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Zum Lernen von Begriffen

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Page 1: Zum Lernen von Begriffen

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Horst Struve

Zum Lernen von BegriffenDiskussionsbeitrag zum Artikel von Hans-Joachim Vollrath "ZumVerständnis von Geraden und Strecken" in JMD 19 (1998) Heft 2/3,S.201-219

Im obigen Artikel stellt Vollrath seine Position hinsichtlich des Erwerbs von

geometrischen Begriffen derjenigen von (Struve 1990) gegenüber. Im folgenden gehe

ich zunächst auf diejenigen Stellen ein, an denen Herr Vollrath aufgrund von

Mißverständnissen den Eindruck erweckt, als läge ein Dissens vor.

1. In Struve (1990) wurde der Versuch unternommen, Probleme des

Geometrieunterrichtes dadurch zu erklären, daß Lehrer (und Lehrbuchautoren)

einerseits, Schüler andererseits, Geometrie verschieden auffassen. Während Lehrer

meinen, sie würden eine abstrakte mathematische Theorie unterrichten, die sie

(geschickt) durch Zeichenblatt- und Faltfiguren veranschaulichen, erwerben die

unterrichteten Schüler eine Theorie über diese Veranschaulichungsmittel, eine

empirische Theorie der Zeichenblatt- und Faltfiguren. Grundlage dieser Interpretation

des Schülerwissens ist die in der kognitiven Psychologie um die Bereichsspezifität von

Wissen aufgestellte These, daß das Wissen von Schülern aus deren konkreten

Handlungen resultiert. Diese beziehen sich in der Sekundarstufe I durchgängig auf

reale Figuren. - Eine umfangreiche empirische Untersuchung, die diese Analyse stützt,

ist A. Schoenfeld (1985). Schoenfeld bezeichnet das "belief system" der von ihm

untersuchten Schüler als "empirical" (vgl. auch Struve (1998)).

Die Begriffe einer empirischen Theorie kann man - wie in der Wissenschaftstheorie

gezeigt wurde (vgl. W. Stegmüller (1986) und W. Balzer (1996)) - in zwei Klassen

einteilen, in die bzgl. dieser Theorie theoretischen Begriffe und in die bzgl. dieser

Theorie nicht-theoretischen Begriffe. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen

Arten von Begriffen liegt in der Referenz (Bezugnahme) auf Objekte der Realität:

Während die Begriffe der zuletzt genannten Art Referenzobjekte besitzen, auf die sie

sich beziehen', ist das bei den Begriffen der zuerst genannten Art nicht der Fall. Die

theoretischen Begriffe erhalten ihre Bedeutung erst durch die Theorie - dies erklärt

bzw. die Referenz dieser Begriffe in anderen Theorien geklärt ist - ein in dervon den Schülern erworbenen empirischen Geometrie nicht auftretender Fall.

(JMD 20 (1999) H. 1, S. 62-64)

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Diskussionsbeiträge.~~_._--_.__ .. _--.-

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ihren Namen. In der empirischen Geometrie, die Schüler gemäß der in (Struve 1990)

durchgeführten Rekonstruktion erwerben, ist der Begriff der Geraden ein theoretischer

Begriff, der Begriff der Strecke dagegen nicht-theoretisch.

Vollrath faßt die Begriffe "theoretisch" und "nicht-theoretisch" - er spricht von

"empirisch" - anders als in der Wissenschaftstheorie üblich. Für ihn steht der

Entstehungsprozeß im Vordergrund: Begriffe, die in Idealisierungsprozessen gewonnen

werden, heißen theoretisch. Mit dieser Definition kommt er zu dem Ergebnis, daß

sowohl der Begriffe der Strecke als auch der Begriff der Geraden theoretisch sei (S.

202). Dies steht allerdings in keinem Gegensatz zu den Ausführungen in (Struve 1990).

Jede Begriffsbildung in einer empirischen Theorie erfordert Idealisierungen (vgl.

hierzu (Kuokkanen 1994». Idealisierung ist eine mögliche Komponente der

Begriffsbi/dung, Referenz dagegen des Begriffsverständnisses. Auch durch

Idealisierung gewonnene Begriffe können Referenzobjekte besitzen. So referieren

beispielsweise die als ausdehnungslos angenommenen "Massenpartikel" der

Newtonsehen Mechanik auf reale Körper.

Meines Erachtens besteht zwischen der Auffassung von Herrn Vollrath und mir

hinsichtlich der Frage der Referenz der Begriffe Strecke und Gerade aus Schülersicht

und der Beurteilung der Rolle von Idealisierungen bei Begriffsbildungen kein

(nennenswerter) Unterschied. Im Vollrathschen Artikel entsteht dieser Eindruck durch

eine unterschiedliche Auffassung von Theoritizität.

2. Im folgenden möchte ich zwischen der Phase des Verfügens über einen Begriffund

dem Prozeß des Begriffslernens unterscheiden. Wenn man das geometrische Wissen

von Schülern mit Hilfe einer empirischen Theorie beschreibt, erscheint es mir sinnvoll,

erst dann davon zu sprechen, daß die Schüler über einen Begriff verfügen, wenn der

Begriff gemäß den Zielen dieser Theorie eingesetzt werden kann - d.h. wenn er zur

Beschreibung und Erklärung von Phänomenen der Realität verwandt werden kann, zu

Problemlösungen (in diesem Sinne). Das Verfügen über einen Begriff steht am Ende

eines Prozesses des Begriffslernens. der aus verschiedenen Phasen bestehen kann.

In (Struve 1990) wird gezeigt, daß man zur Lösung der in der gesamten Sekundarstufe

I behandelten Probleme den Begriff der Geraden nirgends benötigt. Die Schüler können

also in dieser Schulstufe im Sinne des angemessenen Problemlösens nicht über diesen

Begriff verfügen. Trotzdem können sie natürlich gewisse Phasen eines möglichen

Lernprozesses durchlaufen haben, etwa eine Phase, in der man Worte, die die Begriffe

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bezeichnen, in Gebrauch nimmt, ohne sich schon über die Tragweite der Begriffe im

klaren zu sein.

Der Test von Vollrath ist nicht so angelegt, daß der Begriff der Geraden, insbesondere

die Unbegrenztheit von Geraden, für Problemlösungen benötigt wird. Damit kann man

auch nicht beurteilen, ob die Schülerinnen und Schüler die Tragweite dieser

Eigenschaft erfaßt haben, ob sie über den Begriff der Geraden verfugen (i.o.S.). Der

Test zeigt aber, daß die Schüler (großenteils erfolgreich) eine Phase eines möglichen

Lernprozesses durchlaufen haben. Die Frage, ob diese Phase schon zu einer Stufe des

Verstehens führt oder nicht, erscheint mir eher terminologischer als inhaltlicher Art zu

sein. Für wichtig halte ich die Diskussion, ob Schüler der Sekundarstufe I überhaupt

solch eine Phase durchlaufen sollten. Ist es zweckmäßig, in den ersten Lerneinheiten

zur Geometrie der Sekundarstufe I einen Lernprozeß zu initiieren, um einen Begriff

einzuführen, den man in den nächsten fünf Jahren nicht benötigt und dessen

Verständnis nicht zu einem Verfugen (i.o.S.) vertieft werden kann? Gerade auch im

Hinblick auf die Probleme, die der Begriff der geometrischen Abbildung (mit der

gesamten Ebene als Definitions- und Wertebereich) im Unterricht verursacht, erscheint

mir diese Frage von Bedeutung.

Literatur

Balzer, W. (1996): Theoretical Tenns: Recent Developments. In:Balzer, W. & C.D. Moulines:

Structuralist Theory of Science. Berlin, S.139-166

Kuokkanen, M. (Hrsg.): Structuralism, Idealization and Approximation. Amsterdam 1994

Schoenfeld, AB. (!985): Problem Solving. Orlando

Stegmüller, W. (1986): Theorie und Erfahrung. 3. Teilband von Probleme und Resultate der

Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Berlin

Struve, H. (1990): Grundlagen einer Geometriedidaktik. Mannheim

Struve, H. (1998): Geometrie aus Schülersicht: Charakteristika und Probleme. Berichte über

Mathematik und Unterricht der ETH Zürich (Hrsg.: U. Kirchgraber). Zürich

Prof. Dr. Horst StruveUniversität zu KölnSeminar für Mathematik und ihre DidaktikGronewaldstr.250931 Köln