Frühe Erzählungen
Vorlesung am 30.10.06
Präsentationen sind zu finden unter
http://www.phil2.uni-wuerzburg.de/institutelehrstuehle/institut_fuer_deutsche_philologie/lehrstuehle/lehrstuhl_fuer_neuere_deutsche_literaturgeschichte_ii/mitarbeiter/scheitler/
unter "Lehre"
Der kleine Herr Friedemann. Novellen. Berlin 1898 enthält:
Der kleine Herr FriedemannDer TodDer Wille zum GlückEnttäuschungDer BajazzoTobias Mindernickel
Der kleine Herr Friedemann: Typische Motive
• Stiller Held (Außenseiter)• Kaufmannsmilieu• Décadence (Migräne, bläuliche
Augenschatten, Blässe, Musikgenuß)• Zerstörender Einbruch der
Leidenschaft (Sexualität) in ein scheinbar gesichertes Leben
Der kleine Herr FriedemannErzähltechnische Besonderheiten
• Unvermittelter Einsatz. Indirekte Mitteilung – der Leser hat Teile der Handlung selbst zu rekonstruieren.
• Leitmotiv. Homerisches Leitmotiv, ansatzweise symbolisches Leitmotiv
• Ironisch-distanzierte Erzählinstanz. Keine bewertenden Kommentare, keine Stellungnahme
Erzählanfang
„Die Amme hatte die Schuld. – Was half es, daß, als der erste Verdacht entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstliche zuredete, solche Laster zu unterdrücken?“
• Trotz des bestimmten Artikels → welche, wessen Amme?
• Schuld woran?• Welcher Verdacht?• Welches Laster?• Rhetorische Frage →
Vertraulichkeit zwischen Erzähler und Leser.
Schluß der Erzählung
"Beim Aufklatschen im Wasser waren die Grillen einen Augenblick verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen."
• Vermieden wird das erläuternde Wort „Tod“, statt dessen das reportageartige „Aufklatschen im Wasser“.
• Verweigerung eines Erzählerkommentars
• Inadäquate Zusammenstellung: Tod – Grillenzirpen
• Inadäquater Verweis auf Lachen als Begleitgeräusch einer Katastrophe
Der Bajazzo
(Titel nach der gleichnamigen Oper von Ruggiero Leoncavallo)
Szenenfoto aus der Nürnberger Inszenierung
Tobias Mindernickel
• „Von diesem Manne gibt es eine Geschichte, die erzählt werden soll, weil sie rätselhaft und über alle Begriffe schändlich ist.“ – Ironie durch Übererfüllung des Erzählerkommentars
Tristan. Sechs Novellen. Berlin 1903 enthält:
Der Weg zum Friedhof TristanDer Kleiderschrank Luischen Gladius DeiTonio Kröger
Ibsen:Leben heißt - dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich.
Dichten - Gerichtstag halten
Über sein eigenes Ich.
Umschlaggestaltung von Alfred Kubin
Ironie (1) – rhetorische Ironie
„Ozon und stille, stille Lust…. für Lungenkranke ist ‚Einfried’, was Doktor Leanders Neider und Rivalen auch sagen mögen, aufs wärmste zu empfehlen. Aber es halten sich nicht nur Phthisiker, es halten sich Patienten aller Art, Herren, Damen und sogar Kinder hier auf: Doktor Leander hat auf den verschiedensten Gebieten Erfolge aufzuweisen.“
Ironie (2) kontextreferente Ironie
Herrschaften mit Herzfehlern, Paralytiker, Rheumatiker und Nervöse in allen Zuständen. […] Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet. […] Dann und wann stirbt jemand von den ‚Schweren’, die in ihren Zimmern liegen […] In stiller Nacht wird der wächserne Gast beiseite geschafft. und ungestört nimmt das Treiben in ‚Einfried’ seinen Fortgang, das Massieren, Elektrisieren und Injizieren, das Duschen, Baden, Turnen, Schwitzen und Inhalieren in den verschiedenen mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestatteten Räumlichkeiten…
Ja es geht lebhaft zu hierselbst. Das Institut steht in Flor.
Ironie (3) = systemreferente Ironie
„für Lungenkranke ist ‚Einfried’ […] aufs wärmste zu empfehlen.“ (Aus: Tristan)
„Es ist klar, daß dies durchaus keine sittliche Erhebung Piepsams zur Folge gehabt hatte, daß er nun vielmehr vollends dem Ruin anheimgefallen war. Ihr müßt nämlich wissen, daß das Unglück des Menschen Würde ertötet – es ist immerhin gut, ein wenig Einsicht in diese Dinge zu besitzen.“ (Aus: Der Weg zum Friedhof)
„Übrigens ist, neben Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert.“ (Aus: Tristan)
Nervensanatorium am Gardasee, wo sich die Brüder Mann 1901-1904 verschiedentlich aufhielten
Vorbild für „Einfried“
Besitzes des Sanatoriums,
Vorbild für „Dr. Leander“
Isoldes Liebestrank
Historiengemälde von Waterhouse, 1916
Arthur Holitscher (1869-1941)
Thomas Manns Schulkamerad Armin Martens
Aufbau von Tonio Kröger
1. Jugendgeschichte: Schule, Freundschaft mit Hans Hansen, Tanzstunde;
2. Tonio als etablierter Schriftsteller in München, Literaturgespräch mit der Freundin und Malerin Lisaweta Iwanowna;
3. Reise an die Ostsee, in die Heimat, wo Tonio fast verhaftet wird, visionäre Wiederbegegnung mit Hans und der blonden Tanzstunden-Inge.
Das Künstlerproblem um 1900
• Verunsicherung durch Verlust der Selbstverständlichkeit – vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief (sog. Chandos-Brief)
• Epigonentum (für TM personifiziert in Emanuel Geibel)
• Überhöhung, Sakralisierung (vgl. Wagner) bei gleichzeitigem Verlust von Lebens- und Wirklichkeitsbezug
Philosophische Quellen für Erkenntnisekel und Ennui
(Langeweile) • Søren Kierkegaard (1813-1855), z.B.:
– Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Diss.) (1841)
– Die Krankheit zum Tode (1849)
• Friedrich Nietzsche (1844-1900), z.B.:– Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der
Musik 1872
Antagonismen
• Ungebundenes Künstlertum/ Bohème
• Internationalismus
• Vitalismus• Obzönität
• „Literat“
• Bürgerliche Ordnung
• Verwurzelung in Volk und Nation
• Puritanismus• Keuschheit
• „Dichter“
Das Leitmotiv
1. Homerisches Leitmotiv: Gleichlautende Epitheta, formelhaft wiederkehrende gleichbleibende Beschreibung
2. Symbolisches Leitmotiv: Textintern konstituierte Metaphorik, die mit immer gleichen Bildern auf Abstraktes verweist (Selbstreferenz)
München, Akademie der Bildenden Künste im Neorenaissancestil
Der Maler Franz von Stuck mit seiner Frau
Giorolamo Savonarola
Franz von Stuck: Die Sünde
Franz von Stuck: Salome
Edvard Munch: Madonna
Gemälde von Gabriel Cornelius von Max
Die Bayr. Staatsbibliothek in der Münchner Ludwigstraße – ein Renaissance-Imitat
Th. Manns Umgang mit Vorlagen :
•Ironisierende Imitation
•Transposition
•Parodie