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Erscheint in: Schaede, Stephan/ Hartung, Gerald/ Kleffmann, Tom (Hgg.), Das Leben II. Historisch-Systema- tische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Tübingen 2012 PrePrint – nicht zitierfähig Das Lebendige bei Heidegger. Probleme seiner privativen Bestimmung Matthias Wunsch (Wuppertal) Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist „Leben“ ein zentraler Topos der Philosophie, der es erlaubt, eine große Bandbreite verschiedener Phänomene zu erfassen. In grober und unvollständiger Aufzählung lassen sich etwa unterscheiden: Leben als Erlebnis so- wie als geschichtliches Leben (Dilthey), Leben als strömendes, schöpferisches Leben (Bergson), Leben als Bewusstseinsleben (Husserl), Leben als Kulturleben (Rickert) und Le- ben als organisches Leben (Plessner). Auch für Martin Heidegger ist das Konzept maßgeb- lich. Die frühen ‚Freiburger Vorlesungen‘ (1919-1923) stellen das Leben als faktisches Le- ben, das heißt unseren jeweiligen verstehenden Lebensvollzug in den Mittelpunkt. 1 In Sein und Zeit (1927) arbeitet Heidegger zudem das schon vorher präsente, von Kierkegaard stam- mende Motiv, Leben als zu lebendes Leben, in existenzial-ontologischer Hinsicht aus. Zu- gleich wird nun auch die Entwicklung abgeschlossen, in der „Dasein“ terminologisch an die Stelle des „faktischen Lebens“ der frühen Vorlesungen tritt. 2 Gleichwohl spielt die Rede vom Leben auch in Sein und Zeit noch eine, wenn auch ver- änderte Rolle. Der Lebensbegriff steht dort primär für die Seinsart der Tiere und Pflanzen. Mit Blick auf die eingangs gegebene Aufzählung scheint es daher Plessners anthropologische Auffassung des Lebens als organisches Leben zu sein, mit der hier die größte Schnittmenge besteht. Eine solche Einschätzung bliebe aber äußerlich, da sie ausblendet, dass der Lebensbe- griff nicht denselben systematischen Ort in beiden Ansätzen einnimmt. Anders als für Pless- ner besteht aus Heideggers Sicht kein gangbarer Weg, den Menschen im Ausgang von sol- chen Ausdrücken wie „Leben“ oder „Lebewesen“ zu charakterisieren, und zwar unabhängig davon, um welche zusätzlichen Merkmale sie angereichert werden mögen. Heidegger hält „Leben“ für eine Seinsart, die in dem Sinne nachgeordnet ist, dass sie privative Bestimmun- gen erfordert. So vertritt er in Sein und Zeit in methodischer Hinsicht die These, dass wir uns 1 Diese Vorlesungen finden sich in GA 56/57-GA 63 der Gesamtausgabe. Siehe die ausführliche inhaltliche Darstellung bei Kim 2001, insbesondere 75 ff., 108 ff., 121 ff., und grundsätzlich die Beiträge zu den Bochumer Symposien „Faktizität und Geschichtlichkeit“ vom Juni und September 1985, die im Dilthey- Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 4, 1986/87, hrsg. v. F. Rodi, versammelt sind. 2 Siehe dazu Xolocotzi 2002, 23; Beelmann 1994, 25 f. 1

Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

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Erscheint in: Schaede, Stephan/ Hartung, Gerald/ Kleffmann, Tom (Hgg.), Das Leben II. Historisch-Systema-tische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Tübingen 2012 PrePrint – nicht zitierfähig

Das Lebendige bei Heidegger. Probleme seiner privativen Bestimmung

Matthias Wunsch (Wuppertal)

Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist „Leben“ ein zentraler Topos der

Philosophie, der es erlaubt, eine große Bandbreite verschiedener Phänomene zu erfassen. In

grober und unvollständiger Aufzählung lassen sich etwa unterscheiden: Leben als Erlebnis so-

wie als geschichtliches Leben (Dilthey), Leben als strömendes, schöpferisches Leben

(Bergson), Leben als Bewusstseinsleben (Husserl), Leben als Kulturleben (Rickert) und Le-

ben als organisches Leben (Plessner). Auch für Martin Heidegger ist das Konzept maßgeb-

lich. Die frühen ‚Freiburger Vorlesungen‘ (1919-1923) stellen das Leben als faktisches Le-

ben, das heißt unseren jeweiligen verstehenden Lebensvollzug in den Mittelpunkt.1 In Sein

und Zeit (1927) arbeitet Heidegger zudem das schon vorher präsente, von Kierkegaard stam-

mende Motiv, Leben als zu lebendes Leben, in existenzial-ontologischer Hinsicht aus. Zu-

gleich wird nun auch die Entwicklung abgeschlossen, in der „Dasein“ terminologisch an die

Stelle des „faktischen Lebens“ der frühen Vorlesungen tritt.2

Gleichwohl spielt die Rede vom Leben auch in Sein und Zeit noch eine, wenn auch ver-

änderte Rolle. Der Lebensbegriff steht dort primär für die Seinsart der Tiere und Pflanzen.

Mit Blick auf die eingangs gegebene Aufzählung scheint es daher Plessners anthropologische

Auffassung des Lebens als organisches Leben zu sein, mit der hier die größte Schnittmenge

besteht. Eine solche Einschätzung bliebe aber äußerlich, da sie ausblendet, dass der Lebensbe-

griff nicht denselben systematischen Ort in beiden Ansätzen einnimmt. Anders als für Pless-

ner besteht aus Heideggers Sicht kein gangbarer Weg, den Menschen im Ausgang von sol-

chen Ausdrücken wie „Leben“ oder „Lebewesen“ zu charakterisieren, und zwar unabhängig

davon, um welche zusätzlichen Merkmale sie angereichert werden mögen. Heidegger hält

„Leben“ für eine Seinsart, die in dem Sinne nachgeordnet ist, dass sie privative Bestimmun-

gen erfordert. So vertritt er in Sein und Zeit in methodischer Hinsicht die These, dass wir uns

1 Diese Vorlesungen finden sich in GA 56/57-GA 63 der Gesamtausgabe. Siehe die ausführliche inhaltliche Darstellung bei Kim 2001, insbesondere 75 ff., 108 ff., 121 ff., und grundsätzlich die Beiträge zu den Bochumer Symposien „Faktizität und Geschichtlichkeit“ vom Juni und September 1985, die im Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 4, 1986/87, hrsg. v. F. Rodi, versammelt sind.2 Siehe dazu Xolocotzi 2002, 23; Beelmann 1994, 25 f.

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der Seinsart des Lebens bzw. einer Ontologie des Lebens nur von einer Ontologie des Daseins

her nähern können. Und in der späteren Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt –

Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), in der sich Heidegger so ausführlich wie nirgendwo sonst

mit dem Lebendigen auseinandersetzt, steht die inhaltliche These der Weltarmut des Tiers im

Mittelpunkt, die im Rückgriff auf die strikte Privationsbestimmung von Armut als Entbehren

konzipiert wird. – Im Folgenden werde ich Heideggers Konzeption des Lebendigen vor allem

anhand von Sein und Zeit und Die Grundbegriffe der Metaphysik erörtern; die Probleme sei-

ner privativen Bestimmung werden dabei als Leitfaden dienen.

1.

Für die traditionelle Anthropologie ist es selbstverständlich, den Menschen als eine Art von

Lebewesen oder Tier zu verstehen, und ihn beispielsweise als ein auf Gemeinschaft bezoge-

nes Lebewesen (zÖon politikón) oder als vernünftiges Tier (zÖon lógon Écon, animal ra-

tionale) zu bestimmen. Demgegenüber setzt Heidegger den Menschen im Rahmen seines on-

tologischen Vorhabens in Sein und Zeit terminologisch als „Dasein“ an (SuZ 11), als ein Sei-

endes, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ (ebd., 12). Heidegger geht es in

Sein und Zeit nicht darum, den Menschen qua Dasein von anderem Seienden, etwa den Tie-

ren, abzugrenzen, sondern darum, den Zusammenhang der für das Dasein konstitutiven

Seinsstrukturen aufzuschlüsseln. Da er von „Existenz“ spricht, um dasjenige Sein zu bezeich-

nen, zu dem sich das Dasein auf die eine oder andere Weise verhält und das „je meines“ ist,

wird dieses Vorhaben zu einer „existenzialen Analytik des Daseins“ (ebd., 12 f., 41). Bei den

Explikaten dieser Analytik, den Seinscharakteren des Daseins, handelt es sich in Heideggers

Terminologie entsprechend um „Existenzialien“ (ebd., 44).

Heidegger unterscheidet den Begriff des Existenzials von einem anderen Typ von

Seinscharakteren. Die „Existenzialien“, so Heidegger, „sind scharf zu trennen von den Seins-

bestimmungen des nicht daseinsmäßigen Seienden, die wir Kategorien nennen“ (SuZ 44).

Auf diese Weise haben wir ein doppeltes Vokabular: Während die Existenzialien Seinsbe-

stimmungen des Daseins bezeichnen, stehen die Kategorien für solche von anderem Seienden.

Dieser strikten Gegenüberstellung entspricht die nicht minder strikte von Existenz und Vor-

handensein: „Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten von Seins-

charakteren. Das ihnen entsprechende Seiende fordert eine je verschiedene Weise des pri-

mären Befragens: Seiendes ist ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im weitesten

Sinne).“ (Ebd., 45) Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird spürbar, für wie unan-

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gemessen Heidegger die Grundfrage der traditionellen philosophischen Anthropologie, was

der Mensch sei, hält. Denn sie fragt nicht nach einem existenzialen Strukturzusammenhang,

den wir jeweils selbst instantiieren, sondern nach etwas vermeintlich Vorhandenem. Entspre-

chend erklärt Heidegger mit Bezug auf die traditionelle Bestimmung des Menschen als zÖon

lógon Écon: „Die Seinsart des zÖon wird aber hier verstanden im Sinne des Vorhandenseins

und Vorkommens.“ (Ebd., 48)

Die Kritik, die Heidegger auf diese Weise gegen die traditionelle Anthropologie eröff-

net, hat jedoch eine Kehrseite, die von ihm in Sein und Zeit nicht reflektiert wird. Der begriff-

liche Rahmen von Existenz und Vorhandenheit, von Existenzialien und Kategorien ist zu

grob, um die Seinsart und Seinsbestimmungen von Tieren oder allgemein von Lebewesen zu

erfassen. Den Begriff der Existenz reserviert Heidegger – entgegen dem üblichen Sprachge-

brauch – für das Sein des Daseins, also für die menschliche Seinsweise. Im Rahmen seiner

Terminologie kann daher von Tieren und Pflanzen ebenso wenig wie von Steinen oder Stüh-

len gesagt werden, sie existierten. Zudem scheinen für die ersteren die ontologischen Begriffe

nicht zu passen, die Heidegger mit Blick auf die letzteren prägt. ‚Vorhandenheit‘ scheint bei

ihm für die Seinsart bloßer Dinge wie Steine und Stühle reserviert zu sein; und auch der Be-

griff der Zuhandenheit, mit dem er diese Seinsart ursprünglicher zu fassen sucht (SuZ 69 ff.),

scheint nicht auf Tiere zu passen. Das Problem lässt sich so formulieren: Dinge sind zuhanden

oder vorhanden; Menschen existieren; was aber ist mit anderen Lebewesen und insbesondere

den Tieren? Diese Frage scheint in Sein und Zeit ungeklärt zu bleiben.3 Es sieht auf den ersten

Blick so aus, als würde schon das begriffliche Instrumentarium fehlen, um eine ontologische

Bestimmung des Tieres zu formulieren.

Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dieser Eindruck nicht ganz rich-

tig ist. Denn an einigen wenigen Stellen von Sein und Zeit wird deutlich, dass Heidegger zwi-

schen der Seinsart der Dinge und der der Menschen eine weitere Seinsart vorsieht: Leben.

„Leben ist weder pures Vorhandensein, noch aber auch Dasein.“ (SuZ 50) Schlagwortartig

gesagt, entspricht der Folge „Stein – Tier – Mensch“ in ontologischer Hinsicht die Folge

„Vorhandenheit – Leben – Existenz“.4 Die Frage nach der Seinsart der Tiere (und der Pflan-

3 Auch Jacques Derrida, der auf die Strukturierung der existenzialen Analytik von Sein und Zeit durch das Begriffspaar ‚Existenzialien – Kategorien‘ hinweist, erklärt in diesem Sinne, dass „sich das Tier mit existenzialen und kategorialen Mitteln nicht denken“ lässt (Derrida 1988, 69).4 Siehe hierzu Heideggers Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (SoSe 1928): „Existenz ist der Titel für die Seinsart des Seienden, das wir je selbst sind, das menschliche Dasein. Eine Katze existiert nicht, sondern lebt, ein Stein existiert nicht und lebt nicht, sondern ist vorhanden.“ (GA 26, 159). Vgl. auch die Vorlesung Einleitung in die Philosophie (WS 1928/29): „So können wir mit Rücksicht auf diese verschiedenen Arten des Seins des Seienden scheiden: das Existierende: die Menschen; das Lebende: Pflanzen, Tiere; das Vorhandene: die materiellen Dinge; das

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zen) lässt sich demnach mit dem Lebensbegriff beantworten. Diese Antwort wirft allerdings

neue Probleme auf. Sie ergeben sich aus Heideggers Tendenz, ontologische Begriffe exklusiv

zu formulieren. Heideggers Begriffe der Existenz und der Vorhandenheit sind insofern unge-

wöhnlich, als es aus seiner Sicht falsch wäre zu sagen, dass Steine existieren oder Menschen

(Dasein) vorhanden sind. Mindestens ebenso ungewöhnlich wäre es aber, wenn der Begriff

des Lebens auf die tierische und die pflanzliche Seinsweise beschränkt bliebe. Denn dann

wird, was sich von selbst versteht, unverständlich: dass Menschen Lebewesen sind oder Da-

sein lebendig ist. Es fällt auf, dass Heidegger derartige Aussagen in der Tat vermeidet.

Der Grund liegt darin, dass Heidegger befürchtet, die Wahl von „Leben“ als Ausgangs-

punkt in der Bestimmung des Menschen lege ihn auf ein, wie ich es nennen möchte, anthro-

pologisches ‚Additionsmodell‘ fest, in dem Menschen als Lebewesen plus X konzipiert wer-

den, wobei das X je nach anthropologischem Ansatz mit Rationalität, Sprache, Sozialität,

Transzendenz etc. belegt wird. Das Dasein, behauptet Heidegger gegen all diese Ansätze, „ist

ontologisch nie so zu bestimmen, daß man es ansetzt als Leben – (ontologisch unbestimmt)

und als überdies noch etwas anderes“ (SuZ 50). Aus Heideggers Sicht müssen Additionsmo-

delle des Menschen in methodischer und ontologischer Hinsicht als verfehlt gelten. Mit der

von ihnen eingenommenen theoretischen Einstellung wird derjenige Ansatzpunkt übersprun-

gen, der Heidegger zufolge allein sicherstellt, dass sich das Dasein „an ihm selbst von ihm

selbst her zeigen kann“: das Dasein „in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit“ (ebd., 16).

Die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen hat, sofern sie es unterlässt, sich

den Strukturen unserer praktischen Lebensvollzüge und des In-der-Welt-seins zuzuwenden,

die unerlässliche Vorfrage nach dem Sein des Menschen vergessen und bleibt daher „in ihren

entscheidenden ontologischen Fundamenten unbestimmt“ (ebd., 49). Anders gesagt: Solange

nicht das Sein des Menschen aufgeklärt wird, solange die ‚Komponenten‘, aus denen der

Mensch angeblich besteht, nicht existenzial bestimmt, sondern unreflektiert im Sinne der Vor-

handenheit angesetzt werden, muss diesem jede Wesensbestimmung äußerlich bleiben. Um

mit Sein und Zeit der „Bedürfnislosigkeit“ entgegenzuwirken, nach dem Sein desjenigen Sei-

enden zu fragen, das wir selbst sind, möchte Heidegger zur Bezeichnung dieses Seienden „die

Ausdrücke ‚Leben‘ und ‚Mensch‘ […] vermeiden“ (ebd., 46).

Resultat dieser Vermeidungstaktik ist, dass das Leben des Daseins in Sein und Zeit

kaum thematisiert wird.5 Wenn dort also vom Leben die Rede ist, wird es um die Seinsart des-

Zuhandene: die Gebrauchsdinge im weitesten Sinne […]“ (GA 27, 71).5 Ich werde auf die wenigen und zweifellos wichtigen Stellen, die es zum Leben des Daseins gibt und die in erster Linie den „Zusammenhang des Lebens“ (SuZ 373-375) sowie das Verhältnis von Leben und Tod betreffen (SuZ 246 f.), hier nicht gesondert eingehen können. Siehe dazu Kühn 1991 und Liebsch 1996.

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jenigen Seienden gehen, das weder daseinsmäßig noch bloß dingmäßig ist. Im Fokus steht da-

bei jedoch nicht die inhaltliche Bestimmung dieser Seinsart, sondern lediglich die methodi-

sche Frage nach dem angemessenen Zugang zu ihr. Die Art und Weise ihrer Beantwortung ist

durch den grundsätzlichen Ansatz von Sein und Zeit bestimmt. Heidegger zielt auf die Ausar-

beitung der Seinsfrage, der Frage nach dem Sinn von Sein.6 Die existenziale Analytik des Da-

seins kann seines Erachtens die Rolle eines Durchgangsstadiums auf diesem Weg überneh-

men, da sich das Dasein schon seiner ontischen Struktur nach – es geht ihm ja (wie bereits er-

wähnt) „in seinem Sein um dieses Sein selbst“ – „in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit

in seinem Sein“ versteht, also „Seinsverständnis“ besitzt (SuZ 12). Da Heidegger der Auffas-

sung ist, dass dieses Seinsverständnis „gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie

‚Welt‘ und Verstehen des Seins des Seienden [betrifft], das innerhalb der Welt zugänglich

wird“, schließt er: „Die Ontologien, die Seiendes von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter

zum Thema haben, sind demnach in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert“ (ebd.,

13). Diese Ontologien, insbesondere die Ontologie des Lebens, sind damit der Ontologie des

Daseins, die dadurch zu einer „Fundamentalontologie“ wird (ebd.), nachgeordnet.7 Heidegger

spezifiziert diese These mit Hilfe des Privationskonzepts: „Leben ist eine eigene Seinsart,

aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein. Die Ontologie des Lebens vollzieht sich auf dem

Wege einer privativen Interpretation“ (ebd., 50). In verschiedenen Parallelstellen wird die Al-

ternativlosigkeit dieses Vorgehens betont; die entsprechende Behauptung soll im Folgenden

Heideggers ‚Privationsthese‘ heißen: „Die ontologische Grundverfassung von ‚leben‘ ist […]

nur auf dem Wege reduktiver Privation aus der Ontologie des Daseins aufzurollen“ (ebd.,

194); Leben ist eine Seinsart, die „nur in privativer Orientierung am Dasein ontologisch fi-

xiert werden“ kann (ebd., 246).

Die Privationsthese sollte nicht als Behauptung einer sachlichen Abhängigkeit verstan-

den werden, als gäbe es Leben nicht unabhängig von Dasein, sondern als Behauptung eines

methodischen Vorrangs: Zuerst ist die existenziale Analytik des Daseins durchzuführen, um

dann aus der ontologischen Bestimmung des Daseins eine ontologische Bestimmung des Le-

bens zu gewinnen. – Leider bleibt in Sein und Zeit ganz unklar, wie das näher zu verstehen ist,

und welche Vorteile die Privationsthese verspricht. Müssen wir, um das Phänomen des Le-

Eine wichtige Herausforderung insbesondere für die Interpretation des Verhältnisses von Leben und Tod hat Derrida formuliert: „Was ist der Tod für ein Dasein, das nie wesentlich als Lebewesen bestimmt wird?“ (Derrida 1988, 138).6 In der Formulierung dieser Frage setzt Heidegger „Sein“ zuweilen in Anführungszeichen und spricht von der „Frage nach dem Sinn von ‚Sein‘“; gleich zu Beginn von Sein und Zeit finden sich beide Formulierungen auf einer Seite (SuZ 1). Zu Heideggers Seinsfrage siehe kritisch Tugendhat 1992.7 Vgl. unmittelbar dazu Heideggers Rede von „der einer Ontologie des Lebens vorgeordneten Ontologie des Daseins“ (SuZ 247).

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bens ontologisch zu bestimmen, vom Dasein Abstriche machen? Wenn dem so ist, wie lässt

sich dann entscheiden, an welcher Stelle und in welchem Maße? Und gesetzt den Fall, dass

sich hierüber Klarheit erzielen lässt, warum sollte dieses Vorgehen dem von Heidegger kriti-

sierten traditionellen Vorgehen der Anthropologie vorzuziehen sein? Wird nicht einfach das

für unbefriedigend gehaltene Additionsmodell des Menschen durch ein ebenso unbefriedigen-

des Subtraktionsmodell des Lebewesens ersetzt, in dem tierisches oder pflanzliches Leben als

Dasein minus X konzipiert wird?

Vor dem Hintergrund dieser Probleme ist es interessant, dass Heidegger seine Privati-

onsthese an einer Stelle von Sein und Zeit einzuschränken oder gar aufzugeben scheint: „In

der Ordnung des möglichen Erfassens und Auslegens ist die Biologie als ‚Wissenschaft vom

Leben‘ in der Ontologie des Daseins fundiert, wenn auch nicht ausschließlich in ihr.“8 Wäh-

rend der Beginn des Satzes der Privationsthese nahe steht, formuliert der von mir hervorgeho-

bene Nachsatz eine wichtige Einschränkung: Die „Wissenschaft vom Leben“ ist nicht exklu-

siv in der Ontologie des Daseins fundiert. Man kann dies je nach Betonung in dem eher harm-

losen Sinn verstehen, dass die „Wissenschaft vom Leben“ auch andere Fundamente als onto-

logische hat, d. h. ontische bzw. empirische, oder in dem stärkeren Sinn, dass diese Wissen-

schaft auch solche ontologischen Fundamente hat, die nicht aus der Daseinsontologie stam-

men. Während der Nachsatz, sofern er im ersten, harmlosen Sinn genommen wird, ohne wei-

teres mit der Privationsthese verträglich ist, läuft ihr der stärkere Sinn des Nachsatzes zuwi-

der. Warum? Da als ontologische Fundamente, die nicht aus der Daseinsontologie stammen,

nur solche einer Ontologie des Lebens in Frage kämen, müsste Leben dem auf diese Weise in-

terpretierten Nachsatz zufolge auch auf anderem Wege ontologisch zu fassen sein als in re-

duktiver Privation aus der Ontologie des Daseins. Dies widerspricht aber der Privationsthese.9

In Sein und Zeit lassen sich meines Erachtens keine direkten Belege finden, die die eine oder

die andere Lesart des genannten Nachsatzes erzwingen. Nach Maßgabe der Interpretationsma-

xime des principle of charity ist es dann jedoch geboten, sich für die schwache Lesart zu ent-

8 SuZ 49 f.; Hvh. v. mir, M. W.9 Auch Axel Beelmann erkennt die Relevanz des genannten Nachsatzes (Beelmann 1994, 47-49). Er übergeht allerdings die wichtige Differenz zwischen den hier unterschiedenen Lesarten. Daher sieht er nicht, dass der Nachsatz, wenn er strikt interpretiert wird, keinen „theoretischen Freiraum“ für die philosophische Interpretation des Lebens (ebd., 48), sondern einen Widerspruch zur Privationsthese generiert, kann aber auch nicht auf die harmlose Lesart setzen, da der Umstand, dass die Biologie ontisch bzw. empirisch fundiert ist, zu trivial ist, um Beelmanns anspruchsvolle Rede von einer „zweifache[n] Fundierung der Ontologie des ‚Lebens‘“ (ebd., 49) zu rechtfertigen. Meines Erachtens kann daher auch Beelmanns Einschätzung nicht überzeugen, dass hinsichtlich der methodischen Grundfragen einer Philosophie des „Lebens“ zwischen Sein und Zeit sowie Heideggers späterer Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik Kontinuität bestehe.

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scheiden, da es sich auf diese Weise vermeiden lässt, Heidegger eine inkonsistente Position

zuzuschreiben.

2.

Die Privationsthese, auf die Sein und Zeit demnach festgelegt ist, wird in den folgenden Jah-

ren von Heidegger einer kritischen Überprüfung unterzogen. Der entscheidende Text in die-

sem Zusammenhang ist seine im Wintersemester 1929/30 gehaltene Vorlesung Die Grundbe-

griffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Sie enthält nicht nur in methodischer,

sondern auch in inhaltlicher Hinsicht Heideggers intensivste Auseinandersetzung mit dem Be-

griff des Lebens, der auch hier wieder für die „Seinsart von Tier und Pflanze“ reserviert wird

(GA 29/30, 277, 282 u. ö.). Diese Auseinandersetzung ist in den zweiten Teil, den Hauptteil

der Vorlesung eingebettet, der mit der Frage „Was ist Welt?“ einen der „Grundbegriffe der

Metaphysik“ ins Zentrum stellt. Dem voran geht zum einen die „Vorbetrachtung“, die die ge-

samte Vorlesung einleitet und in der Heidegger seine Perspektive auf das Problem der Meta-

physik darlegt, und zum anderen der erste Teil der Vorlesung, der der „Weckung einer Grund-

stimmung“ des Philosophierens dient, und zwar der tiefen Langeweile, aus der heraus das me-

taphysische Fragen in Gang gebracht werden soll.

Da der Hauptteil der Vorlesung der Frage nach der Welt gewidmet ist, stellt sich die

Frage, auf welchem Wege die Ontologie des Lebens in diesem Kontext zum Thema wird. An-

ders als in Sein und Zeit wird die Frage „Was ist Welt?“ in Die Grundbegriffe der Metaphysik

nicht von dem her gestellt, wie wir alltäglich Welt verstehen und uns in ihr bewegen, sondern

im Rahmen einer „vergleichenden Betrachtung“ von bloß materiellen Dingen, Tieren und

Menschen in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Welt (GA 29/30, 262 f., 273 f.). Heideggers

Ausgangspunkt liegt in den Thesen „Der Stein ist weltlos“, „Das Tier ist weltarm“ und „Der

Mensch ist weltbildend“.10 Von diesen drei Thesen ist es die mittlere, mit Blick auf die sich

das Problem der „Lebendigkeit des Lebenden“ für Heidegger stellt. Näherhin geht es hier um

die sachliche Frage, als was das Wesen des Lebens zu bestimmen ist, sowie die methodische

Frage, wie „Lebendiges als solches – die Tierheit des Tieres und die Pflanzlichkeit der Pflan-

ze – ursprünglich zugänglich“ ist (ebd., 265 f.).11

10 Aus der Kontrastierung der Thesen geht hervor, dass Heidegger „Tier“ nicht als Gattungsbegriff, unter den auch die Menschen fallen, versteht.11 Derrida hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die drei genannten Thesen der Grundbegriffe der Metaphysik nicht nur Antworten auf die Frage nach der Welt vorbereiten: „Sie sind auch Antworten auf eine bestimmte Frage nach dem Leben: Wie ist das Wesen des Lebens überhaupt zu bestimmen, auf welchen Wegen kann das Leben in seinem Wesen zugänglich werden?“ (Derrida 1988, 59)

7

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Vor dem Hintergrund einer Reflexion auf den damaligen Stand der Wissenschaften vom

Leben12 nimmt Heidegger in der Zugänglichkeitsfrage nun erstmals von der Privationsthese

Abstand. Er stellt fest, „daß alle Disziplinen, die vom Lebendigen handeln, heute in einer

merkwürdigen Umbildung begriffen sind, deren Grundtendenz dahin geht, dem Leben sein ei-

genständiges Recht zurückzugeben. Das ist nicht ohne weiteres selbstverständlich und leicht,

wie die ganze Geschichte des Problems zeigt. In der ganzen Geschichte des Lebensproblems

können wir beobachten, daß versucht wird, das Leben, d. h. die Seinsart von Tier und Pflanze,

vom Menschen her zu deuten, oder andererseits das Leben zu erklären mit Hilfe der Gesetzes-

vorgänge, die wir der materiellen Natur entnehmen.“ (GA 29/30, 282) Das Zitat liest sich wie

eine Selbstkritik von Sein und Zeit. Denn dort war es Heidegger selbst, der sich mit der Priva-

tionsthese für die Interpretation der Seinsart des Lebens vom Menschen (Dasein) her aus-

sprach. Es sieht so aus, als erschiene ihm dieses Vorgehen nun ebenso unangemessen wie das

eines Physikalismus, der glaubt, dass sich biologische Vorgänge vollständig auf physikalische

Gesetze zurückführen lassen. Sich gegen beide Ansätze abgrenzend, formuliert Heidegger den

nun offenbar von ihm favorisierten Zugang: „Was bei alldem fehlt, ist der entschlossene Ver-

such und die Einsicht in die notwendige Aufgabe, das Leben von sich selbst her in seinem

Wesensgehalt primär zu sichern.“13 Indem Heidegger eine Ontologie des Lebens damit auf di-

rekte Weise – vom Leben selbst her – projektiert und nicht im Umweg über eine existenziale

Analytik des Daseins, scheint er die Privationsthese hinter sich gelassen zu haben.

Im Fortgang der Vorlesung stellt sich allerdings heraus, dass Heideggers methodische

Überlegungen komplexer und spannungsreicher sind als die Eindeutigkeit des bisher Skizzier-

ten vermuten lässt. Im Zentrum seiner Untersuchung der Lebendigkeit des Lebendigen steht,

wie erwähnt, die These der Weltarmut des Tiers. „Weltarmut“ selbst ist aber eine privative

Bestimmung. Sie scheint nur von der Fülle aus Sinn zu machen, die zur Welthaftigkeit oder

„Weltbildung“ gehört, wie sie Heidegger zufolge für den Menschen charakteristisch ist. Zwar

wehrt Heidegger ein Verständnis ab, in dem die Differenz zwischen der Weltarmut des Tiers

und der Weltbildung des Menschen mit Hilfe von Gradunterschieden etwa auf einer Vollkom-

menheitsskala konzipiert wird (GA 29/30, 284 ff.); sein Ziel ist dabei aber nicht, den privati-

ven Charakter von „Weltarmut“ zu leugnen, sondern ihn in einem besonders radikalen Sinn

zu betonen.

12 Die für Heidegger in diesem Zusammenhang maßgeblichen Autoren sind Hans Spemann, Hans Driesch und Jakob von Uexküll.13 GA 29/30, 283. In der bisherigen philosophischen Diskussion hält Heidegger Max Scheler (bei aller Kritik an dessen Stufenmodell) für denjenigen Philosophen, dessen Fragestellung am ehesten in diese Richtung geht und dabei „in vielen Hinsichten wesentlich und allem Bisherigen überlegen“ ist (ebd.).

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Page 9: Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

Um das zu verdeutlichen, ist es hilfreich auf Aristoteles’ Privationsbegriff („stæresiV“)

zurückzugehen14 und mindestens zweierlei zu unterscheiden: Erstens lässt sich in jedem Fall

des Fehlens von etwas an etwas von Privation sprechen; so kann man Aristoteles zufolge ei-

ner Pflanze eine Privation der Augen zuschreiben – sie hat keine Augen. Zweitens lässt sich

auch in einem engeren Sinn von Privation sprechen, „wenn etwas, das seiner Natur nach et-

was haben kann […], es nicht hat“. In diesem Sinn lässt sich keiner Pflanze eine Privation des

Sehens zuschreiben, aber beispielsweise einem blinden Menschen oder einem Maulwurf. In

das semantische Feld von „Privation“ fällt die Rede von der gewaltsamen Wegnahme oder

Beraubung. Sie kann jedoch nur für Fälle der Verwendung des engeren Privationsbegriffs

sinnvoll sein. Pflanzen können nicht der Augen beraubt sein, Menschen des Augenlichts

schon.

Vor diesem begrifflichen Hintergrund könnte es sich bei der Weltarmut von Tieren in

zweierlei Sinn um eine Privation der Welt handeln. In beiden Fällen wäre Welt, was Tiere

nicht haben; doch während sie in der ersten Variante ihrer Natur nach Welt haben können, ist

dies in der zweiten Variante ausgeschlossen. Heidegger konzipiert den privativen Charakter

der Weltarmut entlang der ersten Variante, weil er die Tiere so darstellt, als seien sie der Welt

gewissermaßen beraubt. Deutlich wird dies in den Ausgangsbestimmungen, die für sein Welt-

armutskonzept zentral sind: „Armsein heißt Entbehren“ und „Weltarmut ist ein Entbehren von

Welt“ (GA 29/30, 287, 289). Denn entbehrt werden kann offenbar nur dort etwas, wo grund-

sätzlich ein entsprechendes Haben möglich ist. Heidegger stimmt dem ausdrücklich zu, indem

er von „Armut (Entbehren) als Nichthaben im Habenkönnen“ spricht (ebd., 307).

Welche Konsequenzen zieht Heidegger daraus für sein Vorgehen in der Aufklärung und

Begründung der These, dass das Tier weltarm ist? Oder systematischer gefragt: Welche Kon-

sequenzen müsste er ziehen? In dem skizzierten Horizont sind grundsätzlich zwei Weisen des

Vorgehens möglich: Dass das Tier weltarm ist, ließe sich (i) vom Wesen des Tiers selbst her

oder (ii) vom Menschen und seiner wesentlichen Bestimmung, weltbildend zu sein, her ver-

deutlichen. Nicht im ersten, sondern nur im zweiten Fall verfolgte man, was sich am besten

als eine ‚privative Methode‘ bezeichnen lässt. Der entscheidende Zusammenhang zwischen

der mit Aristoteles getroffenen Unterscheidung verschiedener Privationsbegriffe und dem

Konzept der privativen Methode besteht nun darin, dass die Verdeutlichung eines engeren

Privationsbegriffs, näherhin eines solchen, in Bezug auf den die Rede von Beraubung sinnvoll

ist, eine privative Methode verlangt. Begriffe, die in einem weniger strikten Sinn privative

Bestimmungen sind, müssen demgegenüber nicht durch eine privative Methode verdeutlicht

14 Zum Folgenden vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1022 b 22 ff.

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werden. Dieser Zusammenhang lässt sich in Hinblick auf Heideggers These der Weltarmut

des Tiers und ihrer Entfaltung konkretisieren. Soll das Wesen einer als Entbehren von Welt

angesetzten Weltarmut des Tiers aufgeklärt werden, so wird das nur vom Wesen dessen her

möglich sein, was entbehrt wird (Welt) oder nicht in dieser Weise entbehrend ist (Mensch).

Anders gesagt: Da „Weltarmut“ eine strikte Privationsbestimmung ist, müsste ihr Wesen

durch die privative Methode verdeutlicht werden. Die Aufklärung ihres Wesens wäre umge-

kehrt nicht auf diese Methode festgelegt, wenn „Weltarmut“ eine weniger strikte Privations-

bestimmung wäre.

Heidegger müsste also, da er „Weltarmut“ als ein „Entbehren von Welt“ und damit als

denkbar strikte Privationsbestimmung konzipiert, in seiner Aufklärung ihres Wesens eine pri-

vative Methode verfolgen. Tatsächlich, so stellt man überrascht fest, unterlässt er dies jedoch.

Das zeigt sich zum einen darin, dass er sich der These „Der Mensch ist weltbildend“ erst im

letzten Kapitel der Vorlesung widmet (GA 29/30, 397 ff.), also nachdem die Wesensaufklä-

rung der Weltarmut des Tiers schon abgeschlossen ist. Der Aufbau seiner Analyse entspricht

also einem Vorgehen „von unten nach oben“ – wie es für die von ihm abgelehnte Philosophi-

sche Anthropologie charakteristisch wäre15 – und nicht einem privativen Vorgehen. Zum an-

deren skizziert die Überschrift des Kapitels, das der genannten Wesensaufklärung gewidmet

ist, die dabei verfolgte Methode: „Aufklärung des Wesens der Weltarmut des Tieres auf dem

Wege der Frage nach dem Wesen der Tierheit, des Lebens überhaupt, des Organismus“ (ebd.,

295). Die Wesensaufklärung der Weltarmut des Tiers verläuft demnach direkt über die Unter-

suchung des Wesens des Tiers und nicht im Umweg über eine Untersuchung des Menschen

und seines Wesens. Da außerdem an vielen Stellen des Kapitels deutlich wird, dass Heidegger

auch hier wieder nur das nicht-menschliche Leben vor Augen hat ebenso wie ausschließlich

den nicht-menschlichen Organismus, gehört der in der Kapitelüberschrift genannte Weg of-

fenbar nicht zu einem privativen Vorgehen. Das bedeutet, Heideggers Ansatz ist durch eine

Unverträglichkeit gekennzeichnet: Einerseits wird der Inhalt von „Weltarmut“ durch eine

strikte Privationsbestimmung angezeigt, andererseits wird aber in der Aufklärung ihres We-

sens auf die privative Methode verzichtet.

Obwohl an einer Stelle der Eindruck entstehen mag, als wolle Heidegger diese Diskre-

panz durch eine Annäherung an ein privatives Vorgehen beseitigen (siehe GA 29/30, 302 f.),

beharrt er in Abgrenzung zu der noch in Sein und Zeit vertretenen Privationsthese letztlich auf

der (oben schon zitierten) Rede von der „notwendige[n] Aufgabe, das Leben von sich selbst

15 Zur Frage, wie nah Heidegger der Philosophischen Anthropologie mit seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik kommt, siehe Wunsch 2010.

10

Page 11: Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

her in seinem Wesensgehalt primär zu sichern“ (ebd., 283): Wir werden hier, so Heidegger,

nicht den Weg einschlagen: „zuerst das Positive“ (Welt, Weltbildung) „und dann das Negati-

ve und den Mangel“ (Weltarmut), also nicht die privative Methode verfolgen, sondern „versu-

chen, aus der Aufhellung der Tierheit selbst dem Wesen der Weltarmut näherzukommen“

(ebd., 310). Er rechtfertigt dieses Vorgehen, indem er zeigt, dass die privative Methode defizi-

tär ist: Selbst wenn das Wesen der Welt geklärt wäre und sich von daher schlussfolgern ließe,

was unter ‚Weltentbehrung‘ zu verstehen ist, wäre noch nicht geklärt, „daß und wie das Tier

dergleichen wie Welt entbehrt“ (ebd.). Denn für letzteres ist „ein ureigener Blick auf die We-

sensart des Tieres“, eine „ureigene[] Charakteristik der Tierheit“ unabdingbar (ebd.).

Die erläuterte Unverträglichkeit zwischen der Ablehnung der privativen Methode und

dem inhaltlichen Ansatz, Weltarmut streng privativ zu bestimmen, ist dadurch jedoch nicht

beseitigt. Anders gesagt: Wenn es Heidegger um die Aufklärung der These der Weltarmut des

Tiers geht, wird seine initiale Absicht, nicht der privativen Methode zu folgen, dadurch kon-

terkariert, dass er „Weltarmut“ nicht nur als weite, sondern als denkbar strikte Privationsbe-

stimmung ansetzt. Um zu klären, warum Heidegger seinen Ansatz in dieser Weise belastet,

wäre daher nach Gründen für die Wahl dieser streng privativen Bestimmung der Weltarmut

zu fragen.

3.

Ein möglicher Grund dafür, Weltarmut streng privativ zu bestimmen, ist naheliegend. Er er-

gibt sich aus Heideggers vergleichender Betrachtung von Steinen und Tieren in ihrem jeweili-

gen Verhältnis zur Welt: „Stein und Tier haben beide keine Welt. Allein, das Nicht-Haben

von Welt ist in beiden Fällen nicht im gleichen Sinne gemeint.“ (GA 29/30, 289) Man kann

nun auf die Idee kommen, dass wir, um diese Differenz im Nicht-Haben von Welt verständ-

lich zu machen, auf die Unterscheidung zurückgreifen müssen, die oben mit Blick auf Aristo-

teles’ Privationsbegriff eingeführt wurde: Sowohl für Steine als auch für Tiere ist eine Privati-

on der Welt charakteristisch, aber nur von letzteren kann man sagen, sie seien gewissermaßen

der Welt beraubt. Heideggers Überlegung scheint in genau diese Richtung zu gehen: „Weltlos

und weltarm sind je ein Nichthaben von Welt. Weltarmut ist ein Entbehren von Welt. Weltlo-

sigkeit ist eine solche Verfassung des Steines, daß der Stein dergleichen wie Welt nicht ein-

mal entbehren kann.“ (Ebd.)

Man kann Heidegger zugestehen, dass Stein und Tier in verschiedener Weise keine

Welt haben und dass es zumindest möglich ist, diese Verschiedenheit im Rekurs auf den strik-

11

Page 12: Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

ten Privationsbegriffs des Entbehrens zu erläutern. Dies mag auch in der Tat Heideggers Mo-

tiv für die Wahl der streng privativen Bestimmung der Weltarmut gewesen sein. Allerdings ist

diese Wahl nicht alternativlos. Um die Fälle des Nicht-Habens von Welt bei Steinen und Tie-

ren begrifflich zu unterscheiden, ist man keineswegs zu der Einschätzung gezwungen, dass

Tiere in dem Sinne keine Welt haben, dass sie sie entbehren. Wie man seiner Vorlesung ent-

nehmen kann, verschließt sich auch Heidegger selbst dieser Einsicht nicht ganz. In einer sorg-

fältigen phänomenologischen Analyse zeigt er, dass dem Stein „das, worunter er auch vorhan-

den ist, wesenhaft nicht zugänglich ist“ (GA 29/30, 290). Es ist zwar richtig, wenn Heidegger

dann feststellt, dass der Stein aufgrund dieser wesenhaften „Zugangslosigkeit“ „überhaupt

nicht entbehren kann“ (ebd.); der springende Punkt ist aber, dass sich der Stein aufgrund die-

ser Zugangslosigkeit in jedem Fall vom Tier unterscheidet, das heißt unabhängig davon, ob

dieses als Welt entbehrend konzipiert wird oder nicht. Denn die Seinsart des Tiers, „die wir

das ‚Leben‘ nennen, ist nicht zugangslos zu dem, was auch noch neben ihm ist, worunter es

als seiendes Lebewesen vorkommt“ (ebd., 292).

Geht nun aber, wenn Tieren auf diese Weise Zugang zu Seiendem zugesprochen wird,

nicht der Ausgangsgedanke verloren, dass Tiere keine Welt haben? Dafür dass dies keines-

wegs der Fall sein muss, steht exemplarisch Jakob Johann von Uexküll, dessen Überlegungen

zum Umweltbegriff in den verschiedenen philosophisch-anthropologischen Ansätzen bei Max

Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen eine wichtige Rolle spielen. Tiere haben zwar

keine Welt, leben aufgrund ihres Bauplans aber in einer artspezifischen Umwelt. Auch Hei-

degger greift Uexkülls Gedanken auf: „Man sagt, […] das Tier hat seine Umwelt und bewegt

sich in ihr. Das Tier ist in seiner Umwelt in der Dauer seines Lebens wie in einem Rohr, das

sich nicht erweitert und verengt, eingesperrt.“ (GA 29/30, 292) Mit der Rede vom Einge-

sperrtsein bringt Heidegger hier zwar erneut seine Position zum Ausdruck, das Nicht-Haben

von Welt (in der Gestalt des Habens einer Umwelt) sei durch eine strikte Privationsbestim-

mung (‚Freiheitsberaubung‘) gekennzeichnet; eine derartige Bestimmung gehört aber nicht

zum Begriff der Umwelt als solchem.16 Der Umweltgedanke erlaubt es, die Beschaffenheit

des Zugangs der Tiere zu Seiendem von der unseres Zugangs zu Seiendem zu unterscheiden.

Ihr Zugang ist umwelt- oder umgebungsgebunden, während unserer weltoffen (Scheler) oder

16 Heidegger selbst räumt dies implizit ein, indem er Uexkülls Umweltbegriff von seinem eigenen Begriff des „Enthemmungsrings“ her interpretiert. Er erklärt, das Tier sei von solchem umringt, das sein „Fähigsein ‚angeht‘, an-läßt“ (GA 29/30, 369). Er nennt dieses Anlassen des Fähigseins des Tieres ‚Enthemmen‘ (ebd.) und den Umring, „innerhalb dieses oder jenes Enthemmende enthemmen kann“, den „Enthemmungsring“ des Tiers, der zu seiner „innersten Organisation“ gehört (ebd., 370 f.) und „eine ganz bestimmte Umringung möglicher Reizbarkeit“ festlegt (ebd., 374). In Heideggers Auffassung meint Uexkülls Ausdruck ‚Umwelt‘ „faktisch nichts anderes als das, was wir als Enthemmungsring gekennzeichnet haben“ (ebd., 383).

12

Page 13: Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

weltbildend (Heidegger) ist. Dass es Bestimmungen gibt, die den Zugang des Menschen zu

Seiendem als einen welthaften auszeichnen und den Zugang der Tiere nicht erfassen, impli-

ziert nicht, dass sie dieser Bestimmungen beraubt sind oder entbehren, sondern nur ihr Nicht-

Haben von Welt. Der Umweltgedanke ermöglicht es also, den Tieren einen Zugang zu Seien-

dem zuzusprechen und zugleich daran festzuhalten, dass sie keine Welt haben.17

Wenn man also die Rede von der Weltarmut des Tiers aufgreifen möchte und das Tier

vom Stein einerseits und vom Menschen andererseits in ihren jeweiligen Verhältnissen zur

Welt voneinander abgrenzen möchte, ist weder in dem einen noch in dem anderen Fall eine

streng privative Bestimmung der Weltarmut erforderlich. Dass Heidegger sich gleichwohl für

die strikte Privationsbestimmung von „Weltarmut“ entscheidet, muss also, wenn es überhaupt

begründet ist, andere Gründe haben.

Vielleicht lassen sich solche Gründe in dem schon erwähnten Kapitel finden, das die

ausführliche Wesensaufklärung der Weltarmut des Tiers enthält (GA 29/30, 295-388). Hei-

degger versucht dort in den meines Erachtens fruchtbarsten Überlegungen seiner Vorlesung,

das „Grundwesen des Organismus“, die „Wesensstruktur des Tieres“ unter dem Titel „Be-

nommenheit“ herauszuarbeiten (ebd., 376, 347). Den Hintergrund bildet dabei die Rede vom

Sichbenehmen des Tieres, die Heidegger der vom Sichverhalten des Menschen kontrastiert.

„Das Benehmen des Tieres ist nicht ein Tun und Handeln, wie das Verhalten des Menschen,

sondern ein Treiben“ (ebd., 346). Mit dem Treiben des Tiers – seinem Sehen, Hören, Jagen,

Greifen etc. – geht keinerlei Distanznahme oder Feststellen einher; in seinem Treiben ist es

zwar auch auf etwas bezogen, aber nur in der Weise, dass es davon bzw. durch es „hingenom-

men“ oder „benommen“ ist (ebd., 352-4). Das Benommensein ist Heidegger zufolge nicht

bloß ein temporärer Zustand des Tiers, sondern struktureller Art. Jedes einzelne Benommen-

sein, beispielsweise das Saugen einer Biene, wird, wenn es gehemmt oder abgebrochen wird,

prinzipiell durch ein weiteres Benommensein ersetzt, etwa das Zurückfliegen in den Bienen-

stock. „Das Treiben hört nicht einfach auf, sondern die Getriebenheit des Befähigtseins wird

umgesteuert in einen anderen Trieb.“ (Ebd., 353)

17 Bei G. Agamben werden die skizzierten Zusammenhänge nicht ganz klar. Er sieht zwar richtig, dass die „animalische Umwelt“ mit Heidegger als „offen, aber nicht offenbar“ bestimmt werden kann, fügt seltsamerweise aber hinzu, dass das Seiende dem Tier „nicht zugänglich“ sei (Agamben 2003, 63), obwohl Heidegger an verschiedenen Stellen explizit das Gegenteil behauptet (GA 29/30, 292, 299, 390). Von solchen Kleinigkeiten abgesehen, fällt vor allem auf, dass es Agamben nicht für erforderlich hält, zu Heideggers These, das Tier sei weltarm im Sinne von weltentbehrend, verteidigend oder problematisierend Stellung zu nehmen. Er gibt auch nicht zu erkennen, dass er ihre Tragweite richtig einschätzt, wenn er erklärt, die Weltarmut werde durch die „Öffnung ohne Offenbarung definiert“ (Agamben 2003, 63; Hvh. v. mir, M. W.). Der sachlich interessante Beitrag, den Agamben zu Heideggers Vorlesung liefert, betrifft die Frage des Verhältnisses zwischen menschlicher Langeweile und tierischer Benommenheit (siehe insbes. ebd., 70 f., 77), liegt damit aber thematisch nicht innerhalb der hier verfolgten Problemstellung.

13

Page 14: Wunsch 2012 - Das Lebendige Bei Heidegger

In dem hier verfolgten Problemzusammenhang ist Heideggers Wesensaufklärung der

Weltarmut des Tiers nicht um ihrer selbst willen, sondern vor allem mit Blick auf die Frage

von Interesse, inwieweit privative Bestimmungen für sie maßgeblich sind. Aus diesem Grund

verdienen einige negative Formulierungen Heideggers besondere Aufmerksamkeit: „Das Sau-

gen an der Blüte ist nicht ein Sichverhalten zur Blüte als etwas Vorhandenem“ (ebd., 353);

zum Sichbenehmen des Tieres gehört „kein Vernehmen des Honigs als eines Vorhandenen“

(ebd., 354). Während Heidegger hier nur mit einfachen Abgrenzungen arbeitet – dem Treiben

des Tiers abspricht, was unser Denken und Handeln prägt: die Als-Struktur –, scheint er an ei-

ner späteren Stelle eine strikte Privationsbestimmung ins Spiel zu bringen, indem er die Ge-

nommenheit des Vernehmens als ein Strukturmoment der Benommenheit einführt: „Die Biene

ist in all dem Treiben bezogen auf Futterstelle, Sonne, Stock, aber dieses Bezogensein darauf

ist kein Vernehmen des Genannten als Futterstelle, als Sonne und dergleichen […]. Es ist kein

Vernehmen, sondern ein Benehmen, ein Treiben, das wir so fassen müssen, weil dem Tier die

Möglichkeit des Vernehmens von etwas als etwas genommen ist, und zwar nicht jetzt und

hier, sondern genommen im Sinne des ‚überhaupt nicht gegeben‘.“ (Ebd., 360; Hvh. v. mir;

M. W.)

Die zitierte Passage ist überaus problematisch und ambivalent. Denn erstens kann ei-

nem Wesen, von der Wortbedeutung her argumentiert, nur das „genommen“ werden, was es

hat. Das gilt offensichtlich auch für Möglichkeiten wie die des Vernehmens von etwas als et-

was. Vor diesem Hintergrund erscheint es einfach unzutreffend, dass dem Tier diese Möglich-

keit genommen ist. Zweitens argumentiert Heidegger, dass wir das Treiben des Tiers nur des-

halb als Benehmen fassen dürfen, weil dem Tier die Möglichkeit des Vernehmens genommen

ist. Auch dies erscheint falsch. Um das Treiben des Tiers als Benehmen zu fassen, wird die

Annahme, dass ihm diese Möglichkeit genommen ist, nicht benötigt; es reicht aus, dass es sie

nicht hat. Drittens: Ihr Schillerndes erhält die zitierte Passage schließlich durch den Zusatz

„[…] genommen im Sinne des ‚überhaupt nicht gegeben‘“. Die in ihm enthaltene Neubestim-

mung der Wortbedeutung von „Genommenheit“ hat den Anschein des

Willkürlichen. Der Grund dafür ist inzwischen bekannt: Was einem „überhaupt nicht gege-

ben“ ist, kann einem auch nicht genommen sein; man hat es einfach nicht.

Sieht man von diesen Schwierigkeiten ab, so scheint es aber sinnvoll zu sein, dem Zu-

satz „[…] genommen im Sinne des ‚überhaupt nicht gegeben‘“ die Funktion zuzumessen, die

„Genommenheit“, bei der es sich der Wortbedeutung nach um eine strikte Privationsbestim-

mung handelt, rhetorisch in eine lose Privationsbestimmung zu transformieren. Denn Heideg-

gers Ausführungen werden auf diese Weise nicht mit der These belastet, die Tiere seien der

14

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Möglichkeit eines Vernehmens von etwas als etwas beraubt, wo es doch ausreicht zu sagen,

ihr Zugang weise diese Als-Struktur nicht auf. So zu argumentieren, hieße aber, Heidegger

eine Brücke zu bauen, die er gar nicht betreten möchte. Denn wo er seine Untersuchung des

Wesens des Lebendigen mit Blick auf die Weltarmutsthese bilanziert, greift er auf die streng

privative Bestimmung der „Genommenheit“ zurück: „Zur Benommenheit gehört als ein We-

sensmoment die Genommenheit von Welt“ (GA 29/30, 393), wobei Genommenheit von Hei-

degger offenbar als maßgebliche Stütze für seine Konzeption der Weltarmut als Entbehren ins

Spiel gebracht wird. Denn die Frage im Kontext der zitierten Stelle ist lediglich, ob (i) die Be-

nommenheit als „der Organismuscharakter des Tieres […] die Bedingung der Möglichkeit der

Weltarmut“ im Sinne des Entbehrens von Welt ist, oder ob umgekehrt (ii) die so verstandene

Weltarmut „die Bedingung und der Wesensgrund für den Organismus und seine innere Mög-

lichkeit“ ist (ebd.). Heidegger erläutert zuerst, dass hier nicht die zweite, sondern nur die erste

Alternative in Frage kommt. Da die Genommenheit „nur ein konstitutives Moment der We-

sensganzheit des Organismus – der Benommenheit – ausmacht“ und der einzige Anhaltspunkt

für die Weltarmut als Entbehren ist, kann diese nicht die Bedingung der Möglichkeit des We-

sensganzen der Benommenheit sein (ebd.); vielmehr, so Heidegger, sei umgekehrt „die Be-

nommenheit […] die Bedingung der Möglichkeit der Weltarmut“ als Entbehren (ebd., 394).

Der Sache nach, so ist kritisch einzuwenden, ist allerdings auch diese Alternative nicht

überzeugend. Denn sie basiert darauf, dass „Genommenheit“ als Strukturmoment der Benom-

menheit nicht schon mittels der oben zitierten Neudefinition („im Sinne des ‚überhaupt nicht

gegeben‘“, 360) entschärft ist, sondern als eine strikte Privationsbestimmung gilt. Denn nur

dann lässt sich der Schritt vom Begriff der Genommenheit von Welt zu dem der Weltarmut

als Entbehren machen. Doch dass den Tieren Welt oder die Möglichkeit des Vernehmens von

etwas als etwas tatsächlich genommen ist, konnte Heidegger bisher nicht einmal annähernd

verständlich machen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur gut nachvollziehbar, sondern auch überfällig,

dass Heidegger gegen seine These, es handele sich bei dem für die Tiere charakteristischen

Nichthaben der Welt um ein Entbehren von Welt, schließlich einen Selbsteinwand erhebt. In

dem letzten Paragraphen vor dem Übergang zur Untersuchung des Weltproblems und der

These „Der Mensch ist weltbildend“, also nach der gesamten Wesensaufklärung der Weltar-

mut durch die Untersuchung des Wesens des Lebendigen (GA 29/30, 295-388) erwägt Hei-

degger, ob wir die Bedeutung der Weltarmutsthese „am Ende […] nicht nur reichlich zurück-

schrauben“ müssen, sondern ob auf diese These überhaupt zu „verzichten [ist], weil sie – ge-

15

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rade auf das Wesen der Tierheit gesehen – irreführt, d. h. die verkehrte Meinung erweckt, als

sei das Sein des Tieres in sich und an sich ein Entbehren und Armsein“ (ebd., 394).

Wie schwer der Einwand wiegt, zeigt sich darin, dass sich Heidegger, obwohl der Kern

seiner Konzeption des Lebendigen auf dem Spiel steht, weder um eine Widerlegung noch

auch nur um eine Zurückweisung des Einwandes bemüht – es geht ihm lediglich um eine

„Entkräftung“ (GA 29/30, 392). Er schlägt dazu zwei Wege ein. Auf dem einen versucht er

noch einmal das Konzept der Genommenheit für seine Zwecke fruchtbar zu machen. „Wenn

wir zuvor betont haben, die Genommenheit der Möglichkeit der Offenbarkeit von Seiendem

bilde nur ein Strukturmoment der Benommenheit und könne deshalb nicht der Wesensgrund

des Ganzen als solchen sein, dann ist dem jetzt zu entgegnen, dass wir am Ende die wesenhaf-

te Organisation des Organismus noch gar nicht hinreichend geklärt haben, um über die Be-

deutung dieser Genommenheit zu entscheiden, und dass wir sie nicht klären können, solange

wir nicht das Grundphänomen des Lebensprozesses und damit des Todes mit hineinziehen.“

(Ebd., 396) Mit anderen Worten: Bei weiterer Untersuchung könnte sich herausstellen, dass

der systematische Ort der Genommenheit von Welt tiefer liegt als bisher angenommen, dass

Genommenheit also nicht nur ein Strukturaspekt, sondern der Grund des Strukturganzen der

Benommenheit ist. Diese Überlegung ist für Heideggers Zwecke m. E. weniger hilfreich, als

es den Anschein haben mag. Denn die Frage des systematischen Orts der Genommenheit von

Welt stellt sich nur dann ernsthaft, wenn überhaupt gerechtfertigt ist, dass dem Tier Welt ge-

nommen ist. Genau diese Rechtfertigung blieb Heidegger aber schuldig.18 – Auf dem anderen

Weg erklärt Heidegger, es sei angesichts der Ungeklärtheit des Weltbegriffs zu früh, die The-

se von der Weltarmut des Tieres aufzugeben. „Wir wissen bisher nur ein Geringes vom We-

sen der Welt und vom Grund ihrer Möglichkeit gar nichts; und erst recht nichts von der Be-

deutung des Weltphänomens in der Metaphysik. Steht es aber so, dann haben wir jetzt zum

mindesten noch kein Recht, unsere These ‚das Tier ist weltarm‘ abzuändern und zu nivellie-

ren auf den indifferenten Satz: das Tier hat keine Welt“ (ebd., 395). Die Äußerung erscheint

seltsam. Denn selbstverständlich besteht das Recht, eine These abzuändern, die von Beginn an

weder plausibel noch hinreichend motiviert war und die sich auch nicht in der dann folgenden

umfangreichen Untersuchung erhärten ließ. Es scheint sogar umgekehrt geboten, eine so be-

schaffene These zu suspendieren.

18 Mit Beelmann ist hinzuzufügen, dass auch wenig Hoffnung zu bestehen scheint, dass sich aus der „todesbezogenen Analyse der Prozessualität des Lebens“ eine Rechtfertigung dafür gewinnen lässt, dass dem Tier die Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden genommen ist bzw. dass es Welt entbehrt (Beelmann 1994, 148 f.). Denn als Hauptergebnis einer solchen Analyse kann (wie schon in Sein und Zeit) wohl „nur erwartet werden, daß Lebendiges nicht stirbt, sondern verendet“ (ebd., 149).

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Beide Versuche Heideggers, den Selbsteinwand gegen seine These, dass das Tier in ei-

nem streng privativen Sinn weltarm ist, zu entkräften, haben etwas Gemeinsames: Ihr Erfolg

hängt von zukünftigen Untersuchungen ab, davon, dass die jeweils anvisierten Untersuchun-

gen Resultate zeitigen, die die Weltarmutsthese unterstützen. Doch zeigt sich die Haltlosigkeit

von Heideggers Position nicht genau darin, dass er dem zentralen Einwand gegen sie schließ-

lich nur begegnen kann, indem er eine Hypothek auf nicht durchgeführte Untersuchungen

aufnimmt? Gerade die Hauptthese seiner Erörterung des Wesens des Lebendigen, die These,

das Tier sei in dem Sinne weltarm, dass es Welt entbehrt, hängt also in der Luft.

Die Autorität, die Heidegger für seine These am Ende allein noch ins Feld führen kann,

ist die der Dichtung und die religiöser Texte. Mit Bezug auf die verbleibenden Aussichten,

„das Nichthaben von Welt beim Tier doch als ein Entbehren zu verstehen und in der Seinsart

des Tieres als solchen ein Armsein zu finden“ (GA 29/30, 395), erklärt er: „Daß vielleicht nur

die Dichter gelegentlich davon reden, ist ein Argument, das die Metaphysik nicht in den Wind

schlagen darf. Am Ende bedarf es nicht erst des christlichen Glaubens, um etwas von jenem

Wort zu verstehen, das Paulus (Römer VIII, 19) schreibt von der Âpokaradok™a t²V

kt™sewV, von dem sehnsüchtigen Ausspähen der Geschöpfe und der Schöpfung, deren Wege,

wie auch das Buch Esra IV, 7, 12 sagt, in diesem Äon schmal, traurig und mühselig geworden

sind.“ (Ebd., 396)

Es bleibt allerdings unklar, welchen argumentativen Status es hat, wenn Dichter in einer

Weise sprechen, die mit den Besonderheiten von Heideggers Weltarmutsthese verträglich ist.

Ist gemeint, dass sich Weltarmut zu Recht als strikte Privationsbestimmung verstehen ließe,

sofern die Welt der Dichtung und ihre ‚Wahrheit‘ gegenüber unserer metaphysisch vorrangig

wäre? Doch es ist nicht einzusehen, wie ein solcher Vorrang begründet werden sollte. – Kon-

kret scheint sich Heidegger dann letztlich auf das zu verlassen, was er in einigen religiösen

Texten findet, etwa auf Paulus’ Rede vom sehnsüchtigen Ausspähen der Geschöpfe, die auf

diejenige Entbehrung anspielt, die der Heilsausstand mit sich bringt.19 Doch auch religiöse

Texte können selbst bei größtmöglicher Dignität Argumente nicht ersetzen. Argumente sind

in der Philosophie aber unverzichtbar.

19 Beelmann wertet die Passage so, dass Heidegger hier „theologische Bestände requiriert, von denen er vorgibt, sie seien philosophisch ableitbar“ (Beelmann 1994, 66), kommt im Fortgang seiner Untersuchung aber zu dem Resultat, dass Heidegger keine solche Ableitung leistet.

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Literatur:

Agamben, Giorgio 2003, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a. M.Beelmann, Axel 1994, Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff. Eine Analyse seiner

Vorlesung „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“. Würzburg.

Derrida, Jacques 1988, Vom Geist. Heidegger und die Frage. Franfurt a. M.Heidegger, Martin, Gesamtausgabe. Frankfurt a. M. 1975 ff. [= GA]–, Sein und Zeit. Tübingen 161986. [= SuZ]–, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, in: GA 26, hrsg. v.

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a. M. 1996.–, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: GA 29/30, hrsg. v.

F.-W. v. Hermann. Frankfurt a. M. 1983.Kim, Jae-Chul 2001, Leben und Dasein. Die Bedeutung Wilhelm Diltheys für den Denkweg

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Xolocotzi, Angel 2002, Der Umgang als „Zugang“. Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang“ zum faktischen Leben in den frühen ‚Freiburger Vorlesungen‘ Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls. Berlin.

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