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8 Lebens|t|räume 04/09 Verschiedene Wege zur Wahrheit von Dr. Johannes Heinrichs Eine historisch überholte Fehde In der Abschlussrede eines 19-jährigen Abitu- rienten heißt es: „So können wir vielleicht die Überreichung der Reifezeugnisse so deuten, dass wir die Zeichen der Zeit verstanden hätten und gerüstet wären, an der Bewältigung der Aufgaben unserer Zeit mitzuarbeiten: an einer Technik, die nicht das Goldene Kalb der Menschheit ist, an einer Naturwissenschaft, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, an einer Reli- gion, die weitherzig genug ist, die Leistungen des Menschen anzuerkennen. Denn was war schädlicher in der Geschichte und was überflüs- siger als das seit Galilei bestehende Katz-und- Maus-Spiel zwischen Religion und Naturwis- senschaft?“ Nehmen wir für einen Moment die Begriffe „Re- ligion“ und „Glaube“ als gleichbedeutend, dann ist diese Aussage zentral und aktuell für unser Thema. Erweisen sich Glaube und Wissenschaft nicht gleichermaßen als unvernünftig, wenn sie sich gegenseitig befehden? Zum Beispiel auf der einen Seite ein fundamen- talistisches Bibelverständnis, das die Evolu- tionstheorie nicht zu integrieren vermag? Auf der anderen Seite ein Wissenschaftsfundamen- talismus von der Art eines Richard Dawkins (Der Gotteswahn, dt. 2007) der meint, mit sehr be- grenzten wissenschaftlichen Methoden Inhalte des religiösen Glaubens ad absurdum führen zu können? Fehlt nicht auf beiden Seiten gleicher- maßen der Sinn für eine ganzheitliche Vernunft? Für eine Vernunft, die wissenschaftlich und gläu- big zugleich sein könnte? Gegensätze von Kapitalismus bedingt? Dies ist in der Tat die Position des zitierten Ab- iturienten. Ich selbst war dieser „Klugschwät- zer“ , und zwar anno 1962! Aber dies ist heute, um gleich frei heraus zu sprechen, noch immer meine Position – wenngleich in verwandelter Form. Denn dazwischen liegen nicht nur auf meiner Seite Jahrzehnte ununterbrochener philosophisch-theologischer sowie sozialwis- senschaftlicher Studien und ebenso viele Jahr- zehnte spiritueller Übungen, Erfahrungen und Entscheidungen. Nicht gerade minder rasant hat die Welt sich seitdem verändert. Der „Fort- schrittstaumel“ , den der Abiturient damals schon so benannte und beinahe überwunden glaubte, hat sich nach dem Wegfall der atomaren Bedro- hung eher noch gesteigert. Er wurde vielleicht erst jetzt, durch die Weltwirtschaftskrise seit Herbst 2008, „nachhaltig“ gebremst. Hängt es mit diesem wissenschaftlich-tech- nisch geleiteten, doch vom Standpunkt einer ganzheitlichen Vernunft ziemlich unvernünftigen Fortschrittstaumel zusammen, dass auch die al- ten Gegensätze von Wissenschaft und Glaube weiterbestehen? Wir dürfen dabei nicht verges- sen, dass der Kapitalismus (mein Thema in der vorigen Ausgabe der „Lebensträume“) sich alle technisch-wissenschaftlichen Fortschritte als sein eigenes Verdienst zuschreibt. Die Identifi- zierung beider geht so weit, dass viele Men- schen sich einen technisch-zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit ohne das kapitalisti- sche System nicht einmal denken können. Karl Marx hat zu dieser Identifizierung beider sogar beigetragen, als er im Manifest der Kommunis- tischen Partei von 1848 die kapitalistische Bour- goisie als die fortschrittlichste Klasse rühmte, welche die Weltgeschichte bisher gesehen ha- be: „Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjähri- gen Klassenherrschaft massenhaftere und ko- lossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unter- jochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwen- dung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Te- legraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welch früheres Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der menschlichen Arbeit schlummerten?“ Nur der Schluss des Zitierten lässt durchblicken, dass der vom Fortschritt Begeisterte nicht dem Kapital , sondern der menschlichen Arbeit diese ungeheuren Kräfte zuschrieb. Oder will dieser größte Kritiker des Kapitalismus sagen, dass wenigstens im Anfang die kapitalistische Orga- nisation der menschlichen Arbeit diese ge- schichtlich einmalige Effizienz schuf? Lassen wir diese Frage hier offen. Inzwischen haben wir eine zweite, elektrische, und eine noch in vollem Gang befindliche dritte industriel- le Revolution, die elektronische, erlebt, über die wir immer noch allen Grund zu staunen haben. Richard Dawkins Marx/ Engels Es gibt nur eine Menschheit, und damit auch nur eine Religion. (Ajja)

Verschiedene Wege zur Wahrheit - Johannes Heinrichs · 2019. 12. 23. · beiden Bänden „Das Primzahlkreuz“ (1991) ich redigierend beteiligt sein durfte. Hier ist nicht einmal

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  • 8 Lebens|t|räume 04/09

    Verschiedene Wege zur Wahrheitvon Dr. Johannes Heinrichs

    Eine historisch überholte Fehde

    In der Abschlussrede eines 19-jährigen Abitu-rienten heißt es: „So können wir vielleicht dieÜberreichung der Reifezeugnisse so deuten,dass wir die Zeichen der Zeit verstanden hättenund gerüstet wären, an der Bewältigung derAufgaben unserer Zeit mitzuarbeiten: an einerTechnik, die nicht das Goldene Kalb derMenschheit ist, an einer Naturwissenschaft, diesich ihrer Grenzen bewusst ist, an einer Reli-gion, die weitherzig genug ist, die Leistungendes Menschen anzuerkennen. Denn was warschädlicher in der Geschichte und was überflüs-siger als das seit Galilei bestehende Katz-und-Maus-Spiel zwischen Religion und Naturwis-senschaft?“

    Nehmen wir für einen Moment die Begriffe „Re-ligion“ und „Glaube“ als gleichbedeutend, dannist diese Aussage zentral und aktuell für unserThema.

    Erweisen sich Glaube und Wissenschaftnicht gleichermaßen als unvernünftig,wenn sie sich gegenseitig befehden?

    Zum Beispiel auf der einen Seite ein fundamen-talistisches Bibelverständnis, das die Evolu-tionstheorie nicht zu integrieren vermag? Aufder anderen Seite ein Wissenschaftsfundamen-talismus von der Art eines Richard Dawkins (Der

    Gotteswahn, dt. 2007) der meint, mit sehr be-grenzten wissenschaftlichen Methoden Inhaltedes religiösen Glaubens ad absurdum führen zukönnen? Fehlt nicht auf beiden Seiten gleicher-maßen der Sinn für eine ganzheitliche Vernunft?Für eine Vernunft, die wissenschaftlich und gläu-big zugleich sein könnte?

    Gegensätze von Kapitalismus bedingt?

    Dies ist in der Tat die Position des zitierten Ab-iturienten. Ich selbst war dieser „Klugschwät-zer“, und zwar anno 1962! Aber dies ist heute,um gleich frei heraus zu sprechen, noch immermeine Position – wenngleich in verwandelterForm. Denn dazwischen liegen nicht nur aufmeiner Seite Jahrzehnte ununterbrochenerphilosophisch-theologischer sowie sozialwis-senschaftlicher Studien und ebenso viele Jahr-zehnte spiritueller Übungen, Erfahrungen undEntscheidungen. Nicht gerade minder rasanthat die Welt sich seitdem verändert. Der „Fort-schrittstaumel“, den der Abiturient damals schonso benannte und beinahe überwunden glaubte,hat sich nach dem Wegfall der atomaren Bedro-hung eher noch gesteigert. Er wurde vielleichterst jetzt, durch die Weltwirtschaftskrise seitHerbst 2008, „nachhaltig“ gebremst.

    Hängt es mit diesem wissenschaftlich-tech-nisch geleiteten, doch vom Standpunkt einerganzheitlichen Vernunft ziemlich unvernünftigenFortschrittstaumel zusammen, dass auch die al-

    ten Gegensätze von Wissenschaft und Glaubeweiterbestehen? Wir dürfen dabei nicht verges-sen, dass der Kapitalismus (mein Thema in dervorigen Ausgabe der „Lebensträume“) sich alletechnisch-wissenschaftlichen Fortschritte alssein eigenes Verdienst zuschreibt. Die Identifi-zierung beider geht so weit, dass viele Men-schen sich einen technisch-zivilisatorischenFortschritt der Menschheit ohne das kapitalisti-sche System nicht einmal denken können. KarlMarx hat zu dieser Identifizierung beider sogarbeigetragen, als er im Manifest der Kommunis-tischen Partei von 1848 die kapitalistische Bour-goisie als die fortschrittlichste Klasse rühmte,welche die Weltgeschichte bisher gesehen ha-be:

    „Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjähri-gen Klassenherrschaft massenhaftere und ko-lossalere Produktionskräfte geschaffen als allevergangenen Generationen zusammen. Unter-jochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwen-dung der Chemie auf Industrie und Ackerbau,Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Te-legraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile,Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus demBoden hervorgestampfte Bevölkerungen –welch früheres Jahrhundert ahnte, dass solcheProduktionskräfte im Schoß der menschlichenArbeit schlummerten?“

    Nur der Schluss des Zitierten lässt durchblicken,dass der vom Fortschritt Begeisterte nicht demKapital , sondern der menschlichen Arbeit dieseungeheuren Kräfte zuschrieb. Oder will diesergrößte Kritiker des Kapitalismus sagen, dasswenigstens im Anfang die kapitalistische Orga-nisation der menschlichen Arbeit diese ge-schichtlich einmalige Effizienz schuf?

    Lassen wir diese Frage hier offen. Inzwischenhaben wir eine zweite, elektrische, und einenoch in vollem Gang befindliche dritte industriel-le Revolution, die elektronische, erlebt, über diewir immer noch allen Grund zu staunen haben.

    Richard Dawkins

    Marx/ Engels

    Es gibt nur eine Menschheit, und damit auch nur eine Religion. (Ajja)

  • 9Lebens|t|räume 04/09

    Untergrabung einer ganzheitlichen VernunftZurück zu der Frage: Hängt die noch immer vor-handene Kluft von Glauben und Wissenschaftnicht zum guten Teil mit diesem ungebrochenenFortschrittstaumel zusammen, von dessen„Nachhaltigkeit“ sich der Abiturient von 1962wirklich noch keine Vorstellung machen konnte?Ich denke, dass dies in der Tat der Fall ist, undzwar um so mehr, als der technisch-wissen-schaftliche Fortschritt durch das kapitalistischeVorzeichen verfremdet, das heißt seinen eige-nen Trägern entfremdet war: Er war nicht eineSache des sich kollektiv und gemeinsam selbstentfaltenden Menschen, sondern blieb eineKlassenveranstaltung: Die meisten Beteiligtendienten diesem Fortschritt „in der Furcht desHerrn“ (G.W. F. Hegel, im berühmten Abschnitt„Herr und Knecht“ seiner Phänomenologie desGeistes), wobei die Herren nicht, wie im Frühka-pitalismus persönlich identifizierbar zu bleibenbrauchen. Es genügt die Herrschaft immer an-onymer werdender Systemzwänge. DieseSelbstentfremdung betrifft nicht allein die aus-führenden Techniker, sondern gleichermaßendie an den wissenschaftlichen Grundlagen Ar-beitenden, die Wissenschaftler.

    Unter solchen Verhältnissen ist an dieKultivierung einer ganzheitlichen

    wissenschaftlichen Vernunft kaum zudenken. Jeder hat vielmehr seine Rolle alsRädchen in einem Wissenschaftssystem zu

    spielen, das unter finanziellen,wirtschaftlichen Zwängen steht.

    In den Naturwissenschaften sind es direkt dieMechanismen der Wissenschaftsförderungdurch Drittmittel bzw. (in den USA vor allem)

    durchaus die „Erstmittel“ der Industrie. Kurz, ichsehe in dem anhaltenden technologischen Fort-schrittstaumel unter kapitalistischem Vorzei-chen vielfältige Gründe, warum Wissenschaftkeineswegs mit ganzheitlicher Vernunft zu-sammenfällt.

    Herrschaftszüge der Wissenschaft

    Zeigt nicht deshalb die Wissenschaft soviele Herrschafts-Züge, durch die z.B.

    zahlreiche Projekte einer ganzheitlichenVernunft abgewiesen, unterdrückt und

    lächerlich gemacht werden?

    Nehmen wir – alles im Bereich der Naturwis-senschaft – die Dramen um Niklas Tesla und sei-ne Erfindungen, um Wilhelm Reich und ViktorSchauberger, um Fritz-Albert Popp und um Ru-pert Sheldrake und manche andere als Beispie-le – um von der ältesten menschlichen Wissen-schaft, jener Verbindung aus Langzeiterfahrung,mathematisch-astronomischer Berechnung undlogischer Kombinatorik menschlicher Archety-pen hier schamvoll zu schweigen, weil dies eingroßes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte fürsich ist, mit viel Licht und Schatten.

    Ich zähle zu jenen gegenwärtigen Namen auchden zweifellos genialen Physiker, Chemiker undMathematiker Peter Plichta, an dessen erstenbeiden Bänden „Das Primzahlkreuz“ (1991) ichredigierend beteiligt sein durfte. Hier ist nichteinmal irgendeine Nähe zum Spirituellen, gar

    Esoterischen, wie bei den Vorgenannten das,was die Fach-Leute zurückschrecken lässt, son-dern einmal die autobiografische Enthüllung,wie wenig sich große Teile des bestallten Er-kenntnisbeamtentums um Wahrheit scheren,wenn es um andere Vorteile geht; ferner einfachder Anspruch eines aufs Ganze dringenden An-satzes, der vor keiner Frage nach dem Warumzurückschreckt wie bei der üblichen, akade-misch dressierten wissenschaftlichen Vernunft– die eigentlich, nach dem SprachgebrauchKants und Hegels gar keine Vernunft mehr ist,sondern nur noch der berechnende Verstand.

    Verstand und Vernunft bei Kant

    Kant definiert in seiner Kritik der reinen Vernunft

    • den Verstand als Vermögen der begrenztenBegriffe,

    • Vernunft aber als Vermögen der „Einheit derVerstandesregeln unter Prinzipien“ (B 359-363)sowie das Vermögen der regulierenden, unbe-dingten Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterb-lichkeit (B 671ff).

    Vernunft ist das menschliche „Vernehmungs-vermögen“ (vgl. Kluge: Etymologisches Wörter-buch), das sich durch unbegrenzte Offenheitauszeichnet, obwohl es aus dem ganz punk-tuellen Vermögen zur Selbstreflexion hervor-geht, das den Menschen auszeichnet. Philoso-phie verstehe ich von daher als die methodischdisziplinierte Entfaltung dieses Reflexionsver-mögens. Der Besitz dieses sich selbst spiegeln-

    G.W.F. Hegel

    Wilhelm Reich/ Viktor Schauberger

    Fritz Albert Popp/ Rupert Sheldrake

    Immanuel Kant

    Versuche erst, dein "Ich" zu erkennen. Danach kannst du über die Welt nachdenken. (Ajja)

  • 10 Lebens|t|räume 04/09

    den Spiegels aller Dinge (als Bewusstseinsge-halte) ist es, was die Philosophie vor allen ob-jektgerichteten Naturwissenschaften auszeich-net. Wer meint, Philosophie könne diesen nurdie Schleppe nachtragen wie einst der Theolo-gie, hat nicht begriffen (selbst wenn er sich zurphilosophischen Zunft zählt), dass sie ein ganzeigenes Licht trägt, eine ganz eigentümlicheund unverwechselbare Erkenntnisquelle hat. Ihrist aufgegeben, die Hüterin einer ganzheitlichenVernunft zu sein.

    Die Lage der Geistes-wissenschaften

    In den Geisteswissenschaften gestaltet sich dieLage noch dramatischer als in den Naturwis-senschaften. Die Sprachwissenschaften, diePsychologie und die Sozial- oder Handlungswis-senschaften mussten sich sicherlich von ihrerMutterdisziplin, der Philosophie, emanzipierenund mit ihren jeweiligen empirischen Methodenje für sich ausbilden. Doch bei dieser Differen-zierung ging weitgehend die Integration in ge-meinsamen, begrifflich-logischen Grundlagenverloren – was früher einmal in der „Philosophi-schen Fakultät“ gewährleistet sein sollte. DieEmanzipation geschah vor noch nicht einmal100 Jahren.

    Statt dass um so intensiver an einererneuerten Logik der Reflexion

    (dies die Bedeutung von „transzendentalerLogik“ im Sinne Kants) gearbeitet wurde,

    entgleiste gerade in Deutschland, dem unbestrittenen Zentrum der neueren

    europäischen Philosophie, die streng begriffliche Arbeit und wurde

    einerseits zum bloßen Historisieren, somit die Philosophie zur bloß

    philologischen Beschäftigung mit ihren früheren Texten.

    Anderseits geriet sie zu einem halb mystischenGeraune, dem die (freilich noch nicht abgeklär-te) begriffliche Klarheit und Strenge der deut-schen Idealisten im Gefolge Kants, also vor al-lem Fichte, Schelling und Hegel, fehlte. Ichschreibe dies als Verfasser einer philosophi-schen Semiotik (Sinnprozesslehre), zu welcherauch der Sinnprozess Mystik gehört. Doch wen-de ich mich energisch gegen die Verwechslungund Verwischung der Ebenen von Wissenschaft,Kunst und Mystik.

    Der endgültige Zusammen-bruch des ganzheitlichendeutschen Idealismus

    Vom „Zusammenbruch des deutschen Idea-lismus“ hatte man schon bald nach Hegels Tod(1831) gesprochen, als noch der Hegelianismus„rechter“ (religiös-konvervativer) wie „linker“(atheistischer und sozialistischer) Prägung dasgesamte europäische Geistesleben intellektuellbeherrschte. De facto herrschte jedoch gar nichtmehr der Intellekt, sondern die immer schnellermarschierende industrielle Revolution einer-seits und die sich gegen den philosophisch-freien Geist (mochte dieser noch so frisch undfromm sein) stemmende kirchlich-politischeRestauration anderseits.

    Durch diese unheilige Allianz wurde der philoso-phisch-geisteswissenschaftliche Geist inDeutschland und Europa im fortschreitenden19. Jahrhundert zermalmt! Den deutschen Ide-alisten wäre eine Entgegensetzung von Glaubeund Vernunft völlig fremd gewesen. Ihr mehroder minder gemeinsames Bestreben war esgewesen, das Vernunft-, d.h. Logosgemäße imüberlieferten religiösen (vorzugsweise christ-lichen) Glauben zu erkennen und vom bloß „po-sitiv Religiösen“, geschweige denn Abergläubi-schen, zu sondern.

    Der Zusammenbruch des deutschen Idealismuswurde jedoch erst perfekt durch die Auflösungder akademischen Philosophie in Philosophie-geschichte einerseits und anderseits der Auf-fassung von Philosophie in Halbpoesie undHalbmystik, wie sie sich vor allem beim führen-den Philosophen der Weimarer Republik, beiMartin Heidegger, ereignete. Dagegen fallenandere große und achtsame Namen wie ErnstCassirer, Paul Tillich, Karl Jaspers in dieser Hin-sicht kaum ins Gewicht, zumal Heidegger zu-

    nächst die politische „Bewegung“ auf seinerSeite hatte – merkwürdigerweise, ja sehr merk-würdigerweise sogar den Zeitgeist noch nachdem Zweiten Weltkrieg.

    Begriffswirrwarr am Beispiel „Diskurstheorie“Die Folge dieser geistesgeschichtlichen Ent-wicklung: Der Begriffswirrwarr, der heute in denGeisteswissenschaften herrscht, ist für einenNaturwissenschaftler gar nicht vorstellbar.Wenn man diesbezüglich Zuflucht etwa bei demtonangebenden Kopf seit der 68-er Bewegungsucht, bei Jürgen Habermas, wird man bitterenttäuscht werden. (Vgl. dazu meinen „OffenenBrief an Jürgen Habermas“, im Anfang meinesBuches Handlungen, auch im Internet unter die-sen Stichworten.)

    Es nimmt nicht Wunder, dass nachOrientierung suchende Menschen sich eher– von den jüngsten, die Augen öffnenden

    Vorfällen abgesehen - in Richtung Ratzingerund traditionellem religiösem Glaubenflüchten als in Richtung philosophische

    Aufklärung.

    Denn in ihren gegenwärtigen akademischenVertretern bietet diese so genannte philosophi-sche Aufklärung bloß dünne, abgestandeneLuft, nicht die frische und klare Brise ganzheit-licher Vernunft. Man hantiert z.B. mit einem dop-pelten Begriff von Diskurs: einmal in dem um-fassenden Sinn des französischen und engli-schen discours(e): Rede überhaupt. Dann aberJohann Gottlieb Fichte/ Friedrich Wilhelm Josef Schelling

    Karl Jaspers

    Wir kommen aus dem Licht und werden auch wieder zumLicht zurückkehren. Das ist der Prozess. Das ist der Weg. (Ajja)

  • 11Lebens|t|räume 04/09

    in dem normativen und anspruchsvollen Sinnvon Diskurs als rationaler Argumentation. Bei-des ist wahrhaftig nicht dasselbe. Doch vomletzteren leiht man sich das wissenschaftlicheAnsehen, vom ersteren den modischen, mondä-nen Sound. Das Ganze nennt man Diskurstheo-rie, gar Diskursethik, z.B. des Politischen.

    Woran es liegt, dass nicht beachtet wird, wor-auf ich (und Andere auf ihre Weise) schon einDutzend mal hingewiesen habe, darf der Leserdreimal raten:

    Ein akademischer Diskurs der Argumente, derVoraussetzung dafür wäre, dass diese Argu-mente gehört würden, existiert eben nicht. Nurder modisch-politische Diskurs existiert. In ihmfinden folgerichtig die Modebewussten oderGünstlinge der Mode(schöpfer) Gehör.

    Wenn echte Verstandesargumente (außerhistorischen Analysen) unter solchen

    Bedingungen schon kaum Chancen haben,

    so liegen die Chancen für eineganzheitliche Vernunft im derzeitigen

    pseudo-geisteswissenschaftlichen„Diskurs“ etwa bei Null.

    M. E. ist das diskursive (argumentative) Niveauder derzeitigen Mainstream-Philosophie so nie-drig wie seit Jahrhunderten nicht. Peter Sloter-dijk, Habermas` publizistischer Gegenspieler,liefert mit seinen literarischen Assoziationsket-ten nicht gerade den Gegenbeweis. Wohl gibtes zahlreiche, durchaus wertvolle philosophie-historische Monographien und Sammlungen,die heute als Philosophie betrachtet werden.Das ist um so verwunderlicher, als die 68-er-Be-wegung eine ausgesprochen philosophisch-po-litische war.

    Seit langem hatte Philosophie nicht mehr sovielChancen, ins politische und alltägliche Lebengestaltend einzugreifen. Doch die Philosophieder Frankfurter Schule zehrte vom alten Erbe.(Lehrreich dazu die Schrift von F. Engels: LudwigFeuerbach und der Ausgang der klassischendeutschen Philosophie, in: Marx/Engels: Ausge-wählte Schriften II.) Konstruktiv-systematischeWeiterentwicklungen fehlten ebenso wie einkonstruktiver, nicht bloß negativ-kritischer De-mokratie- und Gesellschaftsentwurf.

    Man muss im akademischen Bereich voneinem Verfall der ganzheitlichen Vernunft

    sprechen.

    Ist diese in die Theosophie ausgewandert? DieAntwort auf diese berechtigte Frage würdeganz neue Betrachtungen erfordern. Die Theo-sophie H.P. Blavatkys, A. Baileys und der Agni-Yoga-Lehre des russischen Ehepaars Roerichenthält viel philosophischen Stoff, der eine zünf-tig-akademische Aufbereitung erfordern wür-de, ähnlich wie die seriöse Astrologie.

    Eine Esoterik dagegen, die gering vomganzheitlich-vernünftigen Denken denkt

    und auf neue Weise Glaube und Liebegegen das Denken ausspielt, verfehlt ihreeigentliche Aufgabe für das Wassermann-Zeitalter, das (auch) ein Denk-Zeitalter ist.

    Mit einer neuerlichen Entgegensetzung vonGlaube und Liebe gegen die große Aufgabe desMenschen, selbst zu erkennen, gewinnt dieesoterische Strömung auch nicht genügendKraft gegenüber den sie bekämpfenden alten„Glaubens“-Mächten. Sie setzt dann nur einneues Fürwahrhalten aus zweiter Hand gegendas alte – statt aus der Einheit von Erfahrungund Denken zu schöpfen, der einzigen Autorität,die im Wassermann-Zeitalter Bestand habenwird.

    Selbst wenn uns erleuchtete Meisterhelfen sollten (was ich sehr hoffe), liegtihre Autorität einzig im Selbsterfahrenen

    und Selbstgedachten, ein riesiger,entscheidender Unterschied zum Fische-

    Zeitalter.

    Untergrabung der Geistes-wissenschaften durchstaats-kirchen-rechtlichePrivilegienBevor ich auf den eigentlichen Glauben im Ver-hältnis zu Wissenschaft zu sprechen komme,

    Peter Sloterdijk

    Jürgen Habermas

    H.P. Blavatsky/ Alice Bailey

    Buch, herausgegeben von peter Neuner im Herder-Verlag, ISBN 3451021951

    Entferne die Dualität von "gut und schlecht", und der Verstand wird friedvoll sein. (Sri Brahmam)

  • 12 Lebens|t|räume 04/09

    möchte ich auf die zusätzliche Schwächung undUntergrabung der Freiheit der Geisteswissen-schaften durch die für eine echt pluralistischeGesellschaft unrechtmäßigen Privilegien derchristlichen Kirchen an den Universitäten einge-hen (um von den Schulen und Kindergärten hierzu schweigen). Infolge des Konkordats zwi-schen Hitler und dem Vatikan von 1933, das in-zwischen und viele Einzelkonkordate der Länderabgelöst und durch entsprechende Verträge mitden evangelischen Landeskirchen „gerecht“ er-gänzt wurde, genießen die beiden großen Kon-fessionen (dazu neuerdings in wachsendemMaße die Jüdische Gemeinde sowie konse-quenterweise nun auch Vertreter des Islams)Privilegien an unseren Universitäten, die wis-senschafts- wie verfassungstheoretisch in kei-ner Weise zu rechtfertigen sind.

    Zu rechtfertigen wären Religionswissenschaft-liche Fakultäten, an denen auch über diese Kon-fessionen informiert würde – nicht aber diemilliardenschwere Ausstattung fast all unsererUniversitäten mit mindestens zwei konfessio-nellen Fakultäten, an denen die künftigen Kon-fessionsdiener ausgebildet werden, zudem inWissenschaften, die nach neuzeitlichem Wis-senschaftsverständnis gar keine Wissenschaf-ten sein können, nachdem sie sich selbst als„Glaubenswissenschaften“ verstehen.

    Man muss sich einmal überlegen, wasdiese (von konservativen

    Verfassungsrechtlern mit der christlichenTradition Europas gerechtfertigte)Bevorzugung der Kirchen für das

    universitäre und intellektuelle Leben einesGemeinwesens bedeutet!

    Es geht mir in keiner Weise um antireligiöse Po-lemik, sondern um die Bedeutung sauber defi-nierter Geisteswissenschaften für unser Ge-meinwesen. Der Sinn für das, was Wissen-schaft ist und sein könnte, ist entweder ganzoder gar nicht sauber entwickelt.

    Dieser Sinn wird nicht zuletzt durch die mächti-ge Gegenwart von Pseudo-Geisteswissen-schaften mitten in der staatlich finanziertenWissenschaft gründlich korrumpiert. Der Kopfdes zum Himmel stinkenden gesamtgesell-schaftlichen Fisches hat sowohl eine spirituelleSeite (die Letztwerte des Gemeinwesens) wieeine wissenschaftliche Seite (als Teil der kultu-rellen Werte), um in diesem Zusammenhang Po-litik und Wirtschaft einmal außen vor zu lassen.

    Es ist fatal für das Gemeinwesen, wenn man esals unabänderbare Gegebenheit hinnimmt,dass sich Wissenschaften und ihr Personal inder geisteswissenschaftlichen Forschung ehereinem kirchen-politischen Gemauschel verdan-ken als der großartigen Idee der Universität,das heißt des freien Diskurses auf allgemeinverbindlichen Grundlagen und Einsichten.

    Philosophie und Geisteswissenschaften, diedarin ständig Abstriche machen müssen, weilaufgrund historischer Privilegien ständig Glau-bensansprüche dazwischen treten, über dienicht mehr diskutiert werden kann, geben sichselbst auf. Kein Wunder, dass die Maßstäbe fürwissenschaftlichen Diskurs in allen geisteswis-senschaftlichen Disziplinen so leicht verlorengehen können, wie es umrissen wurde.

    Glaube

    Wir kommen endlich zum Glauben. Wenn es ei-ne Konkurrenz zwischen Glaube und Vernunftgäbe, müsste der Glaube in solchen Zeiten desdürftigen Vernunftgebrauchs (im Unterschied

    zum ausgeprägten, rechnenden und beredtenVerstandesgebrauch!) Hochkonjunktur haben.Doch was soll eigentlich unter „Glaube“ ver-standen werden, da hier sicher nicht von Kir-cheneintritten oder –austritten die Rede ist?

    1. Für-wahr-halten einer religiösen Lehre, dieman zwar nicht selbst einsieht, die man jedochaufgrund der (im weiteren Sinn verstandenen)kirchlichen Autorität akzeptiert? Zweifellos wur-de der religiöse, besonders der christliche Glau-be, jahrtausendelang meist so verstanden.Doch wir sehen, dass es sich im Grunde um ei-nen Autoritätsglauben handelt:

    Ich akzeptiere Wahrheiten, weil die Autorität sielehrt. Vorausgesetzt ist dabei der Glaube an die-se Autorität der „heiligen Kirche“. Ihr vertraueich. Wenn solcher Glaube etwas Religiösesgegenüber anderem Autoritätsglauben hat,dann nicht allein wegen der Inhalte, die meinezeitliche und ewige Existenz betreffen, sondernweil die Kirche selbst als heilige Gemeinschafterlebt oder selbst geglaubt wird. Ähnlich glaubtein Kind seinen Eltern, weil es sie als stark undfast „allwissend“ erlebt.

    2. Gegenüber solchem Glauben als Fürwahrhal-ten dessen, was ich selbst nicht einsehe, beton-te Luther die Komponente des Vertrauens aufGott. Die kirchliche Vermittlung solchen Vertrau-ens blieb bei diesem vielleicht stark mystisch,also selbst erlebenden Reformator ausgeblen-det. Nach evangelischer Lehre ist es allein die-se vertrauende Selbstauslieferung des Gläubi-gen an Gott, die den Menschen „rechtfertigt“.

    3. Nun geht uns Heutigen, an Wissenschaft undVernunft Geschulten, das Wort „Gott“ nichtmehr so kindlich über die Lippen, vor allem,nachdem so unendlich viel Missbrauch mit die-sem Wort getrieben wurde. Ein Theologe wieder oben schon erwähnte, 1933 in die USA aus-gewanderte Paul Tillich bestimmt Religion als„Verhältnis zu dem, was uns unbedingt angeht“(Systematische Theologie in 3 Bänden, engl. Ori-ginal 1963) und Glaube als ein mutiges Festhal-ten an den diesbezüglich erkannten „ultimatevalues“. Eine andere Schrift Tillichs heißt Mutzum Sein (Courage to be).

    Dieser „Mut zum Sein“, die grundlegende Da-seinsbejahung und das Festhalten an den eige-nen diesbezüglichen Einsichten und Werterfah-rungen kann sinnvoll der Glaube eines Men-schen genannt werden, wie vorsichtig oder un-

    Martin Luther

    Paul Tillich

    Die Einzelseele verliert ihre Existenz als Individuumdurch richtiges Handeln und Wissen. (Ajja)

  • 13Lebens|t|räume 04/09

    vorsichtig auch immer dieser sich inhaltlich aus-artikulieren, in den wechselnden Herausforde-rungen des Lebens ausbuchstabieren mag.

    Wir sind mit diesem dritten Glaubensbegriff na-türlich weit von Glauben als Fürwahrhalten auf-grund einer auf irgendwelchen Gründen akzep-tierten Autorität entfernt, auch von dem nochrecht kindlich und zugleich patriarchalisch ge-prägten Gottesvertrauen Luthers. Es sollen hiergar nicht die Gegensätze betont werden. Dochbei näherem Hinsehen laufen für ein modernes,selbstreflektiertes Bewusstsein die beiden er-sten Bedeutungen von Glauben in den drittenzusammen. Auch Glauben als Stehen zur eige-nen Göttlichkeit ist nicht allein (als egoistisch zudiffamierende) Selbstbejahung, sondern darinzugleich Bejahung der Ganzheit des Seins undseines Sinnes, meinetwegen der „Schöpfung“(wenn man dieses Wort nicht auf die traditionel-le Dualität von Schöpfer und Geschöpf oder auf„Schöpfung aus dem Nichts“ festlegt). Andersgesprochen:

    Glaube kann nur Selbstbejahung inBejahung des Anderen sowie

    Selbstbejahung vom Anderen auch vomgöttlichen Anderen her, sein.

    Glaube in dem Sinn ist kein bloß selbstbezoge-ner Monolog, sondern Selbstbezug-im-Fremd-bezug, ein dialogisches Geschehen. (Eine aus-führlichere Darlegung dieses Glaubens-Ver-ständnisses durch den Verfasser findet sich imWörterbuch der Religionspsychologie, hg. vonS. R. Dunde, Gütersloh 1993, Artikel Glau-be/Zweifel.) Dies führt zu einem vierten Aspekt:

    4. Glaube kann auch Anerkennung von „Offen-barung“ und Festhalten an dieser sein. Ich willjetzt nicht über große geschichtliche Offenba-rungserlebnisse und deren schriftliche Fixierungdiskutieren, wie sie den drei so genannten Of-fenbarungsreligionen gemeinsam sind. Allzuleicht führt die Bindung und Verpflichtung vielerMenschen, die selbst keine Offenbarung erlebthaben, auf den ersten, autoritätsgeprägten Of-fenbarungsbegriff zurück, der geistesgeschicht-lich überholt ist. Früher wurde der Glaube als„übernatürliche Erkenntnis“ deklariert. Das warweitgehend autoritärer Missbrauch. Allerdingsist es die Natur des menschlichen Geistes,„übernatürlich“ zu sein. Ich meine hier die selbsterlebte Offenbarung: besondere Wert-Erfahrun-gen bis hin zu mystischen Erlebnissen und Be-gegnung mit (körperlichen oder außerkörper-

    lichen) Gestalten des Heiligen, die sich nicht al-le Tage wiederholen. Solche Offenbarungen gibtes offenbar. Wir brauchen nicht an sie zu glau-ben. Wohl sollten wir das Zeugnis solcher Men-schen ernst nehmen, die „glaubhaft“ von sol-chen Erlebnissen sprechen. Und gegebenen-falls unsere eigenen Erlebnisse ernst nehmen,das heißt mit Treue zu uns selbst und mit Dank-barkeit gegenüber dem Erfahrenen am bleiben-den Gehalt (nicht an der vergänglichen undmeist unwesentlichen Form) dieser Erlebnissefesthalten.

    Die Kultur des zwischenmenschlichen„Glaubens“, der kritische Prüfung

    einschließt, ist aufgrund von zu vielerfahrungsfremden Autoritätsglauben,

    bei uns unterentwickelt.

    Eine Alltagsform solcher Offenbarung sind intu-itive Einsichten: plötzliche Erkenntnisse und Ah-nungen, für die wir keine rationalen Gründe ha-ben. Der Glaube an das Göttliche und damit anuns selbst schließt ein, dass wir dergleichenernst nehmen, im Zweifelsfall prüfen und dies-bezügliche Erfahrungen sorgfältig beachtenund erinnern.

    Hier wie schon beim Glaubensbegriff 2 spieltdie Zeitstruktur des Glaubens, das Durchhaltenund Festhalten an einmal Erkanntem und Ge-schenktem, eine entscheidende Rolle. Der Um-gang mit der Zeit ist Umgang mit uns selbst alszeitlicher Wesen.

    Nietzsches GlaubeDer furiose „Atheist“ Friedrich Nietzsche mussetwas ganz Ähnliches wie hier, besonders un-

    ter 3., dargelegt unter Glauben verstehen, wenner seiner historistisch „gebildeten“ (nur nochhistorisch-philologisch sammelnden) Zeit ent-gegenschleudert:

    „Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: einGrauen überflog mich. Und als ich um mich

    sah, siehe! Da war die Zeit mein einzigerZeitgenosse. Da floh ich rückwärts,

    heimwärts – und immer eilender: so kamich zu euch, ihr Gegenwärtigen, und ins Land der Bildung. (…)

    Alles Umheimliche der Zukunft, und was jeverflogenen Vögeln Schauder machte,

    ist wahrlich heimlicher und wirklicher nochals eure ‚Wirklichkeit‘. Denn so sprecht ihr:‚Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glaubenund Aberglauben‘: also brüstet ihr euch –

    ach, auch noch ohne Brüste!

    Ja, wie solltet ihr glauben können, ihrBuntgesprenkelten! – die ihr Gemälde seid

    von allem, was je geglaubt wurde!Wandelnde Widerlegungen seid ihr des

    Glaubens selber, und aller GedankenGliederbrechen. Unglaubwürdige:

    also heiße ich euch, ihr Wirklichen! AlleZeiten schätzen widereinander in eurenGeistern; und aller Zeiten Träume und

    Geschwätz waren wirklicher noch, als euer Wachsein ist!

    Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euchan Glauben. Aber wer schaffen musste,

    der hatte auch immer seine Wahr-Träume und Sternzeichen – und glaubte

    an Glauben!“

    Glaube und Wissenschaft

    Hat es überhaupt Sinn, einen solchen aufge-klärten Begriff von Glauben mit Wissenschaftund Vernunft zu konfrontieren? Keineswegs,was die beiden letzten Formen oder Stufen desGlaubens angeht. Konfrontieren ließen sicheinst Glaube und Wissenschaft nur als verschie-dene Formen des Fürwahrhaltens.

    Es ist aber klar, dass der so verstandene Glau-be von einem wissenschaftlichen Standpunktzu einem bloßen Vermuten und einem Erkennt-nis-Ersatz degradiert werden muss. Das ist je-doch ein (wenn auch von vielen „Gläubigen“

    Friedrich Nietzsche

    (Empfehlung: Osho-Buch “Ein Gott, der tanzen kann”,ISBN 978-3-936360-86-8

    Hinter dem Unendlichen gibt es nichts, das erkannt werden könnte.(Premananda)

  • 14 Lebens|t|räume 04/09

    selbstverschuldetes) ganz unwissenschaftli-ches Missverstehen des Glaubens in der drittenund vierten Bedeutung.

    Auf der anderen Seite kann kein Glaubender imSinne der grundlegenden Selbst- und Wertbeja-hung sich vernünftigerweise gegen wissen-schaftliche Erkenntnis sperren – vorausgesetzt,sie ist tatsächlich Erkenntnis und nicht rationa-listische Anmaßung und Reduktion von Erkennt-nis.

    „Keine Religion ist höher als die Wahrheit“(H.P. Blavatsky).

    Ich verstehe nicht, welche Probleme es zwi-schen Glauben im dargelegten Sinn und Wis-senschaft für einen aufgeklärten Menschen ge-ben könnte. Es kann sich nur um traditionellüberkommene Missverständnisse und Selbst-missverständnisse auf beiden Seiten handeln.

    Glauben und VernunftWenn wir „Vernunft“ nicht rationalistisch ver-kürzt verstehen, sind die Formen des Glaubensim dargelegten Sinne selbst Formen von Ver-nunft, freilich einer dialogischen Vernunft, fürwelche die Botschaften des personal oder me-dial Anderen eine mögliche Rolle spielen. Aller-dings haben die Worte „Glauben“ und „Ver-nunft“ auch dies gemeinsam: Sie sind beide un-säglich missbraucht worden. Vom Glauben wardiesbezüglich vorhin die Rede. Von der Vernunftkann man nur sagen, dass dieses menschlicheVernehmungsvermögen der unendlichen Offen-heit im Zeitalter des Rationalismus gerade beiständiger Betonung von „Vernunft/raison /rea-son“ für bloßen Verstandesgebrauch verkürztwurde. Diese Verkürzung setzt sich, wie ausge-führt, in unseren Wissenschaften fort. Deshalbnoch ein kurzes Schlusswort zu:

    Wissenschaft und Vernunft(Um eine Spiritualität desDenkens)

    In der alten, mittelalterlich-scholastisch gepräg-ten Philosophie wurde diese, die Philosophie,als „scientia universalis“ gegenüber den Einzel-wissenschaften, den „scientiae particulares“,bezeichnet. Genauer galt Philosophie als „scien-tia universalis naturali ratione comparata“: als

    Universalwissenschaft aufgrund natürlicherVernunft, im Unterschied zur Theologie, die sichauf „übernatürliche Vernunft“ stütze („scientiauniversalis supranaturali ratione comparata“).Auf die Fragwürdigkeit, ja Unhaltbarkeit dieserletzten Definition soll es hier nicht nochmals an-kommen, sondern auf Philosophie als Sachwal-terin einer ganzheitlichen Vernunft.

    Alle Wissenschaft, sofern sie nicht allein einuntergeordnetes Geschäft des berechnendenund klassifizierenden Verstandes darstellt, er-hält einen philosophischen, d.h. aufs Ganze ge-henden Einschlag. Wir sehen dies deutlich beiallen großen Naturwissenschaftlern, besondersden epochemachenden Physikern, des 2O.Jahrhunderts. Die Frage ist immer, ob sich Na-turwissenschaftler in willkürlichen Anmutungenund Weltanschauungsbildungen ergehen.

    Bei den Großen ist das nicht der Fall, weil sie ge-nügendes Problembewusstsein mitbringen,meist auch beilaufend eine gewisse philosophi-sche Ausbildung genossen haben. Einsteins Re-lativitätstheorien sind beispielsweise ohne das„Einatmen“ Kantischer Ideen über Raum undZeit kaum denkbar.

    Auf den nachgeordneten Rängen der Naturwis-senschaftler gibt es dagegen zahlreiche Gegen-beispiele für philosophischen Dilettantismusohne genügendes Problembewusstsein – mö-gen sie auch als angesehene Festredner vomMax-Planck-Institut kommen, die etwa mitQuantenphysik die Gesellschaft strukturierenwollen.

    Auch die rasche Gleichschaltung von Physik und Mystik, unter

    Überspringung, weil Unkenntnisabendländischer Philosophie, etwa bei

    Fritjof Capra (Das Tao der Physik;Wendezeit), leisten der wirklichen

    Begegnung von Denken und Spiritualitätm.E. keinen besonderen Dienst.

    Eine solche Begegnung findet nur statt, wenneine echte Spiritualität des Denkens entwickeltwird: wenn die „Anstrengung des Begriffes“zum „Gottesdienst des vernünftigen Denkens“wird (Hegel). Meines Erachtens kann das Me-dium des wissenschaftlichen Begriffes, ähnlichwie das des dichterischen Wortes, bei hinrei-chender Intensität und Ehrfurcht tatsächlichselbst zum Medium mystischer oder quasi-mys-tischer Erfahrung werden.

    Solche Intensität des Denkens istkeineswegs dem Philosophen vorbehalten.

    Sie geschieht auch in den Wissenschaften da,wo die begrenzten Begriffsbildungen durch dieganzheitliche Vernunft und ihre Ideen in Fragegestellt und dynamisiert werden. „Ganzheitli-che Vernunft“ meint keineswegs etwas Unge-fähres, wozu der Ausdruck „ganzheitlich“ oftmissbraucht wird. Ganzheitlichkeit bedeutet dieumfassende, möglichst selbst geordnete Be-rücksichtigung aller Relationen, die bei einemBegriff bzw. einem Phänomen zu berücksichti-gen sind.

    Es ist allein diese ganzheitliche Vernünftigkeit,die aus den bekannten „Fachidioten“, die ihredarüberhinausgehende Unkenntnis durch Fana-tismus kompensieren, aus funktionierenden Er-kenntnisbeamten, denen es eigentlich um ihrregelmäßiges Gehalt und ihr soziales Prestige,nicht um Erkenntnis als solche geht, auf einmaloffene, gläubige Denker machen kann, aus po-tentiellen Inquisitoren mit den oben erwähntenOpfern hingebungsvolle und faire Wahrheitssu-cher.

    FazitWissenschaft, Glaube und Vernunftbeschreiben Wege zur Wahrheit, die

    verschieden sind, aber nur vordergründigkonkurrieren. Wenn man „konkurrieren“

    von Wegen überhaupt sagen kann.

    • Wissenschaften sind begrenzte „Settings“oder Disziplinen, die nur durch ganzheitliche Ver-nunft Anschluss an das Ganze der Wirklichkeitgewinnen.

    • Glaube ist – im Unterschied zu vielen Formendes Autoritätsglaubens - Mut zum Sein, Wert-bejahung des Ganzen, Selbstbejahung vom Un-bedingten und Göttlichen her.

    • Vernunft ist das Vermögen des Menschen zumUnbedingten (zum göttlichen Logos). Freilich:„Wir suchen überall das Unbedingte und findenimmer nur Dinge“ (Novalis, Blüthenstaub 1) –womit sich der Kreis zur Wissenschaft schließt.

    „Denn was war schädlicher in derGeschichte und was überflüssiger als dasseit Galilei bestehende Katz-und-Maus-

    Spiel zwischen Religion und

    Das Gewahrsein des jetzigen Momentsist das Großartigste, was es gibt. (Ajja)

  • 15Lebens|t|räume 04/09

    Naturwissenschaft?“ Die historischenReligionen brauchen wir vielleicht nicht

    mehr. Doch den Glauben im besagten Sinn.

    Schon Goethe meinte, in einer fortgeschrittenenHumanität sei die Religion, eben der Glaube imdargelegten Sinn, inklusive enthalten, ohne derpopulären Form zu bedürfen:

    „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion. Wer jene beiden

    nicht besitzt, der habe Religion.“

    Doch war und ist das nicht heute noch zu elitärgedacht? Bedürfen die „einfachen Menschen“nicht weiterhin der irgendwie verbindlichen Leh-re über „das, was sie unbedingt angeht“ sowieder Riten des Ausdrucks für das, was sie im Le-ben und Sterben, im Lieben und Grenzeziehen,bewegt? Nicht allein die einfachen Menschen,sondern die menschliche Gemeinschaft als gan-ze wird dieser Lehre und Ausdrucksformen be-dürfen – jedoch auf einem neuen Niveau derAufklärung und Freiheit, jenseits, nicht diesseitsjenes aufgeklärten und personalisierten Glau-bensbegriffs.

    Doch dies, also künftige Formen von „Gemein-schaft der Menschen im Freien“, wie es im BuchI Ging (Figur 13) heißt, jenseits autoritärer Dog-matik, jenseits der überholten Zwillingsbrüdervon Theismus und Atheismus (die beide dasGöttliche verdinglichen), das wäre ein eigenesThema.

    Johannes Heinrichs,

    geb. 1942, zählt schon jetzt zu den herausragenden systematischenPhilosophen der Neuzeit. Als wichtige Neuerung in der Philosophie giltseine Entdeckung des „Periodensystems der Handlungsarten“, das dieHandlungen nach ihren Intentionen unterscheidet und systematisiert.

    Mit seiner Reflexionstheorie menschlicher Sinnvollzüge und sozialerSysteme steht er auf den Schultern der deutschen Idealisten Hegel,

    Kant und Fichte. – Er doziert nicht, sondern besticht in der Einfachheit der Darstellung sinnfäl-liger Zusammenhänge.

    Info: www.johannesheinrichs.dewww.netz-vier.de, www.stenobooks.com

    Zur Öko-Problematikstellt er fest: "Naturwissenschaft-liche Einzelerkennt-nisse helfen unsnicht weiter, diese scheinbar ausweglose Situation zu än-dern."

    Das ist die Antwort: Die heute anstehen-de politische Erneu-erung muss fundiertsein in einer Revolu-tion der Gesinnun-gen und Vorstel-lungs-arten!

    "Die schleichende Demo-kratie-verdrossen-heit wird bei Genuss des Mani-festes zur Demokra-tie-begeisterung,die nach Praxis ver-langt."

    In dieser Real-Uto-pie bietet er eineeinfache Lösung an,wie die Demokratie wiederfunktionsfähig ge-macht werden könn-te. Dieses Buch kön-nen Sie demnächstals Paperback erhalten:ISBN 978-954-449-321-9

    Hierin beschreibt er dieWelt des sich der-zeit offensichtlich zu To-de siegenden Kapi-talismus.

    Seine Bücher sind Wegweiser fürfreie Menschen,nicht für blind derObrigkeit folgende.Er zwingt zum Nachdenken:

    Siehe: www.johannesheinrichs.de. Auslieferung der Bücher über: GVA, Postfach 2021, 37010 Göttingen, Tel. 0551-487177, Fax: 0551-41392.

    Johann Wolfgang von Goethe

    Wer da auch immer nach Erleuchtung suchen mag, der muss verschwinden. Das ist Erleuchtung. (Sri Brahmam)