Aus der Pandemie lernen - was muss sich im deutschen Gesundheitssystem jetzt ändern?
Reinhard Busse, Prof. Dr. med. MPH
FG Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin
(WHO Collaborating Centre for Health Systems Research and Management)
&
European Observatory on Health Systems and Policies
Wie sah (und sieht) unser Gesundheitssystem aus?• „Viel hilft viel“ – sichtbar insbesondere bei der Zahl der
Krankenhäuser und der Krankenhausbetten, angefeuert durch den Glauben „Nähe ist das wichtigste Qualitätsmerkmal“ (statt „Qualität vor Nähe“ wie in Dänemark).
• „Doppelt hält besser“ – sichtbar durch die doppelte Facharztschiene ambulant/ stationär mit immer noch recht starker Trennung.
• „Selbstregulierung und Markt sind besser als der Staat“ – sichtbar durch die Vernachlässigung des ÖGD, aber auch den Glauben, dass „eigenverantwortlich wirtschaftende“ (KHG §1) Akteure im Wettbewerb automatisch zu besserer Qualität führen.
• Wie viele Patienten mit Herzinfarkt gibt es pro Tag in Baden-Württemberg? Ca. 60, 100 oder 150?
• In wie vielen Krankenhäusern werden sie versorgt? Ca. 60, 100 oder 150?
• Wie viele davon haben einen Herzkatheter?95%, 65%, 35%?
• Wie viele Fälle mit komplexen Bauchspeicheldrüsen-Eingriffen pro Woche? Ca. 35, 50 oder 100?
• In wie vielen Krankenhäusern werden sie operiert?Ca. 15, 35 oder 55?
• Wie viele davon operieren mindestens 10 Pat. im Jahr (= Mindestmenge)?Alle, 85%, 70%?
• Und wie viele haben ein zertifiziertes Bauchspeicheldrüsenkrebs-Zentrum?75%, 50% oder 25%
Antwort: ca. 62 (davon 10 verlegt)
Antwort: 153; davon 40 mit >240 Fällen
Antwort: 35
Antwort: 53, d.h. im Schnitt 35 Fälle pro Jahr, aber nur 5 Kh. mit >50 Fällen
Antwort: 85% (45)
Antwort: 26% (14 mit z.T. <30 Fällen); bundesweit werden 30% der Patienten in Zentren versorgt
Werfen wir in Quiz-Form einen Blick auf B-W …
Antwort: 35% (n= ca.55) mit rund 80% der Fälle
>3.000.000 Arzt-Patienten-Kontakte in der ambulanten Versorgung
2.300.000 gekaufte Packungen von frei verkäuflichen (OTC) Arzneimitteln
2.000.000 abgegebene Packungen von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln
380.000 stationäre Patienten im Krankenhaus
56.000 Notaufnahme-Besuche (davon 43% stationär aufgenommen)53.000 Stationäre Krankenhausaufnahmen
16.000 CT-Scans in der ambulanten Versorgung
700 stationär aufgenommene Schlaganfallpatienten15.000 CT-Scans in der stationären Versorgung
500 stationär aufgenommene Herzinfarkt-Patienten
56.00053.000
16.00015.000
An einemdurchschnittlichen Tag in Deutschland(vor Corona)
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Stationäre Fälle
Eingewiesene Patienteninsgesamt:
8,9 Mio. (47%)
„Notfälle“:8,5 Mio. (45% der Fälle)
NOT-
AUFNAHME
16,9 Mio.
KV-
NOTDIENST
Notfälle: 27,4 Mio.
60
%
40
%
10,5 Mio.
50
%
Nach Hause: 18,9 Mio.
50%
In anderenLändern 22-33%
Woher kommen die vielen Patienten? Immer häufiger über die Notaufnahmen (2015)
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Eigene Darstellung nach IGES 2019, basierend auf OECD Health Statistics
Bei <600 Neuerkrankungen heißt das: in DE jeder Pat.
4x stationär, in EU12 2x
Viele Patienten müssten gar nicht stationär behandelt werden: hier EU12-Schnitt vs. Deutschland …
… binden aber unnötig Personal (das eigentlich pro Einwohner überdurchschnittlich vorhanden ist) …
… aber (wegen der vielen Fälle) pro Patient zu einem schlechten Patienten-Personal-Verhältnis führt
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Ärzte pro 1000 Fälle
2006
2015
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x 1,7
2015
2006
Nimptsch U, Mansky T (2017): Hospital volume and mortality for 25 types of inpatient treatment in German hospitals: observational study using complete national data from 2009 to 2014 BMJ Open 2017;7:e016184. doi: 10.1136/bmjopen-2017-016184
Klare Evidenz für schlechte Ergebnisse wegen vielen Krankenhäusern mit wenigen Fällen: Bauchspeicheldrüsenkrebs
Sterblichkeit
322 KHs. mitdurchschnittlich
3 Pat./ Jahr
17 KHs. mitdurchschnittlich57 Pat./ Jahr
-46% -54%
Ca. 2/3 der Kh.>20% der Patienten
Keine geeignetetechnische und personelle
Ausstattung
Zumeist < 20min. < 30min. Ggf. länger (< 45min.)
Ca. 30% der Kh.Ca. 60% der PatientenGeeignete technische
Ausstattung, aberFachärzte nur in Bereitschaft
<5% der Kh. in DE/ 100% in DK <20%/ 100% der Patienten
Geeignete technische Ausstattung,
Fachärzte 24/7
10 min.Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt(Rufbereitschaft)
Entscheidungzur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spätfür adäquate Therapie)
QualitativschlechteTherapie
10 min.Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt(Rufbereitschaft)
AdäquateTherapie
5 min.Facharzt
AdäquateTherapie
Eigene Darstellung
Das warvor Corona …
Ca. 2/3 der Kh.>20% der Patienten
Keine geeignetetechnische und personelle
Ausstattung
Zumeist < 20min. < 30min. Ggf. länger (< 45min.)
Ca. 30% der Kh.Ca. 60% der PatientenGeeignete technische
Ausstattung, aberFachärzte nur in Bereitschaft
10 min.Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt(Rufbereitschaft)
Entscheidungzur Verlegung
Ca. 30 min. Verlegung (aber ggf. zu spätfür adäquate Therapie)
QualitativschlechteTherapie
10 min.Assistenzarzt
<30 min. Oberarzt(Rufbereitschaft)
AdäquateTherapie
5 min.Facharzt
AdäquateTherapie
Eigene Darstellung
<5% der Kh. in DE/ 100% in DK <20%/ 100% der Patienten
Geeignete technische Ausstattung,
Fachärzte 24/7
Das warvor Corona …
… viele waren schon vor Corona dagegen … und behaupten, dass die Pandemie das Gegenteil bewiesen hätte …
Aber stimmt das?Vereinfachte Darstellung der Gesundheitssystem-nutzung auf dem Höhepunkt der Neuinfektionszahlen
14 : 1TestInfi-ziert
Kranken-haus-
behand-lung
Intensiv-station
(Beatmung)5 : 1
7 / 100.000= 6.000 / Tag
1,4 / 100.000= 1.200 / Tag
0,3 / 100.000= 240 / Tag*
1 : 0,5 Ver-storben
0,3 / 100.000= 270 / Tag
1 : 0,045
5 : 1
40% davonauf Intensivstation;
>90% im Kh.
* Im DIVI-Register höhere Zahlen wg. Meldungweiterer Intensivstationen und Zählungvon Verdachtsfällen und Verlegungen
14 : 1TestInfi-ziert
Kranken-haus-
behand-lung
Intensiv-station
(Beatmung)
Wie verhielt sich das zu den Gesundheitssystem-Ressourcen?
5 : 1
1,4 / 100.000 x 14d= 20/ 100.000
= 3% der Betten(bis Mai ca. 1,7%)
0,3 / 100.000 x 14d= 4/ 100.000= 10% Betten
(bis Mai ca. 4%)
1 : 0,5 Ver-storben
1 : 0,045
600 / 100.000Kh.-Betten
in 1.350 Kh.
35 40 / 100.000Intensivbetten
in 1.150 Kh.
5 : 1
Unterschied zu Lombardei oderFrankreich: 80% ausschließlich
ambulant betreut
Wie standen andere Länder da?
2 : 1
1,4 / 100.000 0,3 / 100.000
1 : 0,3 Ver-storben
7 / 100.000
In den meistenLändern > DE(Kh. oft ersterAnlaufpunkt)
Fast überall < DE
14 : 1Test Infi-ziert
Kranken-haus-
behand-lung
Intensiv-station
(Beatmung)5 : 15 : 1 1 : 0,5
ES 17AT 10IT 9
(Lombardei 21)UK 8NL 7FR 7
DK 6NO 5
IT 4 : 1FR 4 : 1ES 9 : 2AT 5 : 1NL 5 : 1DK 9 : 1
NO >20 : 1
ES 10 : 1IT 8 : 1UK 8 : 1DK 7 : 1FR 5 : 1NL 4 : 1
FR 3 : 2ES 2 : 1NL 5 : 2IT 3 : 1UK 3 : 1DK 5 : 1
CH 8 : 1AT 9 : 1
Lombardei2 : 1
Emilia-Romagna
3 : 1Veneto
5 : 1
Anders als NL, Lombardei und Schweden waren wir weit entfernt von den Kapazitäten
ZusätzlichgeschaffeneKapazität
Quelle: eigene Auswertungen, noch nicht publiziert
Was lernen wir daraus?
• Testen ist wichtig, insbesondere wenn es außerhalb von Krankenhäusern passiert (um zu verhindern, dass Personen zu Testen in‘s Krankenhaus gehen)!
• Unser ÖGD mit Kontaktnachverfolgung etc. stand immer noch besser da als in den meisten anderen Ländern!
• Patienten so lange wie möglich aus dem Krankenhaus fernzuhalten kann als deutsches Erfolgsgeheimnis gelten (wie in Dänemark, Finnland, Norwegen oder Österreich).
• Die mangelnde Zentralisierung der Covid-19-Patienten hat zu unnötigen Verlegungen und potentiell schlechteren Outcomes geführt.
• Wie gefährlich Krankenhäuser für Nicht-COVID-Patienten sind, zeigt das Ernst-von-Bergmann Klinikum in Potsdam: 47 Patienten starben dort an/mit COVID-19 – 44 von ihnen hatten sich im Krankenhaus infiziert (von insgesamt 138 nosokomialen Infektionen)! https://www.tagesspiegel.de/berlin/47-corona-tote-im-ernst-von-bergmann-klinikum-wer-ist-verantwortlich-fuer-das-grosse-sterben-von-potsdam/25900202.html
Schlauerweise wussten das auch die Patienten …… insgesamt 15% weniger stationäre Fälle Jan.-Mai ggü. 2018/19(d.h. -30% Mitte März bis Ende Mai) …
… außer in echten Notfällen
Was muss sich im deutschen Gesundheitssystem jetzt (wirklich) ändern?• Bereitschaft anzuerkennen, dass wir nicht unbedingt das beste
Gesundheitssystem haben und von anderen lernen können ehrliche regelmäßige Leistungsbewertung unseres Gesundheitssystem nötig
• Der ÖGD ist zwar gut, sollte aber weiter gestärkt werden
• Ambulanter Sektor müsste erfunden werden, gäbe es ihn nicht schon aber aus Rolle in Covid-Pandemie muss gelernt werden, z.B. was zeitliche Verfügbarkeit als erste Anlaufstelle angeht
• Viel (stationäre) Kapazität ist nicht immer besser, insbesondere wenn es zu unnötigen Fällen/ Behandlungen führt und durch mangelnde technische Ausstattung und „verwässertem“ Personal zu unnötig schlechter Qualität führt „Qualität vor Nähe“
• Wir müssen ernsthaft über eine neue Rolle des Staates auch zu Normalzeiten reden (nur in Notzeiten auf ihn vertrauen, reicht nicht)