fahren wollte. „Wenn wir in Altenburg zusammen durchdie Bahnhofssperre gehen, ist das viel weniger auffällig“, dachte er,denn Six hatte ihm erzählt, der Bahnhof werde stark kontrolliert.Aber er konnte keine Überwachung in irgendeiner Form feststellen,als er zusammen mit Isolde den Bahnhof durch den Nebenausgangan der Seite des Bahnhofsgebäudes verließ, der normalerweise vonden Fahrgästen aus Richtung Zeitz benutzt wurde. Ein Stück ging ernoch mit Isolde zusammen, dann trennten sich ihre Wege. Bald dar-auf erreichte er das Einfamilienhaus, in dem die Familie Beckerwohnte. Wolfgang fragte die Frau, die in dem kleinen Vorgartengerade ihre Blumen versorgte, nach Frank Becker. „Mein Sohn istnicht zu Hause“, antwortete sie, „was möchten Sie denn von ihm?“Wolfgang überlegte einen Augenblick. Sollte er einfach zu Eichlersweitergehen, oder sollte er hier Farbe bekennen? Im Hause schienalles ruhig zu sein. Die Frau Becker machte einen vertrauenswürdi-gen Eindruck, und da Privatpersonen kaum im Besitz von Telefonen

waren, konnte man annehmen, dass sie – falls sie das gewollt hätte

– die Polizei nicht so schnell benachrichtigen könnte. Also sagte ereinfach, wie mit Karl-Heinz abgesprochen: „Ich komme von Six,der von ihrem Sohn etwas über die Situation hier in Altenburg erfah-ren möchte.“ „Frank besucht gerade die Eltern von Thomas Eichler,der jetzt auch verhaftet worden ist“, antwortete Frau Becker. „Eshat hier in Altenburg eine ganze Reihe von Verhaftungen gegeben,aber Genaueres weiß ich auch nicht. Wo kommen Sie denn her?Wo befindet sich Six?“ „Das möchte ich Ihnen nicht sagen. Ich hof-fe, Sie verstehen das“, erwiderte Wolfgang, bedankte sich bei ihrund entfernte sich. „Da habe ich zum Glück instinktiv das Richtige

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getan, dass ich doch mit Frau Becker gesprochen habe und nicht zuEichlers weitergegangen bin“, dachte Wolfgang, „dort wäre ichwahrscheinlich direkt in eine Falle gelaufen.“ Er beschloss, auchRudi Geiger nicht mehr aufzusuchen, weil ihm das zu gefährlicherschien. Möglicherweise war ja auch der inzwischen verhaftetworden, und das Haus stand unter Beobachtung. So kehrte er ge-gen Abend ohne konkrete neue Erkenntnisse nach Meuselwitz zu-rück. Auch Dieter war in der Zwischenzeit von Georg eingeweihtworden und brachte das Fahrrad nach Oberzetzscha zu den Ver-wandten von Karl-Heinz zurück. Dort hatte sich Six am letzten Tagvor seiner Fahrt nach Meuselwitz aufgehalten.

Wie geplant brachen Karl-Heinz und Wolfgang bei beginnenderDämmerung auf. Sie verließen das Haus kurz nacheinander, wähltenzunächst verschiedene Wege und trafen sich nach mehreren hundertMetern in der Nähe des Mühlteichs. Von dort aus gingen sie durch dieSchnauderwiesen zum westlichen Rande Zipsendorfs. Unmittelbarneben dem Bahnübergang der LinieAltenburg-Zeitz folgten sie einemkleinen Fußweg, eher eine Art Trampelpfad, der meist entlang derBahnlinie bis zum Bahnhof Rehmsdorf führte. Tatsächlich waren diebeiden auf dem ganzen Weg nicht einer einzigen Person begegnet.Sie sprachen kaum ein Wort. Six wusste, jetzt würde er bald wiederganz allein auf sich gestellt sein. Am Bahnhof Rehmsdorf angekom-men, erinnerte Wolfgang ihn daran, dass er über Dieters Onkel inWest-Berlin seineAnkunft dort mitteilen sollte. Im Bahnhofsgebäudelöste Wolfgang für Six noch die Fahrkarte nach Zeitz. Dann wartetenbeide auf dem menschenleeren Bahnsteig, bis der Zug einfuhr. Wolf-gangs Abschiedsworte „Also dann, Hals- und Beinbruch!“ erwiderteSix mit: „Danke an euch alle! Und haltet die Ohren steif!“ Noch einfester Händedruck. Die beiden schauten sich einen Moment lang indie Augen und verstanden sich auch ohne weitere Worte. Six stieg inein leeres Abteil. Als der Zug sich in Bewegung setzte, machte sichWolfgang auf den Rückweg. Er fühlte sich ziemlich ausgelaugt. Erstjetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie schwer der Schock war, dendie Nachricht über das Auffliegen der Altenburger Gruppe, die Ver-haftung Konrad Funkes und anderer, bei ihm ausgelöst hatte. Hof-

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fentlich kam wenigstens Six durch. Waren nicht überhaupt die erstendrei Monate dieses Jahres ziemlich unerfreulich verlaufen? Erst hattedie Affäre um Brandi die ganze Klasse in Aufregung versetzt. Undjetzt diese Geschichte! Wäre sie mit der Flucht von Six für ihn wirk-lich zu Ende? Wie würde es weitergehen bis zumAbitur und danach?Eigentlich könnte es nur besser werden. Da war es schon eine großeErleichterung, als Dieter etwa zehn Tage später erzählte: „Ich habeeine gute Nachricht erhalten. Mein Onkel aus West-Berlin hat mireine Karte geschrieben und Grüße von meinem Freund übermittelt.“Danach sickerte die Nachricht durch, dass außer Six auch noch eini-gen anderen Schülern aus der Altenburger Gruppe die Flucht nachWest-Berlin gelungen war.

Am 8. Mai, einem Montag, traf Wolfgang wieder einmal erstunmittelbar vor Unterrichtsbeginn im Klassenzimmer ein. Gleichdanach bemerkte er, dass im rechten der beiden Bankblöcke dieersten zwei Bänke, die Plätze von Georg, Dieter, Werner und Gun-ter, leer geblieben waren. Es erschien ihm sehr ungewöhnlich, dassalle vier gleichzeitig fehlten. Was war geschehen? Als auch bis zurersten Pause keiner von ihnen gekommen war, sprach er, sichtlichbeunruhigt, Helmut Lange auf das Fehlen der vier an. Aber auchder hatte keine Erklärung dafür. Da Dieter in der Nähe der Schulewohnte, beschlossen Wolfgang und Helmut, in der großen Pause zuihm zu gehen. Als sie dort an der Haustür läuteten, schaute die Haus-besitzerin aus dem Fenster ihrer Parterrewohnung und erzählte ih-nen, Frau Gerth sei zu Besuch bei ihrer Tochter in Köln und Dietersei heute Morgen gegen fünf Uhr von der Polizei abgeholt worden.Wolfgang und Helmut sahen sich erschrocken an. Die vier warenalso verhaftet worden. Bei Wolfgang saß der Schock noch tiefer.„Soll ich sofort nach Hause gehen, ein paar Sachen zusammenpak-ken und abhauen?“, schoss es ihm durch den Sinn. „Aber was hät-ten Werner und Gunter mit der Altenburger Gruppe zu tun gehabt?“Er glaubte sicher zu sein, dass Konrad den etwas oberflächlichen,leichtlebigen Werner nie ins Vertrauen gezogen hätte. Er konnte aberauch nicht offen mit Helmut sprechen, denn er wusste, dass dessenälterer Bruder ein überzeugter Anhänger der kommunistischen Idee

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war. Also versuchte er, Helmut vorsichtig auszufragen: „Kannst dudir das erklären? Heute ist der 8. Mai. Haben die vier vielleichtgestern abend irgendwelche Plakate abgerissen oder beschmiert,die im Zusammenhang mit der Kapitulation vor fünf Jahren stan-den? Oder haben sie irgendwelchen anderen Blödsinn gemacht?“„Ich weiß natürlich auch nichts Genaues, aber meine Vermutungengehen in eine andere Richtung“, bekannte Helmut, „es sind jedochreine Spekulationen. Irgendwie habe ich mitbekommen, dass Wer-ner – wahrscheinlich ohne Wissen seiner Eltern – unter Mithilfe vonGunter Getreide in größeren Mengen verschiebt. Vermutlich ist dagestern Abend etwas gelaufen, und Dieter und Georg waren zufälligdabei.“ Das klang plausibel und beruhigte Wolfgang etwas.

Am Nachmittag tauchte dann überraschenderweise der inzwischen

wieder freigelassene Georg bei Wolfgang auf und erzählte ihm – end-

gültig Entwarnung signalisierend – Folgendes: „Dieter und ich warengestern abend noch bei Werner. Der verhielt sich anfangs etwas merk-würdig und unsicher. Dann erklärte er plötzlich: ,Ich werde euch jetzteinfach mit einspannen. Gunter und ich werden nach Einbruch derDämmerung Getreide zu einem meiner Abnehmer bringen. MeineEltern dürfen davon nichts wissen. Während wir beide das Getreideim Silo abfüllen, werdet ihr Schmiere stehen. Es ist unwahrscheinlich,dass mein Vater um diese Zeit noch zum Silo kommt, aber bei meinemälteren Bruder bin ich mir nicht sicher.Also, ihr postiert euch auf demWeg zwischen Haus und Silo im Gebüsch, und beim geringsten ver-dächtigen Geräusch warnt ihr uns.‘ Es kam tatsächlich niemand. Nach-dem die beiden das Getreide in Säcke gefüllt hatten, erschien Gunter,um Dieter und mich zum Silo zu holen. Dort luden wir zwei Säcke aufeinen Handwagen und verließen zu viert mit dem Handwagen dasGentzsche Grundstück durch das Tor zur Weinbergstraße. Die heißeFracht brachten wir zu einem mir unbekannten Abnehmer in der na-hen Bünaustraße. Werner erzählte uns unterwegs, dass ein ZentnerGetreide ihm hundert Mark bringe, damit liege er noch deutlich unterdem Schwarzmarktpreis. Aber sein Vater gebe ihm überhaupt keinTaschengeld, und man brauche doch immer etwas Geld. Es war nochnicht völlig dunkel, als wir merkten, dass einer der beiden Säcke nicht

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dicht war. Eine deutliche Getreidespur markierte den von uns zurück-gelegten Weg. Wir lieferten die Ladung ab. Danach versorgte unsWerner mit Besen, Schaufeln und Eimern, und wir begannen zu viert,das verlorene Getreide auf dem gesamten Weg zusammenzukehren.Es gelang uns wohl, die Spur einigermaßen zu beseitigen, aber wirsind offensichtlich bei unserer Arbeit von Anwohnern beobachtetworden. Diese haben auf jeden Fall Werner erkannt, vielleicht auchden einen oder anderen von uns drei Komplizen. Heute morgen standin aller Frühe die Polizei bei mir vor der Tür und verhaftete mich. Icherschrak zunächst doch ziemlich, begriff dann jedoch sehr schnell,dass es nur um die Getreideaffäre gehen konnte. Nach mehrerenVerhören wurden Dieter und ich vor etwa einer Stunde freigelassen.Werner und Gunter hatten in Übereinstimmung mit unserenAngabenausgesagt, dass wir nur ganz zufällig in diese Geschichte hineingera-ten seien. Den beiden droht nun ein Verfahren wegen Verstoßes ge-gen das Bewirtschaftungsgesetz. Ob Dieter und ich wegen Mithilfebelangt werden, ist noch offen. Du kannst froh sein, dass du gesternAbend nicht zu Werner gekommen bist“, schloss Georg seinen Be-richt. „Da habe ich ja großes Glück gehabt, denn eigentlich wollte ichauch zu Werner gehen, dann aber war ich nach dem intensiven Ler-nen der letzten Zeit zu müde und verspürte einfach keine Lust mehr.Es tut mir sehr leid, dass Ihr, du und Dieter, so unglücklich in dieseGeschichte hineingeschlittert seid. Ich hoffe und wünsche, dass sichdaraus keine weiteren Folgen für euch ergeben. Für Werner und Gun-ter kann das allerdings schlimm ausgehen“, bemerkte Wolfgang.

Werner und Gunter waren fast den ganzen Vormittag des 8. Maivon verschiedenen Beamten vernommen worden. Immer wiederwarf man ihnen vor, sie hätten sich eines schweren Verbrechensschuldig gemacht, indem sie eines der wichtigsten Grundnahrungs-mittel der gerechten Verteilung an die Werktätigen entzogen und anSchieber und Spekulanten verkauft hätten. Das sei Sabotage an denMaßnahmen des Staates zur Sicherung der Ernährung der Bevölke-rung. Einer der Beamten bezeichnete Werner sogar als Volks-schädling. Dieser Begriff war schon in der Nazizeit für alle mögli-chen Vergehen verwendet worden. Glücklicherweise hatten Wer-

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ner und Gunter – obwohl sie sich vorher nicht abgesprochen hatten– die Menge des bisher verschobenen Getreides übereinstimmendmit insgesamt acht bis zehn Zentnern angegeben. In Wirklichkeitwar es jedoch etwa zehnmal so viel gewesen.

Am Dienstagnachmittag führten zwei Beamte Werner und Gun-ter mit Handschellen gefesselt zum Bahnhof und überstellten sie insGefängnis nach Altenburg. Auf dem Weg durch die Stadt wurdendie beiden wie Schwerverbrecher behandelten Schüler von vielenSensationslüsternen neugierig begafft. Am meisten störte es Wer-ner, dass er auf diesem Weg seiner Freundin Margot und späterauch noch einer seiner Verflossenen begegnete. Nach drei TagenKnast wurden die beiden Häftlinge jedoch wieder entlassen. In derZwischenzeit hatte nämlich eine Überprüfung der Getreidevorräteder Firma Gentzsch stattgefunden. Dabei hatte sich ergeben, dassvon der Menge des bewirtschafteten Getreides nichts fehlte. Wolf-gang und sein Helfer hatten das Getreide offenbar von den so ge-nannten „Freien Spitzen“ entnommen. Das war Getreide, über wel-ches die Bauern nach Erfüllung ihres Ablieferungssolls frei verfü-gen und das sie zu leicht erhöhten Preisen an die Händler verkaufenkonnten. Da Wolfgangs Vater aber gegen seinen Sohn und dessenHelfer keine Anzeige wegen Diebstahls erstattete, kam es zu kei-nem Strafverfahren gegen die beiden. Dennoch durften die Übeltä-ter ihr Abitur erst ein Jahr später ablegen und mussten so lange nochdie Schulbank drücken. Die gleiche Strafe sollte auch Georg undDieter treffen. Die Direktorin erhielt am Mittwoch, dem 10. Mai,einen entsprechenden Bescheid. Sie fuhr sofort am nächsten Tagnach Weimar und erwirkte im Kultusministerium eine Amnestie fürdie beiden Mittäter. So durften diese dann doch am Freitag an derzweiten schriftlichen Abiturprüfung, der Englischklausur, wie auchan den drei folgenden Klausuren am Sonnabend, Montag und Diens-tag teilnehmen. Die verpasste Deutscharbeit konnten sie am Sonn-tagmorgen in der Privatwohnung von Fräulein Foerster nachholen.

Die Geschichte hatte aber noch eine Konsequenz für alle Abitu-rienten des Jahrgangs. Bei den Verhören hatte sich nämlich heraus-

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gestellt, dass auch der Mathematiklehrer Penndorf und der Sport-lehrer Martens zu den Abnehmern von Werners „schwarzem Ge-treide“ gehörten. Gegen sie und zwei weitere Personen wurde des-halb ein Strafverfahren eingeleitet. Das hatte für die beiden Lehrerdie sofortige Suspendierung vom Dienst zur Folge. So kam es, dassdie beiden Klausuren der 12b in Mathematik und Chemie sowie dieMathematik-Klausur der 12a schon unter Aufsicht des Penndorf-Nachfolgers Dreher geschrieben wurden.

Nach den Klausuren ließ die nächste Katastrophe nicht lange aufsich warten.Am Montag, dem 29. Mai, teilte die Direktorin den Schü-lern der beiden 12. Klassen mit, dass Herr Brandt der Schule nundoch nicht mehr zur Verfügung stehe. Er habe Altenburg verlassenund sei nach West-Berlin gegangen. Näheres wisse sie nicht. DieFächer Englisch und Geographie würden bis zur mündlichen Prüfungvon Mitgliedern des Kollegiums betreut. Die Englisch-Klausuren habeHerr Brandt schon korrigiert gehabt. Die mündliche Prüfung im FachGeschichte/Gegenwartskunde werde wahrscheinlich von einem ex-ternen Prüfer übernommen. Nach einem sich hartnäckig haltendenGerücht war am vorhergehenden Freitag ein Unbekannter bei GünterBrandt erschienen und hatte ihn gewarnt, er müsse sofort fliehen,sonst drohe ihm die Verhaftung durch die Sowjets. Daraufhin habe ersich sofort nach West-Berlin abgesetzt. Am nächsten Tag sei dannseine Frau an seiner Stelle von den Russen verhaftet worden. Angeb-lich sollte ihr aber die Flucht aus dem Gefängnis gelungen sein, und siesei ebenfalls nach West-Berlin entkommen. Einige Zeit später sicker-te eine etwas wahrscheinlichere Version der Fluchtgeschichte durch,die ihren Ursprung im Bekanntenkreis von Sigrid Haas hatte. Dem-nach kam der unbekannte Warner im Auftrag von Frau Brandt, dieihren Mann auf diese Weise von Altenburg weglocken wollte. Siehatte nämlich in Erfahrung gebracht, dass die Affäre zwischen ihremMann und Sigrid Haas noch fortdauerte. Mit dieser List bereitete siedemVerhältnis ein schnelles und endgültigesAus. Eindeutig gesichertist nur, dass Fräulein Foerster Wochen später von Günter Brandt eineNachricht erhielt, in der er mitteilte, er befinde sich zusammen mitseiner Frau auf der Überfahrt nach Südafrika.

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Ein Ereignis der besonderen Art mussten die Abiturienten vorder mündlichen Prüfung noch hinter sich bringen: Das Pfingsttref-fen der FDJ in Berlin (18) am Sonntag, dem 4. Juni. Inzwischenwaren alle Schüler der beiden Abiturklassen Mitglieder der FDJ ge-worden, und man hatte ihnen bedeutet, dass eine Teilnahme an demTreffen unbedingt erwartet würde. Gewissermaßen als Einstimmungauf dieses Ereignis erschien der neue Direktor derAltenburger Ober-schule Peter Sommer am 1. Juni vor den Schülern. Sommer waroffensichtlich ein absolut linientreuer Genosse, der die Position desim Zusammenhang mit den Verhaftungen in Altenburg im Frühjahr1950 nach West-Berlin geflüchteten Dr. Münch eingenommen hat-te. Er war inzwischen auch vom Kreisschulrat zum Prüfungsaus-schußvorsitzenden und zugleich zum Prüfer für das Fach Geschich-te/Gegenwartskunde an der Meuselwitzer Oberschule bestellt wor-den. Sommer verlangte, dass die Schüler aus Anlass des bevorste-henden Pfingsttreffens schon Tage zuvor – also schon bei seinerVorstellung in Meuselwitz – im FDJ-Blauhemd erscheinen sollten.Sein Äußeres, die scharfen, kantigen Gesichtszüge und die tieflie-genden Augen, zwischen dem dunklen Rahmen der Brille wieRaubtieraugen funkelnd, riefen bei Wolfgang ein Gefühl desMisstrauens und der Antipathie hervor.

In einer kurzen Einleitung wies Sommer die Schüler zunächstauf ihre große Verantwortung beim Aufbau der DDR hin, die nachdem Abitur in verstärktem Maße auf sie zukommen würde. JedesWort einzeln betonend fuhr er fort: „Ein Grundpfeiler für den Auf-bau einer sozialistischen Gesellschaft ist unsere Freundschaft mitder großen Sowjetunion. Und dieser Freundschaft müssen wir unswürdig erweisen. Die Sowjetunion reicht uns jetzt die Hand, obwohlwir sie überfallen, das Land verwüstet und Millionen von Sowjet-bürgern getötet haben. Wir stehen dafür tief in ihrer Schuld.“ Undplötzlich erhielt seine Stimme einen schrillen, metallischen Klang.„Man muss daher auch verstehen, wenn es in den letzten Kriegs-monaten zu Übergriffen der Sowjetsoldaten gegenüber der deut-schen Bevölkerung gekommen ist. Jawohl, es hat Raub, Brandschat-zung, Vergewaltigung und manchmal auch Mord gegeben. Mir selbst

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haben sie die Goldzähne aus dem Mund geschlagen“, erklärte er,den Mund weit aufreißend und auf seine offenbar restauriertenGoldzähne deutend. „Aber man muss sich in die Lage dieser Men-schen versetzen, über die wir so viel Leid und Elend gebracht ha-ben.“ Eisiges Schweigen herrschte in der Klasse. Es stand eine un-sichtbare Wand zwischen den blau-uniformierten, sich wie Ange-klagte fühlenden Schülern und dem scheinbar gefühllosen Agitator.Eine ohnmächtige Wut auf diesen Menschen hatte Wolfgang ge-packt, und er musste alle Kräfte aufbieten, um sich das nicht anmer-ken zu lassen. Jeder Satz hatte sich in sein Gedächtnis eingegrabenund beschäftigte ihn noch lange danach, ohne dass sich etwas anseiner Einstellung änderte. Sommer hatte ja zweifellos recht, wasdie Verbrechen von Deutschen betraf. Tiefe Scham hatte auch Wolf-gang erfasst, als er nach dem Krieg von den Verbrechen erfahrenhatte, die im Namen des deutschen Volkes begangen worden wa-ren, von den zahllosen Morden an Unschuldigen, der Verfolgungund Vernichtung von Juden und Angehörigen von Völkern, die vonden Nazis als minderwertig eingestuft worden waren. Das musstefür alle Deutschen eine unauslöschliche Mahnung sein. Aber etwashatte er gelernt, als er sich unter dem Eindruck dieser schrecklichenErkenntnisse mit den Ideen des Humanismus auseinandersetzte:„Niemand darf wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Volke, einerRasse oder wegen seiner Religion oder Weltanschauung verfolgtund bestraft werden. Es darf auch niemand für ein Vergehen oderVerbrechen bestraft werden, das er nicht begangen hat. Und dashat uneingeschränkt zu gelten.“ Diese Überzeugung hatte ihn ge-prägt.Andererseits mussten aber auch die von den Angehörigen derSiegermächte begangenen Verbrechen an unschuldigen Deutschenals solche bezeichnet werden. Wenn Sommer das nicht tat, sondernsolche Verbrechen zu rechtfertigen versuchte, dann entlarvte er sichals Handlanger eines Unrechtssystems. Auf diese Weise würde esnicht möglich sein, die Kette des Hasses zu durchbrechen.

Am Sonnabend, dem 3. Juni, wurden die Meuselwitzer FDJler zumPfingsttreffen nach Ost-Berlin gekarrt. Der Transport erfolgte mitLastkraftwagen, deren Ladeflächen mit Bänken bestückt und not-

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dürftig mit Planen überspannt waren. Es herrschte eine gespannteAtmosphäre. Als die Lastwagen sich Berlin von Süden näherten,fiel den Jugendlichen an mehreren Stellen der Stadtgrenze die star-ke Bewachung durch Truppen der westlichen Schutzmächte auf.Die Fahrzeuge nahmen eine Route, die südlich der Stadt noch aufDDR-Gebiet nach Osten verlief und später direkt in den Ostsektorführte. Die oberste Führung der FDJ unter Leitung von Erich Ho-necker (19) hatte die Losung ausgegeben: „Die Freie Deutsche Ju-gend stürmt Berlin!“ So war ursprünglich ein Marsch der Blauhemdendurch ganz Berlin geplant, also auch durch die Westsektoren derStadt. Die Westmächte hatten daraufhin erklärt, sie würden das Ein-dringen von Marschkolonnen der FDJ in die von ihnen besetztenSektoren als unrechtmäßigen Akt betrachten und mit Gewalt ver-hindern. Teilnehmer des Treffens seien aber als Privatpersonen imWesten der Stadt willkommen. Die Führung der FDJ hatte es danndoch nicht auf eine Kraftprobe ankommen lassen. So marschiertendie Meuselwitzer Oberschüler am Pfingstsonntag, eingereiht in eineriesige Marschkolonne, stundenlang durch Ost-Berlin, um dann alsHöhepunkt der Veranstaltung an der Tribüne mit dem FDJ-Vorsit-zenden Honecker und anderen FDJ-Oberen vorbeizuziehen.

Als der Umzug beendet war, setzten Wolfgang und Georg sichvon den anderen ab. In der Nähe der Sektorengrenze suchten sieeine öffentliche Toilette auf, zogen zuerst das Blauhemd und danndas vorsorglich darunter getragene Zivilhemd aus und vertauschtendie Reihenfolge der Hemden. In lupenreinem Zivil traten sie wiederaus der Toilette heraus. „Zu Zeiten des Jungvolks wäre das schwie-riger gewesen, da hätte man noch das Fahrtenmesser und den an-deren Klimbim irgendwo verschwinden lassen müssen“, meinteWolfgang, als sich die beiden in ihren Zivilklamotten gegenseitig be-trachteten. Jetzt konnten sie problemlos die Sektorengrenze passie-ren und sich im Westen der Stadt etwas umschauen. Nach einigerZeit sprach sie ein Mann, um die vierzig Jahre alt, an: „Ihr kommtdoch bestimmt von drüben. Ich lade euch zu einem Bier ein.“ Ineiner nahegelegenen Gaststätte kehrten sie ein, tranken zusammenBerliner Weiße. Der Fremde bot ihnen Westzigaretten an. Sie un-

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terhielten sich über Alltagsprobleme auf beiden Seiten der Grenze,ohne dass dabei ein tiefgründiges Gespräch zustande kam. AberWolfgang und Georg fanden es bemerkenswert, dass einfache Men-schen auf diese Weise ihre Verbundenheit mit den Jugendlichen ausder DDR zumAusdruck bringen wollten. Bald nach der Verabschie-dung von ihrem Gönner kehrten die beiden wieder in den Ostsektorzurück, vollzogen in derselben Toilette ein weiteres Mal ihre spekta-kuläre Umkleideaktion und suchten ihr Quartier, einen mit Strohsäk-ken ausgerüsteten Dachboden, für eine weitere Übernachtung auf.Mit der Rückkehr nach Meuselwitz am darauffolgenden Tage be-gann für die Abiturienten die heiße Phase der Vorbereitung auf diemündliche Prüfung am 23. Juni.

An der Altenburger Oberschule fanden die mündlichen Abitur-prüfungen etwas früher als in Meuselwitz statt, nämlich vom 16. biszum 21. Juni. Einige Tage zuvor war dort Merkwürdiges gesche-hen. Direktor Sommer besaß offenbar eine Liste mit Namen vonSchülern, die während des Pfingsttreffens illegal West-Berlin auf-gesucht hatten. Sie wurden unter strenger Geheimhaltung von Som-mer und einer unbekannten Person, wahrscheinlich einem Stasi-Mann,verhört. Es ging dabei um die Frage, wer von ihnen den Trip in denWesten dazu benutzt hatte, Kameraden zu besuchen, denen im Märznoch die Flucht aus Altenburg gelungen war. Es ließ sich nicht ver-heimlichen, dass es wohl einen Zusammenhang zwischen den Er-eignissen um dieAltenburger Widerstandsgruppe und dem ErgebnisdesAltenburgerAbiturs gab. Ein ungewöhnlich hoherAnteil der Schü-ler fiel durch das Abitur. Als einer der Väter den Direktor nach demGrund für das Scheitern seines Sohnes trotz guter Vornoten fragte,erklärte Sommer unumwunden, der Prüfling sei mit einem der Ge-flüchteten eng befreundet gewesen. Er könne aber garantieren, dassder Sohn das Abitur im nächsten Jahr bestehen werde.

Wie auch immer Fräulein Foerster über die Situation inAltenburginformiert worden war, die Meuselwitzer Direktorin konnte in letzterMinute verhindern, dass Sommer in Meuselwitz Prüfungsausschuss-vorsitzender wurde. An seiner Stelle ernannte das Ministerium einen

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Mathematiker aus Gera. Dagegen konnte Fräulein Foerster SommersEinsetzungals Prüfer für das Fach Geschichte/Gegenwartskunde durchden Kreisschulrat nicht mehr rückgängig machen. Am Morgen des23. Juni begannen die mündlichen Prüfungen. Das Ergebnis war ent-sprechend. Die Vier war bei weitem die häufigste Note in diesemFach, die Vornoten hatte Sommer bei der Beurteilung grundsätzlichnicht berücksichtigt. Als dann gegen 19 Uhr die Beratungen über dieGesamtergebnisse der Prüfungen begannen, trat der Abhördienst derSchüler inAktion. Die Schüler konnten die Gespräche der Lehrkräftedurch alte Luftschächte von einem benachbarten Raum aus verfol-gen. In zwei Grenzfällen plädierte Sommer dafür, den beiden Kandi-daten das Reifezeugnis zu verweigern. Doch der Biologielehrer Ul-rich und der Penny-Nachfolger Dreher brachen eine dicke Lanze fürdie Wackelkandidaten. Mit Nachdruck wiesen sie auf deren Abstam-mung aus der Arbeiterklasse und ein besonders starkes gesellschaft-liches Engagement hin, u.a. auch auf die Einsätze in der Maxhütteund bei der Borkenkäferbekämpfung. Solche schlagkräftigen, wennauch nicht in allen Punkten zutreffendenArgumente, konnte Sommernicht ignorieren, und er steckte schließlich auf. Nur für zwei Schüle-rinnen aus der 12a gab es keine Rettungsmöglichkeiten. Ihnen wardie Mathematik zum Verhängnis geworden. Das hatte sich aber schonvorher abgezeichnet.

Trotz all der widrigen Umstände imVorfeld war das ThemaAbiturnun doch zu einem zufriedenstellenden Abschluss gekommen. Jetztkonnte endlich gefeiert werden. Und damit begannen die Schüler so-fort am nächsten Tag. Zusammen mit einigen Lehrern brachen sie amSpätnachmittag zu einer ersten inoffiziellen Feier nach Oelsen auf,einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt, etwa vier bis fünf Kilometervon Meuselwitz entfernt. Ziel war der dortige Rosengarten, ein sehrbeliebtesAusflugs- und Tanzlokal. Im „Memorial 1950“, dem „Fehl-anzeiger“ der Abiturienten, war der „Bericht des Polizeipräsidentenvon Oelsen“ vom 24.6.1950 veröffentlicht worden. Der Bericht schil-dert die Ereignisse des Tages „wahrheitsgetreu“ und meldet Folgen-des (20): „Am heutigen Tage rückte in Oelsen um 19 Uhr eine grölen-de Meute von jungen Leuten beiderlei Geschlechts ein, die sich in

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Zweierreihen formiert hatte. An der Spitze dieser Truppe befandensich zwei der fähigsten Köpfe unserer Republik. Es handelte sich, wieunser hiesiger Nachtwächter feststellte, um den Kreisreferenten fürBiologie aus unserem Nachbarkreis Altenburg, der außerdem zu denführenden Psychologen des Landes zählt, sowie um einen anerkann-ten Dozenten für Mathematik und angewandte Physik von der Landes-universität Meuselwitz. Nachdemdas Vergnügungslokal von den obenGenannten im Sturm genommen worden war, erschien der bekannteInterpret der Einstein‘schen Relativitätstheorie, K. Penny. Sofort wurdedie Theke hermetisch abgeriegelt und der soeben Genannte machtees sich zur Ehre, allenAbiturienten die heißwillkommene Gelegenheitzu geben, von dem begehrten Feuerwasser zu schlürfen. Da alle an-deren sich auch nicht lumpen ließen, erreichte das Gelage bald seinenHöhepunkt. Besonders hervorzuheben ist, dass selbst die um ihrenguten Ruf besorgten Damen sich mit Alkohol volllaufen ließen. DieFolgen dieser Kulthandlung machten sich bald bemerkbar. Die vollge-laufene Masse näherte sich schwankend mit großem Gegröle derRutschbahn, wo sich besonders der Dozent für angewandte Physikdurch Berechnung der Tangentialgeschwindigkeit der schiefen Ebenehervortat. Ein aufsehenerregender Vorfall ereignete sich an der vordem Rosengarten gelegenen Haltestelle der Kleinbahn Wuitz/

Mumsdorf – Gera, einer der wichtigsten VerkehrsverbindungenZentraleuropas. Dort gelang es einigen technisch begabten Personendieser Gruppe, den letzten Wagen des gerade eingefahrenen Zugesabzukoppeln. Trotz modernster technischer Ausrüstung des Zugswurde das Fehlen des letzten Wagens erst beim nächsten Halt be-merkt. Nach einigen tragischen Ehekonflikten fanden sich dann inden vorzüglichen Lauben unseres Rosengartens die Pärchen, die nachdemallgemeinen Zapfenstreich von unseren Polizeikräften bis zur thü-ringischen Landesgrenze geleitet wurden. Von dort sind bis zur Stun-de noch keine Beschwerden über die Umtriebe dieser gemeingefähr-lichen Horde eingelaufen. Der Polizeipräsident von Oelsen Gez.Mungionowitzsch.“

Am nächsten Morgen hörte Wolfgang im Radio die Meldung,dass Truppen aus dem kommunistischen Nordkorea in Südkorea ein-

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gefallen waren. Er beachtete diese Nachricht zunächst nicht beson-ders. Erst als kurz darauf amerikanische Truppen auf Beschluss derUN eingriffen und sich den Aggressoren entgegenstellten, beganner zu ahnen, dass damit eine weitere Zuspitzung des Ost-West-Kon-flikts begonnen hatte.Aber für ihn hatten zu diesem Zeitpunkt ande-re Dinge Vorrang. Am 28. Juni fand an vertrauter Stelle, im Gasthofvon Bünauroda, der offizielle Abiturientenball statt. Dazu warennatürlich Fräulein Foerster und das gesamte Lehrerkollegium einge-laden, auch Penny, der Pechvogel.

Es wurde ein sehr schöner Abend. Der Frust der vergangenenMonate war wie weggeblasen, und alle wirkten gelöst und ausgelas-sen. Der Konsum an Bier und Schnaps, den einzigen zur Verfügungstehenden alkoholischen Getränken, hielt sich im Unterschied zumvorhergehenden Sonnabend in Grenzen. So herrschte eine fröhlicheHeiterkeit. Die Stimmung war nicht so enthemmt wie im Rosengartenzu Oelsen. Dort hatte sich die erst kurz zuvor erfolgte Befreiung vondem übergroßen Druck wie ein Dammbruch ausgewirkt. Wolfgangwar zusammen mit Renate Schneider zum Ball erschienen, einemrassigen Mädchen mit tiefschwarzem Haar und dunkelbraunen Au-gen. Er hatte sie erst kurz zuvor auf der Fahrt zum Pfingsttreffenkennengelernt, als die Lastwagenkolonne an einer Gaststätte einenlängeren Stopp einlegte. Er nutzte die Gelegenheit sofort, um siezumAbiturientenball einzuladen. Unbeschwert und frei von aller Lasthatte er sich in dieses exotisch erscheinende Mädchen verliebt. Sieerwiderte anscheinend seine Gefühle. Er tanzte eng umschlungenmit ihr, atmete den Duft ihrer Haare und spürte ihren festen Busen.In sein Glücksgefühl mischten sich die Erinnerungen an Jutta, dasErleben seiner ersten Liebe, das vor mehr als zwei Jahren von hieraus seinen Anfang nahm.

In der Tanzpause stellten sich die Paare, mit einer sichtlich er-leichterten Anna in ihrer Mitte, dem Fotografen zum Gruppenbild.Anschließend schwärmten sie im Garten des Lokals aus. An einemverschwiegenem Plätzchen tauschten Wolfgang und Renate heißeKüsse. Während der zweiten Hälfte des Abends wurden dann zwi-

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schen den einzelnen Tänzen Teile der Abizeitung „Memorial 50“vorgetragen. Wie schon zum Faschingsball beendete die sittenstren-ge Direktorin um ein Uhr das Tanzvergnügen mit einem gebieteri-schen: „Jetzt ist Schluss, Herrschaften!“

Wolfgang und Renate setzten sich auf dem Nachhausewegschnell von den anderen Paaren ab. Überhaupt gab es diesmal kaumgrößere Gruppenbildungen, wie das sonst nach Klassenfeten häufigder Fall gewesen war. Die laue Sommernacht lockte die Liebespaa-re in das neben der Landstraße gelegene Wäldchen, die „Kippe“genannt. Hier hatte sich vor Jahrzehnten ein Tagebau befunden, derspäter zugeschüttet und von weisen Menschen aufgeforstet wordenwar. In diesem Wäldchen, das längst seine Unschuld verloren hatte,küssten sich Wolfgang und Renate leidenschaftlich, ehe sie auf denweichen Waldboden niedersanken. Der Geruch der Erde, der Grä-ser und Pflanzen vermischte sich mit dem Duft der samtweichenHaare des jungen Mädchens zu einer einzigartigen Komposition.Hier waren sie ganz Teil der Natur, eingebettet in ihren ewigen Kreis-lauf. Er küsste ihre prallen Brüste, ihr weicher Körper betörte seineSinne, und sie zog ihn so fest an sich, als wolle sie das Glück desAugenblicks für immer festhalten. Es waren für beide Minuten vol-ler Leidenschaft und Glück, die ihnen wie Stunden erschienen. Undsie genossen diese wundervolle Sommernacht. Erst mit der begin-nenden Morgendämmerung machten sie sich dann eng umschlun-gen auf den Heimweg.

Aber das Feiern nahm noch kein Ende.Am darauffolgenden Sonn-abend hatte Peter Bergner den harten Kern der beiden Klassen mitPartnern zu sich nach Hause eingeladen. Während seiner Ehren-runde im letzten Jahr war er so fest in der Klasse verwurzelt wor-den, als habe er schon immer dazugehört. Zunächst ging es ehergut-bürgerlich zu. Nach einem – für die Zeit – opulenten Abendes-sen gab es noch Kaffee und hausgebackenen Kuchen, der das Prä-dikat ,Ausgezeichnet‘ verdiente. Danach trank man Likör und Wein.Langsam aber stetig stieg die Stimmung und erreichte ihren Höhe-punkt zu mitternächtlicher Stunde mit einem sehr geräuschvollen

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Zug durch die Stadt, dessen Lärm etliche Leute aus dem Nacht-schlaf riss. Mehrere Male wurden Gefäße mit Wasser oder ande-ren Flüssigkeiten aus den oberen Stockwerken der Häuser in Rich-tung der sangesfreudigen Demonstranten ausgeleert, doch diese lie-ßen sich auch davon nicht beeindrucken. Vor dem Haus, in demPenny wohnte, legte die Karawane ihren ersten Halt ein. Als Pennynach einiger Zeit an einem der Fenster der ersten Etage im Nacht-hemd erschien, hallte es ihm vielstimmig entgegen: „Penny, o Penny,du sollst nicht traurig sein!“ Letztes Ziel der Demonstration war dasHaus, in dem die Anna wohnte. Auf der gegenüberliegenden Stra-ßenseite befand sich glücklicherweise ein Fabrikgebäude, so dassden Ex-Schülern in ihrem Rücken keinerlei Gefahr drohte. Hier sangder Chor der Abiturienten sämtliche Strophen des Liedes von derTanteAnna, das mit dem Refrain schloss: „TanteAnna, TanteAnna,du bist die schönste Frau der Welt, Tante Anna, Tante Anna, du bistdie Frau, die mir gefällt.“ Aber nichts rührte sich an einem der Fen-ster in der zweiten Etage. Auch eine noch lautstärkere Wiederho-lung einiger Strophen brachte keinen Erfolg. So zog man schließlichzum Ausgangspunkt zurück und ging auseinander. Am Tage der of-fiziellen Verabschiedung bedankte sich die Anna aber bei einigender überraschten „Chorknaben“, die sie an der Stimme erkannt hat-te. Sie habe das als Kompliment empfunden und sich über das Ständ-chen gefreut. Aber leider habe sie den Rollladen nicht hochziehenkönnen.

Ganz offiziell wurde es am 6. Juli bei einer Feierstunde in derSchule. In einer kurzen, sehr herzlichen Ansprache wünschte dieDirektorin den festlich gekleidetenAbiturientinnen undAbiturientenalles Gute für ihren weiteren Lebensweg. Dann überreichte sie dieAbiturzeugnisse. Daran schloss sich eine Rede des im Blauhemderschienenen Leiters der FDJ-Oberschulgruppe Klaus Hoffmannaus der 11b an, der den ausscheidenden Mitschülern einige der übli-chen, gesellschaftlich relevanten Parolen mit auf den Weg gab. Erbetonte, dass er und die zurückbleibenden Schüler für die weitereDemokratisierung der Schule kämpfen wollten. Zum Schluss dank-te Dieter Gerth im Namen der Abiturienten der Direktorin, der sehr

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verehrten, lieben Frau Foerster, und allen Mitgliedern des Kollegi-ums nicht nur für ihr Bemühen um eine effektive Wissensvermitt-lung, sondern insbesondere auch für das sehr gute Klima an dieserSchule, das den Schülern den nötigen Freiraum für die Entwicklungihrer Persönlichkeit gelassen habe. Für ihn und seine Klassenkame-raden würden auf die Lehrjahre nun die Gesellenjahre folgen. Et-was pathetisch schloss er mit den Worten: „Ich bin überzeugt davon,dass jeder von uns auf seinem Lebensweg sein Bestes geben wird,damit der Weg für unser deutsches Volk in eine bessere Zukunftführt.“

In seinem Tagebuch notierte Wolfgang unter dem Datum des 6.Juli neben den Bemerkungen über die Abschlussfeier noch folgen-des: „,Das Volk‘, die Thüringer Landeszeitung der SED, berichteteam 23. Juni, dem Tage unseres Abiturs, auf der Titelseite über den,Vorstoß der koreanischen Armee nach Süden‘. Zwei Seiten späterheißt es dann u.a.: ,Während im Norden eine demokratische Ent-wicklung sich vollzog, die Fabriken, das Verkehrswesen, die Bankendem Volk übergeben wurden, hielten die Amerikaner im Süden desLandes das Kolonialsystem aufrecht.‘“ Wolfgangs Eintragung en-dete mit dem Satz: „Hoffentlich erfahren wir nicht eines Tages ausdem Radio oder der Zeitung von einem Vorstoß ostdeutscher Ver-bände nach Westen, die das Land vom amerikanischen Kolonialis-mus befreien wollen.“

An einem trüben Septembertag des Jahres 1950 traf Wolfgangin der Stadt den etwas bullig wirkenden Siegfried Riedel, einen Schü-ler aus der früheren 11b, einer der jetzigen Abiturklassen. Sie hattensich beim Einsatz in der Maxhütte näher kennengelernt, und Wolf-gang schätzte Siegfried seitdem als einen sehr geradlinigen und auf-rechten Kameraden. Siegfried bat Wolfgang, an einem kleinen Tref-fen bei ihm zu Hause teilzunehmen. Nachdem inAltenburg die Grup-pe um Konrad Funke aufgeflogen sei, wolle man überlegen, ob mannicht die antikommunistische Tätigkeit in irgendeiner Form fortset-zen könne. Wolfgang war zuerst schockiert. Wusste Siegfried et-was über seine Verbindungen zur Gruppe von Funke oder suchte er

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nur einen allgemeinen Anknüpfungspunkt für das Thema? Unvor-sichtigerweise sagte Wolfgang sein Kommen spontan zu. Siegfriederzählte ihm dann, dass außer Rolf Köhler und Dieter Gerth auchJoachim Thiele, Klaus Hoffman und Lutz Bantzer aus der alten 11ban der Besprechung teilnehmen wollten. Als Wolfgang seine Be-denken wegen der Teilnahme von Klaus Hoffmann, dem Leiter derFDJ-Oberschulgruppe, äußerte, beschwichtigte Siegfried ihn. Er seimit Klaus befreundet und kenne ihn und seine wirkliche politischeEinstellung sehr genau. Sein Auftreten in der Öffentlichkeit sei nurSchau. Also ließ Wolfgang seine Bedenken fallen.

Wie verabredet, trafen sich die Rebellen bei Siegfried. Der Gast-geber kam schnell zum Thema und schlug vor, eine Widerstands-gruppe zu gründen, die durch Flugblattaktionen die Bevölkerung auf-klären und aufrütteln sollte. Zur entscheidenden Frage, nämlich derHerstellung der Flugblätter, erklärte Rolf, man müsse sich diese ein-fach aus West-Berlin von Organisationen wie der Kampfgruppegegen Unmenschlichkeit (KgU), dem Ostbüro oder demUntersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen besorgen. Man könneaber noch ganz andere Dinge tun. „Ich bin in der Lage, einen Spreng-stoff herzustellen, mit dem man ein Gebäude wie das Rathaus in dieLuft sprengen kann.“ „Wie willst du denn das anstellen?“, fragteJoachim. „Das ist ganz einfach. Sprengstoff mit Zündschnur im Kellerdes Rathauses unterbringen, Zündschnur anbrennen und weglau-fen, dann fliegt das Ding in die Luft“, erläuterte Rolf seinen phanta-stischen Plan. „Außerdem besitze ich auch eine Pistole“, verkünde-te er großspurig. „Was willst du bloß mit einer Pistole anfangen, undwieviel Schuss Munition hast du dazu?“, erkundigte sich Wolfgang.Auch hierauf blieb Rolf die Antwort nicht schuldig. „Auch dafürhabe ich einen Plan. Wir lauern irgendwo im Kreis dem ,Dackel‘auf und nehmen ihm unter Bedrohung mit der Schusswaffe seinePistole ab. Dafür brauchen wir gar keine Munition. Immerhin habeich aber eine Patrone. Dann hätten wir schon zwei Pistolen. Unddas Spiel lässt sich fortsetzen.“ „Du hast wohl heute Mittag zu vielSchnaps getrunken?“, fragte Wolfgang, „allen Ernstes, lieber Rolf,ich halte von deinen Vorschlägen nichts.“ Er wollte natürlich vor den

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anderen nicht als Feigling erscheinen und fügte hinzu: „Waffen-gebrauch wäre nach meiner Ansicht nur im Falle eines Krieges ge-rechtfertigt. Dann sollten wir selbstverständlich an der Seite derAmerikaner kämpfen.Aber die Sache mit den Flugblättern ist schonin Ordnung.“ „Doch man muss auch bei der Kontaktaufnahme mitWest-Berliner Stellen vorsichtig sein, die sind jetzt vielfach schonvon DDR-Spitzeln unterwandert“, warnte Dieter, „am effektivstendürfte noch immer die Mund-zu-Mund-Agitation gegen das Regimesein. In absehbarer Zeit wird wohl jeder von uns in einen neuenLebensbereich eintreten und dadurch seinen Bekanntenkreis erwei-tern. Ich denke, da ergeben sich Chancen, in Diskussionen beson-ders junge Leute zu erreichen und zum Nachdenken über die politi-sche Situation anzuregen.“ Wolfgang wies darauf hin, dass auch einFührer der Gruppe gewählt werden müsse. „Da wählen wir am be-sten dich“, empfahl Joachim. Dieser Vorschlag wurde durch Hand-zeichen einstimmig angenommen, nur Wolfgang hatte sich der Stim-me enthalten. Ein Termin für eine neue Zusammenkunft wurde nichtfestgelegt, und tatsächlich traf sich die Gruppe nie wieder. Siegfriedund Joachim verließen Meuselwitz bald darauf. Dieter begann nacheinem ablehnenden Bescheid auf seine Bewerbung für das Chemie-studium noch imWintersemester 1950/51 mit dem Pädagogik-Studi-um in Leipzig. Rolf verschlug es als Laborant nach Böhlen, nach-dem er ein Semester in Leipzig Geophysik studiert hatte. Nach ih-rem Abitur im Sommer 1951 gingen Lutz und Klaus zum Studiumnach Jena.

Wolfgang hatte lange um eine Entscheidung mit sich gerungen, fürwelches Studienfach er sich bewerben sollte. Wegen seines besonde-ren Interesses für Literatur hätte er eigentlich gern Germanistik stu-diert. Da sah er nach dem Studium nur Berufschancen im Schul-dienst. Doch der Lehrerberuf reizte ihn überhaupt nicht. Außerdemfürchtete er gerade in diesem Fach, unter politischen Druck zu gera-ten. Aus diesem Grunde riet ihm auch sein Vater: „Wähle ein natur-wissenschaftliches Fach oder Medizin. Da wird niemand aus ideolo-gischen Gründen behaupten können, der Blinddarm liege links.“ Tat-sächlich hatte Wolfgang sich auch schon mit dem Gedanken getra-

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gen, Medizin zu studieren. Weil er sein Leben gern in den Dienst derAllgemeinheit stellen wollte, schien ihm der Arztberuf sehr erstre-benswert. So bewarb er sich um einen Studienplatz für Medizin. Indem für die Bewerbung erforderlichen Zeugnis der örtlichen FDJ-Leitung wurde ihm zwar eine aktive Beteiligung an der gesellschaftli-chenArbeit der FDJ – insbesondere im Rahmen ihrer Oberschulgruppe– und seine Teilnahme an den Einsätzen in der Maxhütte und bei derBorkenkäferbekämpfung bescheinigt, aber gleichzeitig darauf hinge-wiesen, dass ihm noch die nötige ideologische Klarheit fehle. DasWintersemester hatte bereits begonnen, als er den Bescheid über dieAblehnung seiner Bewerbung erhielt. Da die für das Fach MedizinrelevantenAbiturnoten nicht der Grund für dieAblehnung sein konn-ten, hatte wohl die FDJ-Beurteilung den Ausschlag gegeben. Auchsein Versuch, im Labor der Meuselwitzer Poliklinik als Praktikant ein-gestellt zu werden, scheiterte nach einiger Zeit, obwohl man ihm an-fangs gute Aussichten eingeräumt hatte.

In dieser für ihn unerfreulichen Situation traf Wolfgang AnfangDezember Joachim Thiele, der die Schule vorzeitig verlassen hatteund zur kasernierten Volkspolizei gegangen war. Joachim erzählte ihm,dass man als Angehöriger der Volkspolizei auch Medizin studierenkönne. Man müsse sich allerdings verpflichten, nach Abschluss desStudiums fünf Jahre als Arzt bei der Volkspolizei Dienst zu tun. Da-nach könne man, falls man das wolle, als freierArzt praktizieren. DieSache habe den Vorteil, dass man sofort zum Studium zugelassenwerde und außerdem schon während des Studiums als Unterleutnantfinanziell gut abgesichert sei. Joachimselbst wollte sich zu Beginn desSommersemesters 1951 zum Studium an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) delegieren lassen und nach dem dort abgelegten Ab-itur alsAngehöriger der Volkspolizei ein technisches Fach studieren.Ihm stinke der normale Dienst bei der kasernierten Volkspolizei. Dortwürde nur eine quasi-militärischeAusbildung erfolgen, und man hättespäter eigentlich nur die Möglichkeit, selbst alsAusbilder tätig zu wer-den. Dazu gehöre dann auch eine ständige politische Schulung, unddiesen Weg wolle er auf gar keinen Fall gehen. So wurde Wolfgang indieser Richtung aktiv und versuchte, alsAngehöriger der Volkspolizei

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zum Medizinstudium zu kommen. Trotz des nicht so guten FDJ-Zeug-nisses klappte es diesmal. Wolfgang wurde als Unterleutnant in dieVolkspolizei aufgenommen und konnte ab Sommersemester 1951 inLeipzig mit dem Medizinstudiumbeginnen.

Noch im Dezember 1950, wenige Tage nach seinem Treffen mitJoachim Thiele, begegnete Wolfgang dem um zwei Jahre älterenKlaus Sänger, einem Reichsbahnangestellten, der als Mitglied derLDP auch Kontakt mit Konrad Funke gehabt hatte. Wolfgang kann-te Sänger von der Volksschule und vom Jungvolk her. Sie hattensich auch in der Vergangenheit schon gelegentlich über die politi-sche Situation unterhalten. Sänger erzählte Wolfgang, dass er jetztnach West-Berlin übergesiedelt sei. Hier in der DDR habe man jakeine Perspektive. Dann fragte er Wolfgang nach Joachim Thiele.Ob es denn stimme, dass dieser bei der kasernierten Volkspolizeisei. Und er wollte wissen, was die kasernierte Volkspolizei so tue.„DieAngehörigen der kasernierten Volkspolizei erhalten eine quasi-militärische Ausbildung, aber das weiß doch jedes Kind“, erklärteihm Wolfgang, „doch wenn du Genaueres erfahren willst, musst duihn schon selbst fragen. Ich habe zwar erst vor ein paar Tagen mitihm gesprochen, aber ich weiß noch nicht einmal, ob er in Weißen-fels oder in Naumburg stationiert ist.“ Das war ihre ganze die Volks-polizei betreffende Unterhaltung. Mit keinem Wort hatte Wolfgangdabei erwähnt, dass er selbst zur Volkspolizei gehen würde, um da-durch zum Medizinstudium zu kommen.

Kurz vor Beginn des Sommersemesters 1951 rückte Wolfgangdann zur Volkspolizei nach Leipzig ein. In seiner Uniform als Unter-leutnant sah er wirklich schick aus. Aber trotz seiner besonderenVorliebe für Uniformen schon von klein auf, fühlte er sich in dieserUniform irgendwie unwohl. Sie symbolisierte eine besondere Bezie-hung zu diesem Staat und damit auch zu dem System, das er eigent-lich bekämpfen wollte. Doch er hatte unbedingt Medizin studierenwollen, und das war ihm nur über diesen Umweg möglich gewesen.Nach seinen negativen Erfahrungen beim Einsatz in der Maxhüttewollte er auf keinen Fall eine Arbeit in einem sozialistischen Betrieb

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aufnehmen. Eine denkbare Alternative wäre noch der Weg in denWesten Deutschlands gewesen. Allein hätte er sich da schon durch-beißen können, aber zusammen mit seinen Eltern wäre das nichtmöglich gewesen. Und er konnte seine alten Eltern doch nicht alleinhier zurücklassen.Also wollte er jetzt erst einmal das Studium hintersich bringen. Dann müsste man halt weiter schauen. Fünf bis sechsJahre waren doch eine lange Zeit. Vielleicht käme ja bis dahin dieWiedervereinigung. Damit würde sich die Situation grundlegend än-dern. Das hoffte er jedenfalls noch immer. Jetzt war Wolfgang ersteinmal voll beschäftigt mit all den Dingen, die mit dem Studium aufihn zukamen. Die Vorlesungen und die Praktika, speziell in den na-turwissenschaftlichen Fächern, ließen ihm kaum Zeit für andereAktivitäten. Er wohnte in einem Studentenheim der Volkspolizei zu-sammen mit Joachim Thiele in einem Zimmer, aber wegen der un-terschiedlichen Studiengänge sahen sie sich meist nur abends. MitDieter Gerth und Georg Thaler traf er sich nur einmal in der Mittedes Semesters in Dieters Studentenbude. Dieter und Georg studier-ten beide an der pädagogischen Fakultät der Universität, Dieter dieFächerkombination Chemie Biologie, Georg Mathematik Physik. Sietauschten ihre Erfahrungen mit dem Studium aus. Die beiden er-zähltenWolfgang von den gesellschaftspolitischen Pflichtvorlesungen,bei denen man sich in Anwesenheitslisten eintragen musste. Auchdie pädagogischen Vorlesungen waren stark politisch eingefärbt. Manwar dabei, eine proletarische Pädagogik aufzubauen. Ähnliches warzum Glück bei den reinen Fachvorlesungen nicht möglich. Natürlichgehörte auch in Wolfgangs Studium die Gehirnwäsche, wie er daszu nennen pflegte, zum Alltag. Aber er hatte sich in dieser Bezie-hung ein dickes Fell zugelegt und hörte einfach weg.

Einen Teil der Semesterferien verbrachte Wolfgang bei seinen El-tern in Meuselwitz. Eines Tages imAugust kam Rolf Köhler ziemlichaufgeregt zu ihm und bat ihn, mit in den Garten zu kommen. Unter-wegs erzählte Rolf seinem Schulfreund, dass Klaus Sänger ihn spre-chen wolle. „Klaus hat in der Laube übernachtet. Er kann sich jetztnicht mehr offiziell in der DDR aufhalten, denn er würde Gefahr lau-fen, verhaftet zu werden.“ Wolfgang hätte Sänger beinahe nicht wie-

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dererkannt. Unrasiert, wie er war, machte er einen leicht verwahrlo-sten Eindruck. Sein rötlicher Bart verlieh ihm ein furchterregendesAussehen. Sänger kam nach einer kurzen Begrüßung schnell zur Sa-che. Er wisse ja, dass Wolfgang auch gegen die sowjetische Besat-zungsmacht eingestellt sei und zähle deshalb auf ihn. Es ging um dieVerteilung von Flugblättern, die entweder aus West-Berlin kämen oderdiemanmit HilfevonspeziellenGummistempeln selbstherstellenkönn-te. Wolfgang hatte dazu etwas vorschnell sein Einverständnis gege-ben. Als Sänger ihm jedoch erklärte, dass es sich um Flugblätter inrussischer Sprache handele, zog Wolfgang seine Zusage zurück. DieFlugblätter sollten in der Nähe von Kasernen ausgestreut werden, diemit russischen Soldaten belegt waren. Sie wurden von NTS herge-stellt, einer russischen Emigrantenorganisation.Auch als Sänger eineBezahlung anbot, ließ Wolfgang nicht mit sich reden. „Es geht mir umdieAufklärung deutscher Menschen mitArgumenten gegen die kom-munistische Herrschaft und nur darum. Deshalb werde ich keine rus-sischen Flugblätter verteilen“, begründete Wolfgang seine ablehnendeHaltung. Ebenso lehnte er auch SängersAnsinnen ab, Autonummernsowjetischer Militärfahrzeuge zu notieren und Beobachtungen sowje-tischer Truppenbewegungen weiterzugeben . „Das ist Spionage, da-mit will ich nichts zu tun haben!“ Nur eine letzte Bitte schlug Wolf-gang ihm nicht ab. Sänger bat ihn, ein Päckchen mit Flugblättern anGeorg Thaler weiterzugeben, er habe darüber kürzlich in Leipzig mitGeorg gesprochen. Das kam Wolfgang zwar etwas merkwürdig vor,er nahm das Päckchen aber trotzdem an sich. Als er es am nächstenTag an Georg weitergeben wollte, war dieser völlig überrascht undweigerte sich, das Päckchen anzunehmen. Sänger habe ihn zwar inLeipzig besucht, aber über russische Flugblätter sei überhaupt nichtgesprochen worden. So gab Wolfgang das Päckchen schließlich anRolf weiter, der schon mehrfach in der Nähe der Altenburger Kaser-nen solche Flugblätter verstreut hatte.

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4. Kapitel

Mit der Einführung des Studienjahres hatte der Vorlesungsbetriebbereits ungewöhnlich früh am 1. September begonnen. Nach Wo-chen harter Arbeit entschloß sich Wolfgang, im November ein ar-beitsfreies Wochenende in Meuselwitz zu verbringen.Auf der Heim-fahrt am Freitagabend traf er seinen Freund Dieter im Zug. Diebeiden kamen überein, etwasAbwechslung in diese triste und eintö-nige Zeit zu bringen. So gingen sie zusammen am Sonnabend zumTanz in den Ratskeller nach Zipsendorf. Der Abend verlief zunächstohne besondere Höhepunkte. Zwischen zwei Tänzen standen diebeiden gerade in der Nähe einer schmalen Treppe, die nach oben zueiner Empore führte. Diese umgab die Tanzfläche auf zwei Seitenund bot einer kleinen Zahl von Gästen die Möglichkeit, das Gesche-hen auf dem Parkett von oben zu betrachten. Wolfgang überlegtegerade, ob er nicht nach oben gehen sollte, um von dort nach einerbesonders hübschen Frau für einen der nächsten Tänze Ausschauzu halten. In diesem Moment kamen zwei junge Frauen die Treppeherunter. „Den Weg kann ich mir jetzt wohl sparen“, dachte Wolf-gang, denn er fühlte sich sofort von der größeren der beiden aufmerkwürdige Weise angezogen. Plötzlich trafen sich ihre Blicke under starrte sie wie elektrisiert an. Waren das nicht jene geheimnisvollleuchtendenAugen, deren seltsamklares Grün ihn schon einmal betörthatte? War das nicht die Andeutung des zauberhaften Lächelns, dasihn vor langer Zeit so fasziniert hatte? Für Sekundenbruchteile warer völlig verunsichert. Doch dann hatte er sich schnell wieder ge-fangen. Als die junge Frau das Ende der Treppe erreicht hatte, ginger auf sie zu und bat sie um den nächsten Tanz. Er glaubte fest,Titania, die Elfenkönigin aus dem „Sommernachtstraum“, wiederge-funden zu haben. Aber völlig sicher war er sich nicht. Immerhinwaren seither über fünf Jahre vergangen. Schließlich setzte er allesauf eine Karte und sagte ganz selbstbewusst: „Es freut mich, Sienach so langer Zeit wiederzusehen.“ Ziemlich verwundert entgeg-nete sie: „Ich kann mich aber nicht erinnern, Sie je gesehen zu ha-ben.“ Jetzt wurde er dreister: „Sie haben mir vor fünf Jahren ganz

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ungeheure Komplimente gemacht, und nun können Sie sich nichtmehr an mich entsinnen.“ „Das kann wirklich nicht sein. Erstenshabe ich einem jungen Mann wohl noch nie ungeheure Komplimen-te gemacht, und wäre das wirklich so, dann würde ich denjenigenbestimmt wiedererkennen.“ Ihre warme, weiche Stimme schien ihnjetzt ganz sicher zu machen, und so entgegnete er ihr: „Ich habemich aber tatsächlich gewaltig verändert, seit Sie mir sagten: ,Ichbitte dich, du holder Sterblicher, sing noch einmal. Mein Ohr ist ganzverliebt in deine Melodie, auch ist meinAuge betört von deiner lieb-lichen Gestalt!“. Da musste sie doch leise vor sich hin lachen: „Siewaren also einer meiner Partner im ,Sommernachtstraum‘. Das istja lustig, dass wir uns hier nach so langer Zeit zufällig wieder begeg-nen. Und Sie haben mich sofort erkannt ?“ „O, sprechen Sie esruhig aus. Ich war der Esel – oder etwas freundlicher – Klaus Zet-tel der Weber, der den Pyramus gab. Ich habe seither auch mancheEselei begangen. Mein richtiger Name ist aber Wolfgang Hartwig.Und Sie sind wirklich Titania, die Königin der Elfen. Ich kann esnoch gar nicht fassen.“ „Damit Sie mich nicht mit Titania anspre-chen müssen, ich heiße Sonja Swoboda und studiere an der Musik-hochschule in Leipzig“, stellte sie sich ihmvor. „Welch weiterer Zufall,ich studiere Medizin und zwar ebenfalls in Leipzig. Und wir treffenuns über fünf Jahre nach der Aufführung hier in Zipsendorf. Wiekommen Sie denn von Altenburg ausgerechnet nach hier?“ „Ich binnur inAltenburg zur Schule gegangen, wohne aber in Rositz. Eigent-lich wollte ich heute weder zum Tanzen noch zu irgendeiner ande-ren Veranstaltung gehen, doch meine Freundin Christa hat mich ein-fach überredet. Sie wollte mit mir dahin gehen, wo uns bestimmtniemand kennt. Jetzt haben Sie Christa Lügen gestraft.“ Christa tanzteinzwischen mit Dieter, und die beiden schienen sich auch angeregtzu unterhalten. Wolfgang kam wieder auf die Aufführung des „Som-mernachtstraums“ zu sprechen. „Es war ja eine sehr schwere Zeitdamals. Ich war völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Aber dieAufführung war für mich einfach wundervoll. Sie hat mir sehr ge-holfen, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Die Szenen mitIhnen haben mich noch lange beschäftigt. Ich hatte mich in Sie ver-liebt, in ihre märchenhafte Erscheinung und ihren Charme. Es war

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wirklich ein Sommernachtstraum für mich.“ „O, Sie sind einSchmeichler. Ich glaube, ich muss mich doch vor Ihnen sehr in Achtnehmen“, entgegnete Sonja leicht spöttisch. „Nein, ganz ehrlich, dasist keine Schmeichelei“, bekräftigte Wolfgang, „so war es tatsäch-lich, und ich stehe auch heute noch zu meinen Eindrücken von da-mals. Jetzt, in der Wirklichkeit, ohne die Hülle der Elfenkönigin, er-scheinen Sie mir noch schöner. Ich freue mich sehr, dass ich Sieheute hier getroffen habe, mit Ihnen tanze und nicht nur Bühnen-texte mit Ihnen austausche.“ Ihr schienen seine Worte gut zu tun,obwohl sie gelernt hatte, allzu schönen Worten gegenüber beson-ders misstrauisch zu sein. Aber er hatte sie dabei so lieb und treu-herzig angeschaut, dass sie ihm gern glauben wollte. Bei aller Skep-sis gegenüber jungen Männern fand sie Wolfgang doch sehr sympa-thisch, hütete sich aber davor, es sich allzu sehr anmerken zu lassen.Wolfgang war sehr froh darüber, dass es ihm nach seiner Meinungdoch recht gut gelungen war, seine Gefühle für Sonja einigermaßengeschickt in Worten auszudrücken, ohne aufdringlich zu erscheinen.

Nachdem sie einige Zeit zusammen getanzt hatten, schaute Son-ja auf ihre Uhr und stellte fest: „Meine Freundin und ich müssenaber jetzt gehen, sonst erreichen wir den letzten Zug nicht mehr.“„Lassen Sie uns doch noch diesen Tanz mitnehmen, danach dürftedann ohnehin gleich Schluss sein. Sie erreichen den Zug bestimmtnoch. Ich bringe Sie und Ihre Freundin zumBahnhof, und mein FreundDieter kommt sicher auch mit.“ Sie ließ sich zum letzten Tanz über-reden. Doch vor der Garderobenaufbewahrung stand eine riesigeMenschentraube, und man konnte sich auch nicht irgendwie nachvorn drängeln. So vergingen fast fünfzehn Minuten, ehe die vier ihreGarderobe erhalten hatten. Auch die Hoffnung, dass der Zug, wieüblich, Verspätung haben werde, hatte getrogen.Als sie in Meuselwitzam Bahnhof ankamen, war der schon geschlossen. So mussten diebeiden Pärchen den Weg ins sechs Kilometer entfernte Rositz zuFuß antreten. In Rositz angekommen, hatten Sonja und Wolfgangnoch den etwas weiteren Weg zurückzulegen. Vor einem villenarti-gen Gebäude erklärte sie ihm, jetzt sei sie zu Hause angekommen.Sie verabredeten sich für das nächste Wochenende in Meuselwitz.

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Er verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange underklärte ihr: „Ich bin sehr glücklich, dass du mir heute begegnet bist.“Mit den Worten: „Ich wünsche dir einen guten Heimweg. Auf Wie-dersehen am Sonnabend!“, verschwand sie im Hauseingang.Am Orts-ausgang wartete Dieter wie verabredet auf Wolfgang. In dieser Nachtkehrten Wolfgangs Gedanken immer wieder zu Sonja zurück.

Am darauffolgenden Sonnabend stand Wolfgang pünktlich kurzvor 16 Uhr am Bahnhof, um Sonja abzuholen. Als sie durch dieSperre die kleine Bahnhofshalle betrat und Wolfgang erblickte, glittein fröhliches Lächeln über ihr Gesicht. Sie unternahmen einen klei-nen Bummel durch die Stadt und suchten dann den Ort ihrer erstenBegegnung im Schlosspark auf. Natürlich wurden an der Stätte derAufführung alte Erinnerungen an den „Sommernachtstraum“ wach.Doch im Unterschied zu jenem warmen, lichten Sommerabend be-gann jetzt die Dämmerung ihren düsteren Schleier über der Wieseauszubreiten, und die hohen, entlaubten Bäume schienen wie unför-mige Gestalten in den Himmel zu ragen. „Das ist jetzt nicht die Zeit,um sich hier eine wunderschöne Elfenkönigin mit strahlendemAnt-litz, umgeben von hübschen, neckischen Elfen vorzustellen“, bemerkteWolfgang, „allenfalls würden die Rüpel mit ihrem derben und unge-hobelten Benehmen in diese Szenerie passen. Lass uns noch einenkleinen Bummel um den am anderen Ende der Stadt gelegenen Wir-ker-Park machen.“ Und er erzählte ihr dabei von seiner Kindheit,von seinen relativ alten Eltern, von der Schule, der Kriegszeit unddenAufregungen vor demAbitur, der Getreideaffäre und dem plötz-lichen Verschwinden Brandis. Anschließend berichtete sie ihm vonden fünf Jahren ihrer Kindheit in der Sowjetunion. Ihr Vater war als

strammer Kommunist 1933 mit seiner Familie – ihrer Mutter, ihrem

älteren Bruder und ihr – in die Sowjetunion übergesiedelt. Dort hat-ten sie in einer in Sibirien gelegenen kleinen Kolonie für deutscheEmigranten, in einer Art Barackenlager gelebt. In dieser engen Weltwar sie aufgewachsen. Besonders viele Eindrücke aus dieser Zeithatte sie nicht mitgenommen. Die langen, kalten Winter mit riesigenMengen an Schnee waren natürlich für die Kinder besonders inter-essant. Aber dann war man doch auch immer wieder froh, wenn

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der Frühling seinen Einzug hielt. Es gab dort auch eine deutscheSchule. Sie war 1936 eingeschult worden. Ihr Vater war oft unter-wegs, und ihre Mutter atmete jedesmal auf, wenn er nach mehroder weniger langer Abwesenheit wieder zurückkam. Im Frühjahr1938 kehrte die Familie überraschend nach Deutschland zurück. IhrVater fand eine Anstellung als Ingenieur in einem Werk der DEA,so kamen sie wieder nach Rositz. Nach Kriegsende habe sich ihrVater durch seine politischen Aktivitäten in weiten Kreisen der Be-völkerung sehr unbeliebt gemacht. Deshalb verhielten sich auch man-che ihrer Bekannten jetzt ihr gegenüber sehr reserviert, obwohl siesich selbst politisch nicht besonders engagiere.

Nun wurde für Wolfgang zur Gewissheit, was er schon zu ahnenanfing, als sie vom Aufenthalt der Familie in der Sowjetunion zuerzählen begann. Sonja war die Tochter des Mannes, der unter demSpitznamen „Dackel“ viel bekannter war als unter seinem richtigenNamen. Und Wolfgang sagte zu ihr: „Es ist mir völlig gleichgültig,welche politische Einstellung du hast, ich finde dich sehr sympa-thisch, ich mag dich sehr und hoffe, dass wir uns immer gut verste-hen werden.“ Sie antwortete ihm mit einem dankbaren Blick. ImRatskeller angelangt, widmeten sie sich dem Tanzvergnügen. Je län-ger sie miteinander tanzten, umso begehrenswerter erschien sie ihm.Als Wolfgang sie beim Tanzen fest an sich ziehen wollte, wehrte siejedoch ab: „Ich mag dich auch, aber du musst mir Zeit lassen.“ Under respektierte ihren Wunsch, verhielt sich ihr gegenüber zu seinereigenen Überraschung wochenlang ungewöhnlich zurückhaltend undversuchte sie nicht zu drängen. Auf dem Weg zum Bahnhof mach-ten sie Pläne für das nächste Wochenende. Wolfgang schlug vor, inAltenburg ins Theater zu gehen. Er wolle versuchen, Karten für dieOper am Sonnabend zu erhalten, aber er kenne den Spielplan nicht.So verabredeten sie sich für den nächsten Sonnabend in Rositz amBahnhof, um entweder von dort aus zum Theaterbesuch nach Alten-burg zu fahren oder etwas anderes zu unternehmen.

Durch seine Beziehungen zu dem Schauspieler Carl Bucher, Die-ters Nachbar, hatte Wolfgang noch zwei Theaterkarten für den kom-

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menden Sonnabend erhalten. Auf dem Programm des AltenburgerLandestheaters stand die Oper Tosca von Giacomo Puccini. Dasauf der Bühne nachgebildete Innere einer Kirche in Rom, ein Ortder Stille und Einkehr, bietet dem aus der Engelsburg entflohenenGefangenen Angelotti, dem Konsul der ehemaligen Republik Rom,zunächst Schutz und Sicherheit. Doch die Musik spiegelt gleichzei-tig die Unruhe und Angst des Flüchtlings wider. Hier in der Kirchetrifft Angelotti seinen alten Freund, den Maler Cavaradossi, der amBildnis einer Madonna arbeitet. Mit dem Bekenntnis: „Mein Gedan-ke bist nur du, Tosca, du!“ endet die von einem tiefen Gefühl derLiebe durchdrungeneArie des Malers „Wie sich die Bilder gleichen“.Als Tosca die Kirche betritt, erregt dieses Bild jedoch ihre Eifer-sucht. In den folgenden Szenen der beiden Liebenden, geprägt vonKlängen mit lyrisch-gefühlvoller Zartheit, kann Cavaradossi die Ge-liebte beruhigen, obwohl dazwischen immer wieder die EifersuchtToscas durchbricht. Doch dann erfolgt ein schroffer Wechsel desGeschehens. Die Dramatik der Ereignisse findet ihre Reflexion inder sich von Höhepunkt zu Höhepunkt steigernden Musik. EinBöllerschuss verkündet die Entdeckung der Flucht Angelottis, derFreund bringt ihn in ein sicher scheinendes Versteck. Der vermeint-liche Sieg der Österreicher über Napoleon bei Marengo wird vonden Vertretern des Regimes mit Böllerschüssen, Glockengeläut undeinem Tedeum gefeiert. Schließlich taucht der Jäger, der Polizei-chef Scarpio, auf, begleitet von düsteren, dunklen Tönen. Über dieeifersüchtige, von ihm heiß begehrte Tosca und ihren Geliebten, denvermuteten Fluchthelfer, versucht er die Spur des Flüchtlings zu fin-den. „Er für den Galgen, sie für mein Lager“, ist Scarpios Motto.Alsihr Geliebter gefoltert wird, verrät Tosca das Versteck Angelottis.Der begeht nach seiner Entdeckung Selbstmord. Aber der TriumphScarpios wird getrübt von der Nachricht, dass Napoleon bei Maren-go gesiegt hat und nicht die Österreicher. Cavaradossi bricht dar-aufhin in einen Jubelgesang aus und legt ein Bekenntnis zur Freiheitab. Der wütende Scarpio verurteilt ihn danach zum Tode. Doch dannerpresst der Tyrann Tosca mit dem Angebot, dem Maler das Lebenzu schenken, wenn sie sich ihm hingibt. Die Sängerin willigt schließ-lich ein und ersticht das Ungeheuer, als es sich anschickt, sie zu

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besitzen. Im nächsten Bild erinnert sich Cavaradossi mit der Arie„Und es blitzten die Sterne“ an jene Stunden des unendlichen Glücksmit Tosca, die ihn in einen wahren Liebesrausch versetzten. Und ernimmt voller Wehmut Abschied vom Leben. „Für immer ist derLiebesrausch verflogen, die Stunden eilen, nun sterb‘ ich in Ver-zweiflung, ich liebte niemals noch so sehr das Leben.“ Doch ur-plötzlich weicht die Verzweiflung des Malers neuer Hoffnung, alsTosca erscheint. Sie verkündet ihm, er solle nur zum Schein erschos-sen werden, er sei frei und sie habe Scarpio erdolcht, nachdem erdas Begnadigungsschreiben unterschrieben hatte. Eine glücklicheZukunft scheint sich ihnen aufzutun. Voller Zuversicht geht er zurHinrichtungsstätte. Doch ein einziger Augenblick, eine grausameWendung des Schicksals verändert wieder alles. Mit Entsetzen mussTosca feststellen, dass ihr Geliebter wirklich tot ist. Sie ist betrogenworden, die Schüsse waren tödlich. Ihre Stimmung schlägt in tiefsteHoffnungslosigkeit um. Als sich die Schergen des inzwischen ent-deckten toten Tyrannen nähern, springt sie von den Mauern derEngelsburg in den Tod. Mit dem machtvoll gesteigerten Grundmotivaus Cavaradossis Arie „Und es blitzten die Sterne“ endet die Oper.

Die Gedanken des Cavaradossi auf der engen Brücke zwischenLeben und Tod – die Barrieren der Zeit mit mächtigen Sätzen über-springend, die Höhen und Tiefen seines Schicksals in wenigen Au-genblicken zusammendrängend – wurden durch die Urgewalt derMusik in übermächtige Emotionen umgewandelt. Diese Gefühlsaus-brüche hatten sich wie auf unsichtbaren Schwingen ausgebreitet.Sie erfassten Sonja und Wolfgang, fesselten die beiden wie durcheinen Zauber und versetzten sie in einen wahren Rausch. Sonja hat-te Wolfgangs Hand ergriffen. Sie schauten sich an und spürten indiesem Augenblick den Gleichklang ihrer Seelen. So war die Auf-führung dieser wunderbaren Oper für sie zu einem unvergesslichenErlebnis geworden.

An einem Nachmittag in der Woche vor dem Weihnachtsfesttraf Wolfgang sich mit Sonja in Leipzig auf dem Karl-Marx-Platz zueinem Bummel über den Weihnachtsmarkt. Doch der vermeintliche

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Weihnachtsmarkt erinnerte eher an einen Jahrmarkt. Dazu trug auchein Karussell bei, aus dessen Lautsprechern in kurzen Abständeneiner der neuesten Schlager erklang: „Das machen nur die Beinevon Dolores, dass die Senores nicht schlafen gehn.“ „Girlanden ausTannenzweigen und Tannenbäume allein ergeben eben noch keineweihnachtliche Atmosphäre. Es fehlt ganz einfach auch der Schnee,um ein bisschen Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen“, be-merkte Sonja, „die Kälte allein tut es nicht.“ Und sie schmiegte sicheng an Wolfgang, so als könne sie sich auf diese Weise bei ihmwärmen. Zwischen einigen armseligen Ständen mit Angeboten vonviel Kitsch entdeckten sie einen HO-Stand, an dem Glühwein aus-geschenkt wurde. Wolfgang und Sonja ergriffen die Gelegenheit,sich mit einem Gläschen Glühwein ein wenig aufzuwärmen. DerGlühwein heizte natürlich auch die Stimmung an. Plötzlich begannWolfgang, den Mephisto zu zitieren: „Mir ist ganz kannibalisch wohl,als wie fünfhundert Säuen.“ Und er fuhr fort, als sei ihm im Momentgerade die große Erleuchtung gekommen: „Ich muss dich nun vorallen Dingen, in lustige Gesellschaft bringen.“ Dies hier ist mehr alslangweilig. Ich lade dich in Auerbachs Keller ein.“ „Das kann abersehr teuer werden. Du weißt, das ist eine HO-Gaststätte“(21), ent-gegnete Sonja. „Das macht nichts, wenn man in Leipzig studiert,muss man wenigstens einmal in Auerbachs Keller gewesen sein“,erwiderte er. Aber dann waren sie doch enttäuscht. Auerbachs Kel-ler war einfach eine Gaststätte mit sozialistischemAntlitz, mit etwasgehobenem Niveau und Preisen auf allerhöchstem Niveau. So wares auch nicht verwunderlich, dass an einem ganz gewöhnlichenWochentag die Zahl der Gäste sehr klein war. Und von lustiger Ge-sellschaft war keine Spur zu entdecken, die Zeiten hatten sich seitGoethe doch sehr geändert. Sonja und Wolfgang unterhielten sichzunächst über Probleme ihres Studiums. Doch dann wechselte Son-ja das Thema. „Mir steht in meinem Elternhaus ein sehr traurigesWeihnachtsfest bevor“, sagte sie. „Meine Mutter hat erst vor weni-gen Tagen erfahren, dass mein Vater ein Verhältnis mit einer jungenVolkspolizistin hat, die in seinem Büro beschäftigt ist. Sie hat erst amvergangenen Wochenende mit mir darüber gesprochen. Jetzt herrschtbei uns zu Hause natürlich eine düstere Stimmung. Aber es kommt

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noch schlimmer. Die Affäre dauert schon Monate, und die Frau, diekaum älter als ich sein dürfte, bekommt ein Kind von meinem inzwi-schen fünfundfünfzigjährigen Vater. Für meine Mutter ist das einefurchtbare Tragödie. Sie hat in den dreißig Jahren ihrer Ehe immernur Opfer gebracht, und jetzt tut mein Vater ihr das an. Währendmein Bruder noch in russischer Kriegsgefangenschaft war, hattedessen erste Frau ein Verhältnis mit einem russischen Offizier an-gefangen, einem häufigen Gast in unserem Hause. Als meine Elterndas herausfanden, reichte mein Vater für seinen abwesenden Sohnsofort die Scheidung ein, natürlich ohne dessen Kenntnis. Dabei warmeine damals noch sehr junge Schwägerin während des Kriegesund in der Zeit danach jahrelang allein gewesen. Ich will damit nichtsentschuldigen.Aber das Verhalten meines Vaters in diesem Fall zeigtdoch, was für ein schlimmer Egozentriker er ist.“ Aus Sonjas wun-derschönen Augen sprach eine unendliche Traurigkeit. Wolfgangstrich ihr zärtlich über das dunkelblonde Haar: „Ich möchte dich sogern trösten, aber das kann man wohl mit Worten nicht.“ „Du bist solieb zu mir. Ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben. Si-cherlich verstehst du auch, dass ich meine Mutter über die Weih-nachtsfeiertage und an Silvester nicht allein lassen kann. Mein Bru-der wohnt mit seiner Familie in Berlin. Sie werden jetzt nicht zu unsnach Hause kommen. Außerdem habe ich natürlich ein viel innige-res Verhältnis zu meiner Mutter als mein Bruder. Aber wenn duvielleicht für den zweiten Weihnachtsfeiertag Theaterkarten besor-gen könntest, würde ich sehr gern mit dir in die Oper gehen. Unddann verspreche ich dir auch noch, am ersten Tag des neuen Jahresganz für dich da zu sein.“ Wolfgang hatte für Sonjas EinstellungVerständnis und versicherte ihr, dass er sich um Opernkarten bemü-hen würde.

So verbrachten Wolfgang und Sonja wenigstens den Abend deszweiten Weihnachtsfeiertags zusammen im Theater bei einer sehrgelungenen Aufführung von Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“.Am Neujahrstag des Jahres 1952 unternahmen sie nachmittags vonMeuselwitz aus einen sehr langen Spaziergang. Natürlich erhofftensie sich von dem neuen Jahr einen glücklichen Verlauf. Sowohl Sonja

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als auch Wolfgang erwarteten entscheidende Fortschritte in ihren Stu-dien, aber ganz besonders richteten sich ihre Erwartungen auf eineglückliche Entwicklung ihrer noch jungen Beziehung. Sonja hatte sichbei Wolfgang untergehakt. Sie folgten zunächst dem schmalen FlussSchnauder, der eingerahmt von stattlichen Bäumen in leichten Win-dungen allmählich die Stadt verließ. Nachdem er den Bahndamm derLeipziger Strecke hinter sich gelassen hatte, trat er in eine weite Ebe-ne ein. Noch waren die Wiesen rechts und links der Schnauder mitSchnee bedeckt, aber die milde Wintersonne hatte schon begonnen,an der Schneedecke zu knabbern. In der Ferne lag der kleine OrtSchnauderhainichen vor ihnen. So weit ihr Blick reichte, war keinMensch zu sehen. Nach einer Gesprächspause begann Sonja: „Ichdenke, ich bin dir eine Erklärung schuldig. Bis vor wenigen Monatenhatte ich einen Freund, mit dem ich über zwei Jahre zusammen war.Ich hatte geglaubt, es sei die große Liebe, aber dann wurde es amEnde eine noch größere Enttäuschung. Er hat mich wegen einer an-deren Frau verlassen. Die Umstände unserer Trennung waren sehrunschön, aber ich will dir Details ersparen. Christa überredete michdann Anfang November, mit nach Zipsendorf zum Tanz zu kommen,weil ich nach wochenlanger Abkapselung an einem seelischen Tief-punkt angelangt war. Du bist mir von Anfang an sympathisch gewe-sen, aber du hast sicher gemerkt, dass ich sehr zurückhaltend war undhast dich wahrscheinlich darüber gewundert. Ich bin jedenfalls sehrfroh, dass du meine Zurückhaltung nicht missdeutet hast. Im Laufeder Zeit ist mein Vertrauen zu dir immer mehr gewachsen. Ich denke,jetzt zum Jahresbeginn ist der richtige Zeitpunkt, dir das zu sagen.“Bei ihren letzten Worten waren sie stehen geblieben. In diesem Mo-ment wurde Wolfgang wieder an den „Sommernachtstraum“ erin-nert. Es war diese weiche, warme Stimme, die damals in ihm sofortZuneigung und Sympathie ausgelöst hatte. Und er blickte in diesewunderbar klaren, grünen Augen, die ihn schon damals so faszinierthatten. Da fiel ihm das Lied des Cavaradossi aus Tosca ein: „Mitdeinen Augen, den wundersamen, kann kein anderes Auge sich mes-sen“. „Ich liebe dich, ich werde alles tun, um dich glücklich zu ma-chen“, versprach er Sonja, und sie antwortete: „Ich liebe dich auchund fühle, dass wir zusammen sehr glücklich werden können.“ Er zog

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sie an sich und küsste sie voller Leidenschaft und sie erwiderte seineKüsse ebenso leidenschaftlich. So standen sie am ersten Tag diesesneuen Jahres einsam in der winterlichen Landschaft, und die Strahlender sich dem Horizonte zuneigenden Sonne zeichneten ihre langenSchatten in den Schnee.

Sonja und Wolfgang wollten wie bisher die Wochenenden bei ih-ren Eltern verbringen und sich dann zu gemeinsamen Unternehmun-gen in Meuselwitz oder Rositz treffen. Doch, um die für Verliebtelangen Wartezeiten bis zum jeweils nächsten Wochenende abzukür-zen, beschlossen sie, sich im neuen Jahr an jedem Mittwochabend inLeipzig zu treffen und gemeinsamauszugehen. Darunter würden dannauch ihre Studien nicht leiden. So stieg Wolfgang am Abend des 9.Januar die knarrende Holztreppe eines Hauses in derScharnhorststraße in Leipzig zum zweiten Stockwerk empor und klin-gelte an der Wohnungstür von Sonjas Vermieterin Frau Jaschke. Eineältere Dame, Mitte der sechzig, mit weißem Haar und strengen Ge-sichtszügen, öffnete ihm. Wolfgang sagte, er wolle zu FräuleinSwoboda. Darauf entgegnete Frau Jaschke sehr energisch, sie duldekeine Herrenbesuche bei ihrer Untermieterin. „Ich möchte FräuleinSwoboda nur abholen, dagegen dürften Sie ja sicher keine Einwändehaben“, erklärte Wolfgang höflich, aber bestimmt. „Wenn das so ist,habe ich nichts dagegen, dass Sie eintreten. Aber ich bitte Sie, IhrenAufenthalt nicht über Gebühr auszudehnen“, gebot ihm die alte Dame,die sicher schon viel bessere Zeiten gesehen hatte, und sie wies aufeine Tür am Ende des düsteren Korridors.Auf sein Klopfen bat Sonjaihn in ihr Zimmer. Sie küssten sich zur Begrüßung. „Ich hoffe, die alteSchachtel schaut nicht durchs Schlüsselloch, sonst muss ich demnächstnoch auf der Straße auf dich warten“, murmelte Wolfgang vor sichhin, und er erzählte Sonja von dem nicht gerade freundlichen Emp-fang. „Sprich nicht so abwertend von ihr. Sie ist halt wie die meistenälteren Menschen so erzogen worden. Sie hat es auch schwer, ihrMann sitzt seit 1945 in Bautzen, er war Prokurist bei einer Firma, dieKriegsmaterial herstellte. Jetzt kann sie ihn wenigstens einmal imVier-teljahr besuchen.“

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Wolfgang schaute sich ein wenig im Zimmer um. Es war eine fürdie Nachkriegszeit typische Studentenbude. In dem – der Bauweisezu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechend – hohen Raum wirk-ten manche der Einrichtungsgegenstände wie Miniaturmöbel. Dasmit Kacheln versehene Kohleöfchen neben der Tür ließ erahnen,dass bei winterlicher Kälte die Temperatur des Raumes nur annä-hernd erträglich gehalten werden konnte. Ein schmaler Schrank undein relativ großer Toilettentisch nahmen eine der Längsseiten desZimmers ein.Auf der Marmorplatte des Toilettentischs standen eineWaschschüssel und ein mehrere Liter fassender Wasserkrug. Aufder gegenüberliegenden Seite hatten ein kleines Bücherregal unddas Bett ihren Platz. Auf dem sich durch Normalgröße auszeich-nenden Bett war eine mit bunten Blumen bedruckte Bettdecke aus-gebreitet. Ein hohes Fenster auf der Schmalseite des Zimmers ge-genüber der Tür sorgte für viel Licht und machte so den kleinenRaum hell und freundlich. Für Schreibarbeiten stand neben demFenster ein kleiner Sekretär zur Verfügung. Ein rundes Tischchen,das von zwei nicht unbedingt bequemen Stühlen umgeben war, nahmdie Mitte des Zimmers ein. Sonja hatte sich inzwischen soweit fertiggemacht und zog noch schnell ihren Mantel über. Dann starteten siezu einem Kinobesuch. Unterwegs erzählte sie Wolfgang, dass zwi-schen ihren Eltern eine gewisse Entspannung eingetreten sei. IhreMutter habe sich entschlossen, nun doch bei ihrem Vater zu bleiben.Er habe sie um Verzeihung gebeten und ihr versprochen, die Bezie-hung mit der Volkspolizistin abzubrechen. Für ihre Mutter wäre esjetzt im Alter wirklich sehr schwer gewesen, wenn sie plötzlich al-lein dagestanden hätte. „Ich beginne jetzt allmählich, ihren Stand-punkt zu verstehen“, erklärte Sonja.

Gegen Ende des Monats schlug Sonja vor, am nächsten Wo-chenende in Leipzig zu bleiben. Sie habe Lust, sich zur Abwechs-lung einmal eine Operette anzuschauen. So besorgte sie für denfolgenden Sonnabend Karten für Franz Lehars Operette „Paganini“.Die schwungvollen Melodien Lehars versetzten beide in eine heite-re, ausgelassene Stimmung. Nach der Aufführung machten sie nocheinen Bummel durch die Innenstadt. Wolfgang hatte Sonja noch nie

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so gelöst und entspannt erlebt wie an diesem Tage. Plötzlich fragtesie ihn unvermittelt: „Wie steht es eigentlich mit dir? Sicher trifft derText von Paganinis Arie ,Gern hab ich die Frauen geküsst‘ auch aufdich zu.“ Er versuchte ihrer Frage auszuweichen. „Ich kann über-haupt nicht singen. Jede Frau würde mir sofort davonlaufen, wennich versuchen würde, diese Arie zu singen.“ Sie blieb hartnäckig.„Ich habe dich aber nach dem Text und nicht nach der Melodiegefragt.“ „Weißt du, Sonja, ich bin der Frau meines Lebens vor vie-len Jahren begegnet, aber sie hat mich überhaupt nicht beachtet.Danach habe ich schon einige Bekanntschaften gehabt. Jetzt habeich diese Frau zufällig wieder entdeckt, aber mein Verlangen nachihr blieb bisher unerfüllt.“ Sie lächelte verschmitzt, und – von derOperette inspiriert – sang sie ihm leise ins Ohr: „Einmal möcht‘ ichwas Närrisches tun, sag mir bist du dabei?“ Nachdem er dazuschwieg, bat sie ihn: „Bring mich jetzt bitte nach Hause!“ Vor derHaustür angelangt wollte er sich mit einem Kuss verabschieden. Sieaber fragte ihn: „Möchtest du nicht mit nach oben kommen?“ „Duwillst wohl, dass deine Wirtin einen Herzschlag erleidet?“, bemerkteer etwas ironisch. Darauf erwiderte sie zu seiner Überraschung:„Sei deshalb völlig unbesorgt, sie ist gestern für vier Wochen zurKur nach Bad Elster gefahren. Sie hat fast zwei Jahre auf dieseKur warten müssen.“ Jetzt begann Wolfgang, Sonjas Verhalten zubegreifen. „Das ist aber wirklich nett von ihr, unter diesen Umstän-den kann ich das Angebot natürlich mit Freuden annehmen.“

In Sonjas Zimmer angekommen wollte Wolfgang sie umarmen.Doch sie zog erst einmal das Fensterrollo herunter. „Wir müssen janicht unbedingt Zuschauer haben.“ Jetzt küsste er sie leidenschaft-lich, aber sie befreite sich aus seiner Umarmung. „Lass uns dochzuerst die Mäntel ablegen.“ Danach forderte sie ihn auf: „Mach esdir jetzt ein wenig bequem!“, und verließ das Zimmer. Er setzte sichan den Tisch, auf dem eine Vase mit roten Nelken stand. „Sonja hatsogar Blumen für meinen Besuch besorgt. Sicher ist sie erst in vie-len Geschäften vergeblich gewesen, ehe sie welche bekommen hat“,dachte er. „Eigentlich hätte ich ihr Blumen mitbringen müssen, aberich wusste ja nicht, was auf mich zukommt.“ Als Sonja wieder ein-

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trat, war sie mit einem Bademantel bekleidet. Das war ihr einzigesKleidungsstück, wie er beim Öffnen des Gürtels feststellte. Er be-deckte ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste über und über mitKüssen. Auf die mit Blumen bedruckte Bettdecke deutend flüstertesie: „Komm lass uns hier auf Blumenbetten kosen.“ „O, diese Stim-me ist noch viel zärtlicher und verführerischer als die der Titania“,konnte er gerade noch feststellen. Sich rasch seiner Kleidung entle-digend folgte er ihr zum Bett. Es störte ihn überhaupt nicht, dass sieentgegen ihrer Ankündigung die Decke mit der Blumenpracht dochentfernte. Und sie tauchten ein in ein Meer voller Leidenschaft.Ihre Sinne wurden wie von einer Welle emporgetragen und nachunten geschleudert, um wieder und wieder von immer stärker an-schwellenden Wellen erfasst zu werden. Tiefer und tiefer, wie voneinem Strudel hinabgezogen, versanken sie unentrinnbar in jenersüßen Falle von Rausch und Wollust. Doch dann – urplötzlich –hatte sich der Orkan ihrer Leidenschaft gelegt, das wild tosendeMeer der Gefühle war zu einem ruhigen, friedlichen See gewordenund ein Gefühl tiefen Glücks überkam sie beide. Und es war nichtverwunderlich, dass sie nach der langen Zeit desAufeinanderwartenssich in dieser Nacht mehrfach in die Fluten des Liebesrausches stürz-ten.Als Wolfgang am nächsten Morgen neben Sonja erwachte, glaub-te er zuerst zu träumen. Er küsste sie zärtlich auf die Wange. Daschlug sie die Augen auf und schaute ihn sanft und liebevoll an.Auch die meisten der folgenden Nächte verbrachten sie zusammenin Glück und Harmonie wie Mann und Frau. Die Rückkehr von FrauJaschke beendete dann endgültig die gemeinsamen Nächte der Lie-benden. Wie schon zuvor gingen sie jetzt wieder jeden Mittwoch-abend zusammen ins Kino oder manchmal auch ins Theater. An denWochenenden fuhren sie wieder nach Hause und trafen sich dannin Meuselwitz oder Rositz zu gemeinsamen Unternehmungen.

In diesem Jahr hatte der Frühling sehr früh Einzug gehalten. AmPalmsonntag 1952, dem 6. April, herrschte schon richtig früh-sommerliches Wetter. Die Sonne strahlte von einem blauen Himmelherab, an dem kein Wölkchen zu entdecken war. In Meuselwitzwaren am Vormittag die evangelischen Schulabgänger wie in fast

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allen umliegenden Orten traditionsgemäß zur Konfirmation in dieKirche gegangen. Viele von ihnen hatten schon seit längerer Zeitkeinen Gottesdienst mehr besucht und hatten auch in den vorherge-henden Wochen eher widerwillig am Konfirmandenunterricht teil-genommen. Aber an der Konfirmation mit den anschließenden Fei-erlichkeiten wurde in fast allen Familien festgehalten. Und diesefeierliche Atmosphäre hatte sich irgendwie auf die gesamte Stadtübertragen. Das spürten Wolfgang und Sonja überall, als sie amNachmittag zu einem Spaziergang zum Hainbergsee aufbrachen.Doch nach dem Verlassen der Stadt hatten sie eher den Eindruck, ineiner menschenleeren Gegend zu sein. Als sie vom Osten kommenddas Südufer des Sees erreichten, wählten sie nicht den in seinerunmittelbaren Nähe verlaufenden Weg, sondern benutzten den Pfad,der in einiger Entfernung zum See ziemlich steil in die Höhe führte.Zu ihrer Linken lag ein ausgedehntes Getreidefeld, etliche hundertMeter dahinter wurde eine kleine Erhebung sichtbar, der Hainberg.Mit zunehmender Höhe schoben sich – auf dem zu ihrer Rechtenabfallenden Gelände – Birken, Erlen, Gebüsch und an manchen Stel-len auch Sandhänge zwischen den Pfad und den See. Hand in Handnäherten sich Sonja und Wolfgang der höchsten Stelle des Pfades,der kurz danach an einem Wäldchen aus kaum mehr als mannsho-hen Nadelgehölzen endete. Von hier aus bot sich ihnen ein überwäl-tigender Blick, über die zu ihren Füßen sich ausbreitenden Kronender Bäume hinweg, auf den im Sonnenlicht glitzernden See. Wie einFinger ragte vom Westen her eine mit Büschen und jungen Birkenbewachsene Halbinsel in den See hinein und gab ihm sein besonde-res Gepräge. Ihnen genau gegenüber auf der Nordseite des Seesbefanden sich – wenige Meter über dem Wasserspiegel – eineSportplatzanlage und rechts davon ein gummiverarbeitender Betrieb,die Gummibude genannt. Noch weiter nach rechts und etwas nachhinten versetzt lag der Bahnhof. Seine Gleisanlagen durchschnittendas Gelände von West nach Ost. Vor allem rechts vom Bahnhofhinter den Bahnanlagen breitete sich die Stadt in der Ebene aus.Kirche und Rathaus ragten als höchste Gebäude aus dem Gewirrder Häuser heraus. Von dem durch den Anstieg des Geländes höhergelegenen östlichen Stadtrand war nur noch die Spitze des Wasser-

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turms über den Bäumen des Wirker-Parks sichtbar. Auf der ande-ren Seite, ein paar hundert Meter hinter dem Sportplatzgelände, be-gann Zipsendorf, um das herum sich mehrere Kohlegruben und Bri-kettfabriken gruppierten.

Viel beeindruckender war jedoch der Blick über die nähereUmgebung hinweg in die Weite des Landes. Einer der auffälligstenPunkte zwischen Wäldern und Feldern war der Mast des LeipzigerRundfunksenders bei Groitzsch. Bei sehr klarem Wetter, wie an die-sem Tage, konnte man sogar ganz in der Ferne – zwar klein abernoch deutlich erkennbar – die Umrisse des Völkerschlachtdenkmalswahrnehmen. „Hier oben ist wirklich ein wunderschönes Fleckchen,“bemerkte Sonja. „Das war nicht immer so. Vor vierzig oder fünfzigJahren haben sich hier die Bagger in den Boden gefressen und Ton-ne um Tonne Kohle aus der Erde geholt“, belehrte Wolfgang sie.„Aber das ist Vergangenheit, jetzt ist es ein paradiesisches Plätz-chen“, erwiderte sie beinahe trotzig. „Was hältst du von einem Oster-picknick hier am Rande des Wäldchens mit dem phantastischenAus-blick?“ „Das ist eine sehr gute Idee. Klar, das machen wir“, stimmteer zu. Froh gelaunt traten sie nach einiger Zeit den Rückweg an.

Am ersten Osterfeiertag war das Wetter genauso schön wie amvorhergehenden Sonntag. Es war inzwischen noch etwas wärmergeworden. Ziemlich bepackt machten sich Sonja und Wolfgang amfrühen Nachmittag auf den Weg zu dem von ihnen ausgewähltenPlätzchen hoch über dem Hainbergsee. Unmittelbar vor dem Wäld-chen, im Schutz eines nicht sehr hohen Gebüsches breiteten sie eineDecke aus und ließen sich zum Picknick nieder. Sonja packte einenleckeren, selbst gebackenen Sandkuchen aus, und Wolfgang fülltezwei Becher mit Kaffee der Marke „Kathreiner Kaffee-Ersatz“ ausder Thermosflasche. Aus seiner Tasche holte er ein paar bunt ge-färbte Ostereier hervor. So verbrachten sie ein gemütliches Kaffee-stündchen. Nachdem sie sich gestärkt hatten, forderte Sonja, einKuvert in der Hand haltend, Wolfgang auf: „Dreimal darfst du raten,was darin verborgen ist.“ „Ich bin doch kein Hellseher“, antworteteer, „mit Sicherheit hast du keine Hundertmarkscheine drin.“ Da zog

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sie aus dem unverschlossenen Kuvert eine Fotografie von ihrer ge-meinsamen Aufführung des „Sommernachtstraums“ heraus. Diesezeigte Sonja als Elfenkönigin, wie sie den Arm um den unter einemEselskopf aus Pappmaché steckenden Klaus Zettel alias WolfgangHartwig schlang. „Das Bild kenne ich doch, ich habe auch einenAbzug davon. Soll das etwa heißen, dass du mich Esel jetzt auchumarmen möchtest?“ „Nimm das mit dem Esel bitte sofort zurück.Aber was die Umarmung betrifft, die kannst du gern haben.“ Undsie schlang ihren Arm um ihn und küsste ihn. Sie zeigte ihm nochandere Aufnahmen von der Aufführung, die er nicht kannte. Er be-saß nur Fotografien von Szenen, an denen die Rüpel aus Meuselwitzbeteiligt waren. „Erinnerst du dich? Das ist der Herzog Theseus mitseiner Braut Hippolyta, als er das Stück mit den Worten eröffnete:,Nun rückt, Hippolyta, die Hochzeitsstund‘ mit Eil‘ heran.‘ Hier istdann die dir nicht unbekannte Elfenkönigin Titania, umgeben vonihren Elfen. Auf dem nächsten Foto siehst du Titania mit ihrem Ge-mahl Oberon. Da hatten sie sich gerade wegen eines indischenFürstenknaben und verschiedener anderer Eifersüchteleien gestrit-ten.“ „Tatsächlich, das wirkt sehr glaubhaft, du machst ein ganz un-freundliches Gesicht, so erbost habe ich dich noch gar nicht gese-hen. Was ist eigentlich aus dem Knaben geworden, ich meine natür-lich den Elfenkönig Oberon?“ „Das weiß ich nicht. Es ist schon sehrviel Zeit vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Wahr-scheinlich ist er von Altenburg weggegangen. Jetzt kommt Oberonsquirliger Geist, der Kobold Droll, der überall seine Hände im Spielhatte und die Verwirrung um die beiden Liebespaare stiftete, nachdem Motto ,Geh‘n die Sachen kraus und bunt, freu‘ ich mich vonHerzensgrund‘. Dem Mädchen schien die Rolle auf den Leib ge-schrieben zu sein, sie war einfach phantastisch. Ich meine, sie hatspäter eine Schauspielausbildung absolviert. Und da haben wir daserste Liebespaar: Die zunächst verschmähte und gedemütigte He-lena mit dem herzlosen Demetrius, die dank Drolls Zaubertropfendann doch noch zueinander fanden. Das andere Liebespaar, Hermiaund Lysander, ist auf dem letzten Foto festgehalten.“ „Hermia wardoch wirklich auch eine Schönheit. Das ist mir damals überhauptnicht aufgefallen. Ich hatte nur Augen für dich.“ „Ja, sie wurde von

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vielen Jungen umworben. Sie ging mit mir in dieselbe Klasse. EinigeZeit nach dem Abitur hat sie sich mit ihren Eltern in den Westenabgesetzt. Sie hatten eine kleine Fabrik in Lucka besessen und wa-ren enteignet worden. Lysander, alias Werner Fuhrmann ist im März1950 zusammen mit anderenAltenburger Schülern und einigen Leh-rern verhaftet worden. Sie hatten illegal eine antikommunistischeGruppe gegründet, hatten antisowjetische Flugblätter verteilt und anHäuserwände ein großes F für Freiheit gemalt.“ „Ich habe von derGeschichte gehört. Es gab ja auch ein paar Meuselwitzer, die inAltenburg zur Schule gingen, und überhaupt hat sich das damalsdoch ziemlich herumgesprochen“, warf Wolfgang ein. „Von WernerFuhrmann und einigen anderen Verhafteten fehlt bisher jede Spur,die meisten haben sich jedoch nach mehr als einem halben Jahr ausBautzen oder anderen Zuchthäusern gemeldet“, erklärte Sonja undfuhr fort: „Es ist furchtbar, wenn Menschen so spurlos verschwin-den, und niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Ich kann michzwar nicht mehr an vieles aus unserer Zeit in der Sowjetunion erin-nern, aber das muss damals dort an der Tagesordnung gewesensein. Eines Tages war auch der Vater meiner Freundin Brigitte ,ab-geholt worden‘. Mein Vater hatte mir sofort danach verboten, zuBrigitte zu gehen oder auch nur mit ihr zu spielen. Einige Zeit späterwaren auch Brigitte und ihre Mutter aus dem Lager verschwunden.Das konnte ich damals nicht verstehen. Erst sehr viel später wurdemir dann alles klar, besonders die grausame Bedeutung des Aus-drucks ,Abgeholt worden‘. Seither verstehe ich meinen Vater nichtmehr. Wie konnte er sich diesem grausamen System mit Haut undHaaren verschreiben? Aber lassen wir diese Dinge jetzt. Heute istein so schöner Tag, den sollten wir uns nicht mit solchen Diskussio-nen verderben.“

Um sie herum herrschte eine paradiesische Stille, die nur ab undzu vom Gezwitscher eines Vogels unterbrochen wurde. Weit undbreit war kein Mensch zu sehen. Eng umschlungen saßen die bei-den im Gras, über ihnen das Blau des Himmels, unter ihnen derklare, ruhige See und das weite Land vor ihnen. Ein Gefühl grenzen-loser Freiheit überkam die Liebenden. Sie küssten sich und waren

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einfach glücklich. „Man müsste solcheAugenblicke festhalten kön-nen“, flüsterte sie. „Wir bewahren das gut in unserer Erinnerung.Nichts soll uns je trennen können“, erwiderte er. Doch dann wurdenihnen auch die Schwierigkeiten bewusst, die in der Realität desAlltagslebens auf sie zukommen könnten. Sonja würde wohl im näch-sten Jahr ihr Musikstudium beenden, Wolfgang hatte dagegen nochvier bis fünf Jahre Studium vor sich. Er war ja durch seine Zugehö-rigkeit zur Volkspolizei in gewisser Weise gebunden. Würde Sonjadann eineAnstellung an einer Musikschule oder einer normalen Schu-le in seiner näheren Umgebung finden? Oder würde man sie ein-fach an irgendeinem weit entfernten Ort einsetzen? Könnte sie sichals möglicheAlternative dazu von Privatunterricht ernähren? Da sieGeige und Flöte als Fächer studierte, müssten die Voraussetzungendafür eigentlich ganz günstig sein. Aber vielleicht würde sich dieallgemeine Situation in nächster Zukunft grundlegend ändern, fallses doch zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kom-men sollte. Das überraschende Angebot aus Moskau mit der Stalin-Note vom vergangenen Monat, in der ein neutrales Gesamtdeutsch-land vorgeschlagen worden war, ließ Hoffnung aufkommen. Aberwürde der Westen auf dieses Angebot eingehen, und war es über-haupt ernst gemeint, oder war es tatsächlich nur ein taktischerSchachzug Stalins? Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Dingeeinfach auf sich zukommen zu lassen. Da sie sich gegenseitig ihrerLiebe sicher zu sein glaubten, würden sie letztlich auch eine Lösungihrer Probleme finden. Davon waren sie überzeugt, und sie blicktenvoller Zuversicht in eine gemeinsame Zukunft.

Die Stunden vergingen, die Sonne näherte sich langsam demHorizont. Plötzlich hatten beide gleichzeitig den Gedanken, die kom-mende Nacht an diesem wunderbaren Ort zu verbringen. Langsamsank die Dämmerung hernieder. Mehr und mehr verschwammendie Bilder der Ferne, wurden immer undeutlicher. Die Stadt mit ih-ren Gebäuden und die Gruben der Umgebung wirkten wie Scheren-schnitte, und der See erschien ihnen als ein großes, dunkles Loch.Schließlich hatte die Dunkelheit alles zugedeckt. Am Himmel wur-den die ersten Sterne sichtbar und nach einiger Zeit auch die Sichel

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des abnehmenden Mondes, dessen Spiegelbild langsam über denSee wanderte. Sonja und Wolfgang genossen, sich küssend und lieb-kosend, die romantische Stimmung. Dann bereiteten sie sich amRandedes Wäldchens ihr Nachtlager und verbrachten eine wundervolleLiebesnacht inmitten der zauberhaften Natur, bis sie irgendwanndoch in tiefen Schlaf fielen. Es war schon heller Tag geworden, alssie leicht fröstelnd erwachten. Sie standen auf, schauten sich an,fanden sich wohl etwas merkwürdig und begannen beide zu lachen.„Ich habe fürchterlichen Hunger“, stellte Sonja fest. „Meinst du, ichnicht?“, antwortete Wolfgang gähnend, „wir packen jetzt unsereSachen zusammen und gehen zum Frühstück zu meinen Eltern.“

Die Hartwigs waren zunächst überrascht und doch etwas schok-kiert, als Wolfgang am späten Vormittag zusammen mit Sonja bei ih-nen auftauchte. Er stellte seine Freundin vor und erklärte, sie seienziemlich hungrig, weil sie noch nichts gegessen hätten. So bereiteteAlma Hartwig den beiden erst einmal ein kräftiges Frühstück. Natür-lich mussten sie auch zum Mittagessen bleiben. Nachdem alle mitgroßem Genuss den Kaninchenbraten und die Thüringer Klöße ver-speist hatten, bedankte sich Sonja ganz herzlich bei Wolfgangs Elternund entschuldigte sich, dass sie so einfach hereingeplatzt sei, und dasnoch dazu am Feiertag. Aber Wolfgangs Eltern wehrten ab. Das Es-sen habe ja für alle gereicht, und sie hätten sich doch sehr gefreut,Wolfgangs Freundin kennengelernt zu haben. Ein Kinobesuch amNachmittag und ein Tänzchen amAbend im Ratskeller rundeten dasOsterprogramm des jungen Paares ab. Von dem Picknick hoch überdem Hainbergsee waren die beiden so begeistert, dass sie es am dar-auffolgenden Wochenende wiederholten. Für den Sonnabend danach,den 26.April, hatte die CDU eine Tanzveranstaltung im MeuselwitzerRatskeller angekündigt. Das war eine Novität für den kleinen Ort undsollte wohl auch ein besonderes gesellschaftliches Ereignis werden.Obwohl weder Sonja noch Wolfgang irgendeine Beziehung zu dieserBlockpartei hatten, fanden sie das recht interessant und beschlossen,die Veranstaltung auf jeden Fall zu besuchen.

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5. Kapitel

Als Sonja am 26. April gegen 18 Uhr mit dem Zug aus RichtungAltenburg kommend auf dem Bahnhof in Meuselwitz eintraf, hieltsie vergeblich nach Wolfgang Ausschau. Er hatte sie bisher immervom Bahnhof abgeholt. Dabei war er stets pünktlich gewesen, aberdiesmal hatte er sich offensichtlich verspätet. So wartete sie amBahnhof. Doch die Zeit verging, und Wolfgang kam nicht. Nachetwa zwanzig Minuten entschloss sie sich, zu seinen Eltern zu ge-hen. Herr und Frau Hartwig waren von Sonjas Besuch überrascht.„Wir haben auch schon auf Wolfgang gewartet, er wollte eigentlichwie immer gegen Mittag hier sein“, erklärte seine Mutter. „Wenn ernur den Zug verpasst hätte, wäre er sicher mit dem nächsten ge-kommen und dann spätestens am Nachmittag eingetroffen.“ Sonjahatte Wolfgang zuletzt am Mittwochabend in Leipzig getroffen. Da-bei hatten sie beide ihreAbsicht bekräftigt, heute zur Tanzveranstal-tung der CDU zu gehen. Aber sie wollte natürlich die alten Leutenicht beunruhigen und sagte, Wolfgang sei sicher etwas Wichtigesdazwischengekommen. Sie werde halt am Sonntag noch einmal vor-beischauen, doch vielleicht würde er an diesem Wochenende über-haupt nicht nach Hause kommen. Voller Unruhe fuhr sie nach Rositzzurück.

Kurz, nachdem Frau Hartwig sich am nächsten Morgen zu ih-rem sonntäglichen Kirchenbesuch auf den Weg nach Zipsendorfgemacht hatte, klingelte es plötzlich stürmisch. Vor der Tür standHerr Thiele, Joachims Vater. Wolfgang und sein Freund Joachimwohnten ja in Leipzig zusammen im Studentenwohnheim der Volks-polizei. Ernst Hartwig bat den unerwarteten Besucher in die Woh-nung. Dieser fragte sofort nach Wolfgang. Als Herr Hartwig ant-wortete, Wolfgang sei entgegen seiner ursprünglichen Absicht nichtnach Hause gekommen, schilderte Herr Thiele, was sich bei ihnenereignet hatte: „Joachim ist in dieser Woche schon am Freitagabendnach Hause gekommen. Gestern hatte ich zusammen mit meinerFrau Bekannte besucht. Anschließend sind wir dann noch in denRatskeller zur CDU-Tanzveranstaltung gegangen. Joachim hatte

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auch beabsichtigt, in den Ratskeller zu kommen. Aber wir habendort vergeblich auf ihn gewartet. Heute Morgen stellten wir fest,dass Joachim auch nicht zu Hause war. Unser jüngster Sohn Jürgenberichtete uns dann, gegen 20 Uhr habe ein Offizier der Volkspoli-zei, ein Herr Keil, Joachim gebeten, für ein paar Minuten mit ihm zurPolizeiwache im Rathaus zu gehen, um eine Frage zu klären. Wäh-rend der Polizist vor der Tür wartete, hatte Joachim seinem Brudergesagt, er müsse mal schnell mit dem Keil zum Rathaus und gehedann anschließend zum Tanzen in den Ratskeller. Das versetzte unsnatürlich in helleAufregung. Ich lief sofort zum Rathaus, um diesenHerrn Keil nach Joachims Verbleib zu fragen. Zunächst leugneteKeil, Joachim abgeholt zu haben. Als ich ihm entgegenhielt, unserzweiter Sohn habe das doch mitbekommen, gestand er es schließ-lich ein. Auf meine bohrenden Fragen, wo Joachim abgeblieben seiund wem er ihn übergeben habe, antwortete er ausweichend. Ichbin dann sehr heftig geworden und habe ihm gesagt, sein Verhaltensei unmöglich und ich wolle mich über ihn beschweren. Doch erblieb bei seiner Darstellung, er habe Joachim in einem Dienstzim-mer abgeliefert, in dem sich mehrere ihm unbekannte Herren auf-gehalten hätten. Als ich ihn fragte, ob es sich dabei um Russen ge-handelt habe, erwiderte er, das wisse er nicht.“ Ernst Hartwig warnach Herrn Thieles Schilderung in tiefer Sorge um seinen Sohn.Auch Herr Thiele sah durch die Tatsache, dass Wolfgang entgegenseiner Ankündigung nicht nach Hause gekommen war, seine Be-fürchtungen noch verstärkt. Die beiden Männer vereinbarten, inVerbindung miteinander zu bleiben und sich gegenseitig zu verstän-digen, wenn sich etwas Neues ergeben würde.

Als Alma Hartwig von ihrem Kirchgang zurückgekehrt war, be-richtete ihr Mann ihr vorsichtig, was er von Herrn Thiele erfahrenhatte. Daraufhin erlitt sie einen Nervenschock und erklärte, sie habees ja gleich gewusst, dass mit Wolfgang etwas passiert sein müsse.Am Nachmittag kam dann Sonja wie angekündigt zu den Hartwigs.Die Nachricht über das Verschwinden von Joachim Thiele schienauch bei ihr schlimme Vorahnungen zu bestätigen. Sie fuhr sofortnach Leipzig und erkundigte sich im Studentenheim der Volkspolizei

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nach Wolfgang. Dort konnte sie nur in Erfahrung bringen, dass eram Sonnabendmorgen weggegangen war, um nach Hause zu fah-ren. Zutiefst niedergeschlagen kehrte Sonja in ihr Studentenzimmerzurück. Sie musste also davon ausgehen, dass Wolfgang, ebensowie sein Freund Joachim, von der Stasi (22) oder vom sowjetischenKGB (23) verhaftet worden war. Ein letztes Fünkchen Hoffnungglomm noch in ihr. Vielleicht war er doch irgendwie vor einer dro-henden Verhaftung gewarnt worden und konnte noch rechtzeitig inden Westen fliehen. Aber wenn sie nicht in den nächsten drei odervier Tagen eine Nachricht von ihm erhalten würde, müsste sie wohlauch diese letzte Hoffnung begraben.

In Meuselwitz kursierten inzwischen die wildesten Gerüchte. Baldstellte sich heraus, dass auch Dieter Gerth verschollen war. Nachdrei Hausdurchsuchungen bei Familie Köhler innerhalb kurzer Zeiterfuhr Herr Köhler schließlich, dass sein Sohn Rolf, der als Labo-rant in Böhlen gearbeitet und auch dort gewohnt hatte, schon seitdem 21. April spurlos verschwunden war. Bei der letzten Durchsu-chung hatten Volkspolizisten einen nicht mehr benutzten Kachel-ofen auseinandergenommen und dabei eine alte Pistole mit einereinzigen Patrone gefunden. Außerdem beschlagnahmten sie einenGummiknüppel und das Buch „Seeteufel“ von Felix Graf Luckner.Rolfs Vater flüchtete kurz danach mit der Familie in den Westen.Nur Rolfs vierundzwanzigjährige Schwester Inge blieb wegen ihresVerlobten in Meuselwitz zurück. An den folgenden Tagen fandenauf Anordnung des Revierleiters der Volkspolizei Meuselwitz, ohnedass dessen Name genannt wurde, Hausdurchsuchungen bei denFamilien Hartwig, Thiele und Gerth statt. In den darüber angefertig-ten Protokollen hieß es in allen drei Fällen: „Es wurde nichts gefun-den, was mit der zu klärenden Straftat in Verbindung steht oder aussonstigen Gründen der Einziehung bzw. Beschlagnahme unterliegt.“Dabei konnten die ausführenden Organe der Volkspolizei wederAuskunft über den Aufenthalt des „Straftäters“ noch über die „Artder Straftat“ geben. Sie drohten aber mit ernsten Konsequenzen,wenn man sich der Untersuchung widersetze. Bei Familie Hartwigbeschlagnahmten sie lediglich inoffiziell aus Wolfgangs Briefmar-

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kensammlung einen Satz Marken aus dem dritten Reich, auf denender Kopf Hitlers abgebildet war.

Nachdem Joachim am Abend des 26. April in Begleitung vonKeil im Rathaus angekommen war, wurde er in ein Zimmer imErdgeschoss geführt. Schon beim Öffnen der Tür überkam ihn einbedrückendes Gefühl. Eine modrig-süßliche Luft schlug ihm entge-gen und schien ihn regelrecht einzuschnüren. Der Raum war nurspärlich beleuchtet durch den Lichtschein, der durch die geöffneteTür des Nebenzimmers einfiel. Wie durch einen Schleier nahm erim Halbdunkel drei Männer und eine Frau wahr, die sich über denRaum verteilt hatten, als seien sie sich absichtlich aus dem Weggegangen. Als sie seinen „Guten Abend-Gruß“ erwiderten, merkteer sofort, dass es sich um Russen handelte. Ihm schien das Blut indenAdern zu gefrieren. Keil schloss die Tür hinter ihm, und entfern-te sich. Joachim war stehen geblieben und wartete auf eine Erklä-rung. Doch es fiel kein einziges Wort, eisiges Schweigen. Joachimspürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Was hatte das alles zubedeuten? Dann platzte es aus ihm heraus: „Sagen Sie mir bitte,worum es geht!“ Die Frau antwortete mit kalter, schriller Stimme:„Setzen Sie sich da auf den Stuhl, wir werden später sprechen.“„Ich möchte aber sofort wissen, worum es geht, wenn Sie michschon zu dieser außergewöhnlichen Zeit kommen lassen.“ Die Frau,bei der es sich offensichtlich um eine Dolmetscherin handelte, wech-selte ein paar Worte auf Russisch mit einem der Männer. Dannerwiderte sie nur kurz: „Sie müssen warten!“ „Das kann ich nichteinsehen“, entgegnete Joachim, „Sie können mich nicht zwingen,hier zu warten. Dann gehe ich eben wieder.“ Nachdem die Dolmet-scherin das hastig übersetzt hatte, polterte der männliche Gesprächs-partner auf Russisch los, und sie gab seine Belehrung an Joachimweiter. „Natürlich können wir Sie zwingen. Sie werden diesen Raumnicht verlassen. Wir bestimmen, wann wir sprechen. Wenn Sie jetztSchwierigkeiten machen, wird das später Nachteile für Sie haben.“Joachim überlegte krampfhaft, was er tun sollte. Und er kam zudem Schluss, dass er keine andere Wahl habe, als zu bleiben. Schließ-lich war er sich keiner Schuld bewusst. Er hatte sich im letzten Jahr

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ausschließlich seinem Studium an der Arbeiter- und Bauern-Fakul-tät gewidmet und sich von gefährlichen politischen Diskussionenferngehalten. Wahrscheinlich würde sich alles als harmlos heraus-stellen. Also setzte er sich und wartete einfach ab. Inzwischen hat-ten sich seine Augen auf die Lichtverhältnisse eingestellt. So mu-sterte er nacheinander seine russischen Gegenüber. Natürlich hatteer sich die „sowjetischen Freunde“, von denen in der DDR so oft dieRede war, etwas anders vorgestellt. Doch der vermeintliche Chefund Wortführer wirkte von seiner äußeren Erscheinung her gar nichteinmal unsympathisch. Er war ein nicht sehr großer, etwas unter-setzter MannAnfang dreißig, mit langem, glatt nach hinten gekämm-tem, schwarzem Haar. Er trug einen zweireihigen Anzug und einewahrscheinlich unifarbene Krawatte.Auch die beiden anderen Rus-sen waren korrekt mit Anzug und Krawatte gekleidet. Einer vonihnen war groß und von sehr kräftiger Gestalt. Aus seinen grobenGesichtszügen sprach eine gewisse Brutalität. Der andere wirkteeher unscheinbar. Die Dolmetscherin war eine schmächtige Frauum die dreißig, mit eingefallenen Wangen und einer zu stark ausge-prägten Kinnpartie. Sie war auffallend stark geschminkt und ver-strömte den Duft eines sehr aufdringlichen Parfüms.

Dreißig bis vierzig Minuten vergingen, in denen kein einzigesWortfiel. Dann kam plötzlich ein weiterer Russe ins Zimmer. Es wurdenein paar Sätze in Russisch gewechselt, danach sagte die Dolmet-scherin zu Joachim: „Sie werden jetzt mit uns nach Altenburg fah-ren.“ Auf seine Frage „und wenn ich mich weigere?“, antwortetesie drohend und sehr bestimmt: „Wir werden Sie zwingen, wir habendie Macht dazu.“ „Dann möchte ich aber wenigstens, dass meinenEltern Bescheid gesagt wird“, verlangte Joachim. „Das hat der Ge-nosse, der Sie abgeholt hat, bereits getan“, entgegnete sie. Auf demWeg nach draußen kamen sie durch ein Zimmer, in dem Keil hintereinem Schreibtisch saß. Im Vorübergehen fragte Joachim ihn: „Ha-ben Sie meinen Eltern Bescheid gesagt?“ Keil schaute ihn fragendan und antwortete: „Nein!“ „Würden Sie das bitte tun ?“ Nach ei-nem weiteren fragenden Blick sagte Keil: „Ja!“ „Kann ich michdarauf verlassen?“ hakte Joachim nach, und Keil gab ein schüchter-

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nes „Ja“ von sich. Von den vier Russen gut abgeschirmt wurde Joa-chim zu einem unmittelbar vor demAusgang des Rathauses gepark-ten Pkw geführt. Er musste auf dem Rücksitz Platz nehmen, rechtsund links von ihm saßen der Wortführer und der Unscheinbare. Je-der von ihnen hatte eine Hand in der Seitentasche seines Jacketts.So ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie mit der Waffe jedenFluchtversuch verhindern würden. Während der Fahrt wurde Joa-chim immer ruhiger. Sie hatten ja nichts gegen ihn in der Hand. Unddeutete nicht das Angebot Stalins zur Wiedervereinigung unter Bil-dung eines neutralen deutschen Staates unter Abzug aller Besat-zungstruppen darauf hin, dass die Sowjets doch in absehbarer Zeitdie DDR verlassen wollten?

In Altenburg öffnete ein Posten das Eingangstor zum Bereichum die sowjetische Kommandantur und Verwaltung, der durch ei-nen mehr als drei Meter hohen Zaun vom restlichen Stadtgebietvöllig abgegrenzt war. Sie hielten vor einem villenartigen Gebäude,in dessen Garten hell erleuchtet eine von Stacheldraht umgebeneBaracke stand. In dieser Baracke wurde Joachim in einen mit Fen-stergittern versehenen Raum gebracht, in dem sich nur eine Bankund ein Stuhl befanden. In der geöffneten Tür blieb ein Posten mitMaschinenpistole imAnschlag zurück.Aber schon nach kaum mehrals dreißig Minuten wurde die Fahrt in Gegenwart der beiden Be-gleiter und der Dolmetscherin in einem etwas bequemeren Pkw fort-gesetzt. Sie fuhren nach Leipzig und dort durch die kurz vor Mitter-nacht fast menschenleeren Straßen zur Kommandantur. Hier wur-den die an unterschiedlichen Orten eingesammelten ehemaligenMeuselwitzer Oberschüler auf verschiedene Räume verteilt, ohnedass auch nur einer von ihnen ahnte, wer von den Schulkameradensich zur gleichen Zeit in anderen Teilen dieses ungastlichen Hausesbefand.

Auf einem Stuhl in der Mitte eines ansonsten leeren Raumes saßWolfgang Hartwig. Der Raum wurde von einer Glühbirne an derDecke direkt über ihm erleuchtet, ein Lampenschirm fehlte. Diebeiden Fensternischen waren zugemauert, die Tapeten waren teil-

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weise von den Wänden abgerissen. In der geöffneten Tür stand einPosten mit Maschinenpistole im Anschlag. Wolfgang war am Vor-mittag, als er das Studentenwohnheim verlassen wollte, von zweiStasimitarbeitern abgefangen worden. Wolfgang hatte sich bei derÜbergabe an die Russen ähnlich wie Joachim verbal zur Wehr ge-setzt. Doch es half ihm auch nicht, dass er sich auf die Verfassungder DDR berief und den Sowjets das Recht absprechen wollte, ei-nen deutschen Staatsbürger zu etwas zu zwingen. Nun saß er schonseit Vormittag auf diesem unbequemen Stuhl in dem schwach er-leuchteten Raum. Die Stunden vergingen, ohne dass etwas geschah.Nur der Posten in der Tür wurde von Zeit zu Zeit abgelöst. Wolf-gangs Gedanken waren bei Sonja. Sie würde am Bahnhof daraufwarten, dass er käme, um sie abzuholen. Was würde sie wohl den-ken, wenn sie vergeblich wartete. Eine unbändige Wut erfasste ihn,weil die Russen ihnen so das Wochenende verdarben. Er glaubtefest daran, dass er spätestens am Montag wieder frei sein würdeund dann alles aufklären könne. Es musste sich um einen totalenIrrtum handeln. Jedenfalls war er sich keiner Schuld bewusst. Gele-gentlich war er zwar mit seinen Äußerungen über die DDR unvor-sichtig gewesen, aber irgendwann ließen doch die meisten Men-schen mal ihren Ärger heraus und schimpften über das eine oderdas andere. Das konnte aber doch kein Grund sein, ihn hier festzu-setzen.

Jetzt stand schon der vierte Posten vor der Tür. Wolfgang warinzwischen ziemlich hungrig geworden und müde von der schlech-ten Luft und der Düsternis des Raumes. Nach 22 Uhr fragte Wolf-gang ihn mittels Zeichensprache, ob er sich hinlegen dürfe. Da derPosten nichts dagegen zu haben schien, legte er sich auf den Fußbo-den und war nach kurzer Zeit eingeschlafen. Nachdem er so minde-stens zwei Stunden geschlafen hatte, wurde er ziemlich sanft ge-weckt. Als er die Augen aufschlug, sah er einen gut aussehenden,blonden Russen in Zivil, der in einigem Abstand vor ihm auf demBoden kniete und ihn mit seinem lang ausgestreckten rechten Armberührt hatte. Der Mann schien befürchtet zu haben, Wolfgang kön-ne versuchen, ihn zu überwältigen, obwohl doch noch immer der

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Posten mit der Maschinenpistole in der Tür stand. Wolfgang, mitdem Bewaffneten im Rücken, folgte dem Blonden über mehrereKorridore bis zu einem großen Raum. Dort saß hinter einem Schreib-tisch, direkt unter dem Bild Stalins, der Mann, der offensichtlich dieganze Aktion leitete, der Untersetzte mit den schwarzen, glatt nachhinten gekämmten Haaren, Major Kamenew in Zivil. Über dieschmächtige Dolmetscherin wies er Wolfgang an, auf einem Stuhlan der gegenüberliegenden Seite des Zimmers Platz zu nehmen.Dann stellte er Wolfgang einige Fragen zur Person. „Kommen Siedoch mal zu mir“, herrschte der Major Wolfgang an. Als Wolfgangdirekt vor dem Schreibtisch stand, hielt Kamenew ihm blitzschnellein Passbild vor: „Wer ist das?“ „Das ist Klaus Sänger“, antworteteWolfgang ganz ruhig. „Wir haben ihn verhaftet. Er ist ein Spion, undSie sind auch ein Spion und haben für ihn gearbeitet.“ „Das ist über-haupt nicht wahr. Ich habe nicht für Sänger gearbeitet, nicht in ir-gendeiner Weise. Übrigens habe ich ihn schon lange nicht mehr ge-sehen“, entgegnete Wolfgang. Dabei fielen ihm die verfluchten Flug-blätter ein, die er von Sänger vor mehr als einem halben Jahr erhal-ten hatte und die er schließlich an Rolf Köhler übergeben hatte,nachdem Georg Thaler sie nicht haben wollte. „Es hat keinen Sinnzu leugnen, Sie sind ein Spion, ein verdammter Faschist“, schrieKamenew ihn an, und seine braunen Augen funkelten vor Zorn undHass. „Wir haben Ihre ganze Gruppe gefasst“, und er zählte dieNamen auf: „Köhler, Thiele, Gerth, Thaler, Hoffmann und Bantzer.“Blankes Entsetzen erfasste Wolfgang. Urplötzlich wurde ihm derErnst der Lage klar und damit auch die Hoffnungslosigkeit seinerSituation. Es ging gar nicht um irgendwelche Fakten und deren ge-rechte Bewertung. Hier war eine Gruppe junger Leute in die Fängeeines unbarmherzigen Apparates gelangt. Wie würde das enden?Und wie zur Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen ver-langte Kamenew: „Geben Sie mir Ihren Personalausweis, leerenSie Ihre Taschen aus und legen Sie Ihre Krawatte und Ihren Hosen-gürtel ab. Wolfgang entgegnete trotzig: „Das werde ich nicht tun.Ich protestiere gegen diese Behandlung.“ „Sie haben hier nichts zuprotestieren“, brüllte Kamenew ihn an, „Sie sind verhaftet. Ihr Sträu-ben verschlimmert nur noch Ihre Situation.“ Wolfgang sah ein, dass

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er sich in der Gewalt von Menschen befand, die jedes Recht miss-achteten. Er und seine Schulkameraden waren ihnen schutzlos aus-geliefert. Voller Grimm lieferte er seinen Personalausweis, sein Porte-monnaie, die Armbanduhr und den restlichen Inhalt seiner Hosen-und Rocktaschen samt Schlüsselbund sowie die Krawatte und denGürtel ab. Dann wurde er abgeführt und zu einem Militär-Lkw ge-bracht. Die vom Fahrerhaus abgetrennte Ladefläche des Lkws warrundherum völlig geschlossen, nur auf der Rückseite gab es eineschmale Tür und an den Seitenwänden, ziemlich weit oben ange-bracht, winzige Fenster. Zwei Rotarmisten stießen Wolfgang durchdie Tür ins Innere des Wagens. Dort schoben sie ihn in eine ArtZelle, einen nach allen Seiten verschlossenen Metallkasten, in demer gerade stehen konnte, und verschlossen die Zellentür. Die Zellewar so eng, dass Wolfgang sich kaum bewegen konnte. Einige schma-le Schlitze in der Zellentür sorgten wenigstens für ausreichend Luftzum Atmen. Später wurde Dieter Gerth in den Lkw gestoßen. Ermusste sich auf eine Bank an einer der Seitenwände setzen, auf dergegenüberliegenden Seite nahmen zwei Rotarmisten Platz. Balddanach startete der Lkw mit den beiden Gefangenen und ihren Be-wachern und verschwand im Dunkel der Nacht.

Nach einer mehrstündigen für Wolfgang quälenden Fahrt in derengen Zelle stoppte das Fahrzeug. Bei jeder Unebenheit und jederscharfen Kurve war er gegen die Metallwände der Zelle gepresstworden. Neben dem Geschrei von Rotarmisten hörte er die Stimmevon Dieter Gerth. Der war also offensichtlich zusammen mit ihmtrans-portiert worden und sollte nun aussteigen. Nach einer Weile wurdedie Zellentür geöffnet. Wolfgang taten alle Knochen weh. Er hatteSchwierigkeiten, sich zu bewegen und vom Lkw auf einem angeleg-ten Brett nach unten zu gelangen. Inzwischen war es heller Tag.Wolfgang hatte kein Gefühl dafür, wie lange die Fahrt gedauert hatte.Zwei Rotarmisten mit Maschinenpistole imAnschlag standen rechtsund links des Fahrzeugs. Dahinter lag das geschlossene Tor eineshohen Bretterzaunes. Auf der rechten Seite lief ein Stacheldrahtzaunvor der Bretterwand entlang. An der Stelle, wo der Stacheldrahtzaunim Winkel von neunzig Grad abknickte, stand ein mit einem Posten

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besetzter Wachturm. Ein Unbewaffneter kam Wolfgang entgegen,fasste ihn am Arm und brachte ihn in einem Durchgang zwischeneiner Mauer und einem Stacheldrahtzaun zum Eingang eines Hauses.Dort wurde er zunächst intensiv gefilzt, und die Schnürsenkel wurdennoch aus seinen Schuhen entfernt. Dann ging es nach unten in einenKeller, dessen Stahltür nach Wolfgangs Eintritt geschlossen wurde.Das zweiphasige Klicken des schweren Schlosses „Ratsch-Bum“schien zunächst einen Schlusspunkt unter diese Fahrt ins Ungewissezu setzen. Es war ein geräumiger Keller, der nach hinten immer nied-riger wurde. Den größten Teil seiner Fläche nahm eine riesige Prit-sche aus Holzplanken ein, dievon einer Seitenwand zur anderen reichte.Am Ende dieser Pritsche nahe der Wand lag ein großer Stapel vonziemlich schäbigen Matratzen. Wolfgang war todmüde.Also holte ersich eine Matratze, legte sich darauf und versuchte zu schlafen. Dochkurz darauf schreckte ihn das Geräusch des Türschließens wiederhoch. DerDiensthabende, der ihn hereingeführthatte, rüttelte ihn kräftigund schrie ihn an: „Nix schlafen, Kamerad, tolko notschu“, was wohl„nur nachts“ heißen sollte. Dann war die Tür wieder zu. Erst jetztbemerkte Wolfgang den Spion in der Tür, durch den der Posten inkurzen Abständen einen Blick auf ihn zu werfen schien. Da saß ernun auf der Pritsche und konnte es noch immer nicht fassen, was sichin den letzten 24 Stunden abgespielt hatte. Seine Gedanken kehrtenimmer wieder zu Sonja zurück. Was würde sie wohl jetzt tun ? Waswürde sie gedacht haben, als er nicht zur Verabredung erschien? Wiewürden seine Eltern reagieren, wenn sie von seinem Verschwindenerfahren würden? Was würde aus ihm werden? Käme er nach Baut-zen oder in ein anderes sowjetisches Gefängnis? Wo war er über-haupt jetzt? Seine Gedanken kreisten um so viele Fragen, auf die ersich keine Antworten geben konnte. Tiefe Traurigkeit, maßlose Wutund aufkeimende Zuversicht wechselten in rascher Folge einanderab. Plötzlich wurde die Tür wieder geöffnet. Ein Posten brachte ihmeinen relativ großen Kanten Brot, einen mit Wasser gefülltenAluminiumkochtopf und einen kleinen, metallischen Trinkbecher. Einzweiter stellte ihm einen etwas mehr als kniehohen Zinkkübel in denRaum und bedeutete ihm mit Gesten, dass er in diesen Kübel urinie-ren oder seine Notdurft verrichten könne. Das war schon alles. Pa-

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pier war nicht vorhanden. Zum Waschen und Zähneputzen gab eskeine Gelegenheit. Erst jetzt spürte Wolfgang seinen Hunger, er hattewohl etwa 24 Stunden nichts gegessen und getrunken. Unter diesenUmständen schmeckte ihm sogar das trockene Brot, von dem er ein-fach Stück für Stück abbiss. Er erinnerte sich, dass ihm sein Vater inden Jahren der Kindheit gelegentlich gedroht hatte, wenn er stehleoder ein anderesVerbrechen begehe, käme er ins Gefängnis und würdenur mit trockenem Brot und Wasser ernährt. Er hatte sich nichts zu-schulden kommen lassen und war nun trotzdem in dieser Situation. Sovergingen die Stunden mit seinen trüben Gedanken. Die Zeit war sei-ne einzige Brücke zur Außenwelt. Er hörte zu jeder halben Stundedas Schlagen einer nahen Kirchturmuhr. Um zehn Uhr begannen dieGlocken zu läuten. Noch nie hatte Glockengeläut für ihn eine solcheBedeutung gehabt. Jetzt wusste er, dass er sich in seiner totalen Iso-lation doch in der Nähe einer menschlichen Siedlung befand und nichtfernab von jeder Zivilisation. Das schien ihn ein wenig zu trösten.

Doch bald wurde ihm wieder bewusst gemacht, dass die Distanzzur Zivilisation doch ziemlich groß war. An verschiedenen Stellenseines Körpers spürte er ein merkwürdiges Jucken und gelegentlichStiche. Als er dem nachging, stellte er kleine, braune Tierchen fest,die ihn da und dort bissen und über ein großes Sprungvermögenverfügten. „Flöhe“, dachte er, „das hat mir gerade noch gefehlt“,und zerquetschte einen von ihnen, der sich zuvor noch an seinemBlut gelabt hatte. Gegen 12 Uhr wurde die Zellentür geöffnet, undWolfgang erhielt einen Schlag Kohlsuppe (Schtschi) in einer Blech-schüssel und einen etwas abgenutzt aussehenden Aluminiumlöffel.Während er seine Suppe auslöffelte, fiel ihm fast zwangsläufig derTitel von Hans Falladas Roman ,Wer einmal aus dem Blechnapffrisst‘ ein. So weit war es also mit ihm gekommen. Der Rest desSonntags verging mit Gedanken an Sonja, an seine Eltern und anseine beschissene Situation. Was würden die nächsten Tage brin-gen? Um 22 Uhr klopfte der Posten an die Tür und rief: „Schlafen!“Wolfgang legte sich in seinem Anzug auf die Matratze und schliefvölligübermüdet sofort ein, trotzHeimsuchungdurch zahlreiche Flöhe.

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Am nächsten Morgen wurde Wolfgang um sechs Uhr geweckt.Das Erwachen in dieser unfreundlichen Umgebung war ein wirkli-cher Schock für ihn. Der Diensthabende (Dejurni) stand in demKellerraum und bedeutete ihm, er solle Schüssel, Löffel und Trink-becher mitnehmen und ihm folgen. Sie stiegen eine kurze Treppeempor zum Hochparterre, gingen ein paar Meter einen Gang ent-lang und stoppten vor der ersten Tür an der linken Seite. Der Dejurnizog einen großen Schlüssel aus der Tasche, öffnete mit einer ge-konnten Handbewegung das klobige Schloss und schob Wolfgang indie Zelle. Im Nu war die Zelle mit einem lauten Ratsch-Bum wiederverschlossen. Ein alter, kahlköpfiger Mann mit weißem Stoppelbartund zusammengefallenem Gesicht – wie ein Gespenst wirkend –kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen: „Ich bin HansLinke. Wann bist du verhaftet worden? Was gibt es draußen Neu-

es?“ Die sympathische, klare Stimme – im Gegensatz zu der kalten

Umgebung – schien darauf hinzudeuten, dass dieser Mann dochnicht so alt war, wie man nach seiner äußeren Erscheinung anneh-men musste. „Lege erst einmal dein Essgeschirr auf der Ummante-lung des Heizkörpers ab, dann setzen wir uns beide auf die Pritscheund können uns ausführlich unterhalten. Zeit dazu haben wir wohlausreichend.Als Neuling musst du erst einmal wissen, hier im Knastduzen wir uns natürlich alle. Dann erzählte er Wolfgang, dass erschon Anfang Februar in Weimar verhaftet und nach wenigen Ta-gen in dieses „ komfortable Haus“ gekommen sei. „Wo sind wir hiereigentlich?“, fragte Wolfgang. „Wir sind hier in Potsdam, wenigerals einen Kilometer von der Glienicker Brücke, der Grenze zu denWestsektoren Berlins, entfernt und sitzen trotzdem ganz tief in derScheiße. Aber erzähl mir doch erst mal, was es draußen Neues gibt.Hier ist man ja von jeder Information abgeschnitten.“ Wolfgang er-zählte von der Stalin-Note zur Deutschlandfrage und der damit ver-bundenen Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung und denAbzug der Besatzungstruppen. „In diesem Zusammenhang müsstenwir dann eigentlich bald entlassen werden, was auch immer mit unsin nächster Zeit geschieht“, bemerkte Wolfgang. „Ich möchte dei-nen Optimismus ja nicht dämpfen, aber ich glaube nicht daran, dassStalin das ernst meint“, entgegnete Hans. „Wahrscheinlich ist das

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nur ein Störmanöver, um eine Einbindung der Bundesrepublik in daswestliche Bündnis zu verhindern.“ Ihr Gespräch wurde durch Ge-räusche auf dem Gang unterbrochen. „Jetzt gibt es gleich Frühstück“,bemerkte Hans. Tatsächlich wurde kurz darauf die Zellentür geöff-net. Jeder erhielt einen Kochlöffel voll Graupensuppe in seine Schüs-sel. Außerdem gab es einen Kanten sehr feuchtes Brot, der für denganzen Tag reichen musste.

Inzwischen hatte sich Wolfgang in der Zelle etwas umgesehen.Den größten Teil des Raums nahm die Pritsche ein. Sie bestand ausetwa zwei Meter langen, starken Holzbrettern, die in zirka 60 cmHöhe durchgehend zusammengefügt waren. Ihre Vorderfront warmit festem Holz verkleidet. Die Pritsche schloss sich direkt an diehintere Wand der Längsseite der Zelle an. Sie erstreckte sich voneiner Seitenwand bis zur ungefähr vier Meter entfernten anderenSeitenwand. Davor blieb ein zirka anderthalb Meter breiter Streifenübrig, auf dem man hin und her gehen konnte, wenn man nicht stän-dig auf der Pritsche sitzen wollte. Die Zellentür befand sich nicht inder Mitte, sondern an der äußersten Seite der vorderen Längswand.Der schmale Laufweg wurde auf der einen Seite von einem Heiz-körper begrenzt, der von einem durchbrochenen Mantel aus Leicht-metall umgeben war. Auf dessen Oberfläche hatten der Wasser-topf, Schüsseln, Trinkbecher und Löffel ihren Platz. In der Ecke aufder gegenüberliegenden Seite stand der Kübel, dessen Funktion ihminzwischen bekannt war. Tageslicht kam praktisch überhaupt nichtin die Zelle, sie wurde von einer Tag und Nacht brennenden Glühbir-ne ausgeleuchtet. Diagonal zur Tür, auf der Seite wo der Kübelstand, befand sich knapp unter der Decke ein winziges, offenes Fen-ster. Durch eine feststehende, schräg von unten nach oben verlau-fende Blende vor dem Fenster wurde der Blickwinkel nach draußenso eingeengt, dass man nur von einer bestimmten Position in derZelle aus ein sehr kleines Stück des Himmels sehen konnte.

Als plötzlich ein leichtes Klicken zu hören war, bemerkte Hans:„Das ist die Klappe des Spions, die man manchmal hört. Der Postenschaut nach, ob wir auch brav sind. Er muss uns immer wahrneh-

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men können. Wenn du auf einem Spaziergang in der hinteren Eckebist, kann er dich nicht sehen. Tauchst du nicht gleich wieder auf,haut er gegen die Tür und schreit. Kommst du dann nicht sofort, rufter den Dejurni, und es gibt Ärger. Zur Strafe musst du dann ein paarStunden stehen, ohne dich vom Fleck zu rühren. Natürlich darfst duauch nicht auf die Pritsche steigen und dich dem Fenster nähern. Ja,so streng sind hier die Sitten. Aber jetzt erzähl mir erst einmal, war-um du hier bist.“ „Eigentlich habe ich gar keineAhnung“, antworteteWolfgang. „Sie beschuldigen mich der Spionage, doch damit habeich wirklich nichts zu tun.Angeblich haben sie unsere ganze Gruppegefasst. Aber es gibt in Wirklichkeit gar keine Gruppe. Wir sind zu-sammen zur Schule gegangen und haben einen gemeinsamen Be-kannten aus Meuselwitz, unserem Heimatort, der zuletzt in West-Berlin wohnte. Der hat wohl für eine westliche Dienststelle gear-beitet. Ihn haben sie offensichtlich geschnappt, und er hat uns allemit hineingerissen. Das ist eigentlich alles.“ Wolfgang hatte sichvorgenommen, keinem Mitgefangenen mehr zu erzählen, als er schonzugegeben hatte. Obwohl er Hans aus einem inneren Gefühl herausvertraute, hielt er sich an diesen Grundsatz. „Ich will dir keineAngstmachen“, sagte Hans, „aber die meisten ,Bewohner dieses Hauses‘werden zu 25 Jahren verurteilt, ob schuldig oder nicht schuldig. Na-türlich wird keiner die auch nur annähernd absitzen. Aber ich rech-ne für mich fest mit 25 Jahren. Die Untersuchungen meines Fallessind jetzt abgeschlossen, und ich warte nun auf den Prozess.“ „Wasliegt denn gegen dich vor?“ „Ich werde der Mitwisserschaft an dergeplanten Flucht eines sowjetischen Offiziers nach West-Berlin undim Zusammenhang damit der Unterstützung von Spionagetätigkeitbeschuldigt. Meine Nachbarin im Haus, eine hübsche, junge Fraunamens Friederike, war Dolmetscherin bei der sowjetischen Kom-mandantur in Weimar. Ich selbst bin seit vielen Jahren geschieden.Wir hatten ein sehr gutes Nachbarschaftsverhältnis und haben gele-gentlich zusammen Tee getrunken. Mehr war wirklich nicht zwi-schen uns, ich könnte ja ihr Vater sein. Da ihre Eltern nicht mehrleben, war ich ihr tatsächlich ein väterlicher Freund. So hat sie mirauch von ihrer Liaison mit dem russischen Major Viktor Bobrowund ihren Plänen erzählt. Zwischen den beiden hatte sich wohl eine

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echte, große Liebe entwickelt. Ihr Pech war nur, dass diese Liebeverboten war. Den sowjetischen Staatsangehörigen ist es nämlichstrengstens untersagt, private Beziehungen zu Deutschen zu unter-halten. So mussten sie ihr Verhältnis absolut geheimhalten. Für diebeiden wurde das eine immer schwerer zu ertragende Fessel. Siewollten für immer zusammengehören, wollten heiraten. Aber daranwar hier schon gar nicht zu denken. Also beschlossen sie, sich überWest-Berlin in den Westen abzusetzen, dort zu heiraten und sicheine gemeinsame Zukunft aufzubauen.Viktors Freund Valentin, eben-falls Major, war in diese Pläne eingeweiht. Irgendetwas ist schiefgelaufen, und die Sache ist herausgekommen, wie, weiß ich nicht.Nun warten wir, Friederike, Major Bobrow, sein Freund Valentinund ich, auf unseren Prozess.“ Als Hans von der großen Liebe zwi-schen Friederike und Viktor erzählte, musste Wolfgang unwillkür-lich an Sonja denken. So schmerzvoll die Trennung für ihn war, soberuhigte es ihn wenigstens, dass sie mit den gegen ihn erhobenenVorwürfen nicht das Geringste zu tun hatte. Er hatte ihr gegenübernicht die kleinste Andeutung gemacht. So konnte er davon ausge-hen, dass sie wenigstens sicher und in Freiheit war.Aber Hans wussteim Zusammenhang mit der Liebesgeschichte zwischen Friederikeund Viktor auch über Unglaubliches zu berichten. Das Verbot vonKontakten zwischen sowjetischenArmeeangehörigen und Deutschenwurde von westlichen Diensten ausgenutzt, um mit Hilfe deutscherFrauen Offiziere und Soldaten in den Westen zu locken. Die mei-sten Männer und Frauen säßen hier, weil sie irgendwelche Informa-tionen – häufig nebensächlicher Natur – an Mittelsmänner oder di-rekt an westliche Dienststellen weitergegeben hätten. Das würdevon den Sowjets als Spionage angesehen. Ein sehr häufig vorkom-mendes Delikt sei das Notieren und die Weitergabe von Autonum-mern sowjetischer Militärfahrzeuge zusammen mit den jeweiligenOrtsangaben. Auf diese Weise habe man sich schnell 25 Jahre ein-gehandelt. Aber in vielen Fällen genüge allein die Mitwisserschaftund die Tatsache, dass man die angeblich strafbare Handlung nichtangezeigt hat, zur Verurteilung. „Woher weißt du denn das alles?“,fragte Wolfgang. „Nun, ich bin im Laufe der zweieinhalb Monatemeiner Haft mit über zehn Männern zusammen in der Zelle gewe-

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sen, da spricht sich einiges herum. Zur Zeit scheint ja der Bau etwasweniger stark besetzt zu sein, aber da kommen sicher bald wiedermehr ,Gäste‘ nach. Außerdem kann man Informationen aus denNachbarzellen durch Klopfen erhalten. Das ist eine etwas mühseli-geAngelegenheit: einmal klopfen bedeutet ,a‘, zweimal klopfen ,b‘,dreimal ,c‘ usw.“. „Ich kenne das“, unterbrach ihn Wolfgang, „ichhabe darüber in Günter Weisenborns ,Memorial‘ gelesen.“

Und Hans war weiter sehr mitteilsam. Er war zuletzt über eineWoche lang allein in der Zelle gewesen. Jetzt weihte er den Neuan-kömmling in die Dinge ein, die dieser unbedingt wissen musste underzählte außerdem, was er so im Laufe der Zeit erfahren hatte. Daslenkte Wolfgang etwas ab. Irgendwie wirkte es auch beruhigendauf ihn, dass er nicht allein in der Zelle saß. So war die Zeit andiesem Montag doch recht schnell vergangen. Als Mittagessen hat-te es Kohlsuppe gegeben. Das war jeden Tag so, wie Hans sagte:Morgens Graupensuppe, einen Kanten Brot und jeden zweiten Tageinen Salzhering, mittags Kohlsuppe, amAbend Schwarztee (Tschai)und ein Stück Würfelzucker, so sah der Speiseplan aus. Für dasAbendessen hatte Wolfgang von dem Kanten Brot noch ein kleinesStück aufbewahrt, um sich nicht mit ganz leerem Magen zum Schla-fen zu legen. Hunger hatte er den ganzen Tag über gehabt. Um 22Uhr klopfte der Posten an die Zellentür: „Spatj“ (Schlafen). Manmusste sich zum Schlafen hinlegen. Hatte Wolfgang in der erstenNacht im Keller noch eine Matratze zur Verfügung gehabt, so mussteer jetzt mit einem nicht gerade üppig gefüllten Strohsack vorlieb neh-men. Da es keine Decken gab, behielt man Hemd und Hose an.Waschen konnte man sich auch nicht richtig, es gab keine Seife underst recht keine Handtücher, damit hätte man sich ja aufhängen kön-nen. Mit dem Wasser imAluminiumtopf musste sparsam umgegan-gen werden. Man konnte sich allenfalls mit dem Trinkbecher etwasWasser über Gesicht und Hände gießen und dabei den Kübel alsAuffangbecken benutzen. Schließlich brauchte man auch etwasWasser zum Trinken und die Suppenschüssel musste nach dem Ge-brauch ausgespült werden. Zähneputzen war absolut illusorisch, daman weder Zahnbürste noch Zahnpasta besaß. Nach spätestens

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fünf Minuten kontrollierte der Posten dann, ob die Insassen sichauch wirklich hingelegt hatten. Aber Wolfgang war so müde, dasser schon eingeschlafen war. Daran hatte ihn auch die zunehmendeAktivität der Flöhe nicht hindern können. Zuvor hatte Hans ihn nochdarauf hingewiesen, dass er damit rechnen müsse, in der Nacht zumVerhör geholt zu werden. Die Verhöre erfolgten grundsätzlich in derNacht, und die Zeit ging dann von den acht Stunden Schlafzeit zwi-schen 22 und 6 Uhr ab.

Wolfgang wurde aus dem tiefsten Schlaf gerissen. Als er dieAugen aufschlug, überflutete der Schein einer Taschenlampe seinGesicht. Erst die mit knurrender Stimme gestellte Frage des Dejurnis:„Kak Familia?“ (Wie ist der Familienname?), holte ihn in die Wirk-lichkeit zurück. Das schrille Kommando „Podjom!“ (Aufstehen!),zeigte ihm, dass Hans Recht gehabt hatte. Wolfgang folgte demDejurni bis zum Ausgang des Gebäudes. Dort stand ein Rotarmistmit MP und deutete an, Wolfgang solle durch den schmalen Durch-gang im Stacheldraht und das Tor in der dahinter liegenden Mauergehen. Das ganze Gelände war von Scheinwerfern taghell erleuch-tet. Hinter der Mauer schien Unheil verheißend wie aus dem Nichtsein in gleißendes Licht gehülltes Gebäude aufzutauchen. Der Be-waffnete schrie: „Ruki nasad!“ (Hände zurück) und als Wolfgangnicht reagierte noch lauter „Stoi!“(Stehen bleiben). Dann lehnte erseine MP an die Mauer hinter sich, stürmte auf Wolfgang zu und rissihm die Hände auf den Rücken, erneut „Ruki nasad!“ brüllend. Wie-der mit der MP imAnschlag trieb er Wolfgang laut fluchend vor sichher durch die Eingangstür des Hauses, die von Auffangnetzen um-gebene Treppe hinauf, einen Gang entlang und stieß ihn in ein Zim-mer. Dort saß Major Kamenew, diesmal in Galauniform, hinter sei-nem Schreibtisch. Die hagere Dolmetscherin sagte Wolfgang, ersolle auf dem Stuhl neben dem stählernen Aktenschrank Platz neh-men. Der Lichtkegel einer Schreibtischlampe fiel ihm direkt ins Ge-sicht. Nur mühsam konnte er erkennen, wie Kamenew Akten wälz-te und schrieb. Zwischendurch klingelte das Telefon, später riefKamenew selbst irgendwo an. So vergingen zwanzig, dreißig Minu-ten oder mehr. Wolfgang kam es wie eine Ewigkeit vor, seine Ner-

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ven waren zum Zerreißen gespannt. Dann fragte Kamenew plötz-lich: „Was für Spionagenachrichten haben Sie an Sänger weiterge-geben?“ Wolfgang war erleichtert, er antwortete ganz ruhig: „Ichhabe mit Spionage nichts zu tun gehabt und kann deshalb auch keineNachrichten weitergegeben haben.“ Wollte Kamenew ihn zunächstin Sicherheit wiegen? Dann polterte der Major los: „Wir wissen schonsehr viel und wir werden alles erfahren. Es hat keinen Zweck zuleugnen. Wenn Sie die Wahrheit sagen, werden wir gnädig mit Ih-nen umgehen, wenn nicht, werden wir Sie zerquetschen wie eineLaus. Wer gehörte zu Ihrer Gruppe?“ „Es gab keine Gruppe“, er-klärte Wolfgang. „Jetzt lügen Sie schon wieder. Sie hatten konspira-tive Treffen, an denen außer Ihnen Köhler, Riedel, Thiele, Gerth,Bantzer und Hoffmann teilgenommen haben. Gestehen Sie das?“„Wir haben uns nur einmal getroffen und es war auch kein konspira-tives Treffen.“ „Wann haben Sie sich getroffen? Worüber haben Siegesprochen?“ „Das Treffen war im Herbst 1950 vor fast zwei Jah-ren. Wir wollten für mehr Freiheit eintreten, für freien Zugang zuallen Büchern, Zeitschriften und Zeitungen. Wir wollten protestie-ren gegen die Diktatur der SED und damit verbunden gegen dieEinheitslisten bei Wahlen. Unser Ziel waren freie Wahlen in ganzDeutschland und ein wiedervereinigtes Deutschland. Wir wolltenmehr Demokratie fordern.“ „Sie Heuchler, die Demokratie in derDDR und in den sozialistischen Staaten ist die wahre Demokratie.Sie wollten unter diesem Vorwand nur antisowjetische Hetze betrei-ben und faschistische Ideologie verbreiten.“ „Ich bin kein Faschist,und auch die anderen sind es nicht!“ „Worüber haben Sie denn kon-kret gesprochen?“ Wolfgang war vorsichtig geworden. Irgend einermusste den Russen einiges über das Treffen erzählt haben. Alsosollte man ruhig zugeben, was sie wahrscheinlich schon wussten.„Wir haben darüber gesprochen, Flugblätter mit diesen Forderungenzu verteilen. Doch wir haben dieseAbsicht nie verwirklicht.“ „AberSie haben doch von Sänger Flugblätter erhalten“, hakte Kamenewein. „Wo haben Sie diese verteilt?“ „Das ist eine ganz andere Ge-schichte“, entgegnete Wolfgang. „Sänger bat mich, diese Flugblät-ter an Georg Thaler weiterzugeben. Der hat sie aber nicht ange-nommen. So habe ich sie weggeschmissen.“ „Sie lügen ja schon

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wieder“, fuhr Kamenew ihn an. „Sie haben die Flugblätter doch Köhlergegeben. Wann wollen Sie endlich die Wahrheit sagen. Wer war derAnführer Ihrer Gruppe?“ Die Situation wurde für Wolfgang prekär.So versuchte er abzuschwächen. „Man hat mich gewählt, aber ichhabe diese Funktion nie wahrgenommen, da die Gruppe nie aktivgeworden ist.“ „Aber Sie hatten doch Pläne.“ Kamenew wurdeheftiger. „Was für Terrorakte haben Sie geplant?“ „Wir haben keineTerrorakte geplant.“ Kamenew stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Wenwollten Sie umbringen?“ „Spinnt der jetzt völlig?“, fragte sich Wolf-gang im Stillen. Und dann fiel ihm plötzlich ein, dass Rolf davongesprochen hatte, Swoboda mit einer Pistole zu bedrohen und ihmseine Waffe wegzunehmen, dann hätte man schon zwei Waffen.Einer der Gesprächsteilnehmer von damals musste sie total verpfif-fen haben. Und jetzt sollte auf diese Weise eine Mordabsicht kon-struiert werden. Wolfgang war sich bewusst, welche gefährlicheSituation aus dieser flapsigen Bemerkung von Rolf entstanden war.Ganz ruhig sagte er: „Es ist nie davon gesprochen worden, jeman-den umzubringen.“ Da griff Kamenew nach unten und holte einenGummiknüppel aus einer Schreibtischschublade. „Wem gehörte die-ser Gummiknüppel?“ Wolfgang erinnerte sich, dass Rolf erzählt hat-te, er besitze einen Gummiknüppel.Also war ihm klar, dass die KGB-Leute bei Köhlers eine Hausdurchsuchung durchgeführt hatten.„Jetzt bin ich im Vorteil“, dachte er und antwortete: „Ich habe diesenGummiknüppel nie gesehen, also kann ich nicht wissen, wem er ge-hört.“ Kamenew war aufgesprungen und kam mit dem Gummiknüp-pel in der Hand auf Wolfgang zu. „Wer hatte eine Pistole?“ „Dasweiß ich nicht!“ Kamenew holte mit dem Gummiknüppel aus undschlug zu. Bevor er aber Wolfgangs Kopf traf, änderte er blitzschnelldie Schlagrichtung, so dass der Knüppel mit ohrenbetäubendemKnallden stählernen Aktenschrank traf. Wolfgang war zusammengezuckt,Kamenew brüllte wie ein Wilder: „Wer besaß eine Pistole?“ Mitbleichem Gesicht antwortete Wolfgang: „Rolf Köhler!“ Er war si-cher, dass sie die Pistole längst gefunden hatten und er Rolf nichtverraten würde. Und Hans hatte ihm am Nachmittag noch den Ratgegeben: „Gestehe so wenig wie möglich, aber versuche nicht, denHelden zu spielen. Niemand außer deinen Leidensgefährten wird

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deine Schreie hören, niemand deine Leiden wahrnehmen.“ AberKamenew setzte nach: „Wer hatte ein Maschinengewehr? Wer hatteeine Maschinenpistole?“ „Davon weiß ich wirklich nichts, das müs-sen Sie mir glauben“, beteuerte Wolfgang und dachte: „So ein Wahn-sinn, wer soll sich denn ein Maschinengewehr besorgt haben?“ „Wirwissen sehr viel, und wir werden alles erfahren“, wiederholte ersich. „Wer nicht die Wahrheit sagt, wird erschossen. Wer hat ge-sagt, die Gruppe sollte auf der Seite der Amerikaner kämpfen, fallses zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Sowjetunionkäme?“ „Davon weiß ich nichts“, log Wolfgang. „Sie haben das dochgesagt“, fuhr Kamenew ihn an. Wolfgang trat die Flucht nach vornan: „Das habe ich niemals gesagt. Wenn jemand das behauptet, dannist er ein Lügner. In diesem Falle verlange ich eine Gegenüberstel-lung.“ Und er hatte Erfolg mit dieser Taktik. Kamenew verfolgtediesen Punkt nicht weiter. Dann wechselte er erneut das Themaund kam auf das Treffen mit Sänger in Köhlers Garten zu sprechen.Er beschuldigte Wolfgang der Spionage. Aber Wolfgang hatte indieser Beziehung wirklich nichts zu gestehen und bestritt alle Vor-würfe. Schließlich fertigte Kamenew ein handschriftliches Proto-koll über das Verhör in russischer Sprache an, und die Dolmetsche-rin übersetzte Wolfgang den Inhalt. Die wesentlichen Punkte wa-ren, dass Wolfgang bei einem konspirativen Treffen zum Führer ei-ner antisowjetischen Gruppe gewählt worden war, dass er Kenntnisvon Rolf Köhlers Pistole hatte und dass er bei einem Treffen mitKlaus Sänger von diesem antisowjetische Flugblätter in russischerSprache erhalten hatte. Es gab noch einiges Hin und Her wegenFormulierungen. Kamenew weigerte sich, ins Protokoll aufzuneh-men, dass Wolfgang die Flugblätter an Rolf Köhler übergeben hatte,nachdem Georg Thaler ihre Annahme verweigert hatte. NachKamenews Drohung, Wolfgang so lange sitzen zu lassen, bis dasProtokoll von ihm unterschrieben sei, gab dieser schließlich völligerschöpft von dem drei- bis vierstündigen nächtlichen Verhör nachund unterzeichnete es. Kamenew klingelte nach dem Posten, derbrachte Wolfgang über das erleuchtete Gelände in das von Stachel-draht umgebene Gefängnisgebäude zurück. Obwohl Wolfgangs Ge-danken noch auf dem Rückweg fieberhaft den Verlauf des Verhörs

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zu verarbeiten versuchten, schlief er sofort ein, nachdem er in derZelle angekommen und erschöpft auf seinen Strohsack gefallen war.

Von einemSchlaggegen dieZellentür und einemschrillen „Podjom“wurde Wolfgang am Morgen aus dem Schlaf gerissen. Nachdem ersich mit einer Handvoll Wasser das Gesicht abgewaschen hatte, wur-de auch schon die Tür geöffnet und das Frühstück ausgeteilt. Zusätz-lich zur üblichen Graupensuppe und zur Tagesration Brot gab es andiesem Tag einen Salzhering. Nach dem Verzehr der Suppe nahmWolfgang sich den Hering vor. Hans zeigte ihm, wie man den Heringam geschicktesten mit dem Löffelstiel aufschlitzt, nachdem man denKopf abgetrennt hat. Wolfgang entfernte danach die Eingeweide undaß den salzigen Fisch sehr langsam, sorgfältig darauf achtend, mög-lichst keine Fischreste an den Gräten zurückzulassen. Er wusste, dassder Hering die wichtigste Eiweißquelle bei dieser sehr kargen undeinseitigen Ernährung war. Kopf, Gräten und Eingeweide kamen inden Kübel. Die Luftzirkulation war infolge des winzigen, nur schräggestellten Fensters sehr gering, und so erfüllte der dem Kübel entströ-mende Geruch die ganze Zelle. Aber das nahm man schon nach we-nigen Stunden Aufenthalt kaum mehr wahr.

Nachdem der Kübel mehrere Tage in der Zelle gestanden hatte,wurde er dann im Laufe des Vormittags mal wieder entleert. Hansund Wolfgang trugen ihn über die Treppe und durch einen Neben-eingang ins Freie. Wolfgang sog die frische Luft tief in seine Lungenein. Seine Augen erfreuten sich am Grün hoher Bäume jenseits desBretterzauns, die diesen weit überragten. Jetzt, am Dienstag, dem29. April, drei Tage nach seiner Verhaftung, sah er zum ersten Malwieder über sich das Blau des Himmels. Nachdem sie den Kübel inder hinter dem Haus liegenden Latrine entleert hatten, blieben ihnen

noch fünf Minuten, um – in der Kniebeuge über einem der Löcher in

einer Betonplatte hockend – ihren Stuhl in der Grube zu versenken.Toilettenpapier war auch hier nicht vorhanden. Anschließend gin-gen sie zum direkt neben der Latrine liegendem Waschplatz. Dortkonnten sie aus Wasserhähnen einer über einem trogartigenAbflussfrei in der Luft hängenden Wasserleitung Wasser zum Waschen

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entnehmen. Zu allem Überfluss lagen dort sogar einige kleine Stück-chen Seife aus. Während Wolfgang seinen freien Oberkörper ab-

wusch – darum bemüht, dabei die Hose nicht allzu nass werden zu

lassen – erfüllte plötzlich ein lautes Dröhnen die Luft. Er blicktenach oben und sah am Himmel über sich ein viermotoriges Flug-zeug. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Passagiermaschineeiner westlichen Fluggesellschaft, die in einigen hundert Metern Höheüber diesen verfluchten Ort hinwegflog, um ein paar Minuten späterin West-Berlin zu landen. Ein eigenartiges Gefühl erfasste Wolf-gang in diesem Moment. Da saßen Leute in dieser Maschine, dieaus privaten oder beruflichen Gründen nach West-Berlin flogen, diefrei waren in ihrem Verhalten und ihren Entscheidungen und diewohl nicht im geringsten ahnten, was hier unter ihnen vorging. Erund seine Mitgefangenen waren jetzt zwar räumlich nur wenigehundert Meter von diesen Menschen entfernt, aber er hatte dasGefühl, sie seien auf einem anderen Stern.

Am Nachmittag schien das häufige Öffnen und Schließen vonTüren etwas Besonderes anzukündigen. Dann wurde auch Wolf-gang nach draußen geholt.Auf dem Gang stand ein Stuhl, und dane-ben wartete frech grinsend ein Rotarmist mit einer Haarschneide-maschine in der Hand. Mit sichtlichem Vergnügen fuhr er mit derMaschine durch Wolfgangs langes, schwarzes Haar, bis der Kopfvöllig kahl geschoren war.Anschließend wurden auch noch die Bart-stoppeln mit Hilfe der Maschine notdürftig entfernt. Hans versuchtespäter, Wolfgang zu trösten, nachdem auch er mit frischgeschorenem

Kopf und von Bartstoppeln befreit – um etliche Jahre jünger er-

scheinend – in die Zelle zurückgekommen war.Aber Wolfgang nahmden Verlust seines Haarschopfs nicht so schwer. „Die Haare wach-sen auch wieder, das ist wirklich das geringste Problem. Hauptsa-che, meine Freundin Sonja sieht mich nicht so“, erklärte er. „Jeden-falls sind wir jetzt zum 1. Mai, dem Feiertag aller Werktätigen, be-sonders schön“, bemerkte Hans ziemlich sarkastisch.

Auch in der kommenden Nacht wurde Wolfgang wieder vomDejurni auf unsanfte Weise geweckt. Doch jetzt verstand er das

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Kommando ,Ruki nasad‘ auf dem Weg zum Nachbargebäude undnahm sofort die Hände auf den Rücken. Diesmal musste er in einenanderen Raum. In dem sehr spärlich eingerichteten Zimmer saßhinter einem kleinen Schreibtisch ein hochgewachsener, etwa 35jäh-riger Offizier mit fahlem Gesicht. Hinter den Gläsern seiner Brilleschossen aus seinen kalten, blaugrauenAugen – scharf wie die Spitzeeines Degens – schneidende Blicke, die Wolfgang beim Eintreten zudurchbohren drohten. Er hieß Wolkow – zu deutsch Wolf – undschien nur darauf zu warten, sich auf sein Opfer stürzen zu können.In einigem Abstand von ihm saß die Dolmetscherin, eine einfachejunge Frau mit vollem Gesicht und Stupsnase. Ihr braunes Haar warzu einem Knoten zusammengebunden. Sie wirkte wie ein Mädchenvom Lande, das es durch Fleiß, Ehrgeiz und natürlich Linientreuegeschafft hatte, seinem Milieu zu entkommen. Doch Wolfgang musstewieder eine ganze Weile warten, bis Wolkow mit dem Verhör be-gann. Das gehörte anscheinend zum Vorgehensmuster der KGB-Leute. Der erste Teil des Verhörs drehte sich um Wolfgangs Bezie-hungen zu Sänger, insbesondere um das Treffen in Köhlers Garten.Wolkow wollte alles bis ins kleinste Detail wissen. Seine Fragenprasselten auf Wolfgang herab, ohne dass sein Gesicht auch nur diegeringste Emotion verriet. Aber Wolfgang hatte den Eindruck,Wolkow wartete nur auf den richtigenAugenblick, um zum entschei-denden Schlag anzusetzen. Also versuchte er, mit seinen Antwortenbesonders auf der Hut zu sein. Es ging wieder um die Flugblättervon Sänger und um die angebliche Anwerbung zur Spionage. AlsWolkow dazu offenbar nichts Neues erfuhr, fragte er: „Wann habenSie Sänger das letzte Mal vor dem Treffen in Köhlers Garten gese-hen?“ „Ich habe Sänger um die Jahreswende 1950/51 zufällig inMeuselwitz in der Stadt getroffen“, antwortete Wolfgang. „Wo ge-nau war das, und worüber haben Sie gesprochen?“ wollte Wolkowwissen. „Ich habe ihn im Penkwitzer Weg getroffen. Es waren be-langlose Dinge, an die ich mich nicht mehr im Einzelnen erinnernkann.“ „Sie werden sich aber erinnern müssen“, drohte ihm Wolkow.Und Wolfgang musste sich wieder dieselben Beschimpfungen undDrohungen anhören, mit denen ihn schon Kamenew überschüttethatte. Da tappte Wolfgang – übermüdet und zermürbt von dem stun-

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denlangen, nächtlichen Verhör, in die Falle. Um die Harmlosigkeitseiner Unterhaltung mit Sänger deutlich zu machen, sagte er, Sän-ger habe sich nach Joachim Thiele erkundigt. „Und was haben Sieberichtet?“ „Ich habe ihm erzählt, dass Joachim Thiele die Schuleverlassen hat und zur kasernierten Volkpolizei (24) gegangen ist.“„Wie ging das Gespräch weiter?“ „Sänger wollte wissen, was Joa-chim Thiele so bei der kasernierten Volkspolizei tue. Da habe ichgeantwortet, die Angehörigen der kasernierten Volkspolizei würdeneine Art militärische Ausbildung erhalten. Das wisse doch jedesKind.“ „Sie haben also doch Spionagenachrichten übermittelt“, tri-umphierte Wolkow, und seine Augen spiegelten für einen kurzenMoment das Gefühl eines Sieges wider. „Aber das sind doch keineSpionagenachrichten. Wie ich schon andeutete, weiß das doch jederBürger der DDR. Ich konnte Sänger noch nicht einmal sagen, obJoachim Thiele in Naumburg oder Weißenfels stationiert war.“ „Siemüssen es schon uns überlassen zu entscheiden, was Spionage-Nachrichten sind“, wies Wolkow ihn zurecht. Jetzt endlich nach überdrei Stunden Verhör hatte er den Kerl gepackt. Also setzte er nundas übliche handschriftliche Protokoll in Russisch auf, in dem eineReihe seiner Fragen und die nichts Neues ergebenden AntwortenWolfgangs festgehalten wurden, bis dann an letzter Stelle die Fragestand: „Welche Spionagenachrichten haben Sie Sänger bei Ihremvorletzten Treffen übermittelt?“ Die Antwort: „Ich habe ihmSpionagenachrichten über dieAusbildung der kasernierten Volkspo-lizei übermittelt.“ Wolfgang protestierte, als die Dolmetscherin ihmdie entsprechende Stelle übersetzte. Aber Wolkow ließ sich nichtbeeindrucken. „Sie werden jetzt unterschreiben!“ Nach einigem Hinund Her wurde er scheinbar kompromissbereit. „Wir können ja nachdem nächsten Verhör einen ergänzenden Vermerk machen“, erklär-te er schroff, „aber jetzt wird unterschrieben.“ Wolfgang sah schließ-lich ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als das Papier zu unter-schreiben. Total übermüdet und von Hunger gequält, kehrte er kur-ze Zeit später in die Zelle zurück.

Am Vormittag des nächsten Tages – es war inzwischen seinvierter Tag in diesem Gefängnis – war Wolfgang gerade zu einem

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Spaziergang in der Enge der Zelle unterwegs, als plötzlich marker-schütternde Schreie durch das Gebäude hallten. Die Wände, diegewöhnlich die Geräusche innerhalb der Räume nach außen ab-schirmen, schienen die Schreie zu vervielfältigen und durch das ganzeHaus fortzutragen. Schreie, die anschwollen und wieder abnahmen.Vorbei? Doch es war nicht wirklich still. Ganz leise konnte man einWimmern und Winseln, ein Jammern und Wehklagen hören. Plötz-lich waren sie wieder da, die Schreie, furchterregend, das Leidenund die Not eines Menschen widerspiegelnd. Der Schmerz war zuakustischen Signalen geworden. Mit ungeheurer Intensität durch-drangen sie den Raum. Wolfgang konnte sie körperlich spüren, ernahm sie auf, und in seiner Vorstellung wurden sie in phantastisch-grausige Bilder umgewandelt. Drei- oder viermal wiederholte sichdieses Wechselspiel zwischen ohrenbetäubenden Schreien und lei-sen Klagen, dann war es plötzlich ganz still. Wer war dieser Mensch,dem solches Leid zugefügt worden war? Was war mit ihm gesche-hen? War er überhaupt noch am Leben? Mit Sicherheit würde Wolf-gang nie eine Antwort auf diese Fragen erhalten.

Doch jetzt wollte er mehr erfahren über die Menschen, die in die-sen gemauerten Käfigen neben ihm gefangen gehalten wurden. Sobat er Hans, die Tür zu beobachten und ihm ein Zeichen zu geben,wenn der Posten durch den Spion schaute. Er ging zu der Seitenwandder Zelle, die der Posten nicht vollständig einsehen konnte und begannmit den Klopfzeichen: „Hallo, bitte melden.“ Prompt kam von der an-deren Seite der Mauer die Frage: „Wer bist du?“ Wie Wolfgang imweiterenVerlauf des „Klopfzeichen-Gesprächs“ erfuhr, war die Neben-zelle mit acht Frauen belegt. Seine Klopf-Partnerin hieß Ingrid Keller,war neunzehn Jahre alt und kam aus Jüterbog. Als Wolfgang ihr mit-geteilt hatte, dass er in Meuselwitz zu Hause sei, fragte sie umgehendan, ob er Klaus Sänger kenne. Dann klopfte sie: „Klaus Sänger istzum Tode verurteilt worden.“ Diese Nachricht traf Wolfgang wie einKeulenschlag. Er fühlte sein Herz schlagen, sein Puls begann zu ra-sen und er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er war wiebenommen, die Sinne schienen ihm zu schwinden, und er hatte – ver-wirrt von der Tragweite dieser Nachricht – Schwierigkeiten, Ingrids

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folgenden Satz zu entschlüsseln. Sie hatte geklopft: „Aber man sagt,ein Teil der zum Tode Verurteilten wurde begnadigt.“ In seiner Ver-wirrung verstandWolfgang den ersten Teil des Satzes überhaupt nicht.Doch allmählich war er etwas ruhiger geworden und hatte seine Kon-zentration zurückgewonnen. Erst das Wort „begnadigt“ hatte er wie-der voll verstanden und rückblickend schien er sich sicher zu sein,dass die Buchstaben des vorletzten Wortes sich zu „wurde“ zusam-menfügten. Also ging er davon aus, dass Sänger begnadigt wordensei. Das war für ihn eine große Beruhigung nach dem Schock wegendes Todesurteils. Kurz darauf beendeten die beiden ihr „Gespräch“und verabredeten sich für den nächsten Tag. Die Sache war zu ge-fährlich geworden, weil ein besonders „scharfer Hund“ jetzt den Dienstals Posten angetreten hatte, wie Ingrid behauptete.

Beim Teetrinken am Abend begann Hans – wohl unter derstimmungsaufhellenden Wirkung des Getränks – plötzlich zu dekla-mieren:

„Ach , wenn in unsrer engen ZelleDie Lampe freundlich wieder brennt,Dann wird‘s in unserm Busen helle,Im Herzen, das sich selber kennt.Vernunft fängt wieder an zu sprechen,Und Hoffnung wieder an zu blühn,Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,Ach, nach des Lebens Quelle hin.“

„Die Lampe brennt hier zwar Tag und Nacht, und mit der Hoff-nung ist das eher eine wechselhafteAngelegenheit“, bemerkte Wolf-gang, „doch mit der Sehnsucht hast du sicher Recht. Hast du gerademit dem Pudel gesprochen? Wenn ich nicht irre, ist das Zitat ausdem ,Faust‘.“ „So ist es.Als junger Mann habe ich den ganzen FaustTeil 1 gelernt“, erwiderte Hans und zitierte weitere Passagen. Eswar eine absurde Situation. Zwei Menschen – eingekerkert in ei-nem dunklen, stinkenden Loch, ihrer einfachsten Rechte beraubt,kahlköpfig und äußerlich heruntergekommen – fühlten sich in eine

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andere Welt versetzt, in höhere Sphären entrückt, durch die Machtund Schönheit der Dichtung. So erlebten die beiden im Geiste Szenefür Szene mit, empfanden durch die Kraft der Worte, wie Faustzwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her gerissen wurde.Während draußen in der Freiheit langsam die Nacht hereinbrach,wurde die dunkle Zelle von der optimistischen Stimmung Fausts beimOsterspaziergang erhellt.

„Ich höre schon des Dorfs Getümmel,Hier ist des Volkes wahrer Himmel,Zufrieden jauchzet groß und klein:Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!“

Doch unmittelbar darauf folgte wie ein alles zerstörender Donner-schlag, den Untergang einer phantastischen Illusion bewirkend, einkräftiger Tritt des Postens gegen die Tür und das Kommando „Spatj!“

Und Wolfgang träumte prompt von seinem Osterspaziergang mitSonja. Nach dem Aufstieg am Südufer des Hainbergsees saßen sieglücklich und zufrieden zusammen, schauten hinunter auf den silb-rig-glänzenden See und wollten mit dem Picknick beginnen. Sonjahatte verschiedene Sorten Kuchen auf einem Tablett ausgebreitet.Wolfgang blickte voller Begierde auf den Kuchen und wollte zugrei-fen, aber es ging nicht. Sonja schien das verhindern zu wollen, in-dem sie seinen Arm festhielt. Auch mit größter Kraftanstrengungkonnte er ihn nicht bewegen, so fest umklammerte sie ihn. In die-sem Augenblick schlug er die Augen auf und blickte in ein volles,rundes Männergesicht mit flinken, listigen Augen, das Gesicht desDejurnis. Dieser hatte ihn am Arm gefasst und wachgerüttelt. Ausden Höhen der Glückseligkeit fiel er in die Niederungen einer finste-ren Wirklichkeit. Tiefer konnte der Sturz wahrlich nicht sein.

Wolfgang sah mit Bangen demVerhör entgegen. Wolkow schauteihn so grimmig an, wie in der vergangenen Nacht. Diesmal schleu-derte er Wolfgang sofort eine Frage entgegen: „Welche Sabotage-akte haben Sie ausgeführt?“ „Ich habe überhaupt keine Sabotage-

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akte durchgeführt“, entgegnete Wolfgang und dachte, „in diesemPunkte kann man mir nun wirklich nicht das Geringste nachwei-sen.“ „Aber Ihre Gruppe hat doch Sabotageakte geplant, geben Siedas doch zu!“ modifizierte Wolkow seine Frage. Wolfgang bestrittdas unbeeindruckt und musste die übliche Flut von Beschuldigun-gen, Beschimpfungen und Drohungen über sich ergehen lassen.„Welche Objekte wollten Sie denn sprengen?“ fragte Wolkow nocheindringlicher. „Wie hätten wir denn ohne Sprengstoff etwas spren-gen können?“ versuchte Wolfgang sich zu verteidigen. „Sie wolltendoch das Rathaus in Meuselwitz in die Luft sprengen, gestehen Siedas doch!“ Erst in diesemAugenblick fiel Wolfgang die abenteuerli-che Behauptung Rolfs bei ihrem Zusammentreffen im Herbst 1950ein. Aber wenn er jetzt versuchte, Wolkow den wirklichen Sachver-halt klar zu machen, würde dieser die Aussage bestimmt wie folgtprotokollieren: „Ich war an den Gesprächen zur Vorbereitung vonSabotageakten beteiligt, wir wollten gemeinsam das MeuselwitzerRathaus in die Luft sprengen.“ So etwas sollte ihm diesmal nichtpassieren, er wollte sich nicht auch noch Sabotage anhängen lassen.So stritt er weiterhin ab, jemals etwas von geplanten Sabotageaktengehört zu haben. Verärgert setzte Wolkow nach etwa zwei Stundenein Protokoll auf, aus dem hervorging, dass Wolfgang die Planungvon Sabotageakten leugnete. Insgeheim triumphierte Wolfgang überden Ausgang dieses Verhörs. Auf seine Anfrage wegen einer er-gänzenden Bemerkung zum letzten Protokoll reagierte Wolkow ge-reizt: „Es wird nichts geändert oder ergänzt, weil Sie nicht die Wahr-heit sagen!“ Er konnte es offenbar nur schwer verkraften, dass ihmin den ersten Stunden des Feiertags der Werktätigen kein Erfolgbeim Verhör eines Volksfeindes gelungen war.

Der Morgen des Maifeiertags brachte eine positive Überraschungfür die Gefangenen. Die Graupensuppe enthielt relativ große Fleisch-stückchen im Unterschied zur fleischlosen Suppe an normalen Ta-gen. Gleich nach dem Frühstück nahm Wolfgang durch die Wandwieder Kontakt mit Ingrid auf. Sie wusste nichts von den Meusel-witzern aus Wolfgangs Gruppe und kannte nur Sänger, mit dem siesich vor einiger Zeit durch Klopfzeichen verständigt hatte. Außer

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mit Wolfgang hatte sie jetzt keine weiteren Kontakte. Ingrid war inJüterbog in der Kantine der russischen Streitkräfte als Bedienungtätig gewesen. Ein Militärgericht hatte sie wegen angeblicher Spio-nage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt.

Schon am Morgen des 1. Mai konnten Hans und Wolfgang inihrer Zelle den Gesang russischer Einheiten hören, die in dem militä-rischen Komplex von Potsdam ihren Standort hatten. Der gesamtevon der übrigen Stadt durch einen hohen Bretterzaun abgetrennteBereich war quasi eine kleine Stadt für sich und wurde von denSowjets auch als Militärstädtchen Nr. 7 bezeichnet. Die beiden konn-ten die Texte der Marschlieder natürlich nicht verstehen.Aber einesder Lieder hörte sich an, als würden die Soldaten mehrfach wieder-holend „Leberwurscht“ singen. Später spielte eine Militärkapelleschmissige Marschmusik. „Es würde mich schon interessieren, wasdie Russen selbst – von den einfachen Muschkoten bis hin zu denOffizieren, auch jene, die uns verhören – von ihrem kommunisti-schen Staat wirklich halten. Ob sie vom Glauben an die kommunisti-schen Ideale beseelt sind oder ihrem Staat nur aus OpportunismusGefolgschaft leisten?“ Diese freilich nur rhetorische Frage stelltesich Wolfgang. „Da findest du sicher alle Spielarten vom absolutenGlauben an die kommunistischen Ideale bis hin zum blanken Oppor-tunismus“, entgegnete Hans, „und dazwischen gibt es bestimmt vie-le Varianten, bei denen der eine oder der andere Faktor stärker aus-geprägt ist.“ „Ich kann es einfach nicht verstehen, dass vernünftigeMenschen den ungeheuren Widerspruch zwischen Theorie und Pra-xis, zwischenAnspruch und Wirklichkeit in diesem System nicht er-kennen können“, sinnierte Wolfgang. „Du musst dir verdeutlichen,dass es bei Sachverhalten, die nicht ganz einfach sind, meist sehrunterschiedliche Sichtweisen gibt. Stell dir vor, du zeigst zwei Per-sonen ein bestimmtes Gemälde. Dieses Bild ist eine komplexe Ein-heit, die aus vielen einzelnen Elementen zusammengesetzt ist“, do-zierte der Studienrat Hans Linke. „Da ist es schon wahrscheinlich,dass die beiden das Kunstwerk unterschiedlich wahrnehmen. DasGesamtbild wird von ihrem Gehirn aufgenommen und dort verarbei-tet. Du kannst sicher sein, dass die beiden bei der Verarbeitung ihrer

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Eindrücke die einzelnen Elemente unterschiedlich gewichten, bewusstund unbewusst die Schwerpunkte anders setzen. Fragst du sie nacheiniger Zeit, so würden sie wohl unterschiedliche Vorstellungen vondem Gemälde entwickeln, und bei einer Rekonstruktion aus demGedächtnis entstünden vermutlich zwei recht unterschiedliche Bil-der. Dabei würde es sich immerhin um die Wiedergabe eines Ge-genstandes handeln. Bei gesellschaftlichen und politischen Fragenliegen die Dinge noch komplizierter.Aus gegenständlichen Elemen-ten werden durch Abstraktion Begriffe erzeugt, mit denen man dannsprachlich umgeht und die letztlich zu Vergleichen und Denkprozes-sen herangezogen werden. Bei dieser Abstraktion kann natürlichdie relative Gewichtung einzelner Elemente eine noch viel entschei-dendere Rolle spielen, so dass die tatsächlichen Inhalte der Begriffeextrem unterschiedlich werden können. Besonders in diktatorischenSystemen ist dies das Betätigungsfeld der großen Simplifikateure.Sie retuschieren und manipulieren die Fakten so lange, bis ein einzi-ger Aspekt das Gesamtbild beherrscht. So kommt es zu einer abso-lut selektiven Sichtweise der Dinge. Es ist, als ob sie den Menscheneine ,Zauberbrille‘ aufsetzten, so dass diese die Dinge so sehen, wiedas von den Machthabern gewünscht wird. Die Bereiche Erziehungund Medien erledigen im Wesentlichen diese Aufgabe. Was dannnoch zur Gleichschaltung der Massen fehlt, besorgen Justiz undPolizei. Und wir sind in der DDR schon sehr weit fortgeschrittenauf diesem Weg.“ Jetzt war Hans so richtig in seinem Element. Derhagere Mann war von einer Leidenschaft beherrscht, die Wolfgangihm nicht zugetraut hätte. „In der kommunistischen Ideologie spieltangeblich die materielle Sicherstellung des Menschen die entschei-dende Rolle. Der Mensch soll frei sein von materiellen, wirtschaftli-chen Sorgen und Nöten, das ist das Hauptelement des Begriffs Frei-heit für die Vertreter des Marxismus. Diesem Ziel, einer gerechtenund möglichst gleichmäßigen Verteilung der Güter, wird alles unter-geordnet. Seine Durchsetzung soll mit Hilfe des Klassenkampfeserreicht werden. Zentrale Planung sowie strenge Kontrolle derWirtschaftsabläufe und des gesamten gesellschaftlichen Lebensdurch die kommunistische Partei werden gefordert. Folgerichtig wirddaraus eine weitgehende Einschränkung der Rechte des einzelnen

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Menschen, eine Unterordnung des Individuums unter die Herrschaftder Partei abgeleitet. Das ist die absolute Perversion des in der Auf-klärung gewachsenen Freiheitsbegriffs, der die Freiheit des Indivi-duums in seinen Gedanken, Entscheidungen und Handlungen be-inhaltet und die Grundlage der westlichen Demokratie bildet.“ „Wasdie Verteilung der Güter betrifft, so soll im Endstadium des Kommu-nismus sogar jeder nach seinen Bedürfnissen konsumieren können,“ergänzte Wolfgang, „aber dafür brauchte man ja ein echtes Schla-raffenland, das ist doch eine Utopie.“ „Da hast du völlig Recht! Mitder Verheißung einer glücklichen, sorgenfreien Zukunft für die ge-samte Menschheit schon im Diesseits, mit der Vision von glückli-chen Menschen, von denen alle Nöte des Alltags genommen sind,will man die Massen für den Kommunismus begeistern,“ erklärteHans. „Dieses Idealbild der Zukunft soll die negativen Erscheinun-gen der Gegenwart überdecken. Für die Erreichung dieses Zielssind dann alle Mittel recht, auch die gnadenlose Diktatur des so ge-nannten Proletariats.“ Das Klappern der Schüsseln auf dem Gangkündigte die Austeilung der Kohlsuppe an. Damit beendeten Hansund Wolfgang ihre ausschweifende Debatte und wandten sich wie-der den absolut materiellen Dingen zu.

An diesem und am nächsten Abend rezitierte Hans wieder ausdem Faust, und er hatte erneut einen aufmerksamen Zuhörer. Da-zwischen lag eine Nacht, in der Wolfgang endlich wieder acht Stun-den lang ohne Unterbrechung schlafen konnte. Am Morgen des 2.Mai eröffnete Hans seinem Zellengenossen, dass er Geburtstag habeund runde fünfzig Jahre alt werde. „Donnerwetter,“ entfuhr es Wolf-gang, „da müssen wir ja heute abend die Party zu zweit bestreiten.Scherz beiseite, ich wünsche dir Gesundheit, Glück und viel Kraft,damit du diesen Schlamassel hier gut überstehst. Ich hoffe, dass dasalles nur von kurzer Dauer für dich und für uns alle sein wird.“„Dashoffe ich natürlich auch,“ erwiderte Hans, „ich danke dir für deineGlückwünsche. In den wenigen gemeinsamen Tagen in dieser un-gemütlichen Umgebung haben wir uns doch sehr gut verstanden.Ich bin sehr froh darüber, dass ich gerade an diesem Tag nicht alleinin diesem dunklen Loch sitze.“ Nachdem sie die Graupensuppe und

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den Salzhering verspeist hatten, sprach Hans: „Stell dir vor, wir hät-ten statt der Metallbecher jetzt Sektgläser in der Hand und das Wasserwäre perlender Sekt.“ „Das ist ein guter Vorschlag,“ meinte Wolf-gang, „so lass uns jetzt einfach auf deinen Fünfzigsten anstoßen.“Das taten sie dann auch mit einem Schmunzeln über die Absurditätdieser Situation. Kurz danach wurde die Zellentür geöffnet, und diebeiden mussten nach mehreren Tagen mal wieder den Kübel nachunten tragen und entleeren, durften für wenige Minuten frische Luftschnappen und sich Gesicht und Oberkörper mit einem StückchenSeife waschen. Dabei frotzelte Wolfgang: „Siehst du, Hans, zur Fei-er des Tages darfst du dich heute sogar gründlich waschen. Dasage noch einer, die Russen hätten was gegen dich.“

In der folgenden Nacht wurde Wolfgang wieder zum Verhörgeholt. Sein Untersuchungsrichter Wolkow schaute noch um einigeGrade grimmiger drein als bei den vorherigen Verhören. Diesmalbegann er mit der Frage: „Was hat ihnen Riedel über Spionage er-zählt?“ „Ich habe mit Siegfried Riedel nie über Spionage gespro-chen,“ antwortete Wolfgang. „Lügen Sie nicht schon wieder. Es wirdein ganz schlimmes Ende mit Ihnen nehmen.“ Ein Blick aus Wolkowseiskalten Augen traf Wolfgang so, als wolle er ihn durchbohren, indie scheinbar verschlossensten Winkel seines Gedächtnisses ein-dringen und ihm seine Kenntnisse über seine vermeintlich verbre-cherischen Absichten entreißen. „Wir werden Sie schmoren lassen,bis Sie endlich die Wahrheit sagen. Aber wir können Sie auch gleicherschießen lassen.“ Wolkow telefonierte. Daraufhin erschien einPosten mit umgehängter MP und nahm in der Ecke des Raumesgegenüber von WolfgangAufstellung. Wolkow verließ das Zimmer,nachdem er einige Worte mit der Dolmetscherin gewechselt hatte.Wolfgang überlegte, was das wohl zu bedeuten hätte. Er war sichdes Ernstes seiner Lage bewusst. Schließlich befand er sich in denHänden einer Sonderabteilung des KGB, die aus dem berüchtigtenGegenspionagedienst „Smersch“ hervorgegangen war. „Smersch“war die Abkürzung von „Smert schpionam“ (Tod den Spionen).Darüber hatte ihn Hans aufgeklärt, der diese Information einem sei-ner früheren Zellengenossen verdankte.

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Wolfgang war auch deshalb in einer prekären Situation, weil Sieg-fried Riedel ihm erzählt hatte, dass die Freundin der Gräfin Colditzoder die Gräfin selbst während des Krieges als deutsche Spionintätig gewesen war. Ihr war es nach Siegfrieds Schilderung gelun-gen, denAufenthaltsort des 1943 von königstreuen Truppen verhaf-teten und entführten italienischen Diktators Mussolini in einemschwerzugänglichen Berghotel am Gran Sasso in den Abruzzen ausfindigzu machen. Mussolini war daraufhin dort von deutschen Fallschirm-jägern in einem waghalsigen Unternehmen aus den Händen seinerEntführer befreit worden. Die Gräfin und ihre sehr resolut wirkendeFreundin hatten nach Kriegsende Unterkunft bei entfernten älterenVerwandten der Freundin in Meuselwitz gefunden. Die beiden hal-fen gelegentlich beim Verkauf von Schreibwaren im Geschäft derVerwandten. Daher kannte Wolfgang sie auch flüchtig. Woher Sieg-fried seine Informationen hatte und ob sie überhaupt stimmten, wussteWolfgang natürlich nicht. Aber er war sich darüber im Klaren, dassauch nur die geringste Erwähnung dieser Geschichte sofort zur Ver-haftung der beiden Damen durch die Russen führen würde. Alsonutzte er die Abwesenheit Wolkows, um zu überlegen, womit erdiesen ablenken könne. Dabei fiel ihm ein, dass Siegfried – wahr-scheinlich bei ihrem konspirativen Treffen – von einem Mann er-zählt hatte, der beim Fotografieren sowjetischer Schiffe in der Nähevon Rostock von einem sowjetischen Soldaten überrascht wordenwar. Der ehemalige Fallschirmjäger habe den Russen einfach insWasser gestoßen und sei in den nahen Wald geflüchtet.

Nachdem Wolkow zurückgekommen war und seine ursprüngli-che Frage mehrfach mit Nachdruck wiederholt hatte, erzählte ihmWolfgang die Geschichte von diesem Vorfall. Wolkow schrieb dassofort eifrig für das Protokoll auf und wollte nähere Einzelheitenwissen. Aber Wolfgang kannte natürlich keine Details. So gingWolkow wieder zum Thema Sabotage über mit dem speziellen Hin-weis auf die „beabsichtigte“ Sprengung des Rathauses. Wolfgangblieb bei seiner Behauptung, er wisse nichts von derartigen Plänen,auch als das noch in den folgenden zwei oder drei Nächten dasHauptthema seiner Verhöre war. Danach hatte Wolkow diesen Punktoffensichtlich wegen Erfolglosigkeit abgeschlossen.

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An einem Vormittag Mitte Mai erschien der Dejurni in der Zelle

und forderte Hans auf, seine Habseligkeiten – Jacke, Schüssel, Metall-

becher und Löffel – zu nehmen und ihm zu folgen. Hans und Wolf-gang verabschiedeten sich mit einem festen Händedruck und wünsch-ten sich gegenseitig alles Gute. Mit den Worten: „Halte die Ohrensteif!“ verließ Hans die düstere Zelle. Die beiden hatten hier etwazwei Wochen gemeinsam verbracht und sich durch ihre Gesprächegegenseitig moralisch aufgerichtet. Jetzt war Wolfgang allein zurück-geblieben. So wanderten seine Gedanken nun noch viel öfter als vor-her zu seiner geliebten Sonja und natürlich auch nach Hause zu seinengeliebten Eltern. Wie mochte es ihnen gehen? Wie mochten sie seinscheinbar unerklärliches Verschwinden aufgenommen haben? Aberdas spurlose Verschwinden mehrerer Jugendlicher aus demselben Ortwürde jaeigentlich nureineDeutungzulassen. UnzähligeFragenquältenihn den ganzen Tag über. Was würde mit ihm und seinen Kameradengeschehen? Eine Verurteilung zu 25 Jahren schien ihnen ja sicher zusein. Aber würden sie dann nach Bautzen oder in ein anderes Zucht-haus in der DDR kommen? Oder stand ihnen eine Deportation in dieSowjetunion bevor? Die Aussicht auf Zwangsarbeit in einem Blei-oder Uranbergwerk war eine Horrorvorstellung für ihn. Der Gedankean Todesurteile für die angeblichen Verbrechen, die man ihnen vor-warf, erschien ihm absurd, obwohl Wolkow und Kamenew mehrfachmit Erschießen gedroht hatten. Hinter all seinen Überlegungen stand

doch immer wieder die Hoffnung, dass innerhalb kurzer Zeit – viel-

leicht von einem Jahr oder von zwei Jahren – die deutsche Frageendgültig durch einen Friedensvertrag gelöst werden würde und indiesem Zusammenhang der ganze Spuk für sie ein Ende finden wür-de. Das gab ihm Zuversicht und bewahrte ihn vor der Verzweiflung.Und dann hoffte er natürlich, nach Beendigung der Untersuchungenmöglichst bald an Sonja und an seine Eltern schreiben zu dürfen.

Die langen Stunden des Tages versuchte Wolfgang, durch Klopf-kontakte mit Ingrid ein wenig zu verkürzen. Doch auch dabei fehlteihm Hans, der ihn durch ein Zeichen immer dann gewarnt hatte,wenn der Posten durch den Spion schaute. Jetzt war er gezwungen,sich einerseits auf seine eigenen Klopfsignale und die von Ingrid zu

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konzentrieren, andererseits auch darauf zu achten, dass nicht einleises Klicken das Zurückschieben der Klappe des Spions andeute-te. In diesem Fall marschierte er sofort in Richtung Zellentür los undtäuschte dem Posten einen Spaziergang durch die Zelle vor. DaWolfgang von Ingrid keine Informationen über seine mitverhaftetenehemaligen Schulkameraden erhalten konnte, probierte er es aufandere Weise. Eines Morgens, nachdem er seine Graupensuppegegessen hatte, stieg er auf die Pritsche und rief, dicht unter demFenster stehend: „Hallo, wer von den Meuselwitzern hört mich?“Die Resonanz darauf kam jedoch von der falschen Seite. Der Po-sten – wegen seiner Länge von Hans „Funkturm“ getauft – hatteWolfgangs Versuch bemerkt und stand kurz darauf zusammen mitdem Dejurni in der Zelle. Die beiden schimpften furchtbar undschnauzten Wolfgang an. Der stellte sich dumm und wollte seinenmissglückten Versuch abstreiten. Aber es half alles nichts, er mussteals Strafe dafür zwölf Stunden lang auf einer Stelle in der Nähe derZellentür stehen. Mittagessen und Tee am Abend fielen damit auchaus. Natürlich schauten der „Funkturm“ und die folgenden Postenjetzt in sehr kurzen Abständen durch den Spion, um zu verhindern,dass der Bestrafte sich von der Stelle rührte oder sich gar hinsetzte.Wolfgang ärgerte sich über seine Dummheit. Von Stunde zu Stundefiel ihm das Stehen schwerer und die Qualen nahmen zu. Schließ-lich schmerzten ihm alle Knochen. Als die Glocke des nahen Kirch-turms sechs Uhr schlug, meinte er, die restlichen zwei Stunden nichtmehr durchstehen zu können. Endlich, kurz nach acht Uhr, klopfteder Posten an die Tür und rief das erlösende Wort: „Sitz!“ Wolfgangatmete auf, fiel regelrecht mit seinem Hintern auf die Pritsche undverschlang erst einmal den Rest seiner Brotration.

Kurz vor 22 Uhr meldete sich Ingrid. Sie hatte schon währenddes Tages mehrfach versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aberer konnte ihr ja nicht antworten. Jetzt klopfte er zurück: „Ich mussteals Strafe den ganzen Tag über auf einer Stelle stehen. Jetzt bin ichziemlich erschlagen.“ Sie antwortete: „Das tut mir furchtbar leid.Ich fürchtete schon, du seiest in eine andere Zelle verlegt worden.Ich wünsche dir eine gute Nacht. Träume etwas Schönes! Ich schicke

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dir einen dicken Gutenachtkuss.“ Wolfgang war von ihren Wortenirgendwie eigenartig berührt. Es tat ihm in dieser hoffnungslosenSituation sehr gut, dass Wand an Wand mit ihm ein junges Mädchensaß, welches etwas für ihn zu empfinden schien. Er kannte sie zwarnicht, wusste nur, sie war 19 Jahre alt, 1,70 Meter groß, blond undhatte blaue Augen, wie er erst kürzlich von ihr erfahren hatte. Jelänger sie miteinander kommunizierten, umso vertrauter war sie ihmgeworden. Jetzt empfand er nicht nur Mitleid mit ihr, sondern inzunehmendem Maße Sympathie für sie. Er liebte Sonja leidenschaft-lich, und nichts würde ihn von seiner Liebe zu ihr abbringen können.Aber er war überzeugt, Sonja würde unter diesen außergewöhnli-chen Umständen Verständnis für seine besondere Beziehung zu demMädchen „von nebenan“ haben. Er würde ja dadurch Sonja nichtuntreu werden. Selbst wenn sich das Verhältnis über das Kamerad-schaftliche hinaus entwickeln würde, so könnte es doch noch nichteinmal ein platonischer, sondern allenfalls ein virtueller Flirt werden.Und er vermutete, dass Ingrid die Situation ähnlich beurteilen wür-de. So antwortete er ihr am nächsten Abend auf ihren „Kuss durchKlopfzeichen“ mit „Ich küsse dich auch!“

Wie bisher wurde Wolfgang auch in der Folgezeit jede Nachtverhört. Manchmal riss man ihn sogar zweimal aus dem Schlaf.Dabei ging es zunächst vor allem um seine Verbindungen zurAltenburger Gruppe durch seinen früheren Lehrer Wolfgang Funkeund die Flugblätter, die er von ihm erhalten hatte. Dann fuhr Wolkowihn mehrfach an: „Sagen Sie mir jetzt endlich die Namen der Mit-schüler, die Sie angeworben haben!“ „Ich habe niemanden ange-worben“, antwortete Wolfgang beharrlich. Darauf nannte der Un-tersuchungsrichter selbst die Namen von fünf Schulkameraden, dieangeblich mit der Gruppe in Kontakt gestanden hätten. Doch Wolf-gang erklärte jedesmal: „Den habe ich nicht angeworben, und erstand auch nicht mit der Gruppe in Verbindung.“ In drei Fällen ent-sprach das tatsächlich der Wahrheit. Er wunderte sich nur darüber,dass Wolkow auch die Namen so vieler Klassenkameraden kannte,die nicht in die Affäre verwickelt waren. Nach einigen Tagen hattesich für Wolkow auch dieses Thema erledigt.

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Ende Mai wurde Wolfgang zum zweiten Male tagsüber in dasVernehmungsgebäude geholt. Major Kamenew eröffnete ihm, dassdie Untersuchungen um die Punkte „Vorbereitung von Terroraktenund von aktivemWiderstand gegenAngehörige der Sowjetarmee undder deutschen Volkspolizei“ erweitert worden seien. Wolfgang warüber diese Verschärfung der Situation sehr beunruhigt. Nach demVerhör in der folgenden Nacht schlief er zwar sofort ein, doch nacheiniger Zeit wurde er von einem Albtraum aufgeschreckt. Er warplötzlich ganz allein in einer Gegend, einer Landschaft aus Schneeund Eis ohne jeden Baum. Man wollte ihn erschießen, aber es warniemandzu sehen. Plötzlichblitzte hinter einemSchneewall Mündungs-feuer von Gewehren auf, und er erwachte schweißgebadet. DieserTraum hatte ihm einen schweren Schock versetzt. Bis zu diesem Zeit-punkt war er immer davon ausgegangen, dass er eines Tages – innicht allzu ferner Zukunft – wieder gesund nach Hause zurückkehrenwerde. Jetzt aber begannen ihn Zweifel zu plagen und die Furcht, erkönne seine so sehr geliebte Sonja und seine Eltern vielleicht dochnicht wiedersehen. Der Gedanke ließ ihn in dieser Nacht nicht mehrlos und hielt ihn über Stunden wach, bis er, total übermüdet, im Mor-gengrauen doch noch einschlief.

Als Wolfgang amAbend seiner Zellennachbarin Ingrid mitteilte,dass er und seine Kameraden wahrscheinlich auch wegen Vorbe-reitung von Terrorakten und von aktivem Widerstand angeklagtwürden, versuchte sie ihm Mut zu machen. „Das muss gar nichtsbedeuten. Vielleicht wollen sie nur durch zusätzlicheAnklagepunktedas sonst dürftige Belastungsmaterial etwas aufbauschen. Mit 25Jahren muss hier wohl fast jeder rechnen. Aber wir werden dochalle nach nicht allzu langer Zeit wieder frei sein. Du musst nur festdaran glauben.“ Und plötzlich hatte sie einen Einfall. „Nimm deinenBecher, halte ihn hier gegen die Wand und drücke ein Ohr gegenden Boden des Bechers.“ Das tat er, und sie hielt ihren Becherungefähr an der gleichen Stelle gegen die Wand. Er glaubte zu träu-men, denn er hörte eine helle, klare Mädchenstimme: „Ich singe dirjetzt ein Lied.“ Und sie sang:

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„Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum,Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum.Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort.Es zieht in Freud‘ und Leiden zu ihm mich immerfort.“Nach dem Schubert-Lied fuhr sie fort :„Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tag‘ gibt‘s keinen Wein,Aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein.Und wenn ich mal tot bin, sollst du denken an mich,Auch amAbend, eh‘ du einschläfst, aber weinen sollst du nicht.“

Wie aus einer fernen Welt schienen die Töne zu ihm zu dringen.Während sie sang hatte ihn ein Gefühl tiefer Zuneigung zu diesemMädchen erfasst, das er zwar hören, aber nicht sehen konnte. Erfühlte sich immer stärker zu ihr hingezogen. Es war, als hätte ihrGesang unsichtbare Bande zwischen ihnen geknüpft. Als sie geen-det hatte, flüsterte er ihr zu: „Ich werde schon jetzt jeden Abend andich denken und von dir träumen. Ich küsse dich tausendmal.“ Ge-nau in diesem Moment vernahm er das inzwischen vertraute Ratsch-bum des Schlosses seiner Zellentür. Er stürmte in Richtung Tür undhielt dem Kalfaktor, der den Tee ausgeben wollte, seinen Becherhin. Der sah ihn etwas verwundert an und bedeutete ihm, er brau-che die Schüssel. Er könne mit der großen Kelle den Tee nicht inden kleinen Becher gießen. Und der Posten hinter dem Kalfaktorschaute irgendwie misstrauisch drein.

Als Wolfgang später den Klopfkontakt mit Ingrid wieder aufneh-men wollte, antwortete sie ganz kurz: „Es ist jetzt zu gefährlich, derPosten scheint etwas gemerkt zu haben. Er glotzt dauernd durchden Spion. Auf morgen! Tausend Küsse!“ Natürlich blieben beiWolfgang die Gewissensbisse nicht aus. Würde er damit nicht seineLiebe zu Sonja verraten? Aber er tröstete sich immer wieder mitdem Argument, seine Beziehung zu Ingrid sei absolut irreal, sie seidie Flucht in eine Illusion, bedingt durch die völligeAbgeschnittenheitvom realen Leben. Aus dem Kerker von Furcht und Elend herauswar ihm nur dieser enge akustische Kanal geblieben, der ihn mitdem Mädchen in der Nachbarzelle verband. Es bedeutete für ihn

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das kurze Aufflammen eines schwachen Lichts im tiefen Meer derFinsternis. So würde er es auch Ingrid erklären, falls sie sich docheinmal direkt begegnen würden, was er für sehr unwahrscheinlichhielt. Er nahm an, dass sie auch einen Freund in ihrer Heimat hatte.Aber warum sollten sie jetzt über solche Probleme diskutieren undsich dabei vielleicht ihrer wunderbaren Illusion inmitten ihres trauri-gen Daseins berauben.

In den nächtlichen Verhören versuchte Wolkow immer wieder,Wolfgang ein Geständnis über Spionagetätigkeiten abzuringen.AberWolfgang wollte selbstverständlich nichts eingestehen, was er nichtgetan hatte. Doch Wolkow ließ nicht locker. Seine Beschuldigun-gen, Beschimpfungen und Drohungen wurden immer heftiger. DasBewußtsein, der Gewalt des sowjetischen Terrorapparates völlighilflos ausgeliefert zu sein, der wochenlange Schlafentzug und derHunger hatten Wolfgang an den Rand des physischen und psychi-schen Zusammenbruchs gebracht. Als Wolkow ihn wieder einmalnach seinen Kontakten zur Altenburger Gruppe fragte, entschlosser sich, dem Untersuchungsrichter von seiner Hilfe bei der Fluchtvon Karl-Heinz Börner zu erzählen. So schilderte er, wie er im März1950 den Flüchtenden nachts über menschenleere Straßen und Wegezunächst von Meuselwitz nach Zipsendorf und dann weiter zumBahnhof nach Rehmsdorf gebracht hatte. Von dort aus sei Karl-Heinz Börner dann über Zeitz nach West-Berlin gefahren. Über dieAnkunft dort habe Börner ihn in einem Brief informiert. Danach seider Kontakt abgebrochen. Der detailhungrige Wolkow fragte im-mer wieder nach unbedeutenden Einzelheiten und schrieb seitenlan-ge Protokolle. Das Thema füllte immerhin drei nächtliche Verhöreaus. Wolfgang hatte den Eindruck, der Untersuchungsrichter müsseeinfach irgendwelche Ergebnisse vorweisen, sozusagen sein Soll anerfolgreichen Vernehmungen erfüllen. Diesmal glaubte Wolkow demGefangenen sogar, dass Börner bei seiner Flucht ganz unvermitteltbei ihm aufgetaucht sei und ihn auch über den vorhergehenden Flucht-weg im Unklaren gelassen habe. Und Wolfgang war erleichtert dar-über, dass er mit seiner Aussage nur sich selbst belastet hatte.

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An einem der nächsten Tage erwachte Wolfgang vom „Podjom“des Postens und stellte verwundert fest, dass er in dieser Nachtnicht zum Verhör geholt worden war. Auch die nächsten Nächtedurfte er ungestört durchschlafen, wenn man von den nächtlichenAttacken der Flöhe absah. Aber daran hatte er sich inzwischen ge-wöhnt. So waren tatsächlich nach sieben fürchterlichen Wochen dieUntersuchungen abgeschlossen worden, und er begann, sich kör-perlich ein wenig zu erholen und neuen Mut zu schöpfen. Inzwi-schen war Wolfgang schon mehrere Tage nicht mehr allein in seinerZelle. Eines Morgens, nachdem er gerade seinen ersten Spazier-gang beendet hatte – fünfzigmal fünf Schritte hin, fünf Schritte zu-rück – war ein jüngerer Mann in einem Militärmantel mit einemKäppi auf dem kahlgeschorenen Kopf und einer Umhängetascheaus leinenartigem Material in die Zelle geschoben worden. Ein Rus-se als Zellengenosse! Wie würden sie sich verständigen können?Würde das gut gehen? War das vielleicht ein Hinweis darauf, dassauch die deutschen Gefangenen nach ihrer Verurteilung in die So-wjetunion deportiert werden sollten? Diese Gedanken schossen ihmin demAugenblick durch den Kopf. Doch der Russe sprach Deutsch,zwar nur gebrochen, aber immerhin so, dass man sich verständigenkonnte. Er sagte, er sei Kolja Alexandrow und sei in Wolfen statio-niert gewesen. Als Chauffeur habe er seinen „Ober“ zu den ver-schiedensten Orten in der DDR gefahren. „Du meinst deinenOberst?“ fragte Wolfgang zurück. „Nein, Natschalnik“, korrigierteKolja und meinte damit seinen Chef. Aus seiner Manteltasche holteer etwas Machorka hervor, zerriss ein Stückchen russischer Zei-tung, die man offenbar beim Filzen übersehen hatte und drehte vondem Machorka mit außerordentlicher Fingerfertigkeit zwei Zigaret-ten. Dabei raute er mit den Zähnen den Rand des Zeitungspapiersauf, spuckte winzige Reste abgerissenen Papierbreis in die Zelle,feuchtete mit der Zunge das Papier an seinen beiden Rändern anund drückte diese zusammen. Mit der Frage: „Du hast Feuer?“ gaber Wolfgang eine der beiden Machorka-Zigaretten. Dabei sprach erdas H in „hast“ als Rachenlaut aus wie das „Ch“ in Bach. Als derDeutsche verneinte, entfernte Kolja an einer etwas aufgerissenenStelle seiner wattierten Jacke ein Stück Watte, drehte es zu einem

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Knäuel zusammen und rieb es mit großer Ausdauer zwischen zweiHolzstücken, die er von einer morschen Kante der Pritsche abgeris-sen hatte. Als die Watte zu glimmen begann, entzündete er seineZigarette daran und gab dann das Feuer an Wolfgang weiter. Derhatte sich schon nach wenigen Zügen an den besonderen Geschmackdes Machorkas (25) gewöhnt. Wolfgang war kein starker Raucher,und so war es ihm nicht schwer gefallen, in der Haft ohne Zigaret-ten auszukommen.

In der folgenden Nacht wurde Kolja zumVerhör geholt. Er nanntedem Dejurni seinen Namen so leise, dass dieser ihn nicht verstan-den hatte. Darauf fuhr der Diensthabende ihn an, er solle seinenNamen laut sagen.Als Kolja dann mit „Maximow“ antwortete, merk-te Wolfgang, dass der Russe ihn angelogen hatte. Wolfgang igno-rierte das jedoch und trug es seinem Zellengenossen nicht nach. Sokamen die beiden während ihrer gemeinsamen Zeit in der Zelle –abgesehen von einem Streit an einem der letzten Tage – leidlich gutmiteinander aus. Für den Kummer seines russischen Mithäftlingsjedoch hatte Wolfgang Verständnis. Kolja klagte mehrmals darüber,dass er eigentlich in drei Monaten aus der Armee entlassen wordenwäre, ihm aber nun fünf oder gar zehn Jahre Lager bevorstünden.Sein Leben sei dadurch verpfuscht, er würde seine Eltern und seineGeschwister während dieser Zeit nicht sehen und beruflich verlöreer auch alle Chancen. Wenn es ganz schlimm käme, müsste er dannsogar sein Leben lang in einemVerbannungsgebiet (26) bleiben. Die-ses Mädchen Monika aus Wolfen habe ihn hereingelegt. Sie habeihn nach West-Berlin locken wollen. Er aber wollte sie nur ficken.

Nach einigen Tagen wurden Wolfgang und Kolja in die auf dergegenüberliegenden Seite des Ganges gelegene Zelle verlegt. FürWolfgang war damit die Verbindung zu Ingrid abgerissen, was ersehr bedauerte. Die neue Zelle war deutlich kleiner und vom Spionaus vollständig zu übersehen. Trotzdem versuchte Wolfgang sofort,durch Klopfzeichen nach verschiedenen Seiten Kontakt aufzuneh-men. Er setzte sich dazu unmittelbar an die Wand, verbarg seineHand hinter dem Oberschenkel und klopfte regungslos sitzend, nur

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die verborgene Hand bewegend, mit einer kleinen Kugel aus hart-gewordenem Brot gegen die Wand. Nur mit der linken Nachbar-zelle klappte der Kontakt. Dort saß eine junge Frau ganz allein inder Zelle. Es war Monika Sommer aus Wolfen, in deren Fall Koljaverwickelt war. Sie hatte furchtbare Angst, sie könne womöglichzum Tode verurteilt werden. Wolfgang versuchte, sie zu trösten. Eswürden sicher nur in ganz schweren Fällen Todesurteile ausgespro-chen und bestimmt gegen Frauen noch seltener. Bald wollte Koljaden Namen der Frau wissen, und Wolfgang beging den Fehler, sei-nem Zellengenossen den Namen zu nennen. Wahrscheinlich hatteer geglaubt, die beiden könnten durch seine Vermittlung Aussagenmiteinander absprechen. Doch Kolja begann fürchterlich zu fluchenund forderte Wolfgang auf, ihr durch die Wand die folgende Nach-richt zu übermitteln: „Du Hure, hier kaputt!“ Natürlich weigerte sichWolfgang, das zu tun, und die beiden gerieten deshalb in einen hefti-gen Streit. Wolfgang versuchte, seinem Zellengenossen klarzuma-chen, dass man so nicht mit Mitgefangenen umgehen könne, wasimmer auch geschehen sei. Der aber beschimpfte ihn und wolltenicht von seiner Forderung ablassen. Der Posten war offensichtlichauf den Streit aufmerksam geworden und schaute jetzt öfter durchden Spion. So klopfte Wolfgang schnell zur Nachbarzelle: „Heutegeht nichts mehr, der Posten hat uns dauernd im Visier. Morgenmehr!“ Am nächsten Morgen antwortete niemand aus der Nach-barzelle. Offenbar hatten die Aufseher Verdacht geschöpft undMonika in eine andere Zelle verlegt. Doch auch Kolja wurde weni-ge Tage später mit all seinen Habseligkeiten aus der Zelle geholtund kam nicht mehr zurück. So blieb Wolfgang wieder allein mit denGedanken an seine geliebte Sonja und an seine Eltern und mit derUngewissheit über sein weiteres Schicksal. Jetzt achtete er beson-ders sorgsam darauf, jeden Morgen mit dem Löffelstiel einen Strichan einer bestimmten Stelle in die Wand zu ritzen. Er hatte dieseMethode von Hans übernommen, um die Orientierung über die Zeit,den Ablauf der Tage und Wochen, nicht zu verlieren.

Am 22. Juni, einem Sonntag, wurde Wolfgang von MajorKamenew informiert, dass gegen ihn und die anderen Mitglieder der

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Gruppe, Heinz Binder, Siegfried Riedel, Rolf Köhler, JoachimThiele,Dieter Gerth und Georg Thaler, vor einem sowjetischen Militärge-richt Anklage erhoben würde. DieAnklage erfolge auf der Grundla-ge der Artikel 58-6,1, 19-58-2, 19-58-8, 58-10,2 und 58-11 des Straf-gesetzbuches der RSFSR ( Russische Sozialistische Föderative So-wjetrepublik). Ihm werde Spionage, Vorbereitung eines bewaffne-ten Aufstands und terroristischerAkte, antisowjetische Propagandaund die Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Gruppe vorgewor-fen. Nach der Ankündigung der Ermittlungsgebiete war das fürWolfgang keine Überraschung mehr. Heinz Binder war ihm völligunbekannt, von ihm hatte er noch nie etwas gehört. So vermutete er,dass man Heinz Binder der Gruppe einfach als Führer zuordnenwollte. Das Fehlen von Klaus Hoffmann und Lutz Bantzer auf derListe derAngeklagten überraschte ihn dagegen sehr. Kamenew hatteihm doch beim ersten Verhör gesagt, man habe sie alle gefasst unddabei auch die Namen der beiden genannt. Daraus konnte er ei-gentlich nur den Schluss ziehen, dass die beiden munter geplauderthatten und dafür freigelassen worden waren. Das ging ihm auf demWeg zurück in die Zelle immer wieder durch den Kopf. Jetzt wurdeihm auch klar, warum die Russen von Anfang an so genau über vieleDetails von Dingen Bescheid wussten, über die beim Treffen beiSiegfried Riedel gesprochen worden war. Er selbst hatte ja man-ches davon in der Zwischenzeit total vergessen gehabt, zum Bei-spiel Rolfs aberwitzigen Vorschlag, das Rathaus in die Luft zu spren-gen. Wolfgang konnte nicht wissen, dass die Russen dem am ge-ringsten belasteten Georg Thaler die Freilassung angeboten hatten,wenn er für sie Spitzeldienste leisten würde. Georg hatte das jedochstrikt abgelehnt und damit das schwere Schicksal von Haft und Ver-urteilung auf sich genommen. Wolfgangs Verdacht, dass Hoffmannund Bantzer ihn und seine Freunde verraten hatten, wäre damit fürihn wohl zur Gewissheit geworden.

Genau zwei Monate nach seiner Verhaftung, am 26. Juni, bekamWolfgang einen neuen Zellengenossen. Er war sehr überrascht, alsein schmächtiger, kahlköpfiger Junge die Zelle betrat, den er im er-sten Moment für höchstens vierzehn Jahre alt hielt. Durch die feh-

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lenden Haare wurde die ovale Form des kindhaften Gesichts beson-ders betont. Mit seinen großen, hellbraunen Augen schaute er Wolf-gang erwartungsvoll an, ging auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte:„Ich bin Joachim Bischof und werde einfach ,Joki‘ genannt.“ Ergehörte zu einer Gruppe von vier Jugendlichen – eher eine ArtJugendbande – aus Bernau, die vor einem Monat verhaftet wordenwar. Joki war immerhin schon sechzehn Jahre alt, er wirkte nur vieljünger. Der Jüngste von ihnen war gerade fünfzehn, der Ältestesiebzehn Jahre alt. Sie hatten Autonummern sowjetischer Militär-fahrzeuge aufgeschrieben und gegen Bezahlung bei alliierten Dienst-stellen in West-Berlin abgeliefert. Das Geld hatten sie dann inAlko-hol und gelegentlich auch in leichte Drogen umgesetzt, um so ihrentristen Alltag für ein paar Stunden zu vergessen. Die Russen hattendie vier Jungen in der Nähe einer Kaserne auf frischer Tat ertappt.Ihr Fall war relativ klar und unkompliziert, so dass die Untersuchun-gen schon nach drei Wochen beendet wurden. Jetzt wartete er, wieWolfgang auch, auf den Prozess.

Über das Risiko seiner Betätigung schien sich Joki durchaus imKlaren gewesen zu sein. Bei seiner Verhaftung hatte er in seinerHosentasche eine kleine Tüte mit Zyankali gehabt, wie er erzählte.Als er sich einen Moment unbeobachtet glaubte, habe er das Giftgeschluckt. Aber einer der Russen habe das bemerkt und veranlasst,dass ihm der Magen ausgepumpt wurde. Wolfgang war sehr skep-tisch und wollte das nicht so recht glauben, denn nach Jokis Angabenmüsste es sich eigentlich um eine tödliche Dosis gehandelt haben.Doch möglicherweise war das Zyankali zu diesem Zeitpunkt schondurch Zersetzung an der Luft größtenteils unwirksam geworden, weiles monatelang unverschlossen in der Tüte herumgelegen hatte. Je-denfalls behauptete Joki, nach dem Auspumpen des Magens seienkeinerlei Nachwirkungen aufgetreten. „Es tut mir wirklich leid, dasses nicht geklappt hat“, bemerkte er jetzt. „Ich habe meine Eltern sehrfrüh verloren. Vom Leben im Heim hatte ich ohnehin die Schnauzevoll. Und hier steht uns bestimmt noch viel Schlimmeres bevor. Meineältere Schwester Vera wäre wohl der einzige Mensch, der um michtrauern würde.“ „So solltest du nicht reden. Irgendwann werden wir

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das hier alles hinter uns haben. Ich hoffe, es wird nur eine kurze Zeitdauern. Danach wird es uns viel besser gehen. Du musst nur an dichselbst und an die Zukunft glauben und darfst die Hoffnung nicht auf-geben. Ich weiß, das ist alles leicht gesagt. Aber ich stecke genau sowie du in der Scheiße und werde alles tun, um so gut es geht über dieRunden zu kommen. Also, Kopf hoch!“ So versuchte Wolfgang sei-nen Zellenkumpel moralisch aufzurichten. Er mochte diesen Jungen

mit den lebhaften und zugleich traurigen Augen. Sein Aussehen –besonders die Form seiner Nase – ließ Wolfgang vermuten, dass Jokijüdischer Abstammung war. Doch er wollte ihn nicht direkt danachfragen. Wie viele andere war auch er wegen der grauenhaften Ver-brechen, die Deutsche an Juden begangen hatten, zu sehr befangen.Aber was sollte es auch. Er würde so oder so alles tun, um Joki zuhelfen, eine positivere Einstellung für die Zukunft zu finden, soweitdas unter den gegebenen Umständen möglich war.

Zunächst schien für die beiden die Zeit stillzustehen. Ein Tag glichdem anderen. Die Blende am Fenster ließ auch in diese Zelle wenigLicht von draußen gelangen, so dass es den ganzen Tag über rechtdüster blieb. Nur die Glühlampe an der Decke brannte Tag und Nachtund erhellte den Raum ein wenig. Aber man konnte, auf der Pritschesitzend, durch den schmalen Spalt, den die Blende nach oben freigab,in das Grün der hohen Bäume jenseits der Umzäunung schauen. Daswirkte beruhigend. Als willkommene Abwechslung empfanden esWolfgang und Joki, wenn sie jeden dritten oder vierten Tag zum Ent-leeren des Kübels zu der im Freien liegenden Toilettenanlage und an-schließend zur Waschanlage geführt wurden. Sie genossen dann im-mer die frische Luft und das Blau des Himmels. ImAbstand von zehnbis zwölf Tagen konnten sich die Häftlinge auch in einem Raum imGefängnisinneren unter Benutzung eines hölzernen Waschtrogs et-was gründlicher reinigen. Danach erhielten sie frische Wäsche, näm-lich eine lange Unterhose und ein Unterhemd. Strümpfe und Taschen-tücher gab es dagegen nicht. Wolfgangs Strümpfe bestanden fast nurnoch aus Löchern. Sein Taschentuch hatte er nach zwei Wochen Haftin den Kübel entsorgt.

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Nach etwa einer Woche klagte Joki plötzlich am Abend überheftige Schmerzen in der Herzgegend. Kalter Schweiß stand ihmauf der Stirn, er schnappte regelrecht nach Luft und seine Lippenbegannen, sich blau zu färben. Wolfgang zog ihm den Pullover aus,legte ihn auf die Pritsche, lief zur Zellentür und trommelte mit denFäusten dagegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Posten er-schien und polternd einige russische Worte von sich gab. Wolfgangrief in tiefer Sorge um seinen Kumpel: „Doktor, Doktor!“ und wiesauf Joki, der sich auf der Pritsche liegend vor Schmerzen krümmte.Der Posten verständigte den Dejurni. Nach einiger Zeit betraten diebeiden die Zelle. Sie schienen ziemlich ratlos zu sein. Wolfgang deu-tete mit wilden Gesten auf Joki und schrie: „Doktor, Doktor, dawai!“um die Dringlichkeit zu unterstreichen. Das Wort „Dawai“ hattendie Posten immer wieder benutzt, um ihn anzutreiben, es war ihminzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Der Dejurni antwor-tete mit: „Budet, budet!“ jenem Zauberwort im Russischen, das be-deutet: „Es wird sein, aber man weiß nicht, wann.“ Nachdem Dejurniund Posten wieder die Tür hinter sich verschlossen hatten, dauertees noch eine geraume Zeit, bis der Doktor kam, der aber vermutlichnur ein Feldscher war. Wolfgang hatte nicht das geringste Vertrau-en zu diesem Mann, der ihm vor einiger Zeit gegen seine Augen-beschwerden einfach eine jodhaltige Lösung in beideAugen getropfthatte. Der Feldscher sah sich Joki an und sagte nur: „Schlafen!“Wolfgang schaute den Mann fassungslos an und versuchte, ihn durchWorte und Gesten zu bewegen, Joki zu helfen. Aber der Russe ver-stand offenbar kein Deutsch und zuckte nur mit den Achseln. „Aspi-rin,“ schrie Wolfgang ihn förmlich an. „Nix,Aspirin,“ antwortete dervermeintliche Arzt, wandte sich um und verließ zusammen mit demDejurni die Zelle. Verzweifelt beugte sich Wolfgang über Joki undwischte ihm mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Dannriss er ein großes Stück Stoff aus seinem Unterhemd heraus, tauch-te es in den Wassertopf ein und legte den kalten Umschlag Joki aufdie Brust. Der Junge erholte sich ganz langsam und schlief dann ein.Wolfgang war sehr erleichtert darüber, dass es seinem Zellengenossenjetzt besser zu gehen schien. Nach dem Zeichen zur Nachtruhe konn-te er jedoch lange nicht einschlafen. Er schaute immer wieder zu

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Joki hinüber. Auch mitten in der Nacht wachte er mehrmals auf undvergewisserte sich, dass der Junge ruhig schlief.

Am nächsten Morgen fühlte sich Joki so wohl, als sei nichts ge-wesen. Als Wolfgang ihn fragte, ob er schon früher einmal einensolchen Anfall hatte, verneinte er dies. Am Abend geschah dannwieder dasselbe. Joki wand sich vor Schmerzen und rang nach Luft.Der vermeintliche Arzt wurde gerufen und tat wieder nichts. Wolf-gang verfuhr mit dem Patienten wie am vorhergehenden Abend.Ganz langsam besserte sich sein Zustand danach wieder. Wolfgangwar wütend, dass es in einem solchen Fall nicht die geringste ärztli-che Hilfe gab. „Wenn der Gefangene keine Information mehr preis-geben kann, wenn er nichts mehr zu gestehen hat, dann ist er für dieRussen wertlos und kann ruhig abkratzen“, dachte er voller Zorn.So rief er auch niemanden an den beiden folgenden Abenden, alsJoki wieder diese Anfälle erlitt, sondern half ihm, so gut es ging, mitden kalten Umschlägen. Alles andere hatte doch keinen Sinn. DerPosten war offenbar informiert worden und verhielt sich ruhig, alsJoki mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Pritsche lag. Und amfünften Abend blieben die Anfälle wie durch ein Wunder weg. Siekehrten auch an den folgenden Abenden, so lange Wolfgang mitJoki zusammen in der Zelle war, nicht wieder zurück.

Am Morgen des 14. Juli wurde Wolfgang aus der Zelle geholt.Vorbei am Vernehmungsgebäude wurde er in ein dahinter liegendesgrößeres Gebäude geführt. Immer von einem Posten mit Maschi-nenpistole gefolgt, betrat er einen größeren Saal, der ganz in Rotgehüllt war. Die Wände waren mit rotem Tuch bespannt, in der Mit-te des Saales stand ein langer Tisch, von dessen Kanten Bahnenroten Stoffs nach unten herabfielen. Rechts und links des Tischeshingen Bilder von Lenin und Stalin. Die beiden schienen strengeBlicke in den Saal zu werfen, so als wollten sie das Geschehen dortgenau kontrollieren. Der Tisch war mit mehreren Stapeln vonAktenbedeckt. Auf jeder Seite stand in einigem Abstand vom Tisch einPosten mit Maschinenpistole imAnschlag. Wolfgang lief ein Schau-der über den Rücken. Noch nie hatte er einen solchen Abscheu

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gegen die Farbe Rot empfunden. Sie fügte ihm einen Moment langregelrecht körperliche Schmerzen zu. Doch dann fiel sein Blick aufeine Bank gegenüber dem Tisch an der Längswand des Saales. Dortsaßen zwei Gestalten mit kahlgeschorenen Köpfen und eingefalle-nen Gesichtern. Den Ersten der beiden Männer hatte er noch niegesehen, den Zweiten erkannte er beim Näherkommen als seinenSchulkameraden Siegfred Riedel. „Um Gottes willen, sehe ich auchso aus?“, fragte er sich im Stillen. Er hatte sich seit der Verhaftungnatürlich nicht mehr im Spiegel sehen können. Wolfgang wurde an-gewiesen, sich neben Siegfried zu setzen. Als er ihn begrüßen woll-te, wurde er vom Posten barsch angefahren: „Nicht sprechen!“ Inkurzen, zeitlichen Abständen trafen nach ihm Rolf Köhler, JoachimThiele, Dieter Gerth und Georg Thaler ein und nahmen in dieserReihenfolge links von ihm Platz. Sie durften während der ganzenVerhandlung kein Wort miteinander wechseln. Einige Zeit spätermussten dieAngeklagten sich erheben. Die drei Richter des Militär-tribunals 48240 traten ein, gefolgt von einem Schriftführer und derDolmetscherin. Sie schritten zum Tisch, die Richter mit ernsten,würdevollen Gesichtern, sichtlich bemüht, dem Verfahren einen fei-erlichen Rahmen zu geben. Wolfgang dachte bei ihremAnblick: „Siekommen daher wie die Hohenpriester des Sozialismus. Hängt unserSchicksal wirklich von ihnen ab? Oder sind sie nur Marionetten, istalles nur Theater? Stehen die Urteile längst fest?“ Nachdem dieRichter, der Schriftführer und die Dolmetscherin Platz genommenhatten, durften auch die Angeklagten sich wieder setzen. Dann er-öffnete der Gerichtsvorsitzende die Verhandlung. Die Angeklagtenmussten einzeln aufstehen, ihre Personalien angeben. Danach wur-den ihnen die Paragraphen des Strafgesetzbuchs der RSFSR vorge-lesen, nach denen sie angeklagt wurden. Als Joachim Thiele sichnach einem Verteidiger erkundigte, antwortete der Vorsitzende: „DieDolmetscherin wird die Verteidigung mit übernehmen.“ Alle Ange-klagten wurden der Spionage, der antisowjetischen Propaganda undder Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Gruppe beschuldigt. Denmeisten von ihnen wurde außerdem noch die Vorbereitung von ter-roristischen Akten und bewaffnetemAufstand sowie Sabotage vor-geworfen. Rolf Köhler wurde zusätzlich nach den Artikeln 1 und 6

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des Gesetzes 43 des Alliierten Kontrollrats für Deutschland wegenunerlaubten Waffenbesitzes angeklagt. Dann folgten unendlich lan-ge Monologe der Richter, in denen sie Punkt für Punkt versuchten,die Schuld der Angeklagten zu beweisen. Das Gericht bemühte sichdabei, alles möglichst korrekt erscheinen zu lassen, so wie Betrügerhäufig ihren Betrug durch übergroße Genauigkeit im Detail zu ver-schleiern versuchen. Wie windig die Beweisführung des Gerichtswirklich war, zeigte seine Feststellung, derAngeklagte Heinz Binderhabe 1951 diese antisowjetische Gruppe gegründet. Er war der ehe-malige Fallschirmjäger, der bei Rostock sowjetische Schiffe foto-grafiert hatte. Ihn hatte außer Siegfried Riedel keiner der anderengekannt und er war auch nie in Meuselwitz gewesen. Aus Äuße-rungen Einzelner beim Treffen im September 1950, die allenfallsAbsichtserklärungen waren und zu keinen konkreten Vorbereitun-gen geführt hatten, wurden kollektive Beschuldigungen zusammen-gebastelt. So leitete das Gericht von der Äußerung Rolf Köhlers, erbesitze eine Pistole und könne sich durch Bedrohung eines bewaff-neten Amtsträgers damit eine zweite Waffe beschaffen, den Be-weis für die Vorbereitung von Terrorakten und aktivem Widerstanddurch alle Gruppenmitglieder ab. In gleicher Weise verfuhr es mitder Bemerkung von Wolfgang, man wolle im Kriegsfall auf der Sei-te der Amerikaner kämpfen. Angebliche Kontakte Einzelner zuwestlichen Dienststellen wurden ebenfalls allen angelastet. Von derAnklage der Vorbereitung von Sabotageakten waren Wolfgang undGeorg allerdings ausgenommen. Sie hatten beide abgestritten, vonRolfs absurdem Vorschlag zur Rathaussprengung gewusst zu ha-ben. Für Georg traf das ja wirklich zu. Wenig überzeugend wirktenauch manche der auf dem Tisch neben der Anklagebank liegendenBeweisstücke. Dort befanden sich neben der Pistole, einigen Flug-blättern und einem Gummistempel zurAnfertigung von Flugblätternnoch ein Gummiknüppel, mehrere Bücher mit verdächtigen Emble-men – wie Graf Luckners „Seeteufel“ (27), auf dessen Umschlagdie Reichskriegsflagge abgebildet war – und ein Satz Briefmarkenmit dem Aufdruck von Hitlers Kopf. Nach den langen und ermü-denden Ausführungen des Gerichtsvorsitzenden, die nur durch einekurze Mittagspause unterbrochen wurden, endete der erste

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Verhandlungstag am späten Nachmittag. Die Angeklagten wurdenwährend des Prozesses in Einzelzellen untergebracht. Wolfgang ließnoch einmal den ganzenTag in Gedanken vorüberziehen. Dabei fragteer sich, warum solch ein Aufwand getrieben wurde, wenn die Urtei-le ohnehin schon festzustehen schienen.

Am nächsten Morgen wurde die Verhandlung fortgesetzt. DieAngeklagten wurden nacheinander zu den einzelnen Anklagepunk-ten „befragt“. In Wirklichkeit war es eine subtilere Art von Verhör,in dem dieAngeklagten die in den Protokollen festgehaltenen, schein-baren Tatbestände bestätigen sollten. Dabei ging es den Richternabsolut nicht um Wahrheitsfindung. Heinz Binder wurde unterstellt,er habe den Rotarmisten, den er ins Wasser gestoßen hatte, getötet.Binder bestritt das aufs Energischste. Doch die Richter erwecktenden Eindruck, als wollten sie ihm unbedingt einen Mord anhängen.Rolf Köhler wurde besonders ausführlich zu der Pistole befragt.„Ich fand sie unmittelbar nach Kriegsende. Sie gefiel mir so gut,dass ich mich entschloss, sie aufzuheben“, sagte er. Bei zwei Haus-durchsuchungen war sie nicht entdeckt worden, er hatte sie zwi-schen den Kacheln eines Ofens gut versteckt. Erst als ihm mit derVerhaftung seines Vaters gedroht worden war, hatte er das Ver-steck preisgegeben. Schließlich war in seinen Protokollen nach meh-reren Verhören zu diesem Punkt die angebliche Aussage festgehal-ten worden, er habe sie im Falle eines Krieges notfalls benutzenwollen. Die Frage des Vorsitzenden, ob der beim Beweismaterialbefindliche Gummiknüppel ihm gehöre, beantwortete Rolf mit „Ja!“„Wozu haben Sie ihn gemacht?“ wollte der Richter wissen. „Ur-sprünglich wollte ich damit eine Kirschplantage bewachen.“ „Undhaben Sie jemand damit geschlagen?“ „Nee, es is keener gekomm‘n,“antwortete Rolf in bestem Sächsich. Auch seinen Plan zur Spren-gung des Rathauses musste Rolf dem Gericht nochmals erklären,obwohl doch schon alles dazu in den Protokollen festgehalten war.Der Spionagevorwurf gegen Wolfgang gründete darauf, dass imProtokoll stand, er habe Sänger Spionagenachrichten übermittelt.Als Wolfgang erklärte, das habe er nicht gesagt, las der Vorsitzendeaus dem Protokoll vor: „Ich habe Spionagenachrichten an Sänger

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weitergegeben,“ und fragte, „haben Sie das unterschrieben?“ „Esblieb mir doch nichts anderes übrig,“ entgegnete Wolfgang. Darauferkundigte sich der Richter scheinbar fürsorglich: „Sind Sie geschla-gen worden?“ „Nein,“ antwortete Wolfgang, „aber ich stand unterstarkem psychischen Druck.“

Als letzter der Angeklagten wurde Georg Thaler befragt. Die Be-schuldigung, er sei von Sänger zur Spionagetätigkeit und zu antisowje-tischer Propaganda angeworben worden, bezeichnete Georg als falsch.Er erklärte, er kenne Sänger schon längere Zeit durch den „Christli-chen Verein Junger Männer“. „Es ist richtig, dass Klaus Sänger michwährend meines Studiums in Leipzig besucht hat,“ erläuterte Georg,„aber ich habe ihm nie zugesagt, Spionage zu betreiben und habe auchkeine Flugblätter von ihm erhalten. Auch als mir Wolfgang HartwigFlugblätter im Auftrag von Sänger übergeben wollte, habe ich ihreAnnahme abgelehnt.“ Damit war die Beweisaufnahme beendet. Aufdie abschließende Frage, ob er sich schuldig bekenne, hatte Wolfganggeantwortet, er bekenne sich schuldig zu denAnklagepunkten, antiso-wjetische Propaganda und Zugehörigkeit zu einer antisowjetischenGruppe, in allen anderen Punkten sei er nicht schuldig. Ähnlich äußer-ten sich auch die anderen Angeklagten. In einem letzten Wort batendie Angeklagten um ein gerechtes und mildes Urteil. Wolfgang fügtedem noch hinzu: „Meine Eltern sind schon sehr alt. Wahrscheinlichwerde ich sie nicht wiedersehen. Deshalb bitte ich darum, ihnen nachBeendigung des Prozesses schreiben zu dürfen.“ Und er hoffte na-türlich, dass er dann auch an Sonja schreiben könnte. Mit dem Hin-weis auf die Urteilsverkündung am nächsten Tag, ging der zweiteProzesstag am späten Nachmittag zu Ende.

Nach dem Zeichen zum Schlafen lag Wolfgang noch lange wach.Seine Gedanken kreisten um den Prozess, er durchlebte noch ein-mal alle Phasen der Verhandlung. Und er kam immer wieder zudem Schluss, dass man ihm außer antisowjetischer Propaganda undGruppenzugehörigkeit nichts Konkretes nachweisen konnte. Manhatte bei den Hausdurchsuchungen kein belastendes Material ge-funden. Es gab weder Beweise für eine Spionagetätigkeit noch für

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die Vorbereitung von Terroraktionen und aktivem Widerstand. Nachseiner Bemerkung, man werde im Kriegsfall auf der Seite der Ame-rikaner kämpfen, war von ihm nicht das Geringste unternommenworden, was als Vorbereitung dazu angesehen werden konnte. Unddass Rolf mit einer Pistole und einer einzigen Patrone eine Gefahrfür die Sowjetarmee und die Volkspolizei sein würde, konnte wohlkaum jemand ernsthaft glauben. Eigentlich hätte ja Sänger als Zeu-ge vor Gericht gehört werden müssen. Mit einer wahrheitsgemäßenAussage hätte er normalerweise die meisten von ihnen entlastet.Aber, was war schon normal in diesem Prozess? Offenbar war schondie Gesinnung strafbar. Da wurden Dinge, die ein Einzelner gesagthatte, sofort auch allen anderen zur Last gelegt. Und es wurde inunglaublicher Weise manipuliert. Einerseits wurde die vor dem Ge-richt wiederholte Aussage festgehalten, er sei im September 1950zum Leiter der Gruppe gewählt worden, andererseits wurde in derAnklageschrift behauptet, Binder, den außer Siegfried niemand ge-kannt hatte, habe die Gruppe 1951 gegründet. Nein, er war reali-stisch genug und gab sich keiner Illusion hin, sie würden wohl alle zu25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden.

Zwischendurch waren Wolfgangs Gedanken immer wieder zuSonja gewandert. Was würde sie wohl jetzt tun? Wie würde es ihrgehen? Manchmal erschien es ihm, als habe sie erst gestern in sei-nenArmen gelegen, dann kam es ihm wieder vor, als liege das schonJahre zurück. Um seine Eltern machte er sich große Sorgen. Wiewürden sie die ganze Aufregung verkraftet haben? So wandertenseine Gedanken im Kreise, bis ihn allmählich der Schlaf übermann-te. Nach dem morgendlichen „Podjom!“des Postens schlug Wolf-gang die Augen auf und blickte direkt in das Licht der Glühbirneüber ihm, die alle Winkel der armseligen Zelle ausleuchtete. Mit ei-nem Schlage wurde ihm die ganze Trostlosigkeit seiner Situationbewusst. Und dann vergingen Stunden des Wartens, bis ein Rot-armist ihn in den Gerichtssaal führte. Das Rot der Wände kam aufihn zu, er empfand seine Wirkung noch viel stärker als zuvor. Esdrohte ihn zu erdrücken und schien ihm fast den Atem zu nehmen.Und er blickte in den Lauf zweier Maschinenpistolen, die wie von

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hellbraunen Inseln – den Uniformen der beiden Sowjetsoldaten –auf rotem Grund, auf ihn gerichtet waren. Doch inmitten seiner Ka-meraden auf der Anklagebank, wich dieses beklemmende Gefühlallmählich von ihm. Einige Zeit später zog das Gericht ein. Die Ge-sichter der Richter schienen noch mehr Ernst und Würde auszu-strahlen. Wolfgangs Blick streifte zufällig den Richtertisch. DasDurcheinander dort passte gar nicht zu diesem, die Macht des Sy-stems demonstrierenden, Rahmen. Akten lagen ziemlich ungeord-net herum, und zwei Aschenbecher liefen förmlich über. Anschei-nend hatten die Richter doch ziemlich lange beraten.

Nach der Eröffnung der Sitzung erfolgte zunächst eine allgemei-ne Stellungnahme des Gerichts. Die Anklage wegen Vorbereitungvon Sabotageakten wurde fallen gelassen. „Ich habe mehrere Nächtelang Wolkows Druck ausgehalten und abgestritten, von Rolfs ‘Plä-nen’ zur Sprengung des Rathauses gehört zu haben“, dachte Wolf-gang, „das hätte ich also ruhig zugeben können. Vielleicht hat sichdas Tribunal bei der Urteilsfindung doch etwas mehr um Objektivi-tät bemüht.“ Aber die aufkeimende Hoffnung wurde schnell wiederzerstört. Der Vorsitzende erklärte dieAngeklagten pauschal in allenweiteren Punkten der gegen sie erhobenen Anklage für schuldig.Dann folgten die Urteile. Heinz Binder: Tod durch Erschießen –Siegfried Riedel: Tod durch Erschießen – Wolfgang Hartwig: Toddurch Erschießen – Rolf Köhler: Tod durch Erschießen – JoachimThiele: 25 Jahre Freiheitsentzug – Dieter Gerth: 25 Jahre Freiheits-entzug – Georg Thaler: 25 Jahre Freiheitsentzug, jeweils mitVerbüßung der Strafe im ITL (Besserungsarbeitslager).

Heinz Binder nahm das Urteil gefasst auf, wahrscheinlich hatteer mit einemTodesurteil gerechnet. Siegfried Riedel war leichenblass,er wirkte völlig fassungslos. Schon die beiden ersten Urteile hatteWolfgang wie Peitschenhiebe empfunden. Er spürte, wie sich seinPuls beschleunigte, als der Richter seinen Namen sprach. „Aus undvorbei!“ schoss es ihm durch den Kopf, nachdem die Dolmetscherinsein Urteil übersetzt hatte. Er spürte, wie sein Herz hämmerte. SeinBlut war in Wallung geraten. Er hatte das Gefühl, es drohe die Ge-

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fäße zu sprengen. Doch dann bemerkte er, wie kühl und gefasstRolf neben ihm das Urteil aufgenommen hatte. War nicht sogar KlausSänger, der unvergleichlich stärker belastet war, begnadigt worden?Sicher sollten die Todesurteile nur besonders abschreckend wirken,und sie würden dann begnadigt werden. Mit diesen Gedanken hatteer schnell den Schrecken abgeschüttelt und seine Fassung zurück-gewonnen. Die drei letzten Verurteilten hatten ihre Urteile gelassenaufgenommen, sie hatten mit nichts anderem gerechnet. Die Todes-urteile gegen ihre vier Kameraden hatten sie mehr getroffen als ihreeigenen Urteile. Nach der Urteilsverkündung durften die sieben end-lich miteinander sprechen. Den Todeskandidaten wurde vom Ge-richt noch offiziell mitgeteilt, sie müssten später Begnadigungsgesu-che an den Obersten Sowjet (28) richten, jetzt aber die Kenntnis-nahme des Urteils schriftlich bestätigen. Rolf erklärte, dazu braucheer seine Brille, ohne Brille könne er gar nichts schreiben. Bis dieBrille gebracht wurde, versuchten Joachim, Dieter und Georg ihrenKameraden Mut zu machen und ihre Hoffnung auf Begnadigung zustärken. Sie erklärten ihnen, es habe sich allgemein herumgespro-chen, dass die meisten Todesurteile in Haftstrafen umgewandeltwürden. Wolfgang sagte daraufhin sehr zuversichtlich: „Das gibtvierzehn Tage Einzelhaft, und anschließend werden wir begnadigt.“Dann nahmen sie Abschied voneinander. Heinz Binder drückte Die-ter Gerth als Talisman ein winziges drei bis vier Zentimeter langesSchiff aus Holz in die Hand, das er – natürlich unerlaubterweise –während der Haftzeit geschnitzt und durch alle Filzaktionen gebrachthatte. Bald darauf rief ein Rotarmist die vier zum Tode Verurteiltenauf. Wolfgang gab noch das Kommando: „Ohne Tritt, marsch!“ undsie verließen den Gerichtssaal. Die drei Zurückgebliebenen schau-ten ihnen nach. In ihren Gesichtern konnte man trotz aller Zuver-sicht die bange Frage lesen: „Werden wir sie wiedersehen? Hof-fentlich überstehen wir alle sieben die schwere, vor uns liegendeZeit.“ Wenig später wurden auch sie abgeführt.

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6. Kapitel

Es waren unruhige Tage für Sonja unmittelbar nach dem spurlo-sen Verschwinden von Wolfgang, Tage voller quälender Fragen undgrenzenloser Ungewissheit. Mit jedem Tag nahm ihre Hoffnung ab,dass Wolfgang doch irgendwie der Verhaftung entgangen war. AmMittwoch, dem 30. April, fuhr sie nach Rositz zu ihren Eltern. Viel-leicht konnte sie ja von ihrem Vater etwas über Wolfgangs Verbleiberfahren. Klopfenden Herzens betrat sie sein Arbeitszimmer. KarlSwoboda saß am Schreibtisch, mit ernstem Gesicht studierte erAkten.Mürrisch blickte er auf, als Sonja ihm erklärte, sie müsse ihn drin-gend sprechen. Stockend begann sie: „Ich habe dir doch schon mehr-fach von meinem Freund Wolfgang Hartwig erzählt. Er ist seit letz-tem Sonnabend spurlos verschwunden. Hast du etwas über ihn ge-hört? Weißt du etwas über seinen Verbleib?“ „Vielleicht ist er in denWesten abgehauen,“ erklärte er scheinbar ahnungslos. „Das kannnicht sein“, entgegnete Sonja, da hätte ich von ihm sicher eine Nach-richt bekommen. Es sind mehrere Meuselwitzer in seinem Alterverschwunden.“ „Ich kannte bisher nur seinen Vornamen, deshalbwar ich nicht sofort im Bilde. Speziell über ihn kann ich dir nichtssagen. Eigentlich darf ich dir überhaupt nichts erzählen. Es ist unse-ren sowjetischen Freunden mit unserer Hilfe gelungen, eine Bandevon Verbrechern auszuheben, und offenbar gehörte er dazu. Siehatten schlimme Verbrechen geplant und teilweise auch schon be-gangen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.“ Sonjas Befürchtungenwurden durch die Worte ihres Vaters zur Gewissheit. „Das glaubeich nicht, Wolfgang ist kein Verbrecher,“ verteidigte sie ihn, „ich lie-be ihn und werde zu ihm stehen.“ Swoboda wurde wütend und don-nerte sie mit knarrender Stimme an: „Ich kann dir nur den Rat ge-ben, lass die Finger von ihm. Ich dulde nicht, dass meine Tochter miteinem Klassenfeind und Staatsverbrecher in Verbindung gebrachtwird.“ „Ich denke nicht daran, ihn aufzugeben, ich werde ihn su-chen. Ich bin wahrscheinlich in anderen Umständen“, antworteteSonja sehr bestimmt. Das trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht, erbrüllte sie an: „Ich verbiete dir, irgendwelche Schritte zu unterneh-

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men, die eine Verbindung zwischen dir und dem Kerl erkennen las-sen. Wenn du sicher bist, lass das Kind abtreiben. Ich will keinenEnkel, der von einem Verbrecher abstammt.“ „Und ich werde die-ses Kind doch bekommen, du Unmensch.“ Ihre grünen Augen fun-kelten voller Zorn und Verachtung. Ihre Wangen hatten sich gerötet,eine Locke ihres dunkelblonden Haares hing ihr tief ins Gesicht.Kämpferisch wie eine Amazone stand sie vor ihm. Jetzt musste al-les heraus, das Band zwischen ihnen war zerschnitten. „Ich willdich nie mehr sehen und werde dieses Haus nie wieder betreten.Mit mir kannst du es nicht machen wie mit Mutter, die sich dir im-mer unterwerfen musste. Für deine Partei hast du alles geopfert.Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen, Freunde und Be-kannte du ans Messer geliefert hast, während unserer Zeit inRussland und später hier.“ Wie von einem gewaltigen Druck befreitlief sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er aberblieb wie versteinert hinter seinem Schreibtisch sitzen. Sonja lief inihr Zimmer, gefolgt von ihrer weinenden Mutter, die durch die hefti-ge Auseinandersetzung aufgeschreckt worden war. Der Wortwech-sel war so laut gewesen, dass Martha Swoboda im Korridor dieletzten Sätze Wort für Wort verstanden hatte. Sie versuchte ihreTochter von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber Sonja war fest ent-schlossen, ihr Elternhaus zu verlassen. Sie packte ihre wichtigstenSachen in zwei Koffer und eine große Reisetasche. Ihre Geige, dieNoten und Arbeitsunterlagen waren ohnehin schon in ihrer Studen-tenbude in Leipzig. Dann verabschiedete sie sich unter Tränen vonihrer Mutter und fuhr zurück nach Leipzig.

Am nächsten Tag, dem 1. Mai, besuchte Sonja Wolfgangs Elternin Meuselwitz. Sie teilte ihnen mit, dass Wolfgang offenbar verhaf-tet worden sei, doch sie habe nicht erfahren können, wo er sichbefindet. Sie versprach Hartwigs, ihnen bei der Suche nach ihremSohn zu helfen. Beiläufig erzählte sie auch, dass sie wegen einerAuseinandersetzung mit ihrem Vater aus dem Elternhaus ausgezo-gen sei. In den folgenden Wochen und Monaten formulierte Sonjafür Hartwigs mehrere Schreiben, in denen sie um Aufklärung überden Verbleib ihres Sohnes baten, u.a. an die Staatsanwaltschaft des

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Bezirks Leipzig, an den Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck, anden Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und an den Hohen Kom-missar der UdSSR W.S. Semjonow. Der Oberstaatsanwalt des Be-zirks Leipzig teilte den Hartwigs mit, dass „betreffs der Verhaftungihres Sohnes nichts ermittelt werden konnte“ und empfahl ihnen,„sich an dieAuskunftsstelle für verhaftete Personen in Dresden N15,Königsbrücker Straße 125, Sprechstunden dienstags und freitagsvon 14-16 Uhr, zu wenden.“ Die Kanzlei des Präsidenten der DDRantwortete, die Eingabe sei an den Minister für Staatssicherheit, WillyZaisser, weitergeleitet worden. Von dort würden sie über das Er-gebnis unterrichtet werden. Eine entsprechendeAntwort blieb aller-dings aus, ebenso von all den anderen Stellen, die sie angeschriebenhatten. Selbst, nachdem der Meuselwitzer Bürgermeister im FallWolfgang Hartwig eine Eingabe bei der Regierung der DDR ge-macht hatte, wurde ihm vom Ministerpräsidenten – Hauptabteilungörtliche Organe – Berlin mitgeteilt, „dass die Bearbeitung der Ein-gabe eine gewisse Zeit in Anspruch nehme und es dieser Dienststel-le im vorliegenden Fall nicht möglich sei, auf den weiteren FortgangEinfluss zu nehmen.“

Bei der sowjetischen Kommandantur in Leipzig hatte sich Sonjapersönlich erkundigt. Dort wusste man angeblich nichts über dieVerhaftung von Wolfgang Hartwig. Man verwies sie aber an dieKommandantur in Dresden. Also fuhr Sonja nach Dresden. In derAuskunftsstelle für verhaftete Personen in Dresden war auch nichtsüber ihn bekannt. Danach ging sie zur sowjetischen Kommandan-tur. Dort wurde sie an einen Offizier verwiesen, der ihre Frage nachWolfgang auch nicht beantworten konnte. In einem ausgezeichne-ten, fast akzentfreien Deutsch erklärte er ihr: „Ich bedaure sehr,dass ich Ihnen nicht helfen kann. Aber ich gebe Ihnen einen gutenRat. Suchen Sie nicht weiter.“ Er kam ihr ganz nah und sprach fastim Flüsterton. „Sie gefährden sich nur selbst und riskieren, als völligUnschuldige mit in die Angelegenheit hineingezogen zu werden. Eshilft nur eines, so schwer es auch fällt: ‘Warten und nochmals war-ten.’ Bitte, vergessen Sie unser Gespräch.“

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Nachdem eine ärztliche Untersuchung ergeben hatte, dass Sonjawirklich schwanger war, unterrichtete sie Wolfgangs Eltern darüber.Es bedrückte natürlich Mutter und Vater Hartwig sehr, dass dieGeburt ihres Enkelkindes von der Ungewissheit über das Schicksalihres Sohnes überschattet sein würde. Andererseits freuten sich dieHartwigs auf ihr Enkelkind. Vielleicht würde es ihnen doch übermanche schwere Stunden hinweghelfen. Und sie hatten noch im-mer die stille Hoffnung, dass sich alles noch recht schnell zum Gu-ten wenden könnte. Der werdenden Mutter stand eine besondersschwere Zeit bevor. Und Alma Hartwig versuchte ihr Mut zu ma-chen: „Ich werde jetzt immer für Sie beten, mein Kind.“ „Unsinn,“unterbrach ihr Mann sie, „mit Beten ist ihr nicht geholfen. Sie – neinjetzt duzen wir uns selbstverständlich – du, Sonja, gehörst ja nun zurFamilie. Wir werden dir jede Hilfe zukommen lassen, die uns mög-lich ist. Du kannst so oft zu uns kommen, wie du magst.“ „Ich dankeeuch beiden sehr herzlich, ich werde euch nie vergessen, dass ihrmich in dieser schweren Zeit nicht allein lasst,“ erklärte Sonja undumarmte Alma und Ernst Hartwig. Die beiden waren über all dieJahre ihrer Ehe sehr sparsam gewesen, und in den wenigen Jahrennach der Währungsreform hatten sie schon wieder einiges zusammen-gespart. So unterstützten sie fortan Sonja jeden Monat mit einemansehnlichen Geldbetrag. Sonja kam häufig an den Wochenendenzu Wolfgangs Eltern und fühlte sich bei ihnen bald zu Hause. Solernte sie auch Dieter Gerths Mutter, Joachim Thieles Eltern undRolf Köhlers ältere Schwester Inge kennen, die nun oft bei Hart-wigs waren. Die Ereignisse um die Söhne bzw. den Bruder hattensie alle zusammengeführt.

Ende Oktober hatte Sonja ihr Studium unterbrochen. Die Schwan-gerschaft war trotz der großen psychischen Belastung relativ unkom-pliziert verlaufen. Je näher der Geburtstermin rückte, umso schwieri-ger wurde es für sie. Sie war jetzt immer häufiger in Meuselwitz undwurde nicht nur vonWolfgangs Eltern umsorgt, auch die Thieles, FrauGerth und Inge Köhler kümmerten sich um sie.Als am Morgen des 6.Dezember die Wehen einsetzten, wurde Sonja von Meuselwitz aus imKrankenwagen nach Altenburg ins Krankenhaus gebracht. Die nur

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wenig ältere Inge begleitete sie. Gegen 18 Uhr gebar Sonja einengesunden Jungen. Sie war sehr glücklich über den kräftigen Burschen,der seinem Vater ähnelte. Immer, wenn sie in seine kleinen, braunenAugen schaute, meinte sie in Wolfgangs Augen zu sehen. Sie nannteihn auch Wolfgang, und er wurde als Wolfgang Swoboda in dasAltenburger Geburtenregister eingetragen. Trotz Sonjas Hinweis undBitte wurde der Name des Vaters nicht vermerkt.

Aber natürlich lagen Freude und Leid für Sonja eng beieinander.Die Sehnsucht nach dem geliebten Mann, von dem noch immer jedeSpur fehlte, war jetzt eher noch größer geworden. Doch ihre Hoff-nung auf eine glückliche Wende des Schicksals blieb ungebrochen.AuchAlma und Ernst Hartwig fanden, dass der kleine Wolfgang demgroßen Wolfgang sehr ähnlich sah. Sie waren stolz auf ihren Enkel.Wenige Tage nach der Geburt kam auch Sonjas Mutter zu Besuch.Sonja freute sich sehr, dass ihre Mutter nun doch den Weg zu ihrgefunden hatte. Aber Martha Swoboda war eine gebrochene Frau,sie war psychisch krank. Sie bat Sonja, nach der Entlassung aus demKrankenhaus zu Besuch nach Rositz zu kommen, doch Sonja lehnteab. „Du kannst mich jederzeit in Leipzig besuchen, ich würde michsehr darüber freuen. Doch euer Haus werde ich nicht wieder betre-ten.“ Tatsächlich besuchte Martha Swoboda in den folgenden Mona-ten ihre Tochter mehrmals in Leipzig und freute sich über den Enkel,der prächtig gedieh. Aber ihre Krankheit hatte sie sehr verändert. Eswar nicht mehr das innige Verhältnis zwischen Mutter und Tochterwie früher. Und Sonjas Sorge galt jetzt natürlich in erster Linie ihremSohn, ihre ganze Liebe konzentrierte sich auf ihn.

Im Sommersemester 1953 nahm Sonja ihr Studium wieder auf.Sie fand eine junge Frau, die selbst einen Säugling hatte und denkleinen Wolfgang tagsüber bei sich aufnahm. Die junge Frau ver-sorgte zusammen mit ihrer Mutter die beiden Babys. Die Kosten fürdie Betreuung des kleinen Wolfgangs trugen die Hartwigs, sie un-terstützten Sonja jetzt noch stärker. Sie freuten sich jedesmal, wennSonja am Wochenende mit Klein-Wolfgang nach Meuselwitz kam.Er war ein strammer Bursche, der wie sein Vater immer hungrig

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war und seine Mutter ständig in Atem hielt. Für Sonja war die Bela-stung durch Kind und Studium ungeheuer groß. Trotzdem schafftesie es, im Dezember 1953 ihr Examen abzulegen. Doch dann warsie am Ende ihrer Kräfte. Ein kleines Wunder kurz vor Jahresendehalf ihr, den Tiefpunkt schnell zu überwinden. Zwischen Weihnach-ten und Neujahr war Georg Thaler aus der Sowjetunion zurückge-kehrt und hielt sich bei seinem Bruder in Borna auf. Sonja fuhr so-fort zu ihm. Er erzählte ihr, seine fünf Schulkameraden, ein ihm zu-vor Unbekannter und er selbst seien im Juli 1952 von einem sowje-tischen Militärgericht in Potsdamwegen antisowjetischer Propagandaund – unter völlig unhaltbaren Beschuldigungen – wegen verschie-dener anderer Delikte zu 25 Jahren Zwangsarbeitslager verurteiltworden. Er wollte sie nicht mit dem Todesurteil belasten, denn erwar fest davon überzeugt, dass das Urteil nicht vollstreckt, sondernin eine Haftstrafe umgewandelt worden war. Das glaubten sie jaalle. Nach der Verurteilung seien sie voneinander getrennt und wohlalle in die Sowjetunion deportiert worden. Jetzt habe man ihn zu-sammen mit vielen anderen Deutschen aus verschiedenen Lagernoffiziell begnadigt und in die Heimat zurückgebracht. Er nehme an,dass das mit Stalins Tod im März des Jahres zusammenhänge. Sokönne man davon ausgehen, dass auch die anderen Inhaftierten ausMeuselwitz in absehbarer Zeit zurückkehren würden. Vielleicht seidas durch den Aufstand in der DDR im Juni des Jahres nur etwasverzögert worden. Das gab Sonjas Hoffnung neue Nahrung.

Das Jahr 1954 brachte dann für Sonja eine entscheidende Ver-änderung. Sie erhielt eine Stelle als Musiklehrerin an einer Ober-schule in Potsdam zugewiesen. Das riss sie zwar aus ihrer gewohn-ten Umgebung heraus, entfernte sie, beinahe unerreichbar, von denPersonen, die sich so liebevoll um sie gekümmert hatten: WolfgangsEltern, den Thieles, Frau Gerth und Inge Köhler. Außerdem berühr-te es sie eigenartig, dass sie jetzt gerade in die Stadt kam, in derWolfgang inhaftiert und verurteilt worden war, wie sie mittlerweilevon Georg Thaler wusste.Aber ihr blieb ohnehin keine andere Wahl.Die Stellen für Musiklehrer waren sehr rar, und sie war froh, über-haupt eine Stelle zu bekommen. So konnte sie endlich unabhängig

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sein und für sich und ihren Sohn selbst sorgen. Ihre Tätigkeit an derSchule in Potsdam bereitete ihr – nach kurzen Anlaufschwierigkei-ten – viel Freude. Wölfi, wie sie ihn jetzt nannte, ging tagsüber in dieKrippe, abends beschäftigte sie sich intensiv mit ihm. Er war einmunteres Kerlchen und hing sehr an ihr. Wenn sie ihn am Nachmit-tag von der Krippe abholte, stürmte er laut „Mama, Mama!“ rufend– auf sie zu, sobald er sie erblickt hatte. Ihr Sohn war ihr ganzesGlück, und seine Existenz half ihr, leichter über so manche schwereStunde hinwegzukommen. So vergingen Woche um Woche undMonat um Monat des Jahres 1954, ohne dass von ihrem geliebtenWolfgang ein Lebenszeichen kam. Im Laufe des Jahres hatten Thielesund auch Frau Gerth von ihren Söhnen Post aus der Sowjetunionerhalten. Es beunruhigte sie sehr, dass Wolfgang sich noch nicht beiseinen Eltern gemeldet hatte. Dabei hatte Georg Thalers Rückkehrdoch so große Hoffnungen in ihr erweckt.

Schon stand Wölfis zweiter Geburtstag vor der Tür. Er fiel aufeinen Montag. Sonja hatte das ganze Wochenende über hart gear-beitet, ihre kleine Wohnung geputzt und festlich geschmückt unddanach noch Plätzchen gebacken. So fühlte sie sich ziemlich er-schöpft, als sie ihren Sohn am zweiten Adventssonntag abends insBett gebracht hatte. Am nächsten Morgen aber strahlte der kleineMann, als er neben den beiden Lichtern am Adventskranz noch ei-nen bunten hölzernen Ring mit zwei Lichtern entdeckte, die er sogarausblasen durfte. Das hatte ihm mächtigen Spaß bereitet. Und danndie Geschenke. Er musste natürlich gleich die Plätzchen probieren,schmatzte dabei laut und klopfte sich auf den Bauch. Sein besonde-res Interesse fand aber ein kleines Auto aus Holz, das er, auf denKnien rutschend, mit lautem Geschrei durch das ganze Zimmer lenk-te. Sonja war sehr glücklich, weil ihr Sohn glücklich war. Sie hatteihre Mühe, ihn an diesem Morgen in die Krippe zu bringen. Dasklappte schließlich nur, weil sie ihm versprach, amAbend besonderslange mit ihm zu spielen.

In der Pause nach der zweiten Unterrichtsstunde fühlte sich Sonjaplötzlich todmüde. Sie beachtete das jedoch nicht weiter. Es war in

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letzter Zeit schon gelegentlich vorgekommen, dass sie sich nicht wohlfühlte, aber sie hatte das einfach ignoriert. Während der nächstenUnterrichtsstunde begann sich plötzlich alles um sie herum zu dre-hen. Sie versuchte sich an einer Bank festzuhalten, griff aber dane-ben und stürzte in den Gang zwischen zwei Bankreihen. Die Schü-ler alarmierten sofort den Lehrerkollegen im benachbarten Klas-senzimmer. Sonja wurde ins Lehrerzimmer getragen. Sie warbewusstlos. Die Kollegen riefen sofort den Krankenwagen. Mit Blau-licht wurde die Bewusstlose ins Krankenhaus gebracht. Aber eswar zu spät. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Alle Wiederbele-bungsversuche waren vergeblich. Man konnte nur noch den Todfeststellen. In ihrem Bemühen, alle Schwierigkeiten zu meistern, hattesie sich monatelang überfordert und dabei alle Warnzeichen über-hört. Ihr Körper hatte den ungeheueren Belastungen auf die Dauernicht standhalten können. Die ständigen Aufregungen und die inne-re Anspannung hatten ihr Herz entscheidend geschwächt. Dochkurioserweise war es wahrscheinlich ein Übermaß an Freude überdas Glücksgefühl ihres kleinen Sohnes am Morgen seines Geburts-tages, das den katastrophalen letzten Schritt ausgelöst hatte.

Der kleine Wölfi suchte seine Mutter überall. Er schien die Weltnicht mehr zu verstehen. Zunächst wurde er in ein Kinderheim ge-bracht, dann gab ihn Karl Swoboda sehr rasch zur Adoption frei.Sonjas Eltern waren als nächste Verwandte der Toten benachrich-tigt worden. Ihr Vater veranlasste die Überführung der Leiche nachRositz. Dort fand im allerengsten Familienkreise die Beisetzung statt.Die Hartwigs und Sonjas Bekannte erfuhren erst nach der Beerdi-gung von Sonjas Tod.

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7. Kapitel

Nach dem Prozess kamen die vier zum Tode Verurteilten entge-gen Wolfgangs Vermutung nicht in Einzelhaft. Wolfgang und RolfKöhler wurden zusammen in einer kleinen Zelle im Keller unterge-bracht, Siegfried Riedel und Heinz Binder in einer anderen. Die bei-den Zellen lagen ziemlich isoliert am Ende des Gefängnisgebäudes, sodass ihre Insassen keine Möglichkeit hatten, durch Klopfzeichen mitanderen Gefangenen Kontakt aufzunehmen.Auch untereinander wardas nicht möglich. So vergingen die Tage sehr langsam. Wolfgang undRolf unterhielten sich viel über wichtige und unwichtige Erlebnisseihrer Kindheit und Jugend, über die gemeinsame Schulzeit. Dabei ka-men sie auch gelegentlich auf die Aufführung des Sommernachts-traums zu sprechen. So schwelgten sie oft regelrecht in ihren Erinne-rungen. Schließlich glaubte jeder der beiden, über das Leben des an-deren bestens Bescheid zu wissen. Woche um Woche war so verstri-chen. Endlich, an einem Sonntag Mitte September, hatte das Wartenein Ende. Nach sorgfältiger Filzung wurden sie in eine Zelle einesNebengebäudes verlegt. Dort trafen sie auf drei Landsleute, die auchzum Tode verurteilt worden waren. Einer von ihnen, Rudi Winkler,konnte gut Russisch und wollte irgendwo aufgeschnappt haben, dasses nun nach Russland gehe. Wenig später wurden auch noch Sieg-fried und Heinz in diese Zelle gebracht. Sie alle waren zuversichtlich,sahen in dem bevorstehenden Transport ein positives Zeichen, auchwenn das Trennung von der Heimat und Zwangsarbeit bedeutete.Man würde sie doch nicht erst nach Russland bringen, wenn sie tat-sächlich erschossen werden sollten.

Um 18 Uhr begannen die Glocken der Kirche in der Nachbar-schaft des Militärstädtchens Nr. 7 zu läuten. Das Läuten war hier indiesem Nebengebäude noch deutlicher zu hören. Es wirkte eindringli-cher und feierlicher. Den Gefangenen schien es, als wolle der Klangder Glocken ihrenAbschied von der Heimat begleiten, ein letzter Gruß,Trost spendend und Hoffnung erweckend. Die Männer standen stillim Kreise, andächtig lauschend. Einer hatte die Hände zum Gebet

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gefaltet. Rudi war auf die Knie gefallen und betete leise. Wolfgang,direkt neben ihm stehend, verstand die Worte: „Gerechter Gott!“ Et-was in ihm sträubte sich sofort. Diesen Ausdruck konnte er in seinenGedanken nicht akzeptieren. Einen gerechten Gott konnte es dochnicht geben, nach allem was sich in der Welt ereignet hatte, nachAuschwitz und Katyn, Warschau und Hiroshima, Coventry und Dres-den und all den Synonymen für die Verbrechen der Vergangenheit.Und er stellte sich selbst die Frage: „Glaubst du eigentlich an Gott?“Er war einer konkreten Beantwortung dieser Frage bisher immer aus-gewichen, und auch jetzt vermochte er sich keine endgültigeAntwort

zu geben. So versuchte er, seine Gedanken etwas zu ordnen. – DieWunder der Natur, die Kraft des Lebens, das letztlich Unfassbare,das alles kann man natürlich als göttliches Prinzip betrachten. In die-sem Sinne sind alle Menschen Geschöpfe Gottes. Dann aber wirktGott auch in jedem von uns. Der Glaube an uns selbst, daran, dassunser Tun und Handeln richtig ist und einen Sinn hat, dieser Glaubegibt uns doch letztlich die Kraft und die Zuversicht, die wir im Lebenbrauchen. Ohne das könnten wir nicht existieren. Aber Gott ist nichtgerecht und erst recht nicht allmächtig. Er kann das Böse in uns häu-fig nicht bändigen und bezwingen. Das scheint das eigentliche Dilem-

ma dieser Welt zu sein. – Der Klang der Glocken war längst verklun-gen, als Rudi sein Gebet beendet hatte und sich erhob.Auch die ande-ren gaben jetzt ihre andächtige Haltung und ihr Schweigen auf. Kurzdanach wurde noch eine Gruppe von zehn Russen zu ihnen in dieZelle gebracht, die jetzt total überfüllt war. Als es dunkelte, wurdendie Gefangenen, Deutsche wie Russen, unter starker Bewachung zueinem nahe dem Eingangstor parkenden Militär-Lkw geführt, dessenLaderaum durch einen Kastenaufbau verschlossen war. Nachdemalle Gefangenen im Laderaum verschwunden waren, wurde die Türeines Gitters abgeschlossen, das den Hauptteil des Laderaums voneinem schmalen Bereich an seiner Hinterseite trennte. Dort postier-ten sich zwei Rotarmisten mit Maschinenpistolen. Schließlich verrie-gelte man die Tür des Kastens von außen. Bald darauf startete dasFahrzeug. Durch einen schmalen Spalt im oberen Teil des Aufbauskonnten Wolfgang und seine Kameraden nach draußen blicken.Aberalles, was sie infolge der schrägen Perspektive bei der Fahrt durch

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Potsdam sehen konnten, waren – in schnellem Wechsel – Deckenbe-leuchtungen von Wohnungen in der ersten Etage. Während sie in die-ser Nacht einem ungewissen Schicksal entgegenfuhren, saßen in die-sen Räumen Menschen beieinander, unterhielten sich, freuten sichmiteinander und genossen das Leben. Für die Gefangenen war daswie ein Blick durch das Schlüsselloch in ein Vorzimmer der menschli-chen Gesellschaft. So wurde ihnen die Hoffnungslosigkeit ihrer au-genblicklichen Lage auf besonders schmerzliche Weise bewusst ge-macht.

Nach einiger Zeit hielt der Lkw an einem taghell erleuchtetenGüterbahnhof. Auf einem Gleis stand ein einsamer Postwaggon, dernur an den beiden Enden Türen hatte. Durch ein Spalier von bewaff-neten Rotarmisten gingen die Gefangenen vom Lkw zum Postwaggon.Dieser erwies sich jedoch als gut getarnter Gefangenentransport-waggon. Er war innen in einzelne fensterlose Abteile unterteilt, dochdie Türen und dieAbgrenzungen derAbteile zum Gang hin bestandenaus netzartig zu einemGitter verbundenen, fingerdicken Metallstäben.Wolfgang, Rolf, Siegfried und Heinz wurden von ihren drei Landsleu-ten und den russischen Häftlingen getrennt in einem der Abteile un-tergebracht. Dann wurden die Gitter verschlossen. Ein Rotarmist –diesmal ohne Waffe – wurde vor der Gittertür postiert. Unter Andro-hung von strengster Bestrafung wurde ein absolutes Sprechverbot beijedem Halt erteilt. Vom Bahnhof Potsdam-Wildpark wurde der „Post-wagen“ von einer Lokomotive abgeholt und in nächtlicher Fahrt aufder Südroute um Berlin herum zum Berliner Ostbahnhof gebracht.Dort wurde er an einen Zug angekoppelt. Kurz darauf konnte man imWaggon hören, wie sich auf dem Bahnsteig ein Mann und eine Frau –wahrscheinlich Bahnangestellte – unterhielten. Plötzlich sagte derMann ziemlich laut: „Ich möchte nur wissen, was die in demWaggonwieder verschicken.“ Obwohl sicher jeder der Insassen gern geant-wortet hätte, wagte doch keiner einen Laut von sich zu geben. Washätte es schon gebracht? Wenig später wurden die Reisenden durchden Lautsprecher aufgefordert: „In den Schnellzug von Rostock nachFrankfurt/ Oder bitte einsteigen und die Türen schließen. Der Zugfährt gleich ab.“ Wenn jemand von den Passagieren des „Postwagens“

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noch Zweifel über das Ziel ihrer Reise gehabt haben sollte, dann wa-ren diese wohl jetzt endgültig ausgeräumt. Nachdem sich der Zug inBewegung gesetzt hatte, bekamen die Gefangenen ihren Proviant.Jeder erhielt einen Kanten Brot und einen Salzhering. Das war auchin der Folgezeit beim Transport die Tagesverpflegung. Im Laufe desTages wurde dann sehr sparsam Trinkwasser ausgeteilt. Den Wach-mannschaften war es ziemlich gleichgültig, dass der Salzhering star-ken Durst verursachte. Je weniger die Eingeschlossenen tranken, umsoseltener mussten die Wächter die Abteiltür öffnen, um einen Gefan-genen zur Toilette gehen zu lassen. Die Toilettentür musste natürlichimmer offen bleiben, damit keiner von dort aus einen Fluchtversuchunternehmen konnte. Über Warschau gelangte der Transport – im-mer im Schlepptau eines Schnellzugs – dann nach Brest-Litowsk.Dort wurde der „Postwaggon“ auf einAbstellgleis geschoben, und dieGefangenen mussten – wie üblich unter strenger Bewachung – einpaar Schritte zu einem bereitstehenden Lkw laufen, der jenem in Pots-dam sehr ähnelte. Allerdings war er hier als „Brotwagen“ getarnt, ertrug die Aufschrift „Chleb“ (Brot). Der Wagen brachte sie zu einemriesigen Gefängnisbau. Beim Betreten des Gefängnisses wurden dieGefangenen erst einmal sehr gründlich gefilzt. Sie mussten sich aus-ziehen, und es wurde jede Körperöffnung kontrolliert. Anschließendwurden sie durch die Entlausungskammer geschleust. Beim Anzie-hen der jetzt garantiert von Läusen, Wanzen und Flöhen freien Klei-dung frotzelte Rolf: „Glaubt mir, man wird uns bestimmt nicht erschie-ßen. Andernfalls würde man sich doch nicht die Mühe machen, unsvorher vom Ungeziefer zu befreien.“

Nach einem mehrtägigemAufenthalt in Brest-Litowsk brachte mandie sieben Deutschen im Rahmen eines größeren Transports nachMoskau. Dort war der Weißrussische Bahnhof Endstation. DerGefangenenwaggon wurde vom Zug getrennt und auf ein Nachbar-gleis geschoben. Dieser Bahnsteig war von Milizionären abgeriegelt,die ihre Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten imAnschlag hielten.Unter den Augen der in der Bahnhofshalle Anwesenden wurden dieGefangenen in ein vor dem Bahnhof stehendes „Brotauto“ getrieben.Wolfgang erschien das ziemlich paradox. Einerseits geschah die Über-

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führung in das Auto ganz öffentlich unter den Augen von mehrerenhundert Menschen, andererseits wurde die Fahrt durch die Stadt un-ter dieser Tarnung vorgenommen. Die Fahrt endete auf dem Hof derButyrka, einem älteren, zum Gefängnis umgebauten Gebäude mitweiten, hohen Fluren. Die Neuankömmlinge wurden wieder intensivgefilzt und einer körperlichen Begutachtung unterzogen, wobei zweiÄrztinnen sich besonders für die Schwänze interessierten. Wolfgangund Rolf landeten zu ihrer Freude wieder zusammen in einer Zelle, diefür zwei Personen doch relativ geräumig war. Allerdings gab es auchhier wieder nur die übliche Holzpritsche zum Schlafen, und die sanitä-ren Verhältnisse unterschieden sich kaum von denen in Potsdam. VonEnde September an schmorten die beiden hier und warteten auf dieUmwandlung ihrer Todesurteile in fünfundzwanzigjährige Haftstra-fen. Sie erzählten sich die alten Geschichten zum zweiten und zumdritten Male und entwarfen Pläne für die Zeit nach ihrer Rückkehr.Morgens um 6 Uhr weckte Radio Moskau sie über den Lautsprecherim Gefängnisgang mit der sowjetischen Nationalhymne. Den ganzenTag über bis zum Beginn der Nachtruhe um 22 Uhr, wurden sie mitdem Programm von Radio Moskau berieselt, mit Marschmusik,Kampf- undArbeiterliedern, gelegentlich auch mit klassischer Musik,mit Nachrichten, Reportagen und Berichten, die sie nicht verstanden.Am Nachmittag des 21. Oktober drangen aber plötzlich aus dem Laut-sprecher deutsche Laute an ihr Ohr, und sie begannen sofort, auf-merksam zuzuhören. Der Arbeitersänger Ernst Busch sang mit kräf-tiger, sonorer Stimme das Lied der Spanienkämpfer aus dem spani-schen Bürgerkrieg:

„Spaniens Himmel breitet seine SterneÜber unsern Schützengräben aus,Und der Morgen leuchtet in der Ferne,Bald geht es zu neuem Kampf hinaus.Die Heimat ist weit, doch wir sind bereit,Zu kämpfen, zu sterben für dich: Freiheit!“

Wolfgang lief es kalt über den Rücken, als er das Lied hörte,und auch Rolf schien davon eigenartig berührt zu sein. Am Ende

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donnerte Rolf wutentbrannt los: „Es ist doch eine Schande, wie dieKommunisten das Wort Freiheit missbrauchen. Da hätte doch derLautsprecher glatt zerspringen müssen.“ „Du hast natürlich recht“,versuchte Wolfgang den Wütenden zu beruhigen, „in unserer Lagehört sich das besonders schlimm an. Aber die Situation war natür-lich damals in Spanien ganz anders als jetzt.“ Wolfgang erinnertesich der leidenschaftlichen Bemerkungen von Hans Linke über dieFreiheit. Er setzte Rolf auseinander, wie nach Auffassung von HansLinke die Kommunisten den Begriff „Freiheit“ ursprünglich ver-standen haben und wie es dann im Laufe der Entwicklung zu sei-ner Pervertierung kam. „Ich will ja nichts beschönigen oder ent-schuldigen, für uns hört sich das jetzt wie blanker Hohn an. Abersieh doch einfach das Positive in dem Lied. Da heißt es auch:,Und der Morgen leuchtet in der Ferne!‘ So wird uns doch hof-fentlich eines Tages ein neuer Morgen leuchten.“

Genau einen Tag später, am 22. Oktober 1952, erschien am spä-ten Nachmittag ein Milizionär in der Zelle und rief Köhler, Rolf Fried-rich zum Mitkommen auf. Rolf und Wolfgang wussten, dass jetzt dieStunde der Entscheidung gekommen war. Die beiden umarmten sichzum Abschied. „Wir sehen uns bestimmt wieder“, sagte Rolf, ohnedass er seine Aufregung ganz verbergen konnte. „Davon bin ichüberzeugt“, antwortete Wolfgang mit fester Stimme. Im Hinausge-hen wandte sich Rolf kurz um. Ihre Blicke trafen sich noch einmal,dann wurde die Zellentür geschlossen.

Für Wolfgang begann jetzt eine Zeit des Wartens. Nervös schauteer immer wieder zur Tür. Aber es geschah nichts. Er ging in derZelle auf und ab. Die Wände schienen immer mehr auf ihn zuzu-kommen, ihn einzuengen und zu erdrücken. Die bange Frage: „Eroder ich?“ ließ ihn nicht mehr los. Er versuchte sich selbst zu beru-higen. Rolf war schließlich stärker belastet als er selbst. Unsinn, siewürden beide begnadigt. Sogar Sänger sollte ja begnadigt wordensein. Die Stunden verrannen. Unruhig, wie ein gehetztes Wild, liefer hin und her. Plötzlich ein Geräusch an der Tür. Doch es war nurdie Stimme des Postens: „Spatch!“ (Schlafen). Er legte sich hin.

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„Jetzt schlafen? Unmöglich!“ dachte er. Eine düstere, unheilvolleStimmung hüllte ihn ein. Bilder von wichtigen Stationen seines Le-bens tauchten vor ihm auf und wurden sofort wieder verdrängt. Erwürde seine Eltern, seine geliebte Sonja nie wiedersehen.Angst fraßsich in ihn hinein wie ein Raubtier, Stunde um Stunde. Plötzlich er-schien ihm einer Fata Morgana gleich eine Szene aus der Oper„Tosca“: Die Abschiedsszene des zum Tode verurteilten Malers, vi-suell und akustisch tiefe Verzweiflung widerspiegelnd. Und der Malerhatte das Gesicht von Siegfried Schenk, Wolfgangs totem Freund.In dem Augenblick wurde seine Hand von einer warmen, weichenFrauenhand ergriffen. Es war Sonjas Hand, die Geliebte war in sei-ner unmittelbaren Nähe. Eine seltsame, wunderbare Ruhe überkamihn, ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, und er schlief ein.

Im Juli 1959, fast sieben Jahre später, erhielten seine Eltern eineoffizielle Erklärung vom Roten Kreuz und Roten Halbmond derUdSSR, dass ihr Sohn, Hartwig, Wolfgang Ernst, am 23. Oktober1955 in der Sowjetunion verstorben sei. Die Mutter von SiegfriedRiedel erfuhr zur gleichen Zeit von der gleichen Stelle, ihr Sohn,Riedel, Siegfried Herbert, sei am 23. Oktober 1954 in der Sowjet-union verstorben. Eine ähnliche Mitteilung über den Tod ihres Ehe-gatten erhielt auch die Ehefrau von Heinz Binder. In einerKaiserslauterner Tageszeitung erschien am 3.August 1959 auf Ver-anlassung eines Bruders von Siegfried eine Todesanzeige, die so inder DDR nie gedruckt worden wäre:

„Erst jetzt erreichte uns die noch unfassbare Nachricht, dass meinSohn, unser innig-geliebter jüngster Bruder

Siegfried Riedel im Alter von 21 Jahren am 23. Oktober 1954nach leidvollen Jahren der Gefangenschaft irgendwo in den Weitender Sowjetunion verstorben ist. Immer wirst du in unseren Gedan-ken bei uns bleiben. Die Angehörigen“Tatsächlich lebte Siegfried 1954 schon zwei Jahre nicht mehr.

Am 22. Oktober 1952 war Rolf nach seiner Trennung von Wolf-gang zu einem Offizier gebracht worden. Dieser fragte ihn zuerst:„Du, Köhler, Rolf Friedrich?“ Als Rolf das bejahte, eröffnete ihm

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der Offizier: „Du nix kaputt, rabotatj, dwadzatj let,“ mit einer Bewe-gung des Schaufelns andeutend, dass Rolf nun 20 Jahre imZwangsarbeitslager arbeiten müsse. So ging er auch wie Joachim,Dieter und Georg den schweren Gang durch den Archipel GULAG(29). Während Georg im Dezember 1953 nach Deutschland zurück-gekehrt war, wurden die drei anderen nach dem Adenauer-Besuchin Moskau (30) im September 1955 um die Jahreswende 1955/56zusammen mit den letzten Kriegsgefangenen nach Deutschland zu-rückgeführt. Das sowjetische Führungsduo Chruschtschow/Bulganinhatte in den Gesprächen mit Adenauer behauptet, es gäbe keineKriegsgefangenen und Zivilgefangenen in der Sowjetunion mehr,sondern nur noch Kriegsverbrecher, die so schlimme Verbrechenbegangen hätten, dass sie als Menschen ohne Gesicht angesehenwerden müssten. Nachdem alle Spätheimkehrer zurückgekehrtwaren, wurde die schlimme Befürchtung, dass Wolfgang Hartwig,Siegfried Riedel und Heinz Binder in Moskau hingerichtet wordenwaren, allmählich zur traurigen Gewissheit.

Im Abschlussbericht der russischen militärischen Haupt-staatsanwaltschaft vom 24. Januar 1996 zum Prozess vom 14.- 16.Juli 1952, der archivierten Strafsache Nr. K-98060, wurde festgehal-ten (31): „Das Urteil des Militärtribunals in Bezug auf Heinz Binder,Wolfgang Hartwig und Siegfried Riedel wurde am 23.10.1952 voll-streckt. Der Ort der Erschießung und der Begräbnisort sind unbe-kannt.“ Alle Mitglieder der Gruppe betreffend heißt es dann weiter:„In der Sache gibt es keine Beweise für die Ausübung von Spionageoder von anderen ungesetzlichen Handlungen, wegen denen sie ver-urteilt worden sind. Nach Untersuchung der Handlungen der verur-teilten deutschen Bürger ergibt sich aus den Darlegungen der Schluss,dass Heinz Binder, Siegfried Riedel, Rolf Köhler, Wolfgang Hartwig,Joachim Thiele, Dieter Gerth und Georg Thaler auf der Grundlagedes Punktes A, Artikel 3 und 5 des Gesetzes der Russischen Födera-tion ,Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repression‘ vom18.10.1991 der Rehabilitierung unterliegen.“ Für drei von ihnen kamdie Rehabilitierung über 43 Jahre zu spät.

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Das Todesurteil gegen Klaus Sänger war am 21. Juli 1952 in Mos-kau vollstreckt worden. Konrad Funke wurde mit zwei anderenMitgliedern der Altenburger Gruppe im Dezember 1950 in Moskauhingerichtet, Karl-Heinz Börner am 28. April 1951, nachdem er imJuli 1950 beim Übergang von West-Berlin nach Ost-Berlin verhaf-tet worden war. Sie alle wurden Mitte der 90er Jahre von der russi-schen militärischen Hauptstaatsanwaltschaft rehabilitiert.

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Epilog

Mitternacht war längst vorüber. Christa Fritzsche hatte ihre aus-führliche Schilderung der Geschehnisse der 50er Jahre mit demVorlesen der wichtigsten Stellen aus demAbschlussbericht der rus-sischen militärischen Hauptstaatsanwaltschaft beendet. Ihr Gast hattevon Beginn an sehr aufmerksam zugehört. Als Christa von dem zu-fälligenWiedersehen zwischenWolfgang Hartwig und Sonja Swobodamehrere Jahre nach der Aufführung des „Sommernachtstraums“erzählte, begann ihr Kollege Naumann zu ahnen, dass diese Begeg-nung eine besondere Bedeutung für ihn gewinnen würde. Je mehrer von der Beziehung der beiden erfuhr, umso größer wurde seineinnere Unruhe. Bald begriff er, dass Wolfgang Hartwig sein Vatersein musste. Der Bericht über das Ende dieses Mannes in den Hän-den des KGB hatte ihn genauso schwer getroffen wie die Schilde-rung des plötzlichen Todes seiner Mutter an seinem zweiten Ge-burtstag. Er war tief traurig und schwer erschüttert. Natürlich hatteer unbedingt Aufklärung über seine Wurzeln haben wollen. Dochmit der Wahrheit über seine Herkunft hatte er auch ungeheuerSchmerzliches über das Schicksal seiner Eltern erfahren. Das hin-terließ tiefe Brandmale in seiner Seele. Als einziger Trost blieb ihmdie Gewissheit, dass eine große und wunderbare Liebe seine Mutterund seinen Vater verbunden hatte. Und er konnte sich selbst alslebendigen Beweis ihres kurzen – viel zu kurzen – Glücks fühlen.

Noch tief in Gedanken versunken, wollte Wolfgang aufbrechen.Da sprach Christa: „Wolfgang, du solltest jetzt nicht allein nach Hausegehen.“ Sie versuchte, das Du mit einem Sie zu korrigieren, doch erwehrte ab: „Das ist schon so in Ordnung. Nach dem, was du mir imLaufe dieser langen Nacht erzählt hast, fühle ich mich dir ganz be-sonders verbunden. Lass uns noch ein Stück gemeinsam laufen.“Und sie gingen hinaus in die sternenklare Nacht, durchquerten dieStraßen der gespenstisch leer wirkenden Stadt. Nur das Schlagender Kirchturmuhr unterbrach die Stille für kurze Zeit. Es war, alswürden sie von magischen Kräften zum Hainbergsee gezogen. Dort-

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hin führte sie ihr nächtlicher Spaziergang. Der ortsunkundige Wolf-gang überließ Christa auf dem steil ansteigenden Pfad am Süduferdes Sees den Vortritt. Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie denschmalen Weg aus. Als sie den höchsten Punkt über dem See kurzvor dem Wäldchen erreicht hatten, erklärte Christa: „Das muss derLieblingsplatz deiner Eltern gewesen sein.“ Hier verweilten die bei-den. Unter ihnen lag der See wie ein riesiges, dunkles Loch. Lang-sam dämmerte der Morgen. Die Konturen der Stadt hinter dem Seewurden allmählich sichtbar, es schien, als würden seltsame Gebildeaus der Erde herauswachsen. Da tauchte am Horizont – wie auseiner Versenkung – die Sonne auf. Unaufhaltsam schob sie sichnach oben, bis der ganze Feuerball scheinbar auf der Erde ruhte. Imnächsten Augenblick begann er aber auch schon, sich von ihr zulösen. Das Licht der aufgehenden Sonne durchflutete mehr und mehrdie umliegende Landschaft, breitete sich immer weiter aus, die Dun-kelheit Schritt für Schritt zurückdrängend. So konnten die Blicke derbeiden in Gedanken versunkenen Zuschauer in die Weite des Lan-des vordringen, tief und immer tiefer, als seien ihnen keine Grenzengesetzt. In weiter Ferne sahen sie drei dicht nebeneinander stehen-de Schornsteine, zwei große und einen kleineren. Sie wirkten wiedie Finger einer Hand, die sich gen Himmel reckten. Doch nachwenigen Minuten verschwanden die Schornsteine wieder, die sieeben noch deutlich wahrgenommen hatten. Sie schienen plötzlichwie hinter einer unsichtbaren Wand verborgen zu sein. Die Illusionder grenzenlosen Sicht war mit einem Schlag verflogen. Die Sonnehatte ihren Aufstieg am Himmel fortgesetzt und begann jetzt, sichim See zu spiegeln. Wenig später zeichnete sie eine blutrote Spur

durch das Wasser. Vor ihnen lag nun die Stadt und das Umland –vom Schleier der Nacht entblößt – in hellem Sonnenschein.

Die beiden verweilten noch einige Zeit an diesem für sie so denk-würdigen Ort. Dann sprach Wolfgang mit sehr bewegter Stimme:„Ich danke dir, Christa, von ganzem Herzen dafür, dass du mit dei-ner Schilderung der nun fast vier Jahrzehnte zurückliegenden Ereig-nisse mir entscheidend geholfen hast, das Rätsel meiner Herkunftganz zu lösen. Wenn es auch sehr schmerzlich für mich ist, so weiß

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ich jetzt doch wenigstens, wo meine Wurzeln liegen. Noch heutewerde ich nach Rositz fahren, das Grab meiner Mutter suchen unddort gleichzeitig meiner Mutter und meines Vaters gedenken.“ „Ichwürde dich auf diesem schweren Weg gern begleiten, Wolfgang,“bot Christa ihm an und hakte sich bei ihm unter. Dann traten sie denRückweg an.

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Anmerkungen

1. Teil

(1) Jugendschriftsteller (1842-1912), Abenteuergeschichten, beson-ders im indianischen und arabischen Milieu(2)Als Partei Hitlers Staatspartei während der nationalsozialistischenHerrschaft. Seit Juli 1934 einzige Partei in Deutschland(3) Heimatfest Meuselwitz, 2.-7.Juli 1938 – 100 Jahre Braunkohlen-bergbau. Herausgegeben vom Verkehrs- und HeimatvereinMeuselwitz/Thür.(4) Hitler forderte die Ablösung der sudetendeutschen Gebiete ausdem tschechoslowakischen Staatsverband und ihre Eingliederungins Deutsche Reich. Auf der Münchner Konferenz 1938 (Regie-rungschefs Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens)wurde seiner Forderung nachgegeben(5) Die Hauptschule wurde 1942 als weiterführende Schule nachdem 4. Schuljahr mit Englisch als Fremdsprache ins Leben gerufen(6) Auf dem Gelände des HASAG-Werks befand sich eine Außen-stelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Fremdarbeiter warenzwangsverpflichtete ausländische Zivilisten(7)Altenburger Echo. Organ derAntifaschistischen Front des Stadt-und LandkreisesAltenburg, 1. Jahrgang Nr. 6, vom 3. Juli 1945, S. 1

2. Teil

(8) Kurze Periode einer von Dubcek 1968 eingeleiteten wirtschaft-lichen und politischen Liberalisierung in der damaligen kommunisti-schen Tschechoslowakei, die noch im selben Jahr durch den Ein-marsch sowjetischer Truppen und Truppen anderer kommunistischerStaaten gewaltsam beendet wurde(9) Bestand aus den vier Oberkommandierenden der Streitkräfte inDeutschland – Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA –und übte als höchstes Machtorgan die oberste Gewalt aus(10) Vom 4.-12.Februar 1945. Hier wurden die Weichen für die Nach-kriegsentwicklung in Deutschland gestellt

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(11) Plan zum Wiederaufbau Europas mit Hilfe von langfristigenKrediten und Zuschüssen durch die USA(12) Bekannter Schlagersänger, der die „Caprifischer“ populär machte(13) Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin(14) Zu diesem Zeitpunkt einziges Stahlwerk in der SBZ in der Nähevon Saalfeld/Thür.(15)Aus feuerfestem Material bestehender unterster Teil des Hoch-ofens, in den sich nach längerem Gebrauch Schlacken- und Eisen-reste einbrennen(16) Freie Deutsche Jugend, die schon bald nach ihrer Gründung1946 von der SED kontrolliert wurde(17) Zu diesem Zeitpunkt waren die Zugangswege von der DDRund Ost-Berlin nach West-Berlin noch offen. In Zügen wurden je-doch gelegentlich Kontrollen durchgeführt(18) Treffen von Jugendlichen aus allen Teilen der DDR(19) Der spätere Parteichef der SED und erste Mann im Staat warzuvor Vorsitzender der FDJ gewesen(20) Leicht verändertes Zitat aus der Abiturientenzeitung „Memori-al 1950“(21) Die Handelsorganisation HO war eine staatliche Handelsketteder DDR. Bewirtschaftete Waren konnten dort frei zu stark erhöh-ten Preisen erworben werden(22) Die Organe des Ministeriums für Staatssicherheit hatten weit-gehende Vollmachten zur Überwachung des Lebens in der DDR(23) Komitee für Staatssicherheit(24) Militärische Organisation. Vorläufer der Nationalen Volksar-mee der DDR(25) Russischer grober Tabak, der aus den Stengeln der Tabakpflanzegewonnen wird(26) Strafgefangene durften häufig auch nach Verbüßung ihrer Strafedas Verbannungsgebiet (z.B. Workuta, Karaganda u.a.) nicht ver-lassen(27) Während des 1.Weltkriegs Kommandant eines deutschen Hilfs-kreuzers, der im Pazifik und Indischen Ozean britische Handels-schiffe kaperte und versenkte(28) Höchstes Staatsorgan der Sowjetunion

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(29) Synonym für das sowjetische Lagersystem in Anlehnung anSolschenizyns Roman „Archipel GULAG“. GULAG steht für Haupt-verwaltung der Lager(30) Im September 1955 besuchte eine Delegation der Bundesrepu-blik Deutschland unter Führung von Bundeskanzler Adenauer Mos-kau und vereinbarte nach zähen Verhandlungen mit der sowjetischenFührung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Der sowjeti-sche Ministerpräsident Bulganin und der Erste Sekretär der kom-munistischen Partei Chruschtschow versprachen dabei die Rück-kehr der noch in der Sowjetunion festgehaltenen Deutschen(31) Originalzitat in Übersetzung mit geänderten Namen. Die Urtei-le wurden vom sowjetischen Militärtribunal 48420 gefällt, einembesonders hochrangigem, mobilen Militärtribunal, das an verschie-denen Orten der DDR Prozesse durchführte