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Volker Weiß DEUTSCHLANDS NEUE RECHTE

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Volker Weiß

DEUTSCHLANDS NEUE RECHTE

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Volker Weiß

DEUTSCHLANDS NEUE RECHTE

Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin

FERDINAND SCHÖNINGHPaderborn · München · Wien · Zürich

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Der Autor:Volker Weiß, Dr. phil., Studium der Literaturwissenschaft, Sozial- und Wirt-schaftsgeschichte und Psychologie in Hamburg, Aufenthalte in Tel Aviv und Edinburgh. Währenddessen auch Arbeiten für Theater und Rundfunk; regel-mäßiger Autor der Berliner Wochenzeitung Jungle World, weitere Veröffentli-chungen u.a. in der Frankfurter Rundschau, Taz, FAZ und Spex.

Umschlagabbildung: ullstein bild-wodicka

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind ur-heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zuge-lassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2011 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1,D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in GermanyHerstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-657-77111-0ISBN der Printausgabe 978-3-506-77111-7

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INHALTSVERZEICHNIS

1. Apokalypse 2010 – Schafft Deutschland sich ab? . . 7

2. Deutsche Untergänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

3. Der Weg zur selbstbewussten Nation . . . . . . . . . . . 41

4. Die anthropotechnische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . 61

5. Die Angst vor den Massen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

6. Demographie und Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

7. Partisanen im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

8. Falsche Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Nachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

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1. APOKALYPSE 2010 – SCHAFFT DEUTSCHLAND SICH AB?

Der Eklat

Es ist eine merkwürdige Allianz, die sich im Herbst 2010 in Deutschland gebildet hat. Mit dem Bundesbanker Thilo Sarra-zin wurde der Vertreter einer gemeinhin als dem Volke recht entrückt geltenden Berufsgruppe zur Vox populi erhoben. Dem ehemaligen Spitzenbeamten, einem geradezu prototypischen Vertreter der politischen Klasse der Nation, war es gelungen, das schlechte Image seiner Branche vergessen zu machen und über einen Zeitraum von mehreren Monaten Stoff für Stamm-tische, Feuilletons und Parlamentsdebatten zu liefern. Deutsch-land, so lautete seine These, verspiele alle Chancen, weiterhin eine führende Industrienation zu bleiben, das Land befinde sich in einer dramatischen Phase des Niedergangs. Wie war es Sar-razin gelungen, zu einem vom Boulevard wie von »seriösen« Medien gefeierten »Tabubrecher« zu werden? Im Oktober 2009 hatte Sarrazin der Kulturzeitschrift Lettre International für ein Themenheft über die Stadt Berlin ein Interview zur desolaten wirtschaftlichen Verfassung der Hauptstadt gegeben.1 Schnell wurden die darin enthaltenen Zuspitzungen, mit denen der ehe-malige Finanzsenator Berlins seine Ansichten garniert hatte, bekannt. Vor allem die türkisch- und arabischstämmige Min-derheit Berlins war ihm zum Ärgernis geworden: Sie sei wirt-schaftlich unproduktiv, missachte die geltenden Rechtsnormen und trage nichts dazu bei, die Entwicklung der Hauptstadt vor-anzubringen. Kurzum: Berlin habe zu viel sozialen Bodensatz und zu wenig Elite.

Die Lettre International, in der Sarrazin sich so äußerte, ist eine kleine, anspruchsvolle Kulturzeitschrift, Spartenprodukt für den recht klar definierten Absatzmarkt der gesamteuropä-isch orientierten Intelligenz. Als Öffentlichkeit ist sie sich daher meist selbst genug. Das Gespräch mit Sarrazin war gerahmt von mehr als 40 weiteren Gesprächen, die Lettre International mit den unterschiedlichsten Gesprächspartnern über Berlin

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1. APOKALYPSE 20108

geführt hatte; gewissermaßen als Analysesitzung über den Zu-stand der Stadt, entsprechend dem Motto des Heftes: »Berlin auf der Couch«. Was man hier als Mischung aus Frustration eines ehemaligen Amtsträgers über mangelnde Gestaltungs-möglichkeiten, Oberschichtendünkel, Alltagsrassismus und Kritik an sozial schwierigen Milieus der Großstadt, also schlicht als eine etwas überpointierte Meinung unter vielen zu lesen bekam, wäre in der täglichen Informationsflut schnell wieder vergessen worden. Unter normalen Umständen hätten die Affekte des SPD-Politikers niemals die breite Öffentlichkeit erreicht. Damit das Interview überhaupt zum Politikum geriet und Sarrazin für seine Ausfälle regen öffentlichen Zuspruch erhielt, bedurfte es einer recht eindrucksvollen Unterstützung: Die auflagenstarke Bildzeitung hatte Auszüge des Interviews abgedruckt und das vollständige Gespräch auf ihre Homepage gestellt. Beides erfolgte ohne Genehmigung des Rechteinha-bers. Damit hatte der Springer-Verlag, wie Frank Berberich, Chefredakteur der Lettre International betonte, sowohl das »Wettbewerbsrecht als auch das Urheberrecht«2 verletzt. An-gesichts einer zeitgleich stattfindenden aufwendigen Kampa-gne des Springer-Verlages »zum Schutz geistigen Eigentums« war das ein mehr als peinlicher Vorgang, der nur unterstrich, dass es dem Haus mit der Kampagne vornehmlich um den Schutz der eigenen Interessen gegangen war. Vor allem aber war das Gespräch aus seinem Kontext gerissen und zur Sensa-tion gemacht worden. Doch schien dem Springer-Verlag dieses Vorgehen mitsamt dem damit verbundenen Rechtsbruch ver-tretbar. Man nahm die juristischen Folgen in Kauf, um den »Skandal« zu produzieren und brachte Sarrazins Ansichten dergestalt dekontextualisiert unters Volk.

Ohne diese massive Unterstützung wäre »das Volk« kaum auf die Idee gekommen, mit Thilo Sarrazin ausgerechnet einen typischen Vertreter des sonst wenig geliebten politischen Per-sonals Berlins zum Sprecher zu küren. In seinen Jahren als Finanzsenator des Stadtstaates hatte Sarrazin sich als wenig basisnah gegeben und über übergewichtige Hartz-IV-Empfän-ger gespottet. Öffentlichkeitswirksam hatte er vorgeschlagen, diese sollten öfter warme Pullover tragen, um ihre Heizkosten

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DER EKLAT 9

zu senken und sich kostengünstiger ernähren. Außerdem sprach sich der Sozialdemokrat für die konsequente Einfüh-rung des amerikanischen »Workfare«-Konzeptes aus, also der verbindlichen Koppelung staatlicher Sozialhilfe an Arbeits-maßnahmen; ein Konzept, das hierzulande in Gestalt der »Ein-Euro-Jobber« noch vergleichsweise in den Anfängen steckt. Da er aber in seinen Tiraden besonders auf Leistungsempfän-ger nichtdeutscher Abstammung eingegangen war, wurde die-ses Integrationsangebot nach ethnischen Kriterien auch von jenen dankbar angenommen, die vom Interviewten zuvor ebenfalls mit Häme bedacht worden waren.

Knapp ein Jahr später, Anfang September 2010, beherrsch-te Thilo Sarrazin erneut die Schlagzeilen, aus denen er zwi-schenzeitlich ohnehin nie ganz verschwunden war. Er publi-zierte ein Buch mit dem reißerischen Titel Deutschland schafft sich ab, das mehr als eine Million Mal verkauft werden sollte.3 Das Thema Sarrazin dominierte daraufhin endgültig wochen-lang die Talkshows und Titelseiten. Erneut hatten vor allem mächtige Multiplikatoren dafür gesorgt, dass der leicht skurril wirkende Banker derartig in die Öffentlichkeit geriet: Das Buch war, wie sein Autor selbst schreibt, erst durch die Deut-sche Verlagsanstalt angeregt worden.4 Diese wiederum gehört zu Random House, der Dachgesellschaft des Bertelsmann-Konzerns. Es erschien also nicht in einem randständigen Klein-verlag, sondern wurde von der Tochter einer einflussreichen, international agierenden Verlagsgruppe auf den Markt ge-bracht. Zudem kam es zu Vorabdrucken einzelner Textpassa-gen des Buches in der Bild und dem Spiegel. So wurde die Diskussion über einen Text bereits angeheizt, bevor dieser überhaupt vollständig erschienen war. Angesichts dieser Dau-erpräsenz wirkte es besonders grotesk, dass eine ganze Reihe von Publikationen ein »Sprechverbot« um Sarrazin auszuma-chen glaubten, welches sie nun mit Verve im Namen der »Mei-nungsfreiheit« zu durchbrechen gedachten. Dazu gehörten nicht nur einschlägige rechte Organe wie die Junge Freiheit, sondern – erneut – auch die fest im Mainstream verankerte Bild. Dieses mediale Trommelfeuer auf die Öffentlichkeit, das hohe Amt Sarrazins bei der Bundesbank und einige öffentliche

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1. APOKALYPSE 201010

Spekulationen des Autors über genetische Gemeinsamkeiten von Juden taten schließlich ihre Wirkung: Die erste Auflage des angeblich verfemten Buches war sofort ausverkauft.

Der Erfolg Sarrazins ist jedoch nicht alleine auf die massive Kampagne zurückzuführen, mit der seine Thesen in der Öf-fentlichkeit lanciert wurden. Die Verbalinjurien des Bankers trafen auf eine zutiefst verunsicherte deutsche Öffentlichkeit. In der Rückschau könnte sich die Gesamtsituation etwa wie folgt darstellen: Die einst das »Ende der Geschichte« verhei-ßende Zeitenwende, der Zusammenbruch der realsozialisti-schen Staaten Osteuropas in den Jahren nach 1989, hatte sich als eine trügerische Illusion erwiesen. Vom »Wohlstand für alle« der alten Bundesrepublik war die Berliner Republik weit entfernt. Andauernd hohe Arbeitslosigkeit, einschneidende Sozialreformen und außenpolitische Krisen bestimmten die Ordnung nach dem Kalten Krieg. Ein radikalisierter Islam sammelte unter seinen Fahnen auch im Westen Modernisie-rungsverlierer und -verweigerer, die ihn als Negation einer »kalten« westlichen Aufklärung begrüßten. Auch in den mü-hevoll und halbwegs demokratisierten christlichen Kirchen konnten sich fundamentalistische Tendenzen wieder verstärkt Gehör verschaffen. Nach mehr als hundert Jahren Konfronta-tion entlang innergesellschaftlicher ökonomischer Fronten schien die Opposition in der Zivilgesellschaft nunmehr haupt-sächlich aus rechten Strömungen zu bestehen, ohne dass das, wogegen sie opponierte, als links bezeichnet werden könnte. Anstelle des erhofften »ewigen Friedens« einer neuen Weltord-nung war sogar das militärische Engagement in die deutsche Außenpolitik zurückgekehrt: Deutsche Truppen kämpften im Rahmen einer internationalen Allianz in einem unübersichtli-chen Krieg in Afghanistan. Dazu kamen die Wirrungen einer globalisierten Ökonomie und des europäischen Binnenmark-tes, Ende 2008 traf schließlich noch eine Wirtschaftskrise von bislang unabsehbarem Ausmaß die gebeutelten Haushalte. Desorientierung, Überforderung und ökonomischer Druck er-zeugten Niedergangsängste, die sich leicht mit Hilfe des reich-lichen Reservoirs klassischer Ressentiments steigern ließen.

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DEKADENZ UND VERFALL 11

Der Markt für Endzeitliteratur war also bereitet und Sarrazins Buch erschien zur rechten Zeit.

Allerdings, und dies soll dieser Essay nachvollziehbar machen, gab es seit Beginn der Moderne kaum Zeiten, in denen die Öf-fentlichkeit nicht für derartige Botschaften empfänglich gewesen wäre. Die »Lust an der Apokalypse« nannte Thea Dorn die seit jeher dauernd aufs Neue wiederkehrende Deutung sich verdich-tender Zeichen der totalen Krise.5 Der Titel war eine deutliche Anlehnung an Friedrich Sieburgs Nachkriegsbestseller Die Lust am Untergang. Das Motiv des Verfalls verkauft sich stets gut, der Krise wohnt eine unvergleichliche Macht inne. In diese Ker-be schlug daher auch Peter Sloterdijk. Seine Lesart des Rilke-Sonetts »Archaischer Torso Apollos« bewegte 2009 die Feuille-tons: »Die einzige Autorität, die heute sagen darf: ›Du musst Dein Leben ändern!‹ ist die globale Krise, von der seit einer Weile jeder wahrnimmt, daß sie begonnen hat, ihre Apostel auszusenden. Sie besitzt Autorität, weil sie sich auf etwas Unvor-stellbares beruft, von dem sie der Vorschein ist – die globale Katastrophe.«6 Wie sich bei genauerer Betrachtung zeigt, ist aber eben diese Propheterie selbst fester Bestandteil jener Kultur, de-ren Untergang sie beschwört. Ein Umstand, der aus dem Paradox jeder Kulturkritik resultiert, das von Theodor W. Adorno for-muliert wurde: »Dem Kulturkritiker paßt die Kultur nicht, der einzig er das Unbehagen an ihr verdankt.«7

Dekadenz und Verfall

Über die Causa Sarrazin ist mittlerweile eine Flut von Texten geschrieben worden. Die Debatte über die Seriosität seiner Arbeitsmethode, die Qualität der von ihm bemühten Quellen und Statistiken und die Schlüssigkeit seiner Kausalketten soll hier nicht fortgeführt werden. Diesem Essay dient der zweifel-hafte Berliner Banker vielmehr als aktuelles Beispiel eines Phä-nomens, das sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland immer wieder finden lässt: die Beschwörung des Untergangs der eigenen Kultur, meist in Verbindung mit de-mographischen Berechnungen und dem Ruf nach einer starken Elite. Solche politisch-apokalyptischen Visionen, die nach dra-

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stischen Maßnahmen verlangen, haben eine lange Tradition. Vor allem die deutsche Rechte hat sich um dieses Motiv herum ein vollständiges Weltbild erschaffen. Aus dem konservativen Klagen vom allgemeinen Sittenzerfall im säkularen Zeitalter war schon am Ende des 19. Jahrhunderts das Verlangen nach einer offensiven Abwehr der Moderne, am besten mit ihren eigenen Mitteln, gewachsen. Diese als »Konservative Revolu-tion« nur unzutreffend bezeichnete Strömung, die der Ent-wicklung des Faschismus seit George Sorel in den romanischen Ländern entsprach, artikulierte ebenfalls eine erstaunliche Angst vor dem finalen Niedergang der europäischen Kultur.

Interessanterweise decken sich seit der Erstpublikation von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes 1918, um einen der prominentesten Titel des Genres zu nennen, nicht nur die ausgemachten Symptome des Verfalls: Vermassung, Dekadenz und Verlust der eigenen Identität.8 Auch die vorgeschlagenen Heilmittel gleichen sich: die »Stärkung« der Nation durch Opfergang und Disziplinierung der Masse bei Absonderung des »sozialen Ballasts« und Herausbildung einer nationalen Elite. Die Sehnsüchte nach einer charismatischen Führerfigur, die das bedrohte Kollektiv weitsichtig durch die Gefahren lei-tet, haben in diesem Drang ihren Ursprung. Schon Oswald Spengler sah in den Krisen der Gegenwart die Zeichen für den Übergang in den ersehnten »Cäsarismus«, als dessen größten Vertreter er Benito Mussolini bewunderte. Es ist also kein Wunder, dass mit dem Szenario von Dekadenz, Niedergang und Reinigung meist handfeste politische Forderungen einher-gehen. Kurt Lenk fasste dieses klassische Szenario als das »Syn-drom Apokalypse, Dekadenz und Heroismus«, in dem er einen »Evergreen aus der langen Tradition des revolutionären Kon-servatismus« ausmacht.9 Um diese Fragen hat sich heute wie-der eine ganze Strömung gebildet und es ist sicher kein Zufall, dass die Thesen des dissidierenden Sozialdemokraten Thilo Sarrazin von Debatten um die Gründung einer neuen Rechts-partei zwischen CDU und NPD begleitet sind. Es scheint Be-wegung zu geben in der politischen Landschaft der Bundesre-publik, die erfolgreiche Kampagne für Sarrazins Buch mag dafür als Indikator gelten. Der politische Diskurs, der sich im

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Schatten Sarrazins formiert hat, greift dabei tatsächlich aber nur begrenzt neue Themen auf. Bei genauer Betrachtung ent-puppen sich zentrale Elemente dieses Diskurses als feste Be-standteile klassischer politischer Ideologie. Auf die Spur dieser Denktradition, ihrer Referenzen und Brüche soll sich hier be-geben werden.

Die folgenden Seiten sollen daher verschiedene Ansätze der Vergangenheit Revue passieren lassen, die mit Sarrazins heuti-gem Vorgehen vergleichbar sind. Sie alle handeln vom Verhält-nis von Masse und Elite, von Niedergangsdrohungen und Träu-men der nationalen Wiedergeburt – und von den meist dafür empfohlenen Radikalkuren. Dafür werden unterschiedliche, zumeist deutsche, Autoren verschiedener Zeitabschnitte gewür-digt: Als Repräsentant der Vorkriegszeit soll neben Spengler vor allem Edgar Julius Jung zur Sprache kommen. Doch auch noch in den frühen Bonner Jahren der Bundesrepublik fanden Auto-ren wie José Ortega y Gasset, Friedrich Sieburg, Carl Schmitt oder Arnold Gehlen Beachtung, deren Aufstieg bereits vor dem Krieg begonnen hatte. Denn wie Ortega y Gasset 1929 in Der Aufstand der Massen betonte, waren die Europäer zwischen den Weltkriegen selbst die Entdecker ihres vermeintlichen Nie-dergangs. Nicht ohne Selbstironie, eine Tugend, an der es den heutigen Autoren des Genres übrigens mangelt, schreibt er: »Als außerhalb des alten Kontinents kein Mensch daran dach-te, kamen ein paar Männer in Deutschland, England, Frank-reich auf den bestechenden Gedanken: sollten wir etwa in ei-nem beginnenden Abstieg begriffen sein? Der Einfall hatte eine gute Presse, und heute spricht alle Welt von der europäischen Dekadenz wie von einer unanfechtbaren Tatsache.«10

Jahrzehnte später zeugten Hans-Jürgen Syberberg, Botho Strauß, Peter Sloterdijk oder eben Thilo Sarrazin von einer Mo-dernisierung des nationalen Elitendiskurses zur Abwendung des Untergangs, der vor allem mit der deutschen Wiedervereinigung einen unerwarteten Legitimationsschub bekam. Sie alle haben in ihrer Zeit Effekte erzielt, die zum Teil bis heute wirken; auch davon künden die aufgeregte Debatte um die Thesen und die Verkaufszahlen von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Von Interesse sind hier insbesondere die Ähnlichkeiten, aber

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1. APOKALYPSE 201014

auch die Unterschiede in der Argumentation der jeweiligen Au-toren. Zudem wird sich zeigen, ob ihre pessimistischen Zeitdia-gnosen aus der jeweiligen historischen Situation resultierten, in der sie erstellt wurden, oder ob es allgemeine Motive gibt, die sich in dieser Publizistik stets wiederholen. Dieser Essay soll helfen, Propheten der Apokalypse vom Schlage Sarrazins etwas nüchterner zu betrachten und sich auf die politischen Botschaf-ten und Interessen zu konzentrieren, die hinter den jeweils dar-gebotenen Schreckensszenarien stehen. Dafür ist es nützlich, zunächst in einem historischen Exkurs einige Protagonisten deutscher Untergangsliteratur vorzustellen. Die darin angeführ-ten Beispiele sind untereinander sehr verschieden, doch eint sie alle das Motiv der Untergangsangst, der Warnung vor dem Zer-fall des Ganzen durch den Niedergang seiner Führungsspitze. Allerdings soll hier weniger eine systematische Untersuchung der Autoren auf ihre Gemeinsamkeiten hin präsentiert werden, als eine zwanglose tour d’horizon durch das Genre der Untergangs-literatur. Das Ergebnis ist eine sicher unvollständige Genealogie des apokalyptischen Schreibens der letzten hundert Jahre, mit-samt einer Reihe von immergleichen Motiven, die durch diesen Diskurs mäandern. Das Elaborat Thilo Sarrazins wird als Anlass dieser Darstellung dabei mal mehr, mal weniger präsenter, aber doch ständiger Wegbegleiter sein.

Wie die Lektüre zeigen soll, ähnelten sich die Vorgehensweise und Argumentation der unterschiedlichen Autoren nicht nur über einen langen Zeitraum, sondern waren auch stets eng mit der Forderung nach Entmündigung der Masse und Ermächti-gung einer nationalen Elite verbunden. Die Fähigkeit aller Men-schen zur Selbstbestimmung wird dabei grundsätzlich in Frage gestellt. Zwischen dem Schüren von Untergangsängsten, der Durchsetzung von »Ideologien der Ungleichheit« (Wilhelm Heit-meyer) und dem Streben nach autoritären Herrschaftsformen besteht also ein enger Zusammenhang. Ganz, wie es Thomas Mann 1917 in den Betrachtungen eine Unpolitischen formuliert hatte, die als prototypisch für das Lamento der modernen Apo-kalyptiker gelten können: »Denn die Demokratie ist es, und nicht ihre Verwirklichung, an die ich nicht glaube.«11

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2. DEUTSCHE UNTERGÄNGE

Die Herrschaft der Minderwertigen: Oswald Spengler, Edgar J. Jung und die Republik

Die ersten Exponate der Untergangsliteratur waren während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland in jenem Spektrum angesiedelt, das sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen die Demokratisierung des Reiches stellte. Besonders nach der Kriegsniederlage 1918 erfuhr diese Haltung eine immense Radikalisierung. Der wohl bekannteste hieraus hervorgegangene Titel ist Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, dessen Autor den Anspruch erhob, Nietzsches Überlegungen zum Zerfall der christlichen Kultur und die Su-che nach dem aristokratischen Element in der Geschichte zeit-gemäß weiterzuführen. Allerdings war Spenglers »Morpholo-gie der Weltgeschichte« mit dem Ballast einer universalen Geschichtsdeutung befrachtet. Er setzt in der Antike an, um sich entlang verschiedener Stationen abendländischer Kultur dem Rhythmus von Aufstieg und Zerfall anzunähern: Sein Augenmerk gilt der Wissenschaft, der Kunst, den »Rassen« und ihrer Psyche sowie den geographischen Räumen.

Sarrazins einleitender Exkurs in die Antike, von Ägypten über das römische Reich und dessen Teilung und Zerfall bis hin zum Europäischen Mittelalter, kokettiert mit diesem altphilo-logischen Gestus Spenglers. Er versucht, den Zyklen von Auf-stieg, Dekadenz und Niedergang in der Kulturgeschichte auf die Schliche zu kommen, um sie auf heute zu übertragen: »Der Zusammenbruch des Reiches kam nicht von innen, sondern wurde von außen angestoßen, allerdings unterstützt durch in-terne Tendenzen – vor allem durch die Dekadenz und Gebur-tenarmut der ehemals führenden Schichten.«12 Allerdings blieb Spengler selbst, im Gegensatz zu Sarrazin, gegenüber dem pro-phezeiten Untergang leidenschaftslos. Er erblickte darin nicht nur eine kulturgeschichtlich notwendige Bewegung des Welten-zyklus, sondern sah, in fester Erwartung eines deutschen Sieges, zunächst ein äußerst günstiges Zeitalter für das Reich gekom-