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Genderforschung Häufigkeit der Depression bei Männern unterschätzt? Sind Depressionen bei Frauen tatsächlich häufiger als bei Männern? Einer US- Studie zufolge ist das nicht der Fall, wenn Symptombeschreibungen verstärkt berücksichtigt werden, die eher für Männer charakteristisch sind: Reizbarkeit, Wutgefühle und Drogengebrauch. - Aus mehreren Studien geht hervor, dass in Deutschland die Lebenszeitprävalenz der Depression bei Frauen mit 25% doppelt so hoch liegt wie bei Männern mit nur etwa 12,3%. Schon vor mehr als zehn Jahren wur- den die traditionellen Diagnosekriterien an- gezweifelt, weil Männer aufgrund ihrer ge- sellschaftlichen Rolle seltener zugeben, zu weinen oder traurig zu sein. Außerdem wird vermutet, dass sich Depressionen bei Män- nern anders zeigen als bei Frauen. Um die Gründe für die unterschiedlichen Prävalenzen zu erforschen, analysierten Gender- und Gesundheitsforscher um Lisa A. Martin, Universität von Michigan in Dear- born, Daten einer landesweiten Umfrage (National Comorbidity Survey Replication) zu psychischer Gesundheit, an der 2382 Männer und 3310 Frauen teilgenommen hatten. Dabei zeigte sich, dass Männer mit Depressionen eher als Frauen über Wutatta- cken/Aggressionen (94,9% vs. 88,9%), Dro- gengebrauch (61,4% vs. 40,6%) und riskantes Verhalten (52,6% vs. 29,1%) berichten, auch wenn zusätzlich traditionelle Symptome wie depressive Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsverminderung und Schlaflosigkeit angegeben werden. 31-Jahres-Studie Wut und Ärger: Zeichen schwerer Depression Treten bei Patienten mit unipolarer Major-Depression (MD) Reizbarkeit oder Aggressionen auf, spricht dies für einen schweren, chronifizierenden Verlauf. Das haben US-Psychiater in einer Studie mit über 500 Patienten festgestellt. - Die Autoren dieser Langzeituntersu- chung, Lewis Judd et al. von der University of California, blicken auf eine bis zu 31 Jahre währende Nachbeobachtung ihrer Proban- den zurück. Von den insgesamt 536 Teilneh- mern waren 292 (54,5%) bei der Aufnahme in die Studie reizbar bzw. zornig/aggressiv gewesen. Das Durchschnittsalter in der Gruppe der Reizbaren lag signifikant nied- riger (37,5 vs. 41,5 Jahre). Sie waren zudem früher an MD erkrankt (mit 27,6 vs. 30,4 Jah- ren). Frauen waren in dieser Gruppe überre- präsentiert (65,8% vs. 56,2%). Bereits diejenige Episode einer Major-De- pression, die schließlich zu ihrer Studienteil- nahme führte, hielt bei den reizbaren Patien- ten signifikant länger an als bei Patienten, die nicht über Reizbarkeit bzw. Ärger berichte- ten (91 Wochen vs. 49 Wochen). Depressive mit Reizbarkeit und Zorn während der Auf- nahmeepisode zeigten in der Nachbeobach- tung schwerere Verläufe. Sie verfügten über eine schlechtere Impulskontrolle bis hin zu antisozialen Handlungen (18,2% vs. 10,2%). Eine ganze Reihe von Begleitstörungen trat bei reizbaren und aggressiven Patienten mit Ist er in Wahrheit depressiv? © Thomas Perkins / Fotolia.de MD häufiger auf, z. B. Alkoholismus oder Dro- genmissbrauch (53,4% vs. 36,5%) und Angst- störungen (40,4% vs. 26,3%). Suchtverhalten oder irgendeine Form von mentaler Störung traten während des Follow-up bei 87,7% der Reizbaren und bei 72,5% der MD-Patienten ohne Ärger und Wut auf. „Reizbarkeit bzw. Wut sind während MD- Schüben hoch prävalent“, schreiben die Au- toren. Als klinische Marker sprächen diese Symptome für einen schweren, chronischen und komplexen weiteren Verlauf. Es sei da- her wichtig, solche Patienten zu identifizie- ren. Auch die Therapie müsse auf diese Kon- stellation zugeschnitten und gezielt auf Ag- gressionsbewältigung ausgerichtet werden. Neben einer engen Betreuung seien zudem Strategien gegen die häufigen begleiten- den Probleme erforderlich – Angststörun- gen, Substanzmissbrauch, mangelnde Im- pulskontrolle und psychosoziale Beein- trächtigung. rb Judd LL et al. JAMA Psychiatry 2013, online 11. Sep- tember; doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.1957 Wurde ein Testsystem angewandt, dem männerspezifische Symptome zugrundela- gen (MMS, Male Symptoms Scale), war die Depressionsrate bei den Männern höher als bei den Frauen (26,3% vs. 21,9%; p = 0,007)). Nutzten die Forscher dagegen ein System, das sowohl traditionelle Symptome als auch alternative, männerspezifische Symptome berücksichtigt, waren die Prävalenzen mit 30,6% bei den Männern und 33,3% bei den Frauen nahezu gleich (p = 0,57). Die Autoren raten, in weiteren Studien zu klären, welche Symptome bei Männern tat- sächlich auf eine Depression deuten. Wich- tig sei, betroffene Männer und Frauen auch nach Gefühlen der Reizbarkeit und Wut so- wie nach Drogengebrauch zu fragen. ple Martin LA et al. JAMA Psychiatry 2013. online 28. August; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2013.1985 22 MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (19) AKTUELLE MEDIZIN

Wut und Ärger: Zeichen schwerer Depression

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Genderforschung

Häu�gkeit der Depression bei Männern unterschätzt?

Sind Depressionen bei Frauen tatsächlich häu�ger als bei Männern? Einer US-Studie zufolge ist das nicht der Fall, wenn Symptombeschreibungen verstärkt berücksichtigt werden, die eher für Männer charakteristisch sind: Reizbarkeit, Wutgefühle und Drogengebrauch.

− Aus mehreren Studien geht hervor, dass in Deutschland die Lebenszeitprävalenz der Depression bei Frauen mit 25% doppelt so hoch liegt wie bei Männern mit nur etwa 12,3%. Schon vor mehr als zehn Jahren wur-den die traditionellen Diagnosekriterien an-gezweifelt, weil Männer aufgrund ihrer ge-sellschaftlichen Rolle seltener zugeben, zu weinen oder traurig zu sein. Außerdem wird vermutet, dass sich Depressionen bei Män-nern anders zeigen als bei Frauen.

Um die Gründe für die unterschiedlichen Prävalenzen zu erforschen, analysierten Gender- und Gesundheitsforscher um Lisa

A. Martin, Universität von Michigan in Dear-born, Daten einer landesweiten Umfrage (National Comorbidity Survey Replication) zu psychischer Gesundheit, an der 2382 Männer und 3310 Frauen teilgenommen hatten. Dabei zeigte sich, dass Männer mit Depressionen eher als Frauen über Wutatta-cken/Aggressionen (94,9% vs. 88,9%), Dro-gengebrauch (61,4% vs. 40,6%) und riskantes Verhalten (52,6% vs. 29,1%) berichten, auch wenn zusätzlich traditionelle Symptome wie depressive Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Antriebsverminderung und Schla�osigkeit angegeben werden.

31-Jahres-Studie

Wut und Ärger: Zeichen schwerer DepressionTreten bei Patienten mit unipolarer Major-Depression (MD) Reizbarkeit oder Aggressionen auf, spricht dies für einen schweren, chroni�zierenden Verlauf. Das haben US-Psychiater in einer Studie mit über 500 Patienten festgestellt.

− Die Autoren dieser Langzeituntersu-chung, Lewis Judd et al. von der University of California, blicken auf eine bis zu 31 Jahre währende Nachbeobachtung ihrer Proban-den zurück. Von den insgesamt 536 Teilneh-mern waren 292 (54,5%) bei der Aufnahme

in die Studie reizbar bzw. zornig/aggressiv gewesen. Das Durchschnittsalter in der Gruppe der Reizbaren lag signi�kant nied-riger (37,5 vs. 41,5 Jahre). Sie waren zudem früher an MD erkrankt (mit 27,6 vs. 30,4 Jah-ren). Frauen waren in dieser Gruppe überre-präsentiert (65,8% vs. 56,2%).

Bereits diejenige Episode einer Major-De-pression, die schließlich zu ihrer Studienteil-nahme führte, hielt bei den reizbaren Patien-ten signi�kant länger an als bei Patienten, die nicht über Reizbarkeit bzw. Ärger berichte-ten (91 Wochen vs. 49 Wochen). Depressive mit Reizbarkeit und Zorn während der Auf-nahmeepisode zeigten in der Nachbeobach-tung schwerere Verläufe. Sie verfügten über eine schlechtere Impulskontrolle bis hin zu antisozialen Handlungen (18,2% vs. 10,2%). Eine ganze Reihe von Begleitstörungen trat bei reizbaren und aggressiven Patienten mit Ist er in Wahrheit depressiv?

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MD häu�ger auf, z. B. Alkoholismus oder Dro-genmissbrauch (53,4% vs. 36,5%) und Angst-störungen (40,4% vs. 26,3%). Suchtverhalten oder irgendeine Form von mentaler Störung traten während des Follow-up bei 87,7% der Reizbaren und bei 72,5% der MD-Patienten ohne Ärger und Wut auf.

„Reizbarkeit bzw. Wut sind während MD-Schüben hoch prävalent“, schreiben die Au-toren. Als klinische Marker sprächen diese Symptome für einen schweren, chronischen und komplexen weiteren Verlauf. Es sei da-her wichtig, solche Patienten zu identi�zie-ren. Auch die Therapie müsse auf diese Kon-stellation zugeschnitten und gezielt auf Ag-gressionsbewältigung ausgerichtet werden. Neben einer engen Betreuung seien zudem Strategien gegen die häu�gen begleiten-den Probleme erforderlich – Angststörun-gen, Substanzmissbrauch, mangelnde Im-pulskontrolle und psychosoziale Beein-trächtigung. rb ■

■ Judd LL et al. JAMA Psychiatry 2013, online 11. Sep-tember; doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.1957

Wurde ein Testsystem angewandt, dem männerspezi�sche Symptome zugrundela-gen (MMS, Male Symptoms Scale), war die Depressionsrate bei den Männern höher als bei den Frauen (26,3% vs. 21,9%; p = 0,007)). Nutzten die Forscher dagegen ein System, das sowohl traditionelle Symptome als auch alternative, männerspezi�sche Symptome berücksichtigt, waren die Prävalenzen mit 30,6% bei den Männern und 33,3% bei den Frauen nahezu gleich (p = 0,57).

Die Autoren raten, in weiteren Studien zu klären, welche Symptome bei Männern tat-sächlich auf eine Depression deuten. Wich-tig sei, betro�ene Männer und Frauen auch nach Gefühlen der Reizbarkeit und Wut so-wie nach Drogengebrauch zu fragen. ple ■

■ Martin LA et al. JAMA Psychiatry 2013. online 28. August; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2013.1985

22 MMW-Fortschr. Med. 2013; 155 (19)

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