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Nr 3 | Oktober 2016 Wirtschaftspolitik Standpunkte EDITORIAL In der neuen Ausgabe der Standpunkte fordert die AK die Umsetzung von Kon- sumentenrechten im Kartellrecht, z.B. die längst fällige Zweckwidmung von Bußgeldern für den VKI und die Einführung von Gruppenklagen. Der heurige AK-Strukturwandelbarometer – diesmal mit dem Schwerpunkt Digitalisie- rung der Wirtschaft – zeigt: Für eine faire Arbeitswelt, sowohl im Sinne der Beschäftigten als auch der Unternehmen, sind Mitbestimmung sowie Mitge- staltung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessensvertretungen entschei- dende Faktoren. Bei öffentlicher Auftragsvergabe hat sich mittlerweile herum- gesprochen, dass es klug ist, soziale, ökologische und qualitative Kriterien zu berücksichtigen, da solche Entscheidungen langfristig auch volkswirtschaft- lich die günstigsten sind – auch für die SteuerzahlerInnen. Genau diese Gruppe – sprich: wir alle – finanzieren übrigens einen Großteil der heurigen Zusatzsub- ventionen für die österreichische Landwirtschaft, in der die Einkommensver- teilung eine sehr ungleiche ist, wie ein Artikel der Standpunkte zeigt. Ein anderer Beitrag geht der Frage nach, ob innovierende Unternehmen auch bessere Arbeitsbedingungen bieten. Bei Unternehmensbilanzen hingegen ist Kreativität gar nicht gefragt. Als eine Lehre aus der Finanzkrise wurden nun strengere Kriterien für die Abschlussprüfung eingeführt. Und schließlich veranschau- lichen ein Appell für eine sozialere Europäische Union und ein Bericht über das Leben von Erwerbsarbeitslosen in Deutschland einmal mehr den großen sozial-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf. Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Die Redaktion Abo und Download: wien.arbeiterkammer.at/wp-standpunkte Inhalt Kartellgesetznovelle 2016: AK für stärkere Konsumentenrechte 2 AK-Strukturwandelbarometer: Rushhour in der Arbeitswelt 6 Öffentliche Auftragsvergabe: Nachhaltig und sozial 13 Erntedank den SteuerzahlerInnen: Was der Agrarsektor 2016 extra bekommt 17 Innovationsaktivitäten im Unter- nehmen: Bringen sie auch Vorteile für die Beschäftigten? 21 Lehren aus der Finanzkrise: Reform der Abschlussprüfung 24 Soziales Europa: Aufbruch oder Abbruch? 27 Hartz IV und das Hamsterrad von Erwerbsarbeitslosen und Beschäftigten 31

Ak wirtschaftspolitik 03_2016

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Page 1: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Nr 3 | Oktober 2016

WirtschaftspolitikStandpunkte

EDITORIAL

In der neuen Ausgabe der Standpunkte fordert die AK die Umsetzung von Kon-

sumentenrechten im Kartellrecht, z.B. die längst fällige Zweckwidmung von

Bußgeldern für den VKI und die Einführung von Gruppenklagen. Der heurige

AK-Strukturwandelbarometer – diesmal mit dem Schwerpunkt Digitalisie-

rung der Wirtschaft – zeigt: Für eine faire Arbeitswelt, sowohl im Sinne der

Beschäftigten als auch der Unternehmen, sind Mitbestimmung sowie Mitge­

staltung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessensvertretungen entschei­

dende Faktoren. Bei öffentlicher Auftragsvergabe hat sich mittlerweile herum­

gesprochen, dass es klug ist, soziale, ökologische und qualitative Kriterien

zu berücksichtigen, da solche Entscheidungen langfristig auch volkswirtschaft­

lich die günstigsten sind – auch für die SteuerzahlerInnen. Genau diese Gruppe

– sprich: wir alle – finanzieren übrigens einen Großteil der heurigen Zusatzsub-

ventionen für die österreichische Landwirtschaft, in der die Einkommensver­

teilung eine sehr ungleiche ist, wie ein Artikel der Standpunkte zeigt. Ein anderer

Beitrag geht der Frage nach, ob innovierende Unternehmen auch bessere

Arbeitsbedingungen bieten. Bei Unternehmensbilanzen hingegen ist Kreativität

gar nicht gefragt. Als eine Lehre aus der Finanzkrise wurden nun strengere

Kriterien für die Abschlussprüfung eingeführt. Und schließlich veranschau­

lichen ein Appell für eine sozialere Europäische Union und ein Bericht über

das Leben von Erwerbsarbeitslosen in Deutschland einmal mehr den großen

sozial­, wirtschafts­ und gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf.

Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Die Redaktion

Abo und Download: wien.arbeiterkammer.at/wp-standpunkte

Inhalt

Kartellgesetznovelle 2016: AK für

stärkere Konsumentenrechte 2

AK-Strukturwandelbarometer:

Rushhour in der Arbeitswelt 6

Öffentliche Auftragsvergabe:

Nachhaltig und sozial 13

Erntedank den SteuerzahlerInnen:

Was der Agrarsektor 2016 extra

bekommt 17

Innovationsaktivitäten im Unter-

nehmen: Bringen sie auch Vorteile

für die Beschäftigten? 21

Lehren aus der Finanzkrise:

Reform der Abschlussprüfung 24

Soziales Europa: Aufbruch oder

Abbruch? 27

Hartz IV und das Hamsterrad von Erwerbsarbeitslosen und Beschäftigten 31

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Seite 2 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

KARTELLGESETZNOVELLE 2016: AK FÜR STÄRKERE KONSUMENTENRECHTEDer Entwurf der Kartellgesetznovelle 2016 hat maßgeblich zum Ziel, die EU-Schadenersatzrichtlinie in Zusammenhang mit Wettbewerbsverletzungen umzusetzen sowie die Vollzugstätigkeit der Wett-bewerbsbehörden, insbesondere der Bundeswettbewerbsbehörde, zu stärken. Wesentliche Anliegen der AK wurden allerdings nicht aufgegriffen. Nachfolgend werden die Eckpunkte des Entwurfs und die Forderungen der AK dargestellt.

Eckpunkte des Entwurfs:

Hauptaugenmerk der Reform des Kartellge­

setzes ist die Umsetzung der EU­Schaden­

ersatzrichtlinie. Ziel hierbei ist es, die private

Rechtsdurchsetzung aufgrund von Kartellver­

stößen zu stärken. Nach Ansicht der AK ist

dies aber nur teilweise gelungen. Vor allem

für geschädigte KonsumentInnen bleibt der

Weg zur Schadenskompensation weiterhin

versperrt, weil wichtige konsumentenschutz­

relevante Instrumente fehlen.

Weiters soll mit der Novelle die Vollzugstä­

tigkeit der Wettbewerbsbehörden gestärkt

werden. Hierzu zählen etwa die Unterbre­

chung der Verjährungsfristen bei Einleitung

von Ermittlungen durch die Bundeswettbe­

werbsbehörde (BWB) oder die Möglichkeit,

die Verhängung von Zwangsgeldern zu bean­

tragen, wenn Unternehmen im Rahmen einer

Hausdurchsuchung den Zugang zu elektro­

nisch abrufbaren Daten verweigern.

Positiv zu erwähnen sind die geplanten Maß­

nahmen zur Verbesserung der Transparenz

– dazu zählen die Veröffentlichung auch von

abweisenden Entscheidungen und Einstwei­

ligen Verfügungen sowie die Unzulässigkeit

von verkürzten (begründungslosen) Entschei­

dungen bei Settlement­Verfahren. Weiters

soll die beim Kartellgericht geführte Sachver­

ständigenliste in die allgemeine Sachverstän­

digenliste übergeführt werden, um damit die

Mechanismen der Qualitätssicherung nach

dem Sachverständigen­ und Dolmetscherge­

setz auch für Kartellangelegenheiten zu ge­

währleisten.

Materiellrechtliche Neuerungen betreffen

die Möglichkeit des Kartellgerichts, bei Ge­

meinschaftsunternehmen im Rahmen des

Fusionsverfahrens auch Aussagen über die

kartellrechtlichen Auswirkungen zu treffen

(Fusions­ und Kartellkontrolle in einem Ver­

fahren). In Verfahrensrechtlicher Hinsicht soll

der Oberste Gerichtshof (OGH) als Kartell­

obergericht nunmehr auch bestimmte qua­

lifizierte Feststellungsmängel im Rekursweg

überprüfen können (2. Tatsacheninstanz).

Dem Entwurf sind zahlreiche Sitzungen der

interministeriell eingesetzten Arbeitsgruppe

„Wettbewerb“ vorausgegangen, die nach

Fertigstellung der Studie des Beirats für Wirt­

schaft­ und Sozialfragen Nr. 871, 2014 ihre

Tätig keit aufnahm.

Wiewohl in den Begutachtungsentwurf viele

Empfehlungen der AK und des Beirats über­

nommen wurden, fehlen aber wichtige Forde­

rungen der AK weiterhin. Diese werden nach­

folgend kurz dargestellt:

Von Ulrike Ginner und Helmut Gahleitner,

beide Arbeiterkammer Wien, Abteilung Wirtschaftspolitik

Die im Regierungsprogramm festgeschriebene Zweckwidmung von Buß geldern für Konsumentenschutz an den Verein für Konsu-menteninformation (VKI) wurde immer noch nicht realisiert.

Page 3: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 3 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Forderungen der AK

1. Zweckwidmung von Geldbußen für Anliegen des Konsumentenschutzes

Die im Regierungsprogramm unter „Wachstum

und Beschäftigung für Österreich“ festge­

schriebene Zweckwidmung von Bußgeldern

für Konsumentenschutz an den Verein für

Konsumenteninformation (VKI) wurde immer

noch nicht realisiert. Aus Sicht der AK ist

die Regierungsvereinbarung aus mehreren

Gründen umgehend umzusetzen:

n Der VKI ist eine unverzichtbare Institu­

tion, die allen KonsumentInnen individu­

elle Beratung und Unterstützung bei kon­

sumentenrechtlichen Problemen anbietet.

Von den Tests, Publikationen, der Medien­

arbeit und den Aktivitäten zur Rechts­

durchsetzung profitieren alle Konsumen­

tInnen, egal ob sie z.B. unselbständig

Beschäftigte, UnternehmerInnen, Beam­

tInnen oder LandwirtInnen sind. Die Ange­

bote sind umso wichtiger, je globaler und

komplexer Märkte werden, wie z.B. auch

das erfolgreiche VKI­Projekt „Energiekos­

tenstopp“ eindrücklich gezeigt hat.

n Aus der Geldbußenstatistik der Bundes­

wettbewerbsbehörde ist ersichtlich, dass

überwiegend EndverbraucherInnen die

Geschädigten von wettbewerbswidrigen

Absprachen sind. Alleine im Lebensmittel­

bereich wurden in den letzten drei Jahren

Geldbußen in Höhe von rund 70 Mio Euro

verhängt, weil Unternehmen des Lebens­

mitteleinzelhandels sowie Lebensmittelpro­

duzenten auf Kosten der Konsumentinnen

und Konsumenten verbotene Absprachen

durchführten.

n Häufig sind dies so genannte Streu­

schäden, die von KonsumentInnen ange­

sichts ihrer geringen Höhe nie eingeklagt

werden. Auch höhere Schadensbeträge

werden wegen des Prozesskostenrisikos

individuell in aller Regel nicht verfolgt.

Eine teilweise Zweckwidmung von Geld­

bußen für den Konsumentenschutz an den

VKI ist daher sachlich gerechtfertigt und zwin­

gend geboten. Die AK fordert eine Gesetzes­

änderung, wonach 20% der im vergangenen

Budgetjahr eingetriebenen Geldbußen, min­

destens jedoch zwei und höchstens vier Mil­

lionen Euro, dem VKI zur Förderung von Kon­

sumenteninteressen zugutekom men sollen.

2. Akteneinsicht für die Vorbereitung von Schadenersatzklagen:

Die AK hat sich stets dafür ausgesprochen,

dass die „vorprozessuale“ Akteneinsicht i.S.

der EuGH­Rechtsprechung „Donauchemie

Rs. C­536/11“ ebenfalls in der Novelle umge­

setzt werden soll. Anders als im Vorentwurf,

welcher der Arbeitsgruppe zur Diskussion vor­

gelegt wurde, findet sich im aktuellen Entwurf

der Novelle nun doch keine Adaptierung des

§ 39 KartG (Akteneinsicht).

Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist not­

wendig, um überhaupt feststellen zu können,

ob Dritte tatsächlich durch den konkreten

Wettbewerbsverstoß einen Schaden erlitten

haben. Durch das Einsichtsrecht ist es dem

Geschädigten möglich zu entscheiden, ob

eine Schadenersatzklage aussichtsreich wäre

bzw ein Offenlegungsantrag i.S. der Richtlinie

Die Einführung einer Gruppenklage ist vor allem aus konsu-mentenpolitischer Sicht dringend erforderlich.

Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist notwendig, um überhaupt feststellen zu können, ob Dritte durch den konkreten Wettbewerbsverstoß einen Schaden erlitten haben.

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Seite 4 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

für bestimmte Beweismittel präziser formuliert

werden könnte.

Die „vorprozessuale“ Akteneinsicht ist einer­

seits für die Abschätzung des Prozesskos­

tenrisikos wesentlich und andererseits auch

europarechtlich geboten, wie folgendes Bei­

spiel zeigt: Bei einer angenommenen Scha­

denshöhe von € 500 betragen die Kosten bei

Klagseinbringung rund € 300 (Gerichtsge­

bühren, Rechtsanwaltshonorar). Geschädigte

ohne ausreichende Informationsbasis werden

daher zumeist ihre Ansprüche nicht geltend

machen.

Nach Ansicht der AK sollte daher die im Vor­

entwurf enthaltene Regelung, die unter be­

stimmten Umständen eine Akteneinsicht noch

vor Klagseinbringung erlaubt, wieder in die

Kartellgesetznovelle aufgenommen werden.

3. Gruppenklagen wichtig bei Schaden-ersatzansprüchen

Weder auf EU­ noch auf nationaler Ebene

wurde die Möglichkeit ergriffen, durch Ein­

führung einer Gruppenklage ein wirkungs­

volles Instrument zur Geltendmachung von

Schadenersatzansprüchen zur Verfügung zu

stellen. Die derzeit angewandte Verfahrens­

möglichkeit („Sammelklage nach österrei­

chischem Recht“) ermöglicht keine effiziente

Prozessführung bei gleichartig gelagerten

Sachverhalten. Die Einführung einer Gruppen­

klage ist vor allem aus konsumenten politischer

Sicht dringend erforderlich. Gruppenklagen

reduzieren die Prozesskosten für den ein­

zelnen, vermeiden divergierende Entschei­

dungen und bieten somit einen verbesserten

Rechtszugang für geschädigte Konsumen­

tInnen. Darüber hinaus führen Einzelverfahren

bei gleichartig gelagerten Sachverhalten zu

einer enormen Belastung der Gerichtsbarkeit

(z.B. durch mehrfache Zeugenbefragung ein

und derselben Person). Die Einführung einer

Gruppenklage ist daher auch ein wirkungs­

volles Instrument zur oftmals geforderten Ver­

waltungsvereinfachung.

4. Keine unrechtmäßigen Gewinne für rechtswidrig handelnde Unternehmen

Wie schon erwähnt, werden die neuen scha­

denersatzrechtlichen Bestimmungen für

KonsumentInnen keinen Vorteil bringen. Das

Prozesskostenrisiko bleibt, die Streuschä­

den­Problematik wird gar nicht aufgegriffen,

kollektive Rechtsdurchsetzungs instrumente

werden vom Gesetzgeber nicht zur Verfügung

gestellt. Aus diesen Gründen kann nach An­

sicht der AK nur ein Gewinnabschöpfungs­

verfahren gewährleisten, dass unrechtmäßige

Erlöse nicht bei den rechtswidrig handelnden

Unternehmen verbleiben.

5. Stärkere Berücksichtigung der volks-wirtschaftlichen Rechtfertigung bei Zusammenschlüssen

Aus AK­Sicht soll der volkswirtschaftlichen

Rechtfertigung (z.B. Arbeitsplatzsicherung,

Sicherung der Nahversorgung) im Rahmen

der Zusammenschlusskontrolle größere Be­

deutung zukommen.

Es ist nicht sachgemäß, dass die Berücksich­

tigung der volkswirtschaftlichen Rechtferti­

gung nur in Verbindung mit der internationalen

Bei Zusammenschlüssen soll der volkswirtschaftlichen Recht-fertigung (z.B. Arbeitsplatzsicherung, Sicherung der Nahver-sorgung) größere Bedeutung zukommen.

Nur ein Gewinnabschöpfungsverfahren kann gewährleisten, dass unrechtmä-ßige Erlöse nicht bei den rechtswidrig handelnden Unternehmen verbleiben.

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Seite 5 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Wettbewerbsfähigkeit zum Tragen kommt.

Dies hat nämlich zur Konsequenz, dass bei

rein nationalen Sachverhalten (oftmals im Be­

reich des Einzelhandels) die volkswirtschaft­

liche Dimension eines Zusammenschlusses

im Rahmen des Prüfverfahrens nicht ausrei­

chend berücksichtigt werden kann. Die fusi­

onsrechtliche Regelung muss daher an dieses

Erfordernis angepasst werden.

Eine alternative Überlegung wäre auch die

Einführung einer sogenannten „Ministerer­

laubnis“, wie sie auch in anderen Mitglied­

staaten (Deutschland, Großbritannien und

Frankreich) gesetzlich verankert ist.

6. Digitalisierung der WirtschaftUm die zunehmende Digitalisierung der Wirt­

schaft auch unter dem Kartellrechtsregime

zu erfassen, ist es wichtig, auf Märkten, die

unentgeltliche Leistungen anbieten, bzw. bei

mehrseitigen Märkten (Plattformen) eine um­

fassende Kontrollmöglichkeit einzuführen.

Ein Beispiel dazu ist die Übernahme von

WhatsApp durch Facebook, die – mangels Er­

reichen der Umsatzschwellenwerte – trotz eines

Transaktionsvolumens in der Höhe von 18 Mrd

US­$ nicht der Fusionskontrolle unterlag.

In Deutschland liegt bereits ein „Referente­

nentwurf“ für die neunte Novelle des Gesetzes

gegen Wettbewerbsbeschränkungen (dGWB)

vor, der auch der zunehmenden Digitalisierung

Rechnung trägt. Die AK schlägt daher vor,

auch in Österreich gleichartige Bestimmungen

hinsichtlich Fusionskontrolle, Marktdefinition

und Kriterien zur Marktstellung eines Unter­

nehmens vorzusehen.

Das Begutachtungsverfahren läuft bis 5. Okto­

ber 2016. Im Anschluss daran wird eine Re­

gierungsvorlage erstellt und der parlamenta­

rischen Behandlung zugeleitet. Die AK wird

im Rahmen dieses Prozesses weiterhin auf

eine Erfüllung der aufgezeigten Forderungen

drängen.

1 http://www.sozialpartner.at/wp­content/uploads/2015/08/Beirat_Nr.87_2014_WEB.pdf

Das Kartellrechtsregime sollte auch die zunehmende Digitali-sierung der Wirtschaft berücksichtigen.

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Seite 6 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

AK-STRUKTURWANDELBAROMETER: RUSHHOUR IN DER ARBEITSWELTDer Strukturwandelbarometer 2016 der AK Wien zeigt, wie die BetriebsrätInnen den Wandel in ihren Unternehmen beurteilen: Haupttreiberin der betrieblichen Veränderungsprozesse ist die fortschrei-tende Digitalisierung der Arbeitswelt, die gravierende Auswirkungen für die Beschäftigten nach sich zieht.

Die Geschwindigkeit in der Arbeitswelt nimmt

rapide zu, das zeigt der aktuelle AK­Struktur­

wandelbarometer als österreichweiter Stim­

mungstest1 unter 271 BetriebsrätInnen: Die

Beschäftigten sehen sich gegenwärtig mit zu­

nehmenden Flexibilitätsanforderungen, stei­

gendem Zeitdruck und einer Verschlechterung

des Betriebsklimas konfrontiert. Während die

Zunahme der Flexibilität zumindest aus der

betriebswirtschaftlichen Perspektive als sinn­

voll erachtet wird, gilt dies für die anderen

beiden Faktoren nicht: Für 61% der befragten

BetriebsrätInnen hat die Erhöhung des Drucks

auch negative Konsequenzen auf die wirt­

schaftliche Performance des Unternehmens;

sogar 90% sind der Meinung, dass schlechtes

Betriebsklima wirtschaftliche Nachteile bringt.

Zum Abkühlen des Betriebsklimas trägt vor

allem Personalabbau bei, der unter den ver­

bleibenden Beschäftigten Verunsicherung

hervorruft und zur Entsolidarisierung führen

kann.2 Dabei ist ein gutes Betriebsklima so­

wohl ein entscheidender Schlüssel zur Zufrie­

denheit am Arbeitsplatz als auch ein wichtiger

(weil motivierender) Wettbewerbsfaktor.3 Vom

Strukturwandel insgesamt profitieren laut Be­

fragung das Unternehmen und deren Eigen­

tümer, während die Auswirkungen auf die

Beschäftigten (z.B. Arbeitsbedingungen, Ein­

kommen) als negativ erachtet werden.

Maßgeblich getrieben wird der betriebliche

Wandel von der fortschreitenden Digitalisie­

rung: So werden zwar neue Formen der Arbeit

und der Arbeitszeitgestaltung generiert, gleich­

zeitig wächst aber das Risiko der Arbeitsver­

dichtung und der Entgrenzung von Arbeit und

Freizeit. Der AK­Strukturwandelbarometer

2016 zeigt, wie der digitale Wandel bisher in

den österreichischen Betrieben angekommen

ist: Von 43% der Unternehmen werden be­

reits virtuelle Arbeitsformen eingesetzt. Zwei

Drittel der Unternehmen nutzen Softwaresys­

teme zur Steuerung und Planung. Und bereits

drei Viertel verwenden mobile Endgeräte mit

Anbindung an das Firmennetzwerk. Zu be­

obachten ist, dass der Einsatz von digitalen

Technologien mit zunehmender Betriebsgröße

steigt. Konzernbetriebe und dabei vor allem

jene, bei denen die Entscheidungskompe­

tenz bei einer Muttergesellschaft im Ausland

liegt, weisen weitaus höhere Digitalisierungs­

raten auf. Der Prozess der Digitalisierung er­

folgt branchenübergreifend, unterscheidet

sich jedoch je nach Sparte in der konkreten

Einsatzform: Produktionsbetriebe mit langen

Lieferketten bis hin zu EndverbraucherInnen

benötigen beispielsweise andere Planungs­,

und Produktionstechnologien oder Transport­

logistiken als Dienstleistungsunternehmen.

Grundsätzlich stehen die befragten Betriebs­

rätInnen der Digitalisierung positiv gegenüber:

Fast drei Viertel sind der Meinung, dass die

stärkere Verwendung digitaler Technologien in

ihren Unternehmen eher von Vorteil ist, wenn

es um die wirtschaftliche Entwicklung geht.

Der betriebliche Wandel wird von der fortschreitenden Digitalisierung getrieben.

Von Christina Wieser, Abteilung Betriebswirtschaft

und Vera Lacina, Abteilung Wirtschaftspolitik, beide Arbeiterkammer Wien

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Seite 7 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Richtet sich der Blick jedoch auf die Arbeits­

bedingungen, sind die BetriebsrätInnen nur

mehr knapp zur Hälfte positiv gestimmt. Für

ein Sechstel der Befragten hat die Digitalisie­

rung eher nachteilige Auswirkungen auf die

Arbeitsbedingungen, da sich dadurch das Ar­

beitstempo noch mehr beschleunigt und der

Druck weiter zunimmt (vgl. Abbildung 1).

Auswirkungen der Digitalisierung

Neues Arbeiten, neue Qualität? Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die

Qualität der Arbeit und insbesondere auf den

Qualifikationsbedarf stehen im Zentrum des

gegenwärtigen Diskurses rund um die Zukunft

der Arbeit. Offen ist, wie sich die Beschäfti­

gungssituation weiter entwickeln wird, die

Dynamik am Arbeitsmarkt wird jedenfalls zu­

nehmen und die Bedeutung von Qualifizierung

und Weiterbildung weiter wachsen.4 Fast die

Hälfte (49%) der BetriebsrätInnen vertritt die

Auffassung, dass sich die Einführung neuer

Technologien auf die Qualität und das Niveau

der Arbeitsplätze positiv ausgewirkt hat. Die

technologische Ausgangsbasis der österrei­

chischen Unternehmen ist demnach aus der

Perspektive der ArbeitnehmerInnenvertretung

gut. Dies bestätigen Daten der Statistik Aus­

tria, etwa zur Industrieproduktion, den Ex­

porten oder der Forschungs­ & Entwicklungs­

quote. Auch im europäischen Vergleich weist

Österreich eine positive Entwicklung auf. Um

diese Position zu festigen, Beschäftigung und

Einkommen zu generieren und eine Spitzen­

position im digitalen Bereich zu erreichen, be­

darf es jedoch weiterer Investitionen.

Der Strukturwandelbarometer liefert zudem

Informationen über die neuen Anforderungen

im Hinblick auf Qualifikationsstrukturen und

Kompetenzprofile der MitarbeiterInnen: Mehr

als die Hälfte (57%) der BetriebsrätInnen

meint, dass die betriebliche Weiterbildung

zur Erweiterung digitaler Kompetenzen zuge­

nommen hat. Fast zwei Drittel (63%) der Be­

fragten geben an, dass digitale Kompetenzen

bei Neuanstellungen zunehmend wichtiger

werden. Gleichzeitig sehen aber nur 20%,

dass die digitale Qualifikation als zusätzliches

Kriterium bei der Entlohnung neuer Kolle­

gInnen berücksichtigt wird.

Flexibel, aber selbstbestimmt Durch die zunehmende Digitalisierung sind

dem flexiblen Arbeiten kaum Grenzen gesetzt.

Bereits jetzt orten 63% der Befragten, dass

die Flexibilitätsanforderungen steigen. Arbeit

ist längst nicht mehr an einen bestimmten Ort

und an fixe Zeiten gebunden: Wie beurteilt die

ArbeitnehmerInnenvertretung die neu erlangte

ABBILDUNG 1: IST DIE DIGITIALISIERUNG ALLES IN ALLEM EHER VON VORTEIL ODER EHER VON NACHTEIL? (N=271)

48

71

35

26

14

3

3

0% 50% 100%

für  die  Arbeitsbedingungen

für  die  wirtschaftliche   Entwicklung  

Abbildung  1:  Ist  die  Digitalisierung  alles  in  allem  eher  von  Vorteil  oder  eher  von  Nachteil?  (n=271)

eher  positiv weder  noch eher  negativ k.A.

Quelle:  AK-­‐Strukturwandelbarometer  2016,  IFESQuelle: AK­Strukturwandelbarometer 2016, IFES

Page 8: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 8 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

räumliche und zeitliche Flexibilität? Mehr

als ein Drittel (37%) der Befragten sieht bei

dieser Frage positive Auswirkungen. Für diese

Gruppe ergeben sich offenbar neue Freiräume

und interessante Alternativen zur Präsenz­

kultur, die gerne genutzt werden.

Allerdings hat sich die Einführung digitaler

Technologien für jede/n Fünfte/n eher negativ

auf die Autonomie ausgewirkt, gibt doch nach

wie vor das Unternehmen den Takt an. Die

landläufige Arbeitgebererwartung der stän­

digen Erreichbarkeit birgt für die Beschäftigten

die Gefahr einer höheren Arbeitsintensität und

unzureichender Erholungsphasen. Hier zeigt

sich die Ambivalenz der neuen Arbeitswelt:

Während sich für die einen mehr Freiheiten

eröffnen, sehen sich andere wegen der zeit­

lichen und räumlichen Entgrenzung immer

mehr unter Druck gesetzt.

Neue Arbeitsformen, neue Bürokultur? Ein ähnlicher Widerspruch gilt für die ver­

stärkte Implementierung neuer Informations­

und Kommunikationstechnologien in den Ar­

beitsalltag: Auf der einen Seite steht Informati­

onsüberfluss, der zu Arbeitsverdichtung führt,

auf der anderen Seite der Vorteil des kurzen

Kommunikationsweges. Die Ergebnisse der

Untersuchung zeigen diesen Gegensatz deut­

lich auf: Zwar sieht mehr als ein Drittel der

befragten BetriebsrätInnen einen positiven

Effekt, fast genauso viele (31%) konstatieren

aber eine Verschlechterung. Schon jetzt erlebt

mehr als ein Drittel der Befragten, dass sich

das Betriebsklima im letzten halben Jahr ver­

schlechtert hat.

Neue Kommunikationsmethoden lassen sich

am besten in einer modernen Arbeitsum­

gebung umsetzen. So präsentiert sich bei­

spielsweise das neue Headquarter der Erste

Bank Group am Gelände des ehemaligen

Südbahnhofs nicht nur architektonisch, son­

dern auch technisch am neuesten Stand. Der

neue Campus bietet seit Februar 2016 für die

rund 5.000 Beschäftigten viel Grün, Wohn­

ABBILDUNG 2: WIE HAT SICH DIE EINFÜHRUNG DIGITALER TECHNOLOGIEN IM BETRIEB AUSGEWIRKT? (n=271)

Die Folge der permanenten Erreich-barkeit ist ein starker Anstieg der psychischen Belastungen.

8

12

18

36

37

49

42

28

46

31

40

37

49

59

34

31

21

13

0% 50% 100%

auf  die  Situation  älterer  Beschäftigter  im  Betrieb

auf  die  Arbeitsbelastungen

auf  die  Vereinbarkeit  von  Beruf  und  Privatleben

auf  die  Kommunikation   zwischen  KollegInnen

auf  die  räumliche  und   zeitliche  Autonomie  der  Beschäftigten

auf  die  Qualität  und  das  Niveau  der  Arbeitsplätze  

Abbildung  2:  Wie  hat  sich  die  Einführung  digitaler  Technologien  im  Betrieb  ausgewirkt?  (n=271)

eher  positiv weder  noch eher  negativ

Quelle:  AK-­‐Strukturwandelbarometer  2016,  IFESQuelle: AK­Strukturwandelbarometer 2016, IFES

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Seite 9 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

zimmeratmosphäre und Open Space Office5.

Mit dem Umzug in das neue Gebäude wurde

gleichzeitig eine neue Organisationsform – das

Desk­Sharing6 – eingeführt. Die kolportierten

Ziele dieses Konzepts sind Kostenerspar­

nisse, ideale Raumnutzung, eine produktivere

und attraktivere Arbeitsumgebung sowie zu­

friedenere MitarbeiterInnen.7

Die bisherigen Erfahrungen mit dem neuen

Rahmenbedingungen werden von der zu­

ständigen Betriebsratsvorsitzenden Ilse Fetik

so kommentiert: „In den schönen, modernen

Großraumbüros müssen die KollegInnen jeden

Tag aufs Neue einen Arbeitsplatz suchen, weil

sie keine eigenen Schreibtische mehr haben.

Viele kommen mit der Umstellung schwer

zurecht und vermissen ihre gewohnten Bü­

ronachbarn. Nach einem Arbeitstag muss

der Tisch absolut leer geräumt werden, ‘am

Abend lösche ich mich aus‘, sagt ein Kollege

dazu. Nur noch der Vorstand hat zugeordnete

Schreibtische.“8 Der informelle Austausch

zwischen KollegInnen wird in dieser Facette

der neuen Arbeitswelt offenbar erschwert. Es

wird sich zeigen, wie sich diese Entwicklung

künftig auf das Betriebsklima auswirkt.

Die Balance finden zwischen Arbeit und Leben Deutlich negativ fällt die Beurteilung der Be­

triebsrätInnen dann aus, wenn es um die

Auswirkungen der Digitalisierung auf die Ver­

einbarkeit von Beruf und Privatleben geht.

Nur 18% der Befragten sind der Meinung,

dass sich die Digitalisierung positiv auf die

„Work­Life­Balance“ ausgewirkt hat, fast dop­

pelt so häufig (34%) werden Nachteile festge­

stellt. Bestätigt wird dies durch eine Untersu­

chung der Arbeiterkammer Niederösterreich

in Kooperation mit der TU Wien vom April

20169. Bei den dabei knapp 750 Befragten

aus der Dienstleistungsbranche waren bis

zu 70% in der Freizeit permanent erreichbar,

selbst im Krankenstand waren es fast 60%.

Sogar im Urlaub und am Wochenende ist fast

jede/r Zweite/r stets erreichbar. Die dramati­

sche Folge dieser permanenten Erreichbarkeit

ist ein starker Anstieg der psychischen Belas­

tungen: Der Anteil der Beschäftigten mit De­

ABBILDUNG 3: EINBINDUNG DES BETRIEBSRATS BEI EINFÜHRUNG NEUER TECHNOLOGIEN (n=271)

„Am Abend lösche ich mich aus“, sagt ein Kollege.

14

15

65

12

0 10 20 30 40 50 60 70

aktiv  in  die  Entscheidung  eingebunden

aktiv  in  die  Planung  eingebunden

nur  informiert

gar  nichts/nichts  davon

Abbildung  3:  Einbindung  des  Betriebsrats  bei  Einführung  neuer  Technologen   (n=271)

Quelle:  AK-­‐Strukturwandelbarometer  2016,  IFES

Quelle: AK­Strukturwandelbarometer 2016, IFES

Page 10: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 10 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

pressionserscheinungen liegt bei jenen, die in

ihrer Freizeit nicht oder kaum erreichbar sind,

bei 11,3%. Bei ArbeitnehmerInnen mit einem

hohen Maß an Erreichbarkeit liegt dieser Wert

bereits doppelt so hoch (24%). Besonders be­

troffen sind Beschäftigte mit All­in­Verträgen

und Teilzeitkräfte. Ein wichtiger Schritt für eine

bessere Abgrenzung vom Beruf wäre, dass

mobile Geräte in der Freizeit abgeschaltet

bzw. nicht synchronisiert werden.

Die digitale Kluft wird größerAber auch ältere ArbeitnehmerInnen kommen

im digitalen Zeitalter häufig unter Druck: Nur

8% der BetriebsrätInnen geben an, dass sich

die Einführung digitaler Technologien für ältere

Beschäftigte im Betrieb vorteilhaft ausgewirkt

hat. Fast die Hälfte ist jedoch der Meinung,

dass sich ihre Situation verschlechtert hat. Die

große Herausforderung besteht gegenwärtig

wohl darin, den „Digital Divide“ – also die „di­

gitale Kluft“ – aufgrund von Alter, aber auch

von Geschlecht oder sozialer Zugehörigkeit

zu schließen.

Arbeitsbelastungen steigen Für eine deutliche Mehrheit (59%) der Be­

triebsrätInnen geht die Einführung digitaler

Technologien mit einer Erhöhung der Ar­

beitsbelastungen einher, nur 12% assoziieren

damit eine Erleichterung. Die höheren Belas­

tungen sind Folgen der Entgrenzung und Ver­

längerung der Arbeitszeiten, der permanenten

Erreichbarkeit und der Arbeitsverdichtung.

Schon jetzt ist der Zeitdruck, der in 62% der

Fälle im letzten halben Jahr zugenommen hat,

eine massive Belastung für die Arbeitneh­

merInnen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt

auch der „Gute­Arbeit­ Index“10 des Deut­

schen Gewerkschafts bundes (DGB): Von den

ArbeitnehmerInnen, die in hohem oder sehr

hohem Maß digitalisiert arbeiten, gibt fast die

Hälfte (46%) an, dass ihre Arbeitsbelastung

dadurch größer geworden ist, lediglich 9%

fühlen sich entlastet.

Mitbestimmung 4.0 Der digitale Wandel ist zumeist in weitrei­

chende organisatorische Änderungen im

Betrieb bzw. im Unternehmen eingebunden

und beeinflusst so die wirtschaftliche Mitbe­

stimmung. Typische Digitalisierungsthemen

sind beispielsweise Änderungen im Arbeits­

ablauf bzw. der Arbeitsorganisation, Daten­

schutz oder Personalplanung etc. Laut Gesetz

(§§  91ff Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG))

ist die Unternehmensleitung eigentlich ver­

pflichtet, rechtzeitig über „Planung und Ein­

führung neuer Technologien“ zu informieren,

damit die ArbeitnehmerInnenvertretung die

Interessen der MitarbeiterInnen einbringen

und entsprechende Maßnahmen setzen kann.

Die gelebte Unternehmenspraxis ist davon

jedoch weit entfernt, wie der AK­Strukturwan­

delbarometer feststellt: Der Betriebsrat wird in

knapp zwei Drittel (65%) der Fälle überhaupt

nur informiert (vgl. Abbildung 3), lediglich 14%

der BetriebsrätInnen stellen eine aktive Ein­

bindung in Entscheidungen bzw. 15% in die

Planung fest. 12% der befragten Betriebs­

rätInnen wussten gar nichts von der Einfüh­

rung neuer Technologien. Die Geschäftslei­

tungen treiben die Digitalisierung voran, ohne

die Beschäftigten und ArbeitnehmerInnenver­

tretungen aktiv einzubinden. Dabei hält die

Mitbestimmungsforschung fest, dass eine

frühzeitige Einbindung von BetriebsrätInnen

schon in der Planungsphase zur Beschleuni­

gung von Entscheidungsprozessen im Unter­

nehmen beiträgt, statt sie zu verlangsamen.11

Ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung

der Mitbestimmungsrechte – gerade beim

Der Zug der Digitalisierung fährt zwar mit Hochgeschwindig-keit, bringt die Beschäftigten aber nicht von selbst in eine bessere Arbeitswelt.

Page 11: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 11 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Phänomen digitaler Wandel – sind Betriebs­

vereinbarungen. In diesem Zusammenhang

geben fast 60% der BetriebsrätInnen an,

dass im letzten Jahr keine Betriebsverein­

barungen rund um Digitalisierungsthemen ab­

geschlossen wurden. In 26% der Fälle hat es

in den letzten zwölf Monaten neue Betriebs­

vereinbarungen zum Thema Datenschutz ge­

geben. Weitere 18% der Befragten führen an,

dass Betriebsvereinbarungen zur Abgrenzung

von Arbeitszeit und Freizeit sowie 14% zu

neuen digitalen Technologien abgeschlossen

wurden. Auffällig ist dabei, dass in 70% der

Fälle die Initiative zum Abschluss dieser Be­

triebsvereinbarungen vom Betriebsrat und

nicht von ArbeitgeberInnen ausgegangen ist.

„So muss Digitaler Wandel!“Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass

der digitale Wandel für hochwertige Arbeits­

plätze notwendig ist und einen hohen Grad

an Raum­Zeit­Autonomie ermöglichen kann.

Die Digitalisierung trägt aber bis jetzt nicht

dazu bei, eine bessere Balance zwischen Ar­

beit und Freizeit zu finden und damit lebens­

phasenorientiertes Arbeiten zu unterstützen.

Eher das Gegenteil ist der Fall: Durch die

permanente Erreichbarkeit steigen der Druck

und die Arbeitsbelastungen weiter an. Diese

Beschleunigung und die steigenden Anforde­

rungen haben eine Zunahme von psychischen

Erkrankungen zur Folge – hier sind besonders

All­in­VertragsnehmerInnen und Teilzeitkräfte

betroffen. Aber auch ältere ArbeitnehmerInnen

haben es in diesem Veränderungsprozess be­

sonders schwer.

Der Zug der Digitalisierung fährt zwar mit

Hochgeschwindigkeit, bringt die Beschäf­

tigten aber nicht von selbst in eine bessere

Arbeitswelt: Dafür braucht es klare Arbeits­

zeitregelungen, ausreichende Erholungs­

phasen, betrieblichen Gesundheitsschutz

und gerechte Entlohnung – auch im Sinne der

Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Für

eine faire Gestaltung der neuen Arbeitswelt

ist die Mitbestimmung ein entscheidender

Faktor. Nur die aktive Einbindung der Arbeit­

nehmerInnen und ihrer BetriebsrätInnen ge­

währleistet, dass gute Arbeit nicht auf der

Strecke bleibt.

1 Vgl. Strukturwandelbarometer 2016, Digitaler Wandel – aus Sicht von BetriebsrätInnen (AK­Wien, durchgeführt von IFES) https://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/studien/Strukturwandelbarometer_2016.pdf (abgerufen am 22.09.2016).

2 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 85 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft­2.pdf (abgerufen am 23.09.2016).

3 Vgl. http://www.tzl.de/blog/wp­content/uploads/2014/06/Whitepaper_Wohlbefinden.pdf (abgerufen am 22.09.2016).

4 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 32 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft­2.pdf (abgerufen am 28.09.2016).

5 Große Büros ohne Trennwände und ohne verschließbare Zellentüren.

6 Desksharing, auch „Shared Desk“ oder „Flexible Office“ genannt, ist eine Organisationsform, bei der innerhalb einer Organisationseinheit weniger Arbeitsplätze als MitarbeiterInnen verfügbar sind. Die MitarbeiterInnen wählen ihren Arbeitsplatz täglich aufs Neue.

7 Vgl. http://www.smartworkers.net/2014/12/desk­sharing­klappt­es­mit­dem­teilen­im­buero­teil­2/ (abgerufen am 22.09.2016).

8 Vgl. APA­Meldung vom 18.05.2015: AK: Beschäftigte durch digitalen Wandel immer mehr unter Druck (abgerufen am 22.09.2016).

9 Vgl. https://media.arbeiterkammer.at/noe/pdfs/presse/Pressepapier_PK_Staendig_erreichbar.pdf (abgerufen am 29.09.2016).

10 Vgl. DGB­Index „Gute Arbeit“ (04/2016): Mehrbelastung durch Arbeit 4.0 – Die Auswirkungen der Digitalisierung aus Beschäftigtensicht.

11 Vgl. Arbeiten 4.0 – Werkheft 2, S. 105 http://www.arbeitenviernull.de/fileadmin/Downloads/BMAS_Werkheft­2.pdf (abgerufen am 28.09.2016).

Für eine faire Gestaltung der neuen Arbeitswelt ist die Mitbestimmung ein entscheidender Faktor.

Page 12: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 12 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

STUDIENHINWEIS STRUKTURWANDELBAROMETER 2016 – AK/IFES

Die regelmäßige Erhebung und Analyse der Inhalte, Dynamik und Auswirkungen des betrieblichen Strukturwandels aus ArbeitnehmerInnenperspektive.

Die Erhebung – durchgeführt von IFES im Auftrag der AK­Wien – erfolgte nun

zum vierten Mal. Fast 300 BetriebsrätInnen österreichischer Unternehmen

wurden online nach verschiedenen Indikatoren, etwa Zeitdruck, Anteil von

Leiharbeit, Outsourcing, Investitionen in Personal und betriebliche Mitbestim­

mung befragt.

Diesmal mit dem Schwerpunkt: Einsatz digitaler Technologien als Indikator des Strukturwandels

StudienautorInnen: Georg Michenthaler, Nedeljko Beier, Claudia Pflügl

AK-Projektteam: Ursula Filipić, Roland Lang, Heinz Leitsmüller, Ulrich

Schönbauer, Christina Wieser, Michael Heiling, Silvia Hruška­Frank

Die Studie als Download unter: https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/Arbeitsmarkt/Strukturwandelbarometer.html

GERECHTIGKEIT MUSS SEIN

EINE STUDIE DER AK WIEN DURCHGEFÜHRT VON IFES

STRUKTURWANDELBAROMETER 2016 Digitaler Wandel – Aus Sicht von BetriebsrätInnen

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Seite 13 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

ÖFFENTLICHE AUFTRAGSVERGABE: NACHHALTIG UND SOZIAL In Österreich sollen bis zum Jahresende 2016 die EU-Vergaberichtlinien umgesetzt werden. Diese eröffnen unter anderem die Möglichkeit, das sog. „Bestbieterprinzip“ stärker in das österreichische Vergaberecht zu verankern sowie soziale und ökologische Kriterien bei der Auftragsvergabe vermehrt zu berücksichtigen. Vor allem aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive ist es dringend geboten, sich gegenüber diesen progressiven Möglichkeiten nicht zu verschließen.

Das Vergaberecht, eine auf europäischer

Ebene harmonisierte Rechtsmaterie, beruht

auf der Idee, dass öffentliche Aufträge EU­

weit und in transparenter Form zu vergeben

sind. Die rechtlichen Rahmenbedingungen

sollen dabei einen fairen Wettbewerb sowie

die effiziente Nutzung von Steuergeldern ge­

währleisten. Ließ die EU­Kommission aus

ebendiesen Gründen lange Zeit grundsätzlich

nur den Preis als Kriterium für die Auswahl

zu, wurde in den letzten Jahren ein deutlicher

Kurswechsel vorgenommen. Die Einsicht,

dass eine ausschließliche Fokussierung auf

den Preis sich in weiterer Folge als sehr kost­

spielig für die Allgemeinheit erweisen kann,

aber auch die Lehren, die man aus der Fi­

nanz­ und Wirtschaftskrise in Bezug auf nach­

haltiges Wirtschaften gezogen hatte, führten

schließlich zu einer umfassenden Reform des

EU­Vergaberechts zu Beginn des Jahres 2014.

Die öffentliche Auftragsvergabe, dem eine

beträchtliche volkswirtschaftliche Relevanz

zukommt, soll nunmehr unter Beachtung von

sozial­ und umweltpolitischen Aspekten einen

Beitrag zu einer nachhaltigen Konjunkturan­

kurbelung leisten. Die Vergabe­Richtlinien

eröffnen hierfür den nötigen Raum, um in der

Beschaffung wirtschafts­ und gesellschafts­

politische Ziele strategisch zu befolgen. Die

Umsetzung der Richtlinien soll noch 2016 er­

folgen.

In Österreich trat bereits im März 2016 eine

„Kleine Novelle“ zum Vergaberecht in Kraft,

welche eine Annäherung an die Vorstellungen

des Unionsgesetzgebers brachte. Die auf eu­

ropäischer Ebene geschaffenen rechtlichen

Möglichkeiten, das österreichische Vergabe­

gesetz für Sozial­ und Umweltkriterien stärker

zu öffnen, sowie unlauteren Wettbewerb durch

Lohn­ und Sozialdumping hintanzuhalten,

wurden bis dato allerdings unzureichend ge­

nützt.

Nährboden für Sozialbetrug

In Österreich gibt es vorrangig dort Hand­

lungsbedarf, wo die rechtlichen Rahmenbe­

dingungen Lohn­und Sozialdumping begüns­

tigen. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere

lange Subunternehmerketten den idealen

Nährboden hierfür bieten. Das Problem stellt

sich in der Praxis wie folgt: Es werden Bauleis­

tungen an Auftragnehmer vergeben, die bei

der Ausführung des Auftrags auf Subunter­

nehmen zurückgreifen, welche ihrerseits eben­

falls Teile des Auftrags an weitere Sub­Subun­

ternehmen delegieren. Es entstehen so häufig

zum Teil unübersichtlich lange Subunterneh­

merketten an deren Enden häufig Arbeitneh­

merInnen stehen, deren Löhne und Sozial­

versicherungsbeiträge nicht korrekt geleistet

werden. Der hohe Kostendruck in der öffentli­

chen Beschaffung wird damit auf die unterste

Ebene der Subunternehmerkette überwälzt.

Beim – häufig bereits im Voraus geplanten –

Von Lena Karasz, Arbeiterkammer Wien,

Abteilung Wirtschaftspolitik

Die unionsrechtlichen Möglichkeiten, unlauteren Wettbewerb durch Lohn- und Sozialdumping hintanzuhalten, wurden bis dato unzureichend genützt.

Page 14: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 14 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Konkurs ihrer direkten Arbeitgeber bleibt den

betroffenen Beschäftigten oft nur noch der

Weg zum Insolvenz­Entgelt­Fonds, um ihre

Lohnansprüche durchzusetzen.

Die „kleine Novelle“ brachte in dieser Hinsicht

insofern eine Verbesserung, als die Transpa­

renz in der Subauftragnehmerkette erhöht

wurde. Auftragnehmer müssen nunmehr im

Angebot alle Teile, die sie beabsichtigen an

Subauftragnehmer weiterzureichen, anführen.

Zudem bedarf nach der Zuschlagserteilung

grundsätzlich jeder Wechsel von beteiligten

Unternehmen der Zustimmung des Auftrag­

gebers. Damit sollen die Kontrollmöglich­

keiten der Auftraggeber zu jedem Zeitpunkt

der Vertragsausführung gesichert werden.

Von der Möglichkeit zur Kontrolle wird in der

Praxis allerdings selten Gebrauch gemacht.

Als weitaus effektivere Maßnahme im Kampf

gegen Lohn­ und Sozialdumping würde sich

eine gesetzliche Beschränkung der Subauf­

tragnehmerkette auf maximal zwei Ebenen

erweisen.

Zielführend wäre überdies, Auftragnehmer, die

bereits in der Vergangenheit gegen bestimmte

arbeits­ und sozialrechtliche Vorschriften ver­

stoßen und damit ihre berufliche Zuverlässig­

keit in Frage gestellt haben, für festgelegte

Zeiträume von der Teilnahme an öffentlichen

Vergabeverfahren auszuschließen. Die Verga­

berichtlinien bieten dazu explizit die Möglich­

keit, da ein solcher Ausschluss auch unfairen

Wettbewerb verhindern soll. Die derzeitige

Rechtsprechung in Österreich erlaubt unzu­

verlässigen Bietern jedoch eine sogenannte

„Reinwaschung“, noch dazu unter milden Vo­

raussetzungen. Hier wäre jedoch eine striktere

Handhabung wichtig – sowohl im Sinne des

fairen Wettbewerbs als auch im Hinblick auf

die dadurch entstehenden Folgekosten für die

Allgemeinheit.

Wer billig kauft, kauft letztlich teuer

In der öffentlichen Auftragsvergabe war lange

Zeit das Billigstbieterprinzip vorherrschend.

Die öffentliche Hand, so die Idee, sollte sich

in ihrer Entscheidung ausschließlich am Preis

der vorgelegten Angebote orientieren, um

Transparenz zu gewährleisten und Diskrimi­

nierungen zu vermeiden. Diese ausschließ­

liche Fokussierung auf den Preis sollte dafür

sorgen, Steuergelder möglichst sparsam ein­

zusetzen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt

aber, dass sich vor allem die billigsten („güns­

tigsten“) Angebote im Nachhinein als die kost­

spieligsten erweisen.

Es kann daher als Fortschritt gewertet werden,

dass die letzte Vergaberechtsnovelle die Krite­

rien zur Zulässigkeit des Billigstbieterprinzips

weiter eingeengt hat. Als besonders positive

Neuerung ist die gesetzliche Verankerung des

Bestbieterprinzips im Bausektor hervorzu­

heben: Bei öffentlichen Bauauf trägen ab einer

Million Euro muss nunmehr verpflichtend das

Bestbieterprinzip angewendet werden.

Gesamtwirtschaftlich gesehen ist es wichtig,

diesen eingeschlagenen Weg weiterzugehen

und das verpflichtende Bestbieterprinzip auch

auf andere Branchen, wie z.B. Bewachungs­

leistungen, gesundheitliche Dienstleistungen,

etc. auszudehnen. Solcherart würde nicht nur

der Qualitätswettbewerb gefördert, sondern

auch Lohn­ und Sozialdumping ein Riegel

vorgeschoben werden, das auch jenseits der

Baubranche weit verbreitet ist. Regelmäßig

Der hohe Kostendruck in der öffentlichen Beschaffung wird auf die unterste Ebene der Subunternehmerkette überwälzt.

Eine effektive Maßnahme im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping wäre eine gesetzliche Beschränkung der Subauftragnehmerkette auf maximal zwei Ebenen.

Page 15: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 15 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

werden bei öffentlichen Ausschreibungen

Anbieter, die Beschäftigte fair entlohnen, von

Mitbewerbern mit unseriösen Kostenkalkulati­

onen aus dem Rennen gedrängt.

Ein anschauliches Beispiel von Lohndumping

bei der öffentlichen Auftragsvergabe bietet

der öffentliche Verkehrsdienst per Bus: Bus­

betriebe, die im Bewusstsein ihrer sozialen

Verantwortung auch älteres und gut ausge­

bildetes Personal zu angemessenen Kondi­

tionen beschäftigen, werden durch Mitbe­

werber, die ihr Personal nicht fair entlohnen,

sehr unter Druck gesetzt. Da bei der Preisbil­

dung im Busbereich die Kosten für das Per­

sonal bei etwa 50% liegen, können öffentliche

Aufträge vor allem dann lukriert werden, wenn

bei den Beschäftigten gespart wird. Der bil­

ligste Preis wird so zu Lasten des Personals

erreicht und belastet zudem die Sozialkassen

und den Staat, wenn die anderen (gut quali­

fizierten) Beschäftigten in die (Alters­)Arbeits­

losigkeit gedrängt werden. Überdies bedeutet

Lohndumping weniger Steuereinnahmen für

die öffentliche Hand.

Schutz der Beschäftigten bei Betreiberwechsel

Ein weiteres Problem, das für Beschäftigte

im Personennahverkehr aus öffentlichen Auf­

tragsvergaben resultieren kann, ist der Be­

treiberwechsel. Diese Problematik tritt für die

Beschäftigten von Buslinien dann ein, wenn

nicht der Betreiber, bei dem sie beschäftigt

sind, den öffentlichen Auftrag erhält, sondern

ein anderer Mitwerber. Besonders im länd­

lichen Raum, wo die Einsatzorte begrenzt

sind, können Beschäftigte in einem solchen

Fall massiv unter Druck geraten. Busbetreiber

sind gesetzlich nicht verpflichtet, das Personal

des bisherigen Betreibers zu übernehmen. In

der Praxis kann dies dazu führen, dass sich

ArbeitnehmerInnen gezwungen sehen, zu

schlechteren Bedingungen zum neuen Ar­

beitgeber zu wechseln, dabei Dumping löhne

in Kauf zu nehmen und auf bisher erworbene

Rechte, wie z.B. das Recht auf die 6. Urlaubs­

woche, zu verzichten.

Unionsrechtlich besteht allerdings die Mög­

lichkeit, in solchen Fällen den Bestbietenden

dazu zu verpflichten, die bisherigen Beschäf­

tigten unter Anerkennung ihrer erworbenen

Rechte zu übernehmen. Unter den EU­Mit­

gliedstaaten hat bislang Schweden von dieser

Möglichkeit Gebrauch gemacht. Eine ver­

pflichtende Personalübernahme beim Betrei­

berwechsel ist dort gängige Praxis. Dies wäre

auch für Österreich erstrebenswert, um Be­

schäftigungsverhältnisse langfristig zu sichern

und der Beschneidung von ArbeitnehmerIn­

nenrechten entgegenzuwirken.

Berücksichtigung von sozialen, ökologischen und qualitativen Mindestanforderungen

In der Vergangenheit spielten in Österreich vor

allem soziale und umweltbezogene Aspekte

in der öffentlichen Auftragsvergabe eine eher

untergeordnete Rolle. Argumentiert wurde,

dass das Bundesvergabegesetz kein sozi­

alpolitisches Instrument sei, sondern aus­

schließlich die „effizienteste“ Beschaffung

durch die öffentliche Hand sicherstellen sollte.

Andere Kriterien als der Preis wurden als „ver­

gabefremd“ qualifiziert. Mittlerweile hat sich

jedoch die Einsicht durchgesetzt, dass es vor

allem volkswirtschaftlich vernünftig ist, so­

ziale, ökologische und qualitative Kriterien bei

der Bewertung zu berücksichtigen. Die neue

allgemeine Vergabe­Richtlinie sieht daher

ausdrückliche Möglichkeiten für öffentliche

Auftraggeber vor, im Zuge der Beschaffung

Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es vor allem volks-wirtschaftlich klug ist, soziale, ökolo-gische und qualitative Kriterien bei der Bewertung zu berücksichtigen.

Page 16: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 16 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

wirtschafts­ und gesellschaftspolitische Ziele

zu verfolgen. Nicht zuletzt vor diesem Hinter­

grund wäre eine Stärkung des Bestbieterprin­

zips erforderlich.

Um diese strategische Beschaffung noch zu­

sätzlich zu stärken, müssten beim Bestbie­

terprinzip neben dem Preis weitere soziale,

ökologische oder qualitative Kriterien als ver­

pflichtend miteinbezogen werden. Als soziale

Kriterien könnten beispielsweise das Vorhan­

densein spezieller Ausbildungsprogramme

für Lehrlinge oder der Anteil von ehemaligen

Langzeitarbeitslosen am Gesamtbeschäfti­

gungsstand herangezogen werden. Damit

würden wichtige beschäftigungspolitische

Impulse gesetzt. 2015 machte die Vergabe

der öffentlichen Hand in Österreich insgesamt

13,2% der Wirtschaftsleistung (BIP) aus. Sie

ist damit ein besonders starker Hebel, um

Beschäftigung zu sichern. Aus einer gesamt­

wirtschaftlichen Perspektive ist es daher drin­

gend geboten, dass öffentliche Auftraggeber

über kurzfristige Aufträge hinausdenken und

einer nachhaltigen Ökonomie, die mit fairer

Beschäftigung und sozialer Sicherheit einher­

geht, den Vorzug geben.

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Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer fü

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Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Ir

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Lukas Oberndorfer ([email protected]) L

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Erscheinungsweise: zweimonatlich

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Liebe Leserin! Lieber Le

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Auch inhaltlich haben wir uns

bemüht, die internationalen Brenn-

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Raum für grundlegende Analysen.

Damit starten Markus Marterbauer

und Lukas Oberndorfer. Ersterer

zeigt auf, dass simultanes Kon-

solidieren die EU in den nächsten

Abschwung führen könnte. Zweiterer

setzt sich mit dem Monti-B

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dem Versuch eines neuen Konsenses

für eine angebotseitige Binnen-

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spielen Bücher eine wichtige Rolle.

Daher eröffnen wir mit zw

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Die weitere Konjunkturentwicklung

hängt davon ab, ob die von Asien

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■ Dadurch wurde von Mitte 2008

bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch

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sich ab dem Frühjahr 2010 eine

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sie hat – bedingt durch langwierige

Entscheidungsprozesse, vor allem

aber geprägt durch ein neoliberales

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Aus dem Inhalt

Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20-22 •

Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Iris Strutzmann Norbert Templ, Valentin Wedl • Kontakt:

Lukas Oberndorfer ([email protected]) Layout und Satz: Julia Stern • Verlags- und Herstellungsort: Wien •

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Damit starten Markus Marterbauer

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Daher eröffnen wir mit zwei Rezensi-

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Investitionsschutzabkommen,

Wachstumshindernissen, Handels-

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Ebenso setzt Claudia Schürz unseren

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Ihr AK Redaktionsteam

Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es

der EU gelungen, durch pragmatische Notfallmaßnahmen das

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verschreibungen zu stabilisieren, jedoch sind die grundlegenden

Probleme nicht bewältigt.

Europas Wirtschaft

An einer entscheidenden

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Die weitere Konjunkturentwicklung

hängt davon ab, ob die von Asien

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die Dämpfung durch die simultane

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EU-Wirtschaftspolitik schafft

Stabilisierung ■ Die wirtschaftliche

Krise hat in der Europäischen Uni-

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■ Die Krise ging zunächst in den

Jahren 2007 und 2008 von den

Finanzmärkten und Banken aus,

das weltweite Finanzsystem ge-

riet mehrmals an den Rand des

Zusammenbruchs.

■ Dadurch wurde von Mitte 2008

bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch

der Realwirtschaft ausgelöst. Das

Bruttoinlandsprodukt ging 2009

real um 4,2% zurück, die saison-

bereinigte Zahl der Arbeitslosen

stieg vom Tiefstand im Frühjahr

2008 bis Mai 2010 von 16 Mio auf

23 Mio.

■ Als Folge des durch den finanz-

und realwirtschaftlichen Einbruch

entstandenen Ausfalls an Steu-

ereinnahmen und der zusätzli-

chen Staatsausgaben entwickelte

sich ab dem Frühjahr 2010 eine

Staatsschuldenkrise.

Die EU-Politik hat die Krisenzeichen

in allen drei Stadien spät erkannt,

sie hat – bedingt durch langwierige

Entscheidungsprozesse, vor allem

aber geprägt durch ein neoliberales

Weltbild, das den Märkten Effizienz

zuspricht und staatliche Eingriffe für

falsch hält – mit Zögern und Zaudern

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in jedem Stadium der Krise gelun-

gen, durch Notfallmaßnahmen eine

Stabilisierung zu erreichen:

Europas Wirtschaft 1

Die faktische Macht

multinationaler Unternehmen 6

Wachstumshemmnisse 9

Analyse des Monti-Berichts 10

EU-Kanada Abkommen 15

China – Illegale im eigenen Land 17

HIV/Aids

18

Kritik des Kapitalismus 20

Die europäische Chance 21

eu& international

infobrief

Ausgabe 3 | Juni 2010

Aus dem Inhalt

Impressum: Herausgeber und Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20-22 • Redaktion: Elisabeth Beer, Éva Dessewffy, Lukas Oberndorfer, Iris Strutzmann Norbert Templ, Valentin Wedl • Kontakt: Lukas Oberndorfer ([email protected]) Layout und Satz: Julia Stern • Verlags- und Herstellungsort: Wien • Erscheinungsweise: zweimonatlich • Kostenlose Bestellung unter: http://wien.arbeiterkammer.at/euinfobrief

Editorial

Liebe Leserin! Lieber Leser!

Vor Ihnen liegt doppelt Neues. Durch professionelles Layout

erscheinen wir in neuem Gewand. Auch inhaltlich haben wir uns

bemüht, die internationalen Brenn-punkte durch neue Formate besser

zu fokussieren: Langbeiträge als Raum für grundlegende Analysen. Damit starten Markus Marterbauer

und Lukas Oberndorfer. Ersterer zeigt auf, dass simultanes Kon-

solidieren die EU in den nächsten Abschwung führen könnte. Zweiterer

setzt sich mit dem Monti-Bericht – dem Versuch eines neuen Konsenses

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Daher eröffnen wir mit zwei Rezensi-onen eine neue Rubrik: Die Buchbe-

sprechung. Die bekannten Stärken unserer Zeitschrift bleiben erhal-

ten: aktuelle Themen informativ & prägnant aufbereitet. Das zeigen

Elisabeth Beer, Norbert Templ, Iris Strutzmann, Walter Sauer & Susan

Leather mit ihren Beiträgen zu Investitionsschutzabkommen,

Wachstumshindernissen, Handels-politik (EU – Kanada) und HIV/Aids.

Ebenso setzt Claudia Schürz unseren China-Schwerpunkt fort. Diesmal:

WanderarbeiterInnen.

Ihr AK Redaktionsteam

Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ist es der EU gelungen, durch pragmatische Notfallmaßnahmen das Banken system, die Konjunktur und den Markt für Staatsschuld-verschreibungen zu stabilisieren, jedoch sind die grundlegenden Probleme nicht bewältigt.

Europas Wirtschaft

An einer entscheidenden Weggabelung

Die weitere Konjunkturentwicklung hängt davon ab, ob die von Asien ausgehenden Auftriebskräfte oder die Dämpfung durch die simultane Budgetkonsolidierung in der EU stär-ker wirken. Die Bewältigung der ho-hen Staatsschulden bleibt ein zent-rales Thema, für dessen Bewältigung unkonventionelle Ansätze notwendig sind.

EU-Wirtschaftspolitik schafft Stabilisierung ■ Die wirtschaftliche Krise hat in der Europäischen Uni-on in den letzten Wochen ihr drittes Stadium erreicht: ■ Die Krise ging zunächst in den

Jahren 2007 und 2008 von den Finanzmärkten und Banken aus, das weltweite Finanzsystem ge-riet mehrmals an den Rand des Zusammenbruchs.

■ Dadurch wurde von Mitte 2008 bis Mitte 2009 ein tiefer Einbruch der Realwirtschaft ausgelöst. Das

Bruttoinlandsprodukt ging 2009 real um 4,2% zurück, die saison-bereinigte Zahl der Arbeitslosen stieg vom Tiefstand im Frühjahr 2008 bis Mai 2010 von 16 Mio auf 23 Mio.

■ Als Folge des durch den finanz- und realwirtschaftlichen Einbruch entstandenen Ausfalls an Steu-ereinnahmen und der zusätzli-chen Staatsausgaben entwickelte sich ab dem Frühjahr 2010 eine Staatsschuldenkrise.

Die EU-Politik hat die Krisenzeichen in allen drei Stadien spät erkannt, sie hat – bedingt durch langwierige Entscheidungsprozesse, vor allem aber geprägt durch ein neoliberales Weltbild, das den Märkten Effizienz zuspricht und staatliche Eingriffe für falsch hält – mit Zögern und Zaudern reagiert. Dennoch ist es schließlich in jedem Stadium der Krise gelun-gen, durch Notfallmaßnahmen eine Stabilisierung zu erreichen:

Europas Wirtschaft 1Die faktische Macht multinationaler Unternehmen 6 Wachstumshemmnisse 9Analyse des Monti-Berichts 10EU-Kanada Abkommen 15China – Illegale im eigenen Land 17HIV/Aids 18Kritik des Kapitalismus 20Die europäische Chance 21

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Ausgabe 3 | Juni 2010

Aus dem Inhalt

Der EU-Infobrief erscheint 5x jährlich im digitalen Format und liefert eine kritische Analyse der Entwicklungen auf europäischer und internationaler Ebene. Die Zeitschrift der Abteilung EU & Internationales der AK-Wien fokussiert dabei Themen an der Schnittstelle von Politik, Recht und Ökonomie. Anspruch ist nicht nur die Prozesse in den europäischen Institutionen zu beschreiben, sondern auch Alternativen zur Hegemonie des Neoliberalismus zu entwickeln. Kurze Artikel informieren in prägnanter Form über aktuelle Themen. Langbeiträge geben den Raum für grundlegende Analysen, Buchbesprechungen bieten eine kritische Übersicht einschlägiger Publikationen.

Page 17: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 17 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

ERNTEDANK DEN STEUERZAHLERiNNEN: WAS DER AGRARSEKTOR 2016 EXTRA BEKOMMTIn gewöhnlichen Jahren betragen die Agrarsubventionen an die österreichische Landwirtschaft mehr als 2 Milliarden Euro. Wenn aufgrund hoher Erntemengen die Preise verfallen und gleichzeitig ein Teil der Betriebe wegen Dürre und/oder Frost geringe Mengen erntet, steigen die Begehrlichkeiten nach mehr öffentlichen Geldern. Für 2016 sind es einige Hundert Millionen mehr an Zuschüssen. Von Steuer mitteln für die Ernteversicherung über Zahlungen für Frostschäden, Hilfspaketen für Schweine- und Milchbauern bis hin zum Entfall der Sozialversicherungsbeiträge reicht die Palette. Egal wie hoch die Agrarsubventionen sind, der Eindruck bleibt, es gehe allen immer schlechter. Ist das tatsächlich so? Oder liegt es daran, dass die Mittel nicht zielgerichtet eingesetzt werden?

Bemerkenswert ist, dass der Großteil dieser

zusätzlichen Subventionen nicht aus dem

Agrarbudget kommt, sondern aus anderen

Steuertöpfen. Das bewirkt, dass die tatsäch­

lichen Agrarausgaben nicht im vollen Ausmaß

sichtbar sind. Auch für die statistische Ein­

kommensberechnung zählen manche Sub­

ventionen nicht. Daher wird weiterhin ein

Durchschnittseinkommen berechnet werden,

das als Begründung für weitere zukünftige

Unterstützungsmaßnahmen herhalten muss.

Nichtzahlung der Sozialversicherung für ALLE LandwirtInnen

Die Nichtzahlung des 4. Quartalsbeitrags

an die Sozialversicherung der Bauern (SVB)

kostet 167 Mio €. Noch keine Einigung gibt

es bisher, ob es sich dabei um eine Stundung

oder eine Streichung des Beitrages handelt.

Diese sehr außergewöhnliche Maßnahme, die

bisher keine Branche gefordert hatte, wurde

mit der schlechten Marktsituation für die

MilchproduzentInnen begründet. Profitieren

werden jedoch alle LandwirtInnen – und zwar

unabhängig von ihrer tatsächlichen Einkom­

menssituation.

Was, so die berechtigte Frage, hat die Sozial­

versicherung mit dem Milchpreis zu tun? Und

warum sollen auch kuhlose LandwirtInnen

ihren Eigenbeitrag zum Solidarsystem nicht

leisten? Klar ist, diese Maßnahme löst keine

Marktprobleme. Es wird damit kein Liter we­

niger produziert oder mehr verkauft. Denn das

Dilemma am Milchmarkt ist durch die stei­

gende Milchproduktion in Kombination mit der

weniger wachsenden Nachfrage verursacht.

MilchproduzentInnen, die aufgrund der nied­

rigen Preise Verluste schreiben, haben keine

Steuern abzuführen. Viele landwirtschaftliche

Betriebe zahlen systemimmanent keine Ein­

kommenssteuern. Aber ein gewisser Eigen­

beitrag aller LandwirtInnen an die SVB wurde

bisher außer Streit gestellt. Zahlt doch die öf­

fentliche Hand ohnehin annähernd 80% der

Beiträge an das Pensionssystem der SVB1,

da es aufgrund der Differenzen zwischen Bei­

trägen und Pensionszahlungen sonst nicht

finanzierbar wäre. So gesehen stellt jede Bei­

tragskürzung eine Erhöhung der öffentlichen

Mittel dar, die außerhalb des Agrarbudgets

aufzubringen ist.

Streichung des Sozialversicherungsbeitrags begünstigt höhere Einkommen am stärksten

Größere Betriebe mit höherem Einkommen

zahlen für gewöhnlich höhere SVB­Beiträge

und profitieren dadurch am meisten von der

Nichtzahlung des Beitrags an die SVB. Kon­

kret würde ein Kleinbetrieb mit 933 € und ein

größerer Betrieb mit 3.313 € davon profitieren.

Von Maria Burgstaller, Arbeiterkammer Wien,

Abteilung Wirtschaftspolitik

Der Großteil der zusätzlichen Subventionen kommt nicht aus dem Agrarbudget, sondern aus anderen Steuertöpfen.

Page 18: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 18 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

In der Abbildung ist das extrem unterschied­

liche Einkommen in der Landwirtschaft abge­

bildet.

Laut offiziellen Daten des Bundesministe­

riums für Land­ und Forstwirtschaft, Umwelt

und Wasserwirtschaft verdienen 25% der

LandwirtInnen im Durchschnitt zumindest

mehr als 42.000  €. Spitzeneinkommen und

Großbetriebe sind bei dieser Erhebung kaum

berücksichtigt, da die Ergebnisse aus freiwil­

ligen Buchführungsdaten berechnet werden.

Für das unterste Viertel der LandwirtInnen,

das in der Berechnung überrepräsentiert ist,

wird ein deutlicher Verlust ausgewiesen. Auf

die großen Einkommensunterschiede weist

auch die Differenz zwischen dem Medianein­

kommen von 11.429 € und dem Durchschnitt­

seinkommen in der Höhe von 15.847 € hin.

Einkommen, die nicht aus landwirtschaftlicher

Tätigkeit stammen, bleiben bei dieser Statistik

vollkommen unberücksichtigt.

Steuergeld für die Ernteversicherung

Im Mai dieses Jahres wurden 76  Mio  € an

Budgetmitteln für die Erweiterung der sub­

ventionierten Ernteversicherung beschlossen.

Obwohl diese Maßnahme eine eindeutige

Subventionierung an den Agrar sektor be­

deutet, werden die öffentlichen Zuschüsse

aus dem Katastrophenfonds des Bundes

und aus Ländermitteln kommen. Das ohnehin

reichlich dotierte Agrarbudget wird dadurch

geschont und kann für andere Agra rausgaben

verwendet werden. Auch mögliche EU­Bud­

getmittel werden dafür nicht herangezogen.2

Steuergeld für Frostschäden

Obwohl schon bisher Frostschäden für be­

stimmte Kulturen versicherbar waren, werden

heuer extra Steuergelder für die Entschädi­

gung von Frostschäden bezahlt. Denn nicht

alle LandwirtInnen sind gegen Frost versi­

ABBILDUNG: VIERTELGRUPPIERUNG: PRO-KOPF-EINKOMMEN IN DER LANDWIRTSCHAFT 2015E

uro

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Jahr

-10.000

0

10.000

20.000

30.000

40.000

50.000

Durchschnittseinkommen = 15.847

Erstes Viertel

-8.612

-6.123 -17.041 42.386

Zweites Viertel

Drittes Viertel

ViertesViertel

Medianeinkommen = 11.429

Quelle: Grüner Bericht 2016; Tab. 4.8.4: Viertelgruppierung; Darstellung: Pro­Kopf­Einkommen (je Familienarbeitskraft) im Median, im Durchschnitt und im Durchschnitt nach Viertelgruppierung.

Klar ist, dass z.B. der Entfall oder die Stundung der Sozialver-sicherungsbeiträge keine Marktprobleme löst.

Page 19: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 19 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

chert, obwohl auch bereits bisher die Hälfte

der Prämie subventioniert war. 100 Mio  €

werden unter diesem Titel bezahlt3. Auch

dafür kommen die Budgetmittel nicht aus dem

„eigenen“ Agrarbudget, sondern aus dem Ka­

tastrophenfonds und aus zusätzlichen Län­

dermitteln. Die geplanten Entschädigungs­

leistungen der öffentlichen Hand sind zum

Teil höher als die von der Versicherung ausbe­

zahlten Beträge. Versicherten Land wirtInnen

wird in diesem Fall der Differenzbetrag zwi­

schen Versicherungsleistung und öffentlicher

Frostentschädigungszahlung ausgeglichen.

Außerdem ist zu bedenken, dass die „Beloh­

nung“ für Nicht­Versicherte nicht gerade zur

Versicherungsmoral der LandwirtInnen bei­

trägt. Weil, so der bleibende Eindruck: Wenn

wieder was passiert, springt ohnehin der

Staat ein.

Erstes EU-Hilfspaket – 500 Mio Euro

Davon wurden in Österreich sieben Mio € als

„besondere Marktstützungsmaßnahme für

Erzeuger“ der Sektoren Schweinefleisch und

Milch als direkte Beihilfe ausbezahlt. Diese

Zuschüsse haben die Marktlage nicht ver­

bessert. Zusätzlich gab es Preisstützungs­

maßnahmen in Form von Beihilfen für die

private Lagerhaltung von Schweinefleisch,

die den Markt entlasten sollten. Der Preis für

Schweine fleisch hat sich tatsächlich inzwi­

schen erholt, wobei vor allem die Grillsaison

und der Appetit im Asiatischen Raum dafür

gesorgt haben, dass für heuer wahrschein­

lich keine zusätzlichen Subventionen in diese

Branche fließen.

Zweites Milch-Hilfspaket zum Jahresende 2016Die Milchmenge am Europäischen Markt ist

weiterhin zu hoch – darüber herrscht Einigkeit

zwischen den Mitgliedstaaten. Während über­

legt wurde, wie Angebot und Nachfrage am

Markt einander angenähert werden könnten,

haben einige MilchproduzentInnen trotz Preis­

tiefs ihre Produktionsmengen ausgeweitet.

Ihre betriebswirtschaftliche Sicht der Dinge

war, den Umsatz zu steigern in der Hoffnung,

zumindest die Kosten zu decken. 2015 be­

trug der Anstieg der Milchproduktion in der

gesamten EU 2,1%. Nach monatelanger

Diskussion auf Brüsseler Ebene kamen die

AgrarministerInnen mit einem weiteren 500­

Mio €­Milchpaket erfolgreich nach Hause.

Österreichs LandwirtInnen werden davon

5,863 Mio € als „außergewöhnliche Anpas­

sungsmaßnahme“ fix bekommen und einen

noch nicht bekannten Teil, der für die EU­weite

Milchreduktionsmaßnahme beantragt werden

kann. MilcherzeugerInnen erhalten eine Bei­

hilfe4, wenn sie ihre Lieferung reduzieren.

Damit soll EU­weit eine Produktionsmenge

von etwas mehr als 1 Mio Tonnen „herausge­

kauft“ werden. Ob die gesamte Milchmenge

am Markt tatsächlich um diesen Betrag verrin­

gert wird, hängt nicht nur von der freiwilligen

Teilnahme ab. Falls sich der Milchpreis erholt

– und das zeichnet sich bereits jetzt, vor dem

Beginn dieser Aktion, ab – könnten jene, die

nicht am Programm teilnehmen, ihre Produk­

tion ankurbeln, was letztlich ein mengenmä­

ßiges Nullsummenspiel mit hohem Einsatz

bedeuten könnte. Es gibt ein beachtliches

Produktionspotenzial, und sobald der Milch­

preis wieder steigt, könnten auch die Mengen

weiter in die Höhe gehen. Ein Teufelskreis, der

auch mit dieser Maßnahme nicht in den Griff

zu bekommen ist. Privatrechtliche Verträge

zwischen MilcherzeugerInnen und Milchver­

arbeiterInnen, die das Marktgleichgewicht an­

streben, sind bisher gescheitert. Eine andere

Möglichkeit, die Ausweitung der Produktions­

mengen zumindest nicht mehr zu subventio­

nieren wäre, Steuergelder für die Investitions­

förderungen in Stallbauten nur bis zu einer

Die öffentliche Hand begleicht annähernd 80% der Zahlungen an das Pensionssystem der Sozialversicherung der Bauern.

Page 20: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 20 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

bestimmten Größe bereitzustellen. Dadurch

sollten Betriebe, die ihre Produktionskapazität

deutlich erhöhen wollen, ihre Kosten selbst

tragen. Diese Idee stößt allerdings in Öster­

reich auf heftigen Widerstand. Denn es gab

und gibt großes Interesse die Milchproduk­

tion weiter auszubauen. Seit dem EU­Beitritt

ist in Österreich die Milchproduktion enorm

gestiegen. Der Selbstversorgungsgrad von

Milch liegt bei 150%. Auf den Exportmärkten

konnten diese Mengen nicht in ausreichendem

Maße abgesetzt werden. Mehr Milchprodukte

können die europäischen KonsumentInnen

nicht verdauen. Am niedrigen Milchpreis, den

die MilcherzeugerInnen von ihren Molkereien

ausbezahlt bekommen, sind nicht die Steuer­

zahlerInnen schuld.

Einkommensversicherung mit Steuergeld für die Zukunft?

Schätzungen für die Zukunft bringen gute

und schlechte Nachrichten: Einerseits gibt

es positive Signale für die Welternährung.

So schätzt das U.S. Department of Agricul­

ture (USDA) die kommende Welt­Maisernte

auf annähernd 1  Milliarde Tonnen und die

Welt­Weizenernte auf 740 Mio Tonnen, was

eine Steigerung im Zehnjahresmittel um 16%

bzw. 8% bedeutet. Die wachsende Weltbe­

völkerung könnte ausreichend ernährt werden

– aber: Es ist und bleibt eine Verteilungsfrage.

Hohe Erntemengen bringen jedoch auch

Preisschwankungen und Einkommensun­

sicherheiten für die LandwirtInnen mit sich.

Daher wird in letzter Zeit immer lauter über

Einkommensversicherungen nachgedacht.

Damit sollen nicht nur durch wetterbedingte

Risiken verursachte geringere Erntemengen

versicherbar werden, sondern auch Einkom­

mensverluste bedingt durch niedrige Preise.

Die schlechte Nachricht dabei: Würde diese

neue Versicherung nicht zu einem kompletten

Umbau des Agrarsubventionssystems führen,

wäre mit enormen zusätzlichen Budgetmitteln

zu rechnen. Ideal wäre ein Modell, das sich

aus dem Agrarsektor selbst finanziert, sodass

zusätzliche Steuermittel nicht mehr aufge­

bracht werden müssen. Denn die Frage ist

naheliegend, ob z.B. Steuer zahlerInnen mit

niedrigen Einkommen, wie VerkäuferInnen

oder LandarbeiterInnen, tatsächlich auch

Einkommen von großen Landwirtschaftsbe­

trieben auf unbestimmte Zeit finanziell ab­

sichern sollen.

1 Vgl. www.gruenerbericht.at S. 217, Tabelle 5.5.112 Vgl. http://blog.arbeit-wirtschaft.at/ernteausfall-eu-mittel-bleiben-liegen-kosten-werden-sozialisiert/3 Vgl. https://bgld.lko.at/?+Details-zur-Abwicklung-der-Frostentschaedigung-bei-Obst-und-Wein+&id=2500,24577644 Vgl. https://www.ama.at/Allgemein/Presse/2016/Zwei-Beihilfemassnahmen-zur-Milchmengenreduktion

Auf die großen Einkommensunterschiede weist auch die Differenz zwischen dem Medianeinkommen und dem Durch-schnittseinkommen hin.

Page 21: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 21 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

INNOVATIONSAKTIVITÄTEN IM UNTERNEHMEN: BRINGEN SIE AUCH VORTEILE FÜR DIE BESCHÄFTIGTEN?Die Chancen der österreichischen Wirtschaft – und damit auch die für die Zukunft der heimischen Arbeitsplätze – liegen im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung und zunehmenden Digitalisierung (Industrie 4.0) im Angebot innovativer und qualitativ hochwertiger Produkte und Dienst leistungen und nicht in einer kostenorientierten Strategie, die auf billige Massenprodukte, Lohndruck und niedri-ge Umweltstandards abzielt. Ein Land wie Österreich kann im globalen Wettbewerb nur über Qualität und technologischen Vorsprung bestehen. Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie Innovati-onsaktivitäten sind daher auch in Zeiten eines relativ schwachen wirtschaftlichen Aufschwungs ohne Alternative.

Dass Innovation ein Schlüssel für die Schaffung

und Erhaltung von Arbeitsplätzen ist, konnte

bereits durch frühere Studien nachgewiesen

werden, wie z.B. durch die im Auftrag der

AK Wien 2013 veröffentlichten WIFO­Studie

„Innovation und Beschäftigung“1, die nach­

weisen konnte, dass insgesamt in Österreich

jährlich 19.000 neue Arbeitsplätze durch Inno­

vation geschaffen werden.

Die ebenfalls im Auftrag der AK Wien und des

Bundesministeriums für Verkehr, Innovation

und Technologie vom Österreichischen Ins­

titut für Wirtschaftsforschung (WIFO) durchge­

führte Studie mit dem Titel „Die Wirkung von

Innovationsaktivitäten geförderter österrei­

chischer Unternehmen auf die Belegschaft“2

geht noch einen Schritt weiter und untersucht

die Auswirkungen von Innovationsaktivitäten

eines Unternehmens für die gesamte Beleg­

schaft hinsichtlich Arbeitsplatzstabilität und

Arbeitskräfteumschlag, Entlohnung und Be­

legschaftsstruktur.

Um sich diesen Fragestellungen widmen

zu können, musste zwischen innovierenden

und nicht innovierenden Unternehmen (Ver­

gleichsgruppe) unterschieden werden. Unter

der Annahme, dass innovierende Unter­

nehmen i.d.R. auch Innovationsförderungen

in Anspruch nehmen, konnte mithilfe der

Daten der Forschungsförderungsgesellschaft

(FFG) zwischen innovationsgeförderten und

nicht­innovationsgeförderten Unternehmen

unterschieden werden. Dabei wurde erstmalig

für Österreich ein Datensatz erstellt, der Infor­

mationen zu den Förderaktivitäten der Unter­

nehmen sowie zu ihren unternehmens­ und

belegschaftsspezifischen Merkmalen ver­

knüpft. Neben den Daten der FFG zu den ge­

förderten Innovationsaktivitäten wurden auch

Daten der „AURELIA­Datenbank“ (Informati­

onen zu Umsatzzahlen) und Daten des Haupt­

verbandes der österreichischen Sozialversi­

cherungsträger (HV) miteinander verknüpft.

Die Analysen beruhen auf einem Datensatz

von 224.781 Unternehmen (darin enthalten

sind 3.646 Unternehmen, die substanzielle4

Förderungen erhalten haben), die in den

Jahren 2000 bis 2014 tätig und jedenfalls im

Jahr 2014 aktiv waren. Ein­Personen­Unter­

nehmen, Forschungsinstitute, Universitäten,

etc. wurden dabei nicht in den Datensatz auf­

genommen.

Die Studie zeigt, dass von (geförderten) In­

novationsaktivitäten nicht nur die innovie­

renden Unternehmen selbst profitieren (hö­

Von Miron Passweg, Arbeiterkammer Wien,

Abteilung Wirtschaftspolitik

Innovierende Unternehmen bieten ihren Beschäftigten vielfach bessere Arbeits-bedingungen.

Page 22: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 22 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

heres Wachstum), sondern auch die Beleg­

schaft. Darüber hinaus konnte nachgewiesen

werden, dass sogar Arbeitskräfte, die vormals

arbeitslos waren, bessere Chancen im Job

haben, wenn sie eine Beschäftigung in einem

innovierenden Unternehmen aufnehmen.

Konkret zeigt sich, dass …

n … Innovationen Wachstum bringen: Innovationstätigkeiten ziehen Veränderun­

gen in der Belegschaftsstruktur nach sich.

Innovative Unternehmen wachsen stärker

(rund plus 2,5% gegenüber der Vergleichs­

gruppe).

n … junge ArbeitnehmerInnen profitie-ren: Der Anteil junger Arbeitskräfte (15 bis

24 Jahre) steigt (plus 2,5%­Punkte gegen­

über der Vergleichsgruppe), während der

Anteil älterer Arbeitskräfte (ab 50 Jahre)

tendenziell abnimmt (minus 2,9%­Punkte).

n … Männer bevorzugt werden: Es werden

mehr Männer als Frauen eingestellt, infol­

gedessen sinkt der Frauenanteil an den

Beschäftigten (minus 2,3%­Punkte gegen­

über der Vergleichsgruppe).

n … höhere Qualifikation sich auszahlt: Die Anteile der Arbeitskräfte, vor allem mit

mittlerem und tendenziell auch mit gerin­

gem Ausbildungsniveau gehen zurück –

zugunsten von höher qualifizierten Arbeits­

kräften.

n … die Arbeitsplätze stabiler sind: Beschäftigte in innovativen Unternehmen

wechseln nicht so oft den Arbeitsplatz wie

jene in der Vergleichsgruppe.

n … ehemals arbeitslose Personen profi-tieren: Betrachtet man etwa die Beschäf­

tigungsaufnahmen vormals Arbeitsloser in

innovierenden Betrieben, so wiesen diese

eine um rund neun Prozent längere Job­

dauer auf.

n … innovative Unternehmen besser zah-len: Wer in einem innovierenden Unterneh­

men aufgenommen wird, erzielt im Rah­

men dieser Tätigkeit im Durchschnitt einen

um etwa 2% höheren Monatslohn als ver­

gleichbare Personen in einem vergleich­

baren nicht­innovierenden Betrieb.

Die Studie zeigt daher auf, dass innovie­

rende Unternehmen ihren Beschäftigten viel­

fach bessere Arbeitsbedingungen bieten als

nicht­innovierende. Gleichzeitig wird aber

durch die Studie auch deutlich, dass nicht

alle Beschäftigten gleichermaßen profitieren

und dass daher neben wirtschaftspolitischen

Maßnahmen, die die Innovationskraft von

Unternehmen unterstützen bzw. mehr Unter­

nehmen dazu anregen Innovationsaktivitäten

zu setzen, insbesondere auch bildungs­ und

gesellschaftspolitische Maßnahmen not­

wendig sind, damit in Zukunft auch Ältere,

weniger Qualifizierte und Frauen stärker profi­

tieren können. Schritte in die richtige Richtung

wären beispielsweise die Einführung eines ge­

setzlichen Rechtsanspruchs auf eine Woche

Weiterbildung pro Jahr in der bezahlten Ar­

beitszeit, Qualifizierungsstipendien für Arbeit­

nehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ver­

stärkte Maßnahmen zur Frauenförderung in

technischen und nicht­traditionellen Berufen.

Nicht alle Beschäftigten profitieren jedoch gleichermaßen.

Bildungs- und gesellschaftspolitische Maßnahmen sind notwendig, damit in Zukunft auch Ältere, weniger Qualifi-zierte und Frauen stärker profitieren.

Page 23: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 23 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

1 Vgl. https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/WirtschaftundPolitik/studien/Innovation_und_Beschaeftigung.html2 Julia Bock­Schappelwein, Rainer Eppel, Ulrike Famira­Mühlberger, Agnes Kügler, Helmut Mahringer, Fabian Unterlass, Christine

Zulehner, „Die Wirkung von Innovationsaktivitäten geförderter österreichischer Unternehmen auf die Belegschaft“, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Mai 2016; im Internet unter: https://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/Innov___Arbeit_Studie_WIFO_Endbericht_2016­05_V2.pdf

3 Das heißt, Unternehmen, die nur Beratungsleistungen oder nur geringfügige finanzielle Förderungen erhalten haben, wurden aus der Analyse ausgeschlossen.

Studien, Kurzfassungen, Analysen und Hintergründe auf:

Genug vom Fischen im Trüben?

www.arbeit-wirtschaft.atHerausgegeben von AK und ÖGB

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Seite 24 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

LEHREN AUS DER FINANZKRISE: REFORM DER ABSCHLUSSPRÜFUNG Die Finanzkrise 2008 hat das Vertrauen in die Qualität der Rechnungslegung und der Abschlussprü-fung massiv erschüttert. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurde auf europäischer Ebene eine Re-form der Abschlussprüfung mit dem Ziel beschlossen, einerseits die Unabhängigkeit der Abschluss-prüfer zu stärken, und andererseits die Qualität der Abschlussprüfung zu erhöhen. Die Änderungen betreffen vor allem kapitalmarktorientierte Unternehmen, das sind Banken, Versicherungen und börsennotierte Unternehmen. Im Rahmen der nationalen Umsetzung wurden zwei Gesetze beschlos-sen – das Abschlussprüfungsrechts-Änderungsgesetz (APRÄG) und das Abschlussprüferaufsichtsge-setz (APAG). Nachstehend die wichtigsten Neuerungen, die für Geschäftsjahre gilt, die nach dem 17.06.2016 beginnen.

Erstmals externe Rotation der Abschlussprüfer

Banken, Versicherungen und börsennotierte

Unternehmen sind erstmals verpflichtet, in

bestimmten Abständen den Abschlussprüfer

und Prüfungsgesellschaft zu wechseln. Es

gilt der Grundsatz, dass diese nicht länger als

über zehn Jahre hindurch mit dieser Tätigkeit

für die betroffenen Unternehmen beauftragt

werden sollen. Nach Ablauf der Übergangs­

fristen kommt die externe Rotation erstmals

ab Juni 2020 (d.h. für Jahresabschlüsse mit

Abschlussjahr 2021) zur Anwendung. Be­

troffen sind zunächst jene Unternehmen, die

zum 16. Juni 2014 mehr als 20 Jahre von der­

selben Prüfungsgesellschaft geprüft wurden.

Nach vier Jahren „Abkühlphase“ kann die

Prüfungsgesellschaft wieder bestellt werden.

Der Wechsel des Abschlussprüfers inner­

halb der Prüfungsgesellschaft ist bereits jetzt

geltendes Recht und betrifft neben den ka­

pitalmarktorientierten auch die nicht börsen­

notierten, sogenannten „XL­Unternehmen“

(Umsätze >200 Mio Euro, Bilanzsumme >100

Mio Euro, ArbeitnehmerInnen >250). Die gel­

tende Regelung, wonach ein interner Prüfer­

wechsel nach fünf Jahren stattzufinden hat,

wurde um zwei Jahre auf sieben Jahre verlän­

gert. Die „Abkühlphase“ wurde von zwei auf

drei Jahre verlängert.

Stärkung des Prüfungsausschusses durch zusätzlichen schriftlichen Bericht

Der Prüfungsausschuss (auch von nicht bör­

sennotierten XL­Unternehmen) wird stark auf­

gewertet. Dieser bekommt einen zusätzlichen

schriftlichen Bericht zum Abschlussprüfbe­

richt. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen

Abschlussprüfer und Prüfungsausschuss zu

verbessern. Der Zusatzbericht hat u.a. zu ent­

halten:

n Umfang und Zeitplan der Prüfung,

n Kommunikation mit dem Prüfungs­

auschuss,

n Prüfungsmethoden,

n Bewertungsmethoden,

n Mängel im internen Finanzkontroll­ oder

Rechnungslegungssystem,

n Schwierigkeiten, die während der

Abschlussprüfung aufgetreten sind,

n Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften

sowie

Von Helmut Gahleitner, Abteilung Wirtschaftspolitik

und Markus Oberrauter, Abteilung Betriebswirtschaft, beide Arbeiterkammer Wien

Banken, Versicherungen und börsen-notierte Unternehmen sind erstmals verpflichtet, Abschlussprüfer und Prü-fungsgesellschaft zu wechseln.

Page 25: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 25 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

n sonstige Sachverhalte, die für die Auf­

sicht über den Rechnungslegungsprozess

bedeutsam sind.

Der schriftliche Zusatzbericht wird damit eine wichtige Ergänzung zum Abschlussprüfbericht darstellen und ist die wichtigste inhaltliche Neuerung.

Nichtprüfungsleistungen nur mit Zustimmung des Prüfungsausschusses

Um die Unabhängigkeit des Abschlussprü­

fers zu verbessern, wurde die Erbringung

von zusätzlichen Nichtprüfungsleistungen

(z.B. Steuerberatungs­ oder Bewertungsleis­

tungen) durch den Abschlussprüfer weitge­

hend eingeschränkt. Darüber hinaus bedürfen

die noch erlaubten Beratungsleistungen der

vorherigen Zustimmung durch den Prüfungs­

ausschuss. Der Prüfungsausschuss muss

hierbei die europäischen Unabhängigkeits­

bestimmungen beachten, dazu zählen etwa

bestimmte Obergrenzen für das Gesamt­

honorar (max. 70% des Durchschnitts der

Prüfungshonorare der letzten drei Jahre). Die

Bestimmungen zu den Nichtprüfungsleis­

tungen gelten nur für Banken, Versicherungen

und börsennotierte Unternehmen. Für die

genannten kapitalmarktorientierten Unter­

nehmen sind noch weitere neue Regelungen

vorgesehen: So muss der Prüfungsausschuss

insgesamt mit dem Unternehmenssektor ver­

traut sein und ist künftig verpflichtet, Empfeh­

lungen zur Überwachung des Rechnungsle­

gungsprozesses abzugeben. Erweitert wurde

auch der Bestätigungsvermerk für Banken,

Versicherungen und börsennotierte Unter­

nehmen. Hierbei geht es vor allem um die Be­

urteilung von Risiken aufgrund wesentlicher

Falschdarstellungen.

Befreiungsbestimmungen für XL-Unternehmen

Hält das Mutterunternehmen unmittelbar oder

mittelbar mehr als 75% der Anteile (bislang

100%), und werden die Pflichten des Prü­

fungsausschusses auf Konzernebene erfüllt,

ist bei großen, nicht börsennotierten XL­Un­

ternehmen (Größenkriterien siehe oben) kein

Prüfungsausschuss einzurichten. Wird die Be­

freiung in Anspruch genommen, dann ist der

Zusatzbericht des Abschlussprüfers sowohl

dem Mutterunternehmen als auch dem Auf­

sichtsrat des Tochterunternehmens zu über­

mitteln. Besteht der Aufsichtsrat eines XL­Un­

ternehmens aus weniger als vier Mitgliedern

(Kapitalvertreter), ist kein Prüfungsausschuss

einzurichten. In diesem Fall nimmt der Ge­

samtaufsichtsrat die Agenden des Prüfungs­

ausschusses wahr.

Neue unabhängige Abschlussprüfer-Aufsichtsbehörde

Neben diesen umfangreichen inhaltlichen

Änderungen wurde auch das System der Ab­

schlussprüferaufsicht grundlegend auf neue

Beine gestellt. Die Aufsicht und das Quali­

tätssicherungssystem für Abschlussprüfer

wurden im Rahmen des neu geschaffenen Ab­

Erweitert wurde auch der Bestätigungs-vermerk für Banken, Versicherungen und börsennotierte Unternehmen in Bezug auf die Beurteilung von Risiken aufgrund wesentlicher Falschdarstellungen.

Die neue Abschlussprüfer-Aufsichtsbe-hörde unterliegt verschärften Unabhän-gigkeitserfordernissen und verfügt über mehr Kompetenzen.

Ein Zusatzbericht zum Abschlussprüferbericht soll zur Ver-besserung der Kommunikation zwischen Abschlussprüfer und Prüfungsausschuss beitragen.

Page 26: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 26 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

schlussprüfer­Aufsichtsgesetzes (APAG) um­

organisiert, welches das bisherige Abschluss­

prüfungs­Qualitätssicherungsgesetz (A­QSG)

ersetzt. Im Mittelpunkt steht die Schaffung

einer eigenen, letztverantwortlichen und un­

abhängigen Behörde. Diese neue „Abschluss­

prüfer­Aufsichtsbehörde (ABAB) übernimmt

die Aufgaben der bisherigen Behörden und

unterliegt verschärften Unabhängigkeitserfor­

dernissen im Verhältnis zum Berufsstand und

verfügt über mehr Kompetenzen.

Angesichts der erheblichen öffentlichen und

volkswirtschaftlichen Bedeutung, die Unter­

nehmen von öffentlichem Interesse (PIEs oder

Public Interest Entities) aufgrund des Umfangs,

der Komplexität und der Art ihrer Geschäftstä­

tigkeit zukommt, werden an Abschlussprüfer

und Prüfungsgesellschaften, die PIEs prüfen,

strengere Maßstäbe als bisher angelegt.

Regelmäßige Inspektionsprüfungen bei PIEsZusätzlich zu den geltenden Qualitäts siche­

rungsprüfungen unterliegen die PIEs auch

regelmäßigen Inspektionsprüfungen. Diese

werden durch berufsunabhängige, bei der Be­

hörde angestellte, Inspektoren durchgeführt.

Darüber hinaus können auch Berufsangehö­

rige, insbesondere Qualitätssicherungsprüfer,

bei den Inspektionen als Sachverständige

mitwirken.

Fazit

Nach langjähriger Debatte wurden nun mit

den beiden Gesetzen auch im Bereich der

Abschlussprüfung erste Lehren aus der

Finanzkrise gezogen. Die Neuregelungen

(insbesondere die externe Rotation) stärken

die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers

und erweitern die Aufgaben des Aufsichtsrats

bzw. des Prüfungsausschusses. Als neues

wertvolles Instrument für AufsichtsrätInnen

wird sich der neue schriftliche Zusatzbericht

im Prüfungsausschuss erweisen.

WIRTSCHAFTSPOLITIK – STANDPUNKTE

Meinung, Position, Überzeugung. Der digitale Newsletter der Abteilung

Wirtschaftspolitik in der Wiener Arbeiterkammer behandelt Aspekte der

Standort politik, des Wirtschaftsrechts, der Regulierung diverser Branchen

und allgemeine wirtschaftspolitische Fragestellungen aus der Perspektive

von ArbeitnehmerInnen.

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WirtschaftspolitikStandpunkte

EDITORIAL

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Wirtschaftspolitik­Standpunkte erscheint 4­mal jährlich und wird per Email versandt.

Die gesetzlichen Neuregelungen stärken die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers und erweitern die Aufgaben des Auf-sichtsrats bzw. des Prüfungsausschusses.

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Seite 27 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

SOZIALES EUROPA: AUFBRUCH ODER ABBRUCH?1

Europa – oder richtiger die Europäische Union – ist in keiner guten Verfassung. Seit Jahren befindet sie sich im Krisenmodus. Und nicht nur das, es werden immer mehr statt weniger Krisen – und sie vertiefen sich.

Verantwortlich dafür sind auch die falschen

Krisenrezepte einer rigiden Austeritätspolitik.

Für alle Mitgliedstaaten gilt, dass die Schere

zwischen Arm und Reich seit dem Krisen­

ausbruch im September 2008 weiter ausei­

nander klafft. Seitdem nimmt die Armut im

weltweit reichsten Kontinent zu. Es gibt mehr

als 22 Millionen Arbeitslose – davon 4,5 Milli­

onen Jugendliche. Die Regionen Europas ent­

wickeln sich auseinander statt weiter zusam­

menzuwachsen. Seit gut zehn Jahren wächst

die wirtschaftliche und soziale Divergenz in

und zwischen den Mitgliedstaaten der Union.

Mit ihr bröckelt die Solidarität zwischen den

Mitgliedstaaten der Union. Stattdessen er­

leben wir die Renaissance einer Politik der

Kleinstaaterei, die nationale Stereotypen und

Egoismen befeuert. Das Ergebnis: Das Ver­

trauen der Bürger in das großartige Integra­

tionsprojekt Europa und in die Institutionen

der EU schwindet unablässig. Die Europä­

ische Union befindet sich in der schwersten

Vertrauens­ und Legitimationskrise ihrer Ge­

schichte.

Die Flucht von Hunderttausenden Menschen

vor Krieg und Armut, oft und zu Unrecht als

„Flüchtlingskrise“ betitelt, trägt ihrerseits dazu

bei, die Spannungen in den Ländern Europas

und zwischen den Ländern zu verstärken.

Wie ein Flächenbrand tobt das Nebeneinander

von Wirtschafts­, Sozial­, Vertrauens­ und po­

litischer Legitimationskrise durch Europa und

droht in eine schwere Integrationskrise zu es­

kalieren, die Europas Zusammenhalt in Frage

stellt. Die Ausschluss­ bzw Ausstiegs­De­

batte zieht immer weitere Kreise. Erst war es

der Grexit, der Ausschluss Griechenlands,

der bis heute diskutiert wird. Hinzu kam der

Brexit, der Ausstieg Großbritanniens aus der

Europäischen Union, den eine Mehrheit der

britischen Bevölkerung am 23. Juni 2016 be­

fürwortet hat.

In den multiplen Krisen Europas sehen heute

viele die Überlebensfähigkeit der EU ge­

fährdet. Debattiert wird über die Form des

möglichen Scheiterns.

Dabei ist die notwendige Debatte eine völlig

andere: Wie wird Europa wieder handlungs­

fähig? Wie schafft man wieder Vertrauen in

dieses großartige Projekt? Was ist notwendig,

um die großen Herausforderungen unserer

Zeit zu bewältigen, wie die Folgen der be­

schleunigten Globalisierung, oder die Digita­

lisierung, die schon lange die Arbeitsplätze

erreicht haben und zu einem rasanten Wandel

in der Arbeitswelt führen? Die Antwort liegt in

einem der Gründungsversprechen Europas,

das seit Jahren immer weniger realisiert wird:

Ein sozialeres Europa mit mehr Zusammen­

halt.

Trotz weiterhin bestehender Unterschiede

zwischen den Wohlfahrtssystemen der Mit­

gliedstaaten ist es über die Jahre gelungen,

die Konturen eines europäischen Sozialmo­

dells zu schärfen, das zahlreiche gemein­

same Merkmale aufweist: soziale Siche­

rungssysteme, gesetzlich und tarifvertraglich

geregelte Arbeitsbedingungen zum Schutz

der Beschäftigten, Beteiligungs­ und Mit­

bestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen

Von Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen

Gewerkschaftsbundes

Die Regionen Europas entwickeln sich auseinander, statt weiter zusammenzuwachsen.

Page 28: Ak wirtschaftspolitik 03_2016

Seite 28 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

und Arbeitnehmer und ihrer Interessens­

vertreterInnen, der soziale Dialog zum Aus­

gleich der Interessen zwischen Kapital und

Arbeit und die Bereitstellung gemeinwohlo­

rientierter öffentlicher Dienstleistungen von

allgemeinem Interesse. Gerade deshalb galt

Europa lange Zeit für viele als „soziales Re­

ferenzmodell“ für eine faire Globalisierung,

die wirtschaftlich und sozial erfolgreich war.

Europa war mehr als eine „Freihandelszone“

und daher für viele andere Wirtschaftsregi­

onen attraktiv.

Seit den Erweiterungsrunden der letzten Jahre

um die Staaten Mittelost­ und Südosteuropas

haben aber die Unterschiede in der ökonomi­

schen Integrationsfähigkeit und politischen

Integrationswilligkeit zugenommen. Hinzu

kamen die Webfehler der Europäischen Wäh­

rungsunion, die ausschließlich auf Geldpolitik

fixiert ist und die dringend notwendige Koor­

dinierung der Wirtschafts­ und Fiskalpolitik

ausblendet. Zusammen mit der verfehlten Kri­

senpolitik hat Europa seine sozialpolitischen

Handlungs­ und Gestaltungsmacht fahrlässig

verspielt. Und schließlich führt eine weitge­

hende Fokussierung der Kommission auf die

Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit dazu,

dass die Konkurrenzfähigkeit der Mitglied­

staaten heute vor allem an Lohn­ und Lohn­

stückkosten festgemacht wird. Nachdem die

Möglichkeiten der Wechselkursanpassungen

innerhalb der Europäischen Währungsunion

entfallen waren, wurde der interne Abwer­

tungsdruck auf die Arbeits­ und Sozialkosten

drastisch erhöht.

Das hat in den letzten Jahren dazu beige­

tragen, dass die Europäische Union und ihre

Mitgliedstaaten sich mehr und mehr von

ihrem gemeinsamen Anspruch verabschiedet

haben, den sozialen Zusammenhalt zu för­

dern und zugleich Gestalter einer fairen Glo­

balisierung zu sein. Das ist die wesentliche

Krise des politischen Europa: Der fehlende

Mut, entgegen dem weltweiten neoliberalen

Mainstream den Anspruch einer sozialen Ge­

staltung konsequent zu verfolgen.

Dabei zeigt sich längst empirisch, dass das

neoliberale Modell gescheitert ist. OECD und

IWF wiesen jüngst erneut darauf hin, dass

sich der Grad der Ungleichheit zu einem nicht

nur gesellschaftlichen und sozialen, sondern

einem enormen wirtschaftlichen Problem ent­

wickelt hat. Nur mit einem klaren Kurswechsel

können wir aus der Krise eine Chance machen

und das europäische Einigungswerk weiter­

entwickeln.

Wenn Europa das Vertrauen der Bürgerinnen

und Bürger zurückgewinnen will, muss Brüssel

endlich dem Primat der Politik Vorrang vor dem

Primat des Marktes einräumen und den sozi­

alen Zusammenhalt und die soziale Demokratie

in das Zentrum der Politik rücken. Nur durch

eine nachhaltige Verbesserung der Lebens­

und Arbeitssituation der Menschen sowie eine

Stärkung demokratischer Prozesse in der EU,

wird es gelingen, das Vertrauen der Menschen

in die Europäische Union wiederzugewinnen.

„Gute Rechtsetzung“ muss aber die inten­

dierten Zielsetzungen z.B. zum Schutz der

Beschäftigten, der VerbraucherInnen oder der

Umwelt auch wirksam erfüllen können und

darf nicht einseitig der Wettbewerbsfähigkeit

geopfert werden. Ein gemeinsamer Markt

braucht zwingend europäische Regeln. Eine

einseitige Entlastung der Unternehmen führt

zwangsläufig zur Belastung von Arbeitneh­

merinnen und Arbeitnehmern. Europäisches

Recht im Bereich des Arbeits­ und Gesund­

heitsschutzes, die europäische Arbeits­

zeitrichtlinie oder europäische Richtlinien im

Es gibt mehr als 22 Millionen Arbeitslose – davon 4,5 Millionen Jugendliche.

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Seite 29 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Bereich der Informations­, Konsultations­ und

Mitbestimmungsrechte sind keine bürokrati­

schen Hemmnisse sondern ein Wettbewerbs­

vorteil; auch weil sie die Unternehmen vor un­

lauterem Wettbewerb schützen. Sie sind aber

vor allem soziale Schutzrechte, die angesichts

des Wandels in der Arbeitswelt dringend wei­

terentwickelt werden müssen.

Dazu gehört ein soziales Fortschrittsproto­

koll, wie es die Gewerkschaften seit Jahren

fordern. Mit diesem Protokoll muss dafür ge­

sorgt werden, dass die sozialen Grundrechte

Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten

haben.

Vor dem Hintergrund der sozialen Verwer­

fungen und zunehmender Ungleichheit hat

die Juncker­Kommission Anfang März diesen

Jahres eine breite Stake­holder­Konsultation

über eine europäische Säule sozialer Rechte

gestartet und damit vorsichtig, aber immerhin

einen neuen Kurs vorgeschlagen. Vom Euro­

päischen Gewerkschaftsbund wurde die In­

itiative begrüßt, die sozialpolitisch einerseits

ambitioniert, aber auch widersprüchlich ist.

Positiv zu bewerten ist, dass die europäische

und nationale Sozialpolitik als produktiver

Faktor anerkannt wird, die in Krisenzeiten zur

makroökonomischen Stabilisierung beitragen

kann. Folgerichtig wird hervorgehoben, dass

die sozialpolitischen Ziele der EU nicht den

fiskalpolitischen Zielen untergeordnet werden

sollen.

Das aber würde im Ergebnis bedeuten, dass

sich die EU­Kommission endlich von der Aus­

teritätspolitik verabschiedet, die so viele Men­

schen ins ökonomische und soziale Elend ge­

stürzt hat. Es wird auch festgestellt, dass sich

die Vermögens­ und Einkommensungleich­

heit langfristig negativ auf das potentielle

Wachstum auswirkt, und sich damit Chance­

nungleichheit weiter verfestigt.

Gerade in der digitalen Arbeitswelt der Zu­

kunft brauchen wir europäische Spielregeln,

wenn die Chancen, die mit der Digitalisierung

verbunden sind, genutzt werden sollen und

der Gefahr einer digitalen Prekarisierung ent­

gegengewirkt werden sollen. Flexible Arbeits­

welten der Zukunft erfordern unter anderem

eine Bildungsoffensive, mehr Mitbestimmung

und einen besseren Arbeits­ und Gesund­

heitsschutz, um die Risiken, die mit der Digi­

talisierung verbunden sind, zu begrenzen und

um die Chancen, beispielsweise für mehr

Zeitsouveränität der Beschäftigten, zu nutzen.

Aber auch hier zeichnet sich ab, dass die

Kommission an vielen Stellen mehrdeutig ist

und keinen klaren Kurs verfolgt. So wird bei­

spielsweise naiv und unkritisch das „Flexicu­

rity“­Konzept gepriesen, wonach die Arbeits­

märkte flexibler werden sollen, dafür aber bei

Erwerbslosigkeit eine bessere Absicherung

gelten soll. Wohin das führt, zeigt die Massen­

arbeitslosigkeit und die wachsende Armut in

vielen südeuropäischen Ländern. Dieses Kon­

zept hat sich nicht erst seit der Finanzmarkt­

krise als Deregulierungskonzept in vielen Mit­

gliedsländern entpuppt und die wachsende

Ungleichheit massiv befördert.

Ein weiterer Vorschlag ist, das gesetzliche

Rentenalter an die Lebenserwartung zu

binden. Wie aber Menschen bis ins hohe Alter

gesund arbeiten sollen, wie sie überhaupt

Arbeit finden sollen in einem Europa, das in

vielen Ländern keine Arbeit bietet, steht dort

nicht.

Zugespitzt geht es darum, ob sich unsere Ar­

beits­ und Sozialrechte der Globalisierung un­

Die wesentliche Krise des politischen Europa ist der fehlende Mut, entgegen dem welt-weiten neoliberalen Mainstream den Anspruch einer sozialen Gestaltung konsequent zu verfolgen.

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Seite 30 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

terordnen, oder ob es gelingt, faire Spielregeln

für einen europäischen Arbeitsmarkt durchzu­

setzen.

Die dringend notwendige Debatte über ein so­

ziales Europa darf nicht auf die Arbeits­ und

Sozialpolitik begrenzt werden. Dazu gehört

auch die Handelspolitik der EU. Handelsab­

kommen haben neben der ökonomischen

Bedeutung eine immense gesellschaftspoli­

tische Dimension, und Handel ist seit vielen

Jahrzehnten der zentrale Treiber der Globali­

sierung. Mit der Globalisierung sind durchaus

beachtliche Wohlfahrtsgewinne realisiert

worden. Zugleich sind die Gewinne immer

ungleicher verteilt. Lediglich drei Prozent der

Weltbevölkerung verfügen über 90 Prozent

der Vermögen – so sieht Gerechtigkeit nicht

aus. Internationale Handelsabkommen haben

den Druck auf Sozial­ und Umweltstandards

erhöht. Notwendig ist eine Abkehr von der

neoliberalen Handelspolitik, damit Umwelt­,

Verbraucher­ sowie Arbeits­ und Sozialstan­

dards auf hohem Niveau global weiterentwi­

ckelt werden können.

Gerade die EU – wenn sie denn wieder ein

„soziales Referenzmodell“ für andere Wirt­

schaftsregionen werden will – muss ihre Han­

delsbeziehungen aus dem kolonialistischen,

feudalistischen Gedanken lösen. In den öffent­

liche Debatten und dem zivilgesellschaftlichen

Protest gegen die von der EU verhandelten

Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und

Kanada (CETA) haben die Gewerkschaften

klare Anforderungen an einen gerechten

Welthandel gestellt. Dazu gehört zwingend,

dass es keine weitere neo­liberale Privatisie­

rung der öffentlichen Daseinsvorsorge gibt,

und dass mindestens die Kernarbeitsnormen

der ILO in den beteiligten Ländern ratifiziert

werden müssen.

Ob ein sozialer Aufbruch gelingt, hängt nicht

lediglich von einem Kurswechsel in der euro­

pä ischen Arbeits­ und Sozialpolitik ab. Er muss

mit einer anderen Wirtschaftspolitik unterfüt­

tert werden, die auf nachhaltiges Wachstum

und ökologische Modernisierung setzt. Der

europäische Investitionspakt, verbunden mit

einer innovativen Industrie­ und Klimapolitik,

ist ein weiterer wichtiger Baustein. Ebenso be­

darf es einer europäischen Steuerpolitik, die

Steuerdumping und Steuer flucht wirksam be­

kämpft. Mit einem intelligenten Policymix, der

den sozialen Zusammenhalt, die wirksame

Bekämpfung von Arbeits losigkeit und Armut

in den Mittelpunkt stellt, kann das Vertrauen

der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu­

rückgewonnen werden. Mit einem Europa der

Weltoffenheit und Toleranz können wir die eu­

ropafeindlichen und nationalistischen Bewe­

gungen in ihre Schranken zurückweisen.

1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte (und aktualisierte) Fassung des Artikels „Für eine soziale Zukunft Europas“ (erschienen in der FAZ am 10.06.2016; der ungekürzte Text ist abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/zerfaellt­europa/zerfaellt­europa­9­fuer­eine­soziale­zukunft­europas­14270880.html)

Es geht darum, ob sich unsere Arbeits- und Sozialrechte der Globalisierung unterordnen, oder ob es gelingt, faire Spielre-geln für einen europäischen Arbeitsmarkt durchzusetzen.

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HARTZ IV UND DAS HAMSTERRAD VON ERWERBSARBEITSLOSEN UND BESCHÄFTIGTENFür marktliberale ÖkonomInnen ist die Sache klar. Der gründliche Umbau der Arbeitslosen- und So-zialhilfe, wie ihn die deutsche Regierung unter dem Kanzler Schröder zum Beginn der Nullerjahre betrieben hat, sei ein Erfolgsmodell. Die sogenannten „Hartz-Reformen“ haben den „Anspruchslohn“ gesenkt und dadurch Stellen geschaffen. Tatsächlich sinkt die Erwerbslosigkeit in Deutschland seit Jahren kontinuierlich und die Zahl der Erwerbstätigen ist mit über 43 Millionen auf ein Rekordniveau gestiegen. Doch es gibt einen hohen Preis des vermeintlichen „deutschen Jobwunders“.

Prekäre Vollerwerbsgesellschaft

Zunächst gilt es mit einer Legende aufzu­

räumen: Immer wieder hört man, Hartz IV

habe Arbeit geschaffen. Hartz IV, das ist

die Bezeichnung für ein Gesetz, das nicht

nur die Absenkung des Regelsatzes für

Langzeit erwerbslose auf Sozialhilfeniveau

regelt, sondern auch ein soziales Recht (Ar­

beitslosenhilfe) in einen Fürsorgestatus mit

strengen Zumut barkeitsregeln verwandelt

hat. Leistungen erhalten Bedürftige nur für

Gegen leistungen („Fordern und Fördern“); sie

müssen durch Eigen aktivität – etwa Bewer­

bungen auf nahe zu jede Art von Erwerbsarbeit

– nachweisen, dass sie der Sozialtransfers

würdig sind. Geschieht das nach Ansicht der

Arbeitsverwaltung nicht ausreichend, können

Sanktionen verhängt und Leistungen verwei­

gert oder gekürzt werden.

Dieses Regime strenger Zumutbarkeit, das

einen Qualifikationsschutz nicht mehr kennt,

Maximalgrößen von Wohnraum vorschreibt

und Leistungen nur für Bedarfsgemein­

schaften gewährt, greift tief in die Lebensfüh­

rung der Betroffenen ein. Es fordert die Eige­

ninitiative, maximiert aber zugleich die büro­

kratische Kontrolle der Leistungsempfänge­

rInnen. Zusätzliche Erwerbsarbeit geschaffen

hat Hartz IV jedoch nicht.

Betrachten wir die Fakten: Arbeitete eine

durchschnittliche lohnabhängige Person 1991

im Jahr 1.473 Stunden, so waren es 2013 nur

noch 1.313 Stunden. Zwar hat das Arbeits­

volumen nach 2005 wieder zugelegt; die Zahl

der Erwerbstätigen ist jedoch in den meisten

Jahren deutlich rascher gestiegen. Beschäf­

tigungsaufbau erfolgt in hohem Maße über

eine Integration insbesondere weiblicher Ar­

beitskräfte in prekäre Dienstleistungs­Jobs.

Nicht nur die offiziell registrierte Erwerbs­

losigkeit sinkt, auch die geschützte Vollzeit­

beschäftigung ist seit den 1990er­Jahren auf

dem Rückzug. Von 1991 knapp 29 Mio. ist

sie 2014 auf ca. 23,5 Mio. Vollzeitbeschäf­

tigte zurückgegangen. Zugenommen haben

hingegen Leiharbeit, Soloselbstständigkeit,

Teilzeit arbeit, geringfügige Beschäftigung und

Werkvertragsvergaben. Der Niedriglohnsektor,

dessen Frauenanteil über 62% liegt, umfasst

kontinuierlich zwischen 22% und 24% der

Beschäftigten (2013: 8,1 Mio.).

Weil der Lohn im Hauptberuf zur Sicherung

des Lebensstandards nicht ausreicht, nimmt

das Phänomen der „Multi­Jobber“ zu. Mit

anderen Worten: Ein in Relation zur Zahl der

Erwerbstätigen schrumpfendes Volumen an

bezahlter Erwerbsarbeit wird asymmetrisch

auf eine größere Zahl von Beschäftigten ver­

teilt. Das deutsche Jobwunder besitzt somit

eine dunkle Seite. Entstanden ist keine

Vollbeschäftigungs­, sondern eine prekäre

Von Klaus Dörre, Professor für Arbeits­,

Industrie­ und Wirtschaftssoziologie an

der Friedrich Schiller­Universität Jena

Hartz IV fordert Eigeninitiative, maximiert aber zugleich die bürokratische Kontrolle der LeistungsempfängerInnen – zusätzliche Erwerbsarbeit geschaffen hat das Modell jedoch nicht.

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Seite 32 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Vollerwerbsgesellschaft, die Erwerbslosigkeit

auf Kosten geschützter Vollzeitbeschäftigung

und mittels Expansion unsicherer, gering ent­

lohnter, wenig anerkannter Erwerbsarbeit zum

Verschwinden bringt.

Der Leistungsbezug als permanente Bewährungsprobe

Doch warum funktioniert die Mobilisierung

für prekäre Arbeit? Eine Antwort ergibt sich

aus der Funktionsweise des aktivierenden Ar­

beitsmarktregimes. In ihm wird der Leistungs­

bezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zur

permanenten Bewährungsprobe, bei der sich

entscheidet, ob der Sprung in die Gesellschaft

der respektierten Bürgerinnen und Bürger ge­

lingt. Der Leistungsbezug wird als Wettkampf

inszeniert, bei dem die jeweils Erfolgreichen

die Norm vorgeben, an der sich auch dieje­

nigen zu orientieren haben, die den Sprung in

bessere Verhältnisse vorerst nicht geschafft

haben.

Je schwieriger die Arbeit mit den Erwerbs­

losen wird, desto eher neigen Arbeitsverwal­

tungen dazu, die Verantwortung bei den Leis­

tungsbezieherInnen zu suchen. Selbst nach

Zielvereinbarungen geführt, konzentrieren

sich viele Sachbearbeiter zunächst auf jene

„KundInnen“, die leicht zu vermitteln sind. Ist

diese Gruppe in Erwerbsarbeit, verbleiben nur

noch die schwierigeren Fälle. Zugleich steigt

die Neigung der Sachbearbeiter, den ver­

bliebenen „KundInnen“ Vertragsverletzungen

vorzuhalten. Wer lange im Leistungsbezug

verharrt, der verhält sich in den Augen von

Sachbearbeitern geradezu antiemanzipato­

risch, weil er sich mit einem unwürdigen Für­

sorgestatus arrangiert.

Zirkulare Mobilität anstelle von Aufwärtsmobilität

Die LeistungsbezieherInnen sehen das völlig

anders: In ihrer großen Mehrzahl arbeiten sie

aktiv daran, aus dem Leistungsbezug heraus­

zukommen. Das Bild von der passiven Unter­

schicht, der das Aufstiegsstreben abhan­

den gekommen ist, entspricht nach unseren

Forschungen nicht der Realität. Eine große

Mehrzahl der Befragten hält selbst dann an

Erwerbsarbeit als normativer Orientierung

fest, wenn dieses Ziel gänzlich unrealistisch

geworden ist. Trotz aller Anstrengungen ge­

lingt den meisten Befragten der Sprung in

regu läre Beschäftigung aber nicht.

Stattdessen zeichnet sich eine zirkulare Mobi­

lität ab. Tatsächlich signalisieren Eintritte und

Austritte beim Leistungsbezug eine erheb­

liche Fluktuation. Die Daten sprechen jedoch

nicht für eine funktionierende Aufwärtsmo­

bilität, wohl aber für eine Verstetigung von

Lebenslagen, in denen sich soziale Mobilität

auf Bewegung zwischen prekärem Job, so­

zial geförderter Tätigkeit und Erwerbslosigkeit

beschränkt. Es kommt fortwährend zu Positi­

onsveränderungen, aber die soziale Mobilität

bleibt eine zirkulare, weil sie in der Regel nicht

aus dem Sektor prekärer Lebenslagen hinaus­

führt.

Nur wenige der von uns befragten Leistungs­

bezieher haben nach sieben Jahren den

Sprung in Verhältnisse geschafft, die sie vom

Leistungsbezug dauerhaft befreien. Die an­

deren durchlaufen mitunter zwei, vier, sechs

und mehr berufliche Stationen. Sie springen

von der Erwerbslosigkeit in den Ein­Euro­Job,

von dort in die Aushilfstätigkeit, dann in eine

Qualifizierungsmaßnahme und so fort, um

am Ende doch wieder im Leistungsbezug zu

enden.

Das Bild von der passiven Unterschicht entspricht nicht der Realität. Eine große Mehrzahl der Befragten hält selbst dann an Erwerbsarbeit als normativer Orien-tierung fest, wenn dieses Ziel gänzlich unrealistisch geworden ist.

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Seite 33 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Überlebenshabitus

Je länger die Menschen im Leistungsbezug

verbleiben, desto stärker wird der Druck,

einen Habitus zu verinnerlichen, der ihnen

das soziale Überleben ermöglicht. Dieser

„Überlebenshabitus“ bedingt, dass sich Leis­

tungsbezieher vom Rest der Gesellschaft un­

terscheiden. Dabei geht es nur selten um das

physische Überleben. Doch mit zunehmender

Dauer des Leistungsbezugs sind die Befragten

gezwungen, sich mit materieller Knappheit,

geringer gesellschaftlicher Anerkennung und

einer engmaschigen bürokratischen Kontrolle

ihres Alltagslebens zu arrangieren. Wenn sie

sich arrangieren, separiert sie das vom Rest

der Gesellschaft. Separieren sie sich, eignen

sich ihre Lebensentwürfe als Objekt für kol­

lektive Abwertungen durch die Gesellschaft

respektierter Bürgerinnen und Bürger. Gerade

weil sich die LeistungsbezieherInnen an wid­

rige Bedingungen anpassen, werden sie zur

Zielscheibe negativer Klassifikationen durch

die „Mehrheitsgesellschaft“.

Die Hartz IV Stigmatisierung

Aus diesem Grund begreifen sich die befragten

LeistungsbezieherInnen als Angehörige einer

„stigmatisierten Minderheit“, die alles dafür tun

muss, um Anschluss an gesellschaftliche Nor­

malität zu finden. Hartz IV konstituiert einen

Status, der für die LeistungsbezieherInnen eine

ähnliche Wirkung entfaltet wie die Hautfarbe

im Falle rassistischer oder das Geschlecht bei

sexistischen Diskriminierungen.

Die Erwerbslosen und prekär Beschäftigten

sind diskreditierbar. Haftet es einmal an der

Person, können sich die Betroffenen des

Stigmas Hartz IV nur noch schwer entledigen.

Die Hartz­IV­Logik („Jede Arbeit ist besser

als keine!“) verlangt von ihnen, gerade jene

qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben

aufzugeben, die besonderes Engagement zur

Verbesserung der eigenen Lage überhaupt

erst motivieren. Wenn sich wegen zirkularer

Mobilität Verschleiß einstellt, setzt hingegen

Anspruchsreduktion ein – und genau das

macht krank oder erzeugt Resignation und

Passivität.

Insofern bewirkt Hartz IV in vielen Fällen das

Gegenteil dessen, was die Regelung eigent­

lich zu leisten beansprucht. Länger im Leis­

tungsbezug zu verweilen bedeutet, eine Po­

sition unterhalb einer unsichtbaren „Schwelle

der Respektabilität“ einzunehmen. Deshalb

schreckt „Hartz IV“ ab. Die Bereitschaft –

auch der Noch­Beschäftigten – unterwertige,

prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status

gesellschaftlicher Missachtung zu vermeiden,

nimmt zu. Die Zunahme der „Konzessionsbe­

reitschaft“, wie es im Jargon aktivierender Ar­

beitsmarktpolitik einigermaßen zynisch heißt,

gilt Befürwortern denn auch als eigentlicher

Erfolg des Forderns und Förderns.

Exklusive Solidarität

Dabei wird jedoch Entscheidendes über­

sehen: Die Angst, auf eine Position unterhalb

der Schwelle gesellschaftlicher Respektabi­

lität abzurutschen, diszipliniert auch die Noch­

Beschäftigten und Festangestellten. Sie sind

im wahrsten Sinne des Wortes bereit, (fast)

alles zu tun, um die Festanstellung zu erhalten,

die sie zunehmend als Privileg betrachten. Die

Angst, auf einen Status abzurutschen, der

gesellschaftlich nicht respektiert ist, fördert

den Trend zu einer exklusiven Solidarität von

Stammbeschäftigten, die sich nicht nur ge­

genüber „oben“, sondern auch von „anders“

und „unten“ abgrenzen will.

Die Bereitschaft auch der Noch-Beschäftigten, unterwertige, prekäre Jobs anzunehmen, um einen Status gesellschaftlicher Missachtung zu vermeiden, nimmt zu.

Festanstellung wird zunehmend als Privileg betrachtet.

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Seite 34 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

Erwerbslosen, denen es in den Augen der

Stammbeschäftigten nicht gelingt, sich aus

der Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge zu

befreien, lösen offenbar Distinktionsbedürf­

nisse und Entsolidarisierung aus. Selbst von

Abstiegsängsten geplagt, tendieren sogar

gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen

dazu, Konkurrenzen mit dem Mittel des Res­

sentiments auszutragen. Auch für Stamm­

beschäftigte markiert Hartz IV einen Status

unterhalb der Schwelle gesellschaftlicher Re­

spektabilität. Es handelt sich um einen Status

der Würdelosigkeit, den man nach Möglichkeit

zu vermeiden sucht oder den man, so ein Sta­

tuswechsel nicht realisierbar ist, kaschieren

und umdeuten muss, um ihn einigermaßen

lebbar zu machen. Unterhalb dieser Schwelle

befinden sich allenfalls informelle Gelegen­

heitsarbeiterInnen, illegale MigrantInnen, Ob­

dachlose und andere sozial „unsichtbare“

Gruppen außerhalb des Leistungsbezugs.

Versagen des Marktliberalismus

Fassen wir zusammen: Die Erwerbstätigkeit ist

in Deutschland nicht gestiegen, weil das Ab­

senken des „Anspruchslohns“ zuvor unsicht­

bare Arbeitsplätze sichtbar gemacht hätte,

wie marktliberale ÖkonomInnen behaupten.

Das Gegenteil ist der Fall: Die Aufwertung pre­

kärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit

den Hartz­Reformen verbunden war, schafft

auf Seiten der Wirtschaft Anreize, Stellen mit

Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Exis­

tenz der Beschäftigten absichern. Faktisch

werden Betriebe mittels Aufstockung durch

Hartz IV staatlich subventioniert, die Löhne

anbieten, welche teilweise nicht einmal die

Reproduktionskosten der Arbeitskraft decken.

Die Einführung eines allgemeinen gesetzli­

chen Mindestlohns hat nur die schlimmsten

Auswüchse dieser Politik korrigiert. Der Min­

destlohn von 8,50 pro Stunde führt nicht aus

der Prekarität heraus.

Langer Verbleib in prekären Verhältnissen und

die Stigmatisierung durch „Hartz IV“ haben

jedoch Folgen: Die Betreffenden brennen re­

gelrecht aus, sie geraten in einen Ohnmachts­

zirkel aus erzwungener Anpassung und

Stigmatisierung, aus dem es für sie nur sehr

schwer ein Entrinnen gibt. Viele Leistungsbe­

zieherInnen fühlen sich deshalb wie in einem

Hamsterrad. Sie laufen und laufen, nur um

schließlich feststellen zu müssen, dass sie be­

ständig auf der Stelle treten.

Nimmt man die Gleichwertigkeit aller Men­

schen als Maßstab, an dem sich das akti­

vierende Arbeitsmarktregime messen lassen

muss, so ist das Ergebnis der Reformen be­

schämend. Die Arbeitsmarktstatistik mag

glänzen, der Preis dafür ist eine Verwilderung

des Arbeitsmarktes. Die Würde der Hilfebe­

dürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit

geraten zunehmend unter die Räder eines

außer Kontrolle geratenen Wettkampfprin­

zips. Eine solche Praxis ist kein Erfolgsmodell.

Nicht für Deutschland, nicht für Europa und

auch nicht für Österreich.

Dieser Beitrag ist am 1. September im blog „Arbeit und Wirtschaft“ erschienen, unter http://blog.arbeit­wirtschaft.at/hamsterrad­hartziv/

Viele LeistungsbezieherInnen fühlen sich wie in einem Hamsterrad. Sie laufen und laufen, nur um schließlich feststellen zu müssen, dass sie bestän-dig auf der Stelle treten.

Die Aufwertung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, wie sie mit den Hartz-Reformen verbunden war, schafft auf Seiten der Wirt-schaft Anreize, Stellen mit Löhnen anzubieten, die nicht einmal die Existenz der Beschäftigten absichern.

Die Würde der Hilfebedürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit geraten zunehmend unter die Räder eines außer Kontrolle geratenen Wettkampfprinzips.

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Seite 35 | Wirtschaftspolitik Standpunkte 3/2016

WEITERLESEN BEWÄHRUNGSPROBEN FÜR DIE UNTERSCHICHT?

Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik

von Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth,

Tine Haubner, Kai Marquardsen, Karen Schierhorn.

Pressestimmen: Die Tageszeitung: Das Leben eine einzige Prüfung

„... bricht mit Grundannahmen der Forschung über

(Langzeit­)Arbeitslosigkeit, die seit dem Klassiker ‚Die

Arbeitslosen von Marienthal‘ als unantastbar galten. Das

macht dieses Buch eigens empfehlenswert.“

Über das Buch: Die neuere Arbeitsmarktpolitik will Erwerbslose akti­

vieren, indem sie ihnen Bewährungsproben auferlegt.

Die empirische Studie untersucht Erwerbsorientierungen

und Handlungsstrategien der Betroffenen in Ost­ und

Westdeutschland. Dabei zeigt sich, dass von fehlendem

Aufstiegswillen und mangelnder Arbeitsmoral keine

Rede sein kann. Stattdessen erzeugt Hartz IV ein Wett­

bewerbssystem, das diszipliniert und zugleich stigmati­

siert. Auf Seiten der Leistungsempfänger provoziert das

eigenwillige Überlebensstrategien.

Zu bestellen bei: http://www.campus.de/buecher­campus­verlag/

IMPRESSUM: Herausgeberin und Medieninhaberin Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, 1040 Wien, Prinz Eugen Strasse 20­22 · Redaktion Lena Karasz, Vera Lacina · Verlags- und Herstellungsort Wien Erscheinungsweise 4 mal jährlich · DVR 0063673 AK Wien · Offenlegung gem § 25 des Mediengesetzes siehe wien.arbeiterkammer.at/offenlegung · Blattlinie: Die Meinungen der AutorInnen

Schreiben Sie uns Ihre Meinung, Wünsche, Anregungen und Kritik an [email protected]