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75 JAHRE OBERSTER RAT FÜR DEUTSCHLAND
DER FREIMAURER DES ALTEN UND
ANGENOMMENEN SCHOTTISCHEN RITUS
EINE STANDORTBESTIMMUNG
"\f .-.D.·.G.·.B.·.D�·· .
. (p \.:. . . . :
75 JAHRE
OBERSTER RAT FÜR DEUTSCHLAND
DER FREIMAURER DES ALTEN
UND ANGENOMMENEN SCHOTTISCHEN RITUS
10. FEBRUAR 1930 - 2005
4
Eigenverlag: Oberster Rat für Deutschland der Freimaurer des AASR,
Sigmaringer Str. 18, 10713 Berlin,
Tel.030 86 00 88 53, Fax 030 86 00 88 56
eMail: ord.berlin@aasr.net / www.aasr.freimaurer.org
Herausgeber: Friedrich Wilhelm Schmidt, SGK Redaktionsteam: Dr. Werner Boppel, Thomas Richert, Hans-Udo Wolf Layout: Michael Whelan, Springe Bildnachweis: Archiv der Kanzlei, Hans-Udo Wolf und privat Umschlagbild: Herbert Koeller t, 32°, Hamburg Druck: Aalexx Druck GmbH, Kokenhorststr. 22, 30938 Großburgwedel
Die Beiträge geben die Meinung der namentlich genannten Autoren wieder. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des ORD des AASR unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
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Der Alte und Angenommene Schottische Ritus ist ein
freimaurerischer Orden weltweiter Verbundenheit.
Die Aufgaben der Ritus-Brr.•.sind:
Vertiefung und geistiges Durchdringen
freimaurerischen Gedankengutes
in besonderen rituellen Graden
Auswertung gewonnener Einsichten
aus Leben, Wissenschaft und Kunst
für Gegenwart und Zukunft
Umsetzung der Erfahrungen und Erkenntnisse
in die Tat zur Selbstgestaltung des Einzelnen
und zur Mitgestaltung der Gesellschaft
Förderung des gegenseitigen Verstehens
und des friedlichen Miteinanders
aller Menschen in allen Lebensbereichen
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Inhalt
Vorwort
Morgenröte des Kommenden -ein Alter Ritus für eine Neue Welt
Der Schottische Ritus im Überblick
Die sieben Stufen der Initiation in der humanitären Freimaurerei
Der deutsche Zweig des Schottischen Ritus
Die Freimaurerische Akademie
Die ELEUSIS
Die Schriftenreihe des Schottischen Ritus in Deutschland
Aktive Mitglieder der Ratsversammlung
Seite 7
Seite 9
Seite 25
Seite 39
Seite 61
Seite 95
Seite 107
Seite 117
Seite 121
Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei
Von der Johannismaurerei zur Perfektionsloge Seite 125
Freimaurerei und Postmoderne Seite 129
Für eine Einheit von Kultur und sozialer Organisation Seite 137
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als unverrückbares Fundament der gesellschaftlichen Ordnung Seite 149
Die Stellung des Schottischen Ritus zur blauen Maurerei: Entweder - Oder und Sowohl als Auch Seite 157
Über die Religion in einem globalen Veränderungsprozess Seite 167
Autoren Seite 17 5
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Vorwort
Mit dieser aus Anlass des 75jährigen Jubiläums des A:.A:.S:.R:. in
Deutschland allen Brüdern Freimaurern in die Hand gegebenen Schrift
werden die Ziele des Ordens aus mehreren Perspektiven dargestellt.
Der einstimmig von den Mitgliedern der Ratsversammlung wieder
gewählte Großkommandeur, Br.·. Friedrich Wilhelm Schmidt, Hamburg,
gibt einleitende, standortbestimmende und richtungsweisende Aus
künfte über das die symbolischen Grade fortsetzende und vertiefende
System freimaurerischer Kultur.
Das Ritual mit der freimaurerischen Symbolik ist und bleibt in den
vertiefenden Graden das tragende Gerüst für gewollte Erkenntnis- und
Wandlungsprozesse. Die zu heutigen Zeiten oft vergessene oder ver
drängte spirituelle Dimension der Königlichen Kunst hat Br:. (Prof.
Dr.) Wolfgang Weber zum Inhalt seiner Ausführungen gemacht.
Ohne das wirkliche Arkanum rituellen Erlebens zu verletzen, erläutert der vorherige Großkommandeur, Br:. Hubert Kopp, Hannover, mit
Aufmerksamkeit heischender Offenheit die Vorbereitung für vertiefen
de Einweihungen (Initiationen) in das Geheimnis der Menschlichkeit.
Aus der historischen Darstellung des deutschen Zweiges des
Schottischen Ritus von Br:. Thomas Richert, Berlin, mag der inte
ressierte Bruder entnehmen, mit welcher Ernsthaftigkeit die Brüder den geistigen Anschluss der weltweit verbreiteten Geistigkeit des
A:.A:.S:.R:. suchten und welche Entwicklungen der Orden unter
den institutionell verantwortlichen Großkommandeuren in Deutschland genommen hat.
Die Freimaurerische Akademie und die Zeitschrift ELEUSIS zeichnen
ein Bild geistiger Arbeit der Brüder nach außen. Nicht für die allgemei
ne Öffentlichkeit, sondern für die Bruderschaft engagieren sich der
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Akademiepräsident, Br:. (Dr.) Werner Boppel, Bonn, und der Redakteur, Br :.Hans-Udo Wolf, Ingelheim, die von diesen Organen des A:.A:.S:.R:. berichten. Akademie und Zeitschrift vermitteln
Bestätigung und Ansatz für den Neuanfang wie für die Fortsetzung freimaurerischer Arbeit.
Über eine weitere Veröffentlichungsreihe, die sich Schriftenreihe nennt, berichtet Br:. Thomas Richert, Berlin. Alles, was für die Instruktionen zu den Graden von Bedeutung ist, wird dort in Aufsätzen und Erläuterungen zusammengetragen.
Die Sprache als Mittel der Verständigung, hier über Aspekte der Besserung des Einzelnen und der Bruderschaft, wird bei jedem Autor vom Intellekt und seiner Ausbildung des „Herzens" beeinflusst. Die Auswahl der Beiträge zum Leitthema „Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei" sollte eindeutig der Tendenz der Entwicklung und der Verbreitung des Schottische Ritus folgen. So haben einige von der Redaktion ausgewählte Brüder aus ihrem Selbstverständnis heraus Beiträge geschrieben. Ihnen gebührt unser Dank.
Diese Schrift sollte von jedem Bruder, der sie in die Hand bekommt, vor jeder entwürdigenden Profanisierung geschützt werden.
Redaktionsteam: Dr. Werner Boppel, Thomas Richert, Hans-Udo Wolf Berlin, September 2005
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Morgenröte des Kommenden -ein alter Ritus für eine neue Welt
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. in Deutschland
Br:. Friedrich Wilhelm Schmidt, 33 °,
Souveräner Groß-Kommandeur
Am 10. Februar 1930 wurde der Oberste Rat für Deutschland der Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus (A:.A:.S:.R:.) gegründet und am 18. April 1930 in Berlin durch den Obersten Rat des A:.A:.S:.R:. für das Königreich der Niederlande unter Assistenz der Obersten Räte von Österreich und Italien feierlich installiert. Wenn nach 75 Jahren zu fragen ist, wie es um das Selbstverständnis des A:.A:.S:.R:. von heute steht und wie er es mit der Freimaurerei überhaupt hält, dann bedarf es auch der Rückschau auf die Entstehungsgeschichte des Bundes und einiger seiner Zweige. Die historischen Abläufe in Deutschland werden an anderer Stelle dieser Festschrift dargestellt. So wichtig es ist, zu wissen, woher man kommt, stellt die Geschichte lebender Gemeinschaften andererseits nur den Prolog für heutige Gegebenheiten und für die Zukunft dar.
Der vor mehr als zweihundert Jahren konstituierte Alte und
Angenommene Schottische Ritus ist heute das weltweit am weitesten
verbreitete und stärkste System vertiefender Grade. Zu 52 Obersten
Räten und Obedienzen in aller Welt pflegt der Oberste Rat für
Deutschland enge Beziehungen. Regelmäßig treffen sich die Groß
Kommandeure zu europäischen und zu Weltkonferenzen, territorial
souverän und ohne übergeordnete maurerische Instanz. Zum tieferen
Verstehen der globalen Dimension, der Vielfalt heutiger Freimaurerei
in der Welt und zum Erkennen der sie verbindenden Elemente ist die
Kenntnis des A:.A:.S:.R:. unerlässlich.
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Weil er es so will, sind dem A:. A:. S:. R:. als Organisation bei nach
außen in die profane Welt gerichtetem Handeln enge Grenzen gesetzt.
Demgegenüber verfügen seine Mitglieder über unbegrenzte, nur dem Gesetz und ihrem Gewissen unterworfene freie Möglichkeiten tätigen
Wirkens. Und für das Wirken von Ritusbrüdern im gesellschaftlichen Umfeld hat der A:.A:.S:.R:. wichtige Denk- und Handlungsansätze
in seiner 200-jährigen Geschichte entwickelt.
Der gemeinsame Auftrag
Ohne jede Einschränkung ist zu betonen, dass die Brüder des Ritus
Freimaurer sind und Freimaurer bleiben, welche Grade und Ämter sie auch immer erreichen mögen. Das freimaurerische System des
A:.A:.S:.R:. baut auf den Lehren und Inhalten der drei Grade unserer Großloge A.F.u.A.M. auf. Mit ihr verbindet uns eng der gleiche humanitäre Auftrag, mit ihr sind wir durch ein Konkordat fest verbunden.
Nur Freimaurermeister können die vertiefenden Grade unseres
Ordens erlangen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass sich die
Brüder des Ritus aktiv um ihre Loge zu bemühen und zu stetem Wachstum der Großloge beizutragen haben. Da engagierte Mitarbeit
im A:.A:.S:.R:. das Interesse und auch die Begeisterung für die Freimaurerei im Allgemeinen vertieft und stärkt, führt dies in der Regel auch zu besonders interessierter und intensiver Mitarbeit in den „ Symbolischen Logen".
Wechselseitige Befruchtung der Arbeit ist unverkennbar, der Einsatz vieler Ritusbrüder hat nachhaltigem Einfluss auf die gedeihliche Fortentwicklung unserer Großloge genommen und soll auch in Zukunft zu deren Wohl beitragen. Der Ritus bietet mit seinen 111
aktiven Ateliers logenübergreifende Begegnungsstätten von hoher Integrationskraft und seine über 1800 Brüder wissen die engen Bande sehr zu schätzen, die sich in der Weite des Bruderbundes entfalten können.
In neuerer Zeit haben sich die engen brüderlichen Beziehungen zu den anderen vertiefenden Systemen und Erkenntnisstufen deutscher Freimaurerei stetig verstärkt.
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Wohltuend ist zu erleben, wie zu den Brüdern der Großen Landesloge,
zu den Erkenntnisstufen der Großen National-Mutterloge „Zu den
drei Weltkugeln" und den Inneren Orienten von „Royal York zur
Freundschaft" liebgewordene Verbindungen gewachsen sind. Die
Auswirkungen solcher Freundschaft kamen und kommen auch
unmittelbar der „Einheit in der Vielfalt" der Vereinigten Großlogen
von Deutschland zugute.
Die Tat ehrt das Vorbild
Vornehmste Aufgabe des Alten und Angenommenen Schottischen
Ritus ist es, durch rituelle Arbeit und Unterweisung seinen Mitgliedern
zu helfen, ihren Lebensweg mit Sinn zu erfüllen. Der A:.A:.S:.R:.
versteht sich als tatgerichtete Freimaurerei. Der Bruder wird in die
Pflicht genommen, sein Handeln an ethischen Werten auszurichten
und Menschlichkeit vorzuleben. Diesen nicht zeitgebundenen Auftrag
teilt der Schottische Ritus mit jeder recht verstandenen Freimaurerei.
Sein Selbstverständnis aber zwingt ihn, und damit seine Mitglieder, - wie
jeden Orden - in der Realisierung der tragenden Idee ein Höchstmaß
anzustreben. Hierarchien sind dabei nur Mittel zum Zweck, gerechtfer
tigt allein durch die Leistung gegenüber der Gemeinschaft, der sie die
nen und die sie trägt. Dem freimaurerischen Ideal sollen sich die Brüder
des Ritus durch permanentes Bemühen so weit wie möglich annähern.
Aus freiem Willen haben sie sich eingeordnet und zu besonderem
Einsatz hierfür verpflichtet. Dadurch werden gleichgelagerte Anstren
gungen außerhalb einer Ordensstruktur nicht geschmälert. Unbestreit
bar ist es aber das Recht jedes Einzelnen sich selbst verstärkt zu diszipli
nieren. Die enge Verbundenheit eines Ordens will seine Brüder mental
und emotional unterstützen im Prozess ihrer Selbsterziehung, im Ringen
um maurerische Erkenntnisse und deren Umsetzung in die Tat. Im
Idealfall sollen sich Führungspersönlichkeiten herausbilden, die
Menschen leiten können auf dem schwierigen Weg in die Zukunft.
Das Spektrum der Freimaurer
Alle Freimaurerei beginnt mit Suche. Symbole und Rituale können
Antworten geben. Selbsterkenntnis wird zum Auftrag, Welterkenntnis
beginnt zu wachsen, Wandel vollzieht sich. Schleier zerreißen, doch
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hinter jedem durchdrungenen Gewebe liegt ein neues, breiten sich
neue Schleierwände, verbirgt sich der weitere Weg.
Es begegnen sich Brüder unterschiedlicher Identitäten: Philanthropen
reinster Prägung, Sozialreformer, verinnerlichte Menschen und
Grübler, Esoteriker, gar Seher, Wohltäter, Enthusiasten und Skeptiker,
Vereinspraktiker und Organisatoren, Lehrmeister und Liebhaber von
Regelwerken, Forscher auf verschiedensten Feldern, agnostische
Rationalisten und Aufklärer, die für alles eine Antwort parat haben.
Ein Schatz an Brüderlichkeit wird gehoben, das Gemenge aus edlen
Metallen, Patina, Rost und Blei harrt erschließender Mühe und man
beginnt zu begreifen, wie gerade die menschliche Verschiedenheit
funktionierende Gemeinwesen ermöglicht. So viele Menschen, so viele
Zwischenstationen werden bewusster, so viel Durst nach Verstehen, so
viel Sehnsucht nach Wahrheit, so viel Verlangen nach Sinn drängt aus
Dunkel zum Licht. Die kurz umrissene Situation ist allen Freimaurern
gemeinsam, sie verbindet alle Maurer, wo immer und in welchen
Gemeinschaftsformen auch immer sie arbeiten.
Individuelle Impressionen von Freimaurerei reichen von "Nichts",
über „Geheimnis" bis zum Willen zur Tat. Jedem die Freimaurerei, die
er verdient, jedem soviel Freiheitsgewinn durch frei machende
Maurerei, wie er sich errungen hat, durch Arbeit an sich selbst. Die
letzte Grenze aber, die dem Menschen gesetzt ist, sie bleibt. ,,Das ist
an der Größe des Menschen groß, dass er sich als elend erkennt", weiß
ein Gedanke von Blaise Pascal (1623-1662). Das zwingt zu Demut,
das fordert aber zugleich Freiheit, Ketten zu sprengen.
Horkheimer sprach von der „Sehnsucht, dass es bei dem Unrecht,
durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleiben soll, dass das
Unrecht nicht das letzte Wort sein möge." ,,Diese Sehnsucht gehört
zum wirklich denkenden Menschen", stellte er fest.
Eine Gemeinschaft von brüderlich verbundenen Menschen mindert
das Elend des Geworfenseins in eine Welt, die im Menschen nur die
verwert- und wegwerfbare Ressource, rasch entwertetes „Human
kapital" oder den zu manipulierenden Konsumenten sieht. Statt
Fremde und Feindseligkeit fühlen zu lassen, entfaltet sie heimatstiftende Kraft. Ein Bund von Menschen, eine Bruderschaft, gleicht
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Schwächen aus, lässt Kräfte sich bündeln, führt aus Dunkel zum Licht. Zu den Pflichten des Ritusbruders rechnet auch, dass er sich bewusst macht, wie sehr es dabei ankommt auf sein Denken, sein Verhalten, seine Offenheit für andere, seine Integrationskraft und seine brüderliche Liebe.
Neue maurerische Dimensionen und neue Horizonte
Der A:.A:.S:.R:. vermag dem ernsthaft Strebenden neue maurerische Dimensionen und neue Horizonte zu erschließen durch seine reiche Symbolik und durch seine Rituale. Die Bauhüttensymbolik macht den geringeren Teil seiner praktizierten Rituale aus. (Vorhandene eigene Rituale der ersten drei Grade werden nicht selbst bearbeitet, durch Konkordat wird nach den Ritualen in unserer Großloge A.F.u.A.M. in deren Logen gearbeitet.) Trotz allen historischen Forschens scheinen viele Baugeheimnisse der Kathedralen für immer verschollen zu sein und trotz allen maurerischen Forschens bleibt weitgehend die Frühgeschichte der Maurerei im Dunkel. Was an altem Wissen tradiert, was hinzukomponiert wurde, was durch eifernde Ritualreformer und aufklärerische Besserwisser an Wertvollstem beseitigt oder verstümmelt wurde, es ist nur bruchstückhaft zu erhellen. Durch manche zu frühe Reform ging mehr verloren als hinzugewonnen wurde durch Zugeständnisse an den Zeitgeist. Gewiss wandelt sich auch Maurerei in moderatem Maße mit dem Wandel der Zeiten, wird auch das Bewusstsein von Freimaurern mit geprägt durch ihr gesellschaftliches Sein. In Zeiten sich immer rascher jagender Informationen und Moden gilt es aber besonders sensibel zu sein für das Bleibende, die Zeiten überdauernde.
Selbstverständlich müssen Freimaurer bestrebt sein, die komplexe Weltsituation unserer Tage so gut wie möglich zu analysieren und begreifen zu können. Der Ritus hat sich zum Ziel gesetzt, gewonnene Einsichten aus Leben, Wissenschaft und Kunst für die Gegenwart und die Zukunft auszuwerten. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sollen die Ritusbrüder in die Tat umsetzen zur Selbstgestaltung und zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Ananke, die oft verhängnisvolle Notwendigkeit, verschont jedoch auch Freimaurer nicht. Kurt Hendrikson, verstorbener Alt-Groß-Kommandeur, hat sich nachhaltig
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mit der Sinnfrage in neuzeitlicher Gesellschaft auseinandergesetzt in
seinen Werken „Ethik und Konsumkultur"(1988) und vor allem in
,,Freimaurerische Lebenskunst" (1991).
Wollte man die Freimaurerei auf ein Philosophieseminar oder auf
materialistische, geometrische und naturwissenschaftliche Denk
kategorien, Schemata und Hypothesen reduzieren, beraubte man sie
wesentlicher Komponenten ihres inneren Reichtums. Sie ist nicht
schierer „Transmissionsriemen" der Aufklärung. In ihr konnte auch
hermetisches Wissen überleben: Ins Zentrum der Aufklärung vor ihr
geflüchtet, quasi mit einem chinesischen Sprichwort „in die Haut des
Drachen geschlüpft", erfuhr es gar eine neue Blüte. Ohne das „Licht
der Aufklärung" wäre aus der „Krise des europäischen Geistes" (Paul
Hazard) nicht ein neues europäisches Bewusstsein erwacht, wäre das
Abendland in dumpfem Dahindämmern und im Absolutismus ver
kommen. Andererseits hat das Licht der Aufklärung auch manch
Erhaltenswertes verbrannt, viel Schönes in der Welt „seines Zaubers
beraubt" und die „Initialzündung" abgegeben für den Individua
lismus, der in unseren Tagen zu schrankenloser Egozentrik und
Primitiv-Materialismus zu pervertieren droht.
Was soll ich tun? Was kann ich erkennen?
Die Arbeit im A:.A:.S:.R:. will Hilfen geben, die Frage „Was soll
ich tun?" zu beantworten. Sie ringt aber auch um Antwort auf die
Frage „Was kann ich erkennen?" Gerade „aufgeklärte", vernunftbe
gabte Menschen dürfen sich nicht zu der Hybris verleiten lassen, alles
sei machbar, alles beherrschbar. Zu begrenzt ist der Apparat von fünf
Sinnen, zu anfällig für Fehlschaltungen unsere neuro-physiologische
Konstitution, das Unbegreifliche, das Unnennbare besitznehmend zu
durchdringen. Dennoch bleibt mehr an Erkenntnisfähigkeit und an
eigenverantwortlicher Freiheit nach, als uns manche Genetiker und
eifernde Rationalisten in jüngster Zeit glauben machen wollen.
„Dinge entdecken, die seit Anbeginn der Welt versteckt sind" (Rene
Girard: La violence et le sacre, 1972), auch das erhofft manche rastlo
se Suche. Man muss nicht gleich „die Weltformel" entdecken wollen.
Aber manchmal lässt „der leise innere Klang der Dinge" aufhorchen
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und staunen. Etwa so, wie es Isaac Bashevis Singer in seinem „A Little
Boy in Search of God" (1976) beschreibt: ,,Mystik ist kein Geistes
weg, der von der Religion zu trennen ist. Beide sind Teile der mensch
lichen Seele - in dem Gefühl, dass die Welt kein Zufall oder keine blin
de Macht ist, und dass menschlicher Geist und Körper eng verbunden
sind mit dem Universum und seinem Schöpfer. Der Heide, der einen
Gott aus Stein schuf, war sich dessen bewusst, dass der Stein selber ihn
weder hören noch ihm helfen konnte . ... So primitiv er gewesen sein
mag, er fühlte doch irgendwo in seinem Innern, dass, wenn man das
Wesen dieses Steines, seinen Ursprung und sein Geheimnis erfahren
könnte, man alles wissen würde."
Durch Raum und Zeit in die Tiefe und die Weite der Maurerei vorzu
dringen stößt auf Blockaden, wo nicht das hinzukommt, was Antoine
de Saint-Exupery konstatiert: ,,Man sieht nur mit dem Herzen gut!"
Die Trägerkonstruktionen der Brücken, die wir als Freimaurer bauen
wollen, müssen nicht den Formeln der Statik genügen. Unsere Brücken
wollen auf Menschen- und Nächstenliebe gegründet und in Herzen
verankert sein.
Die Ritualistik des A:.A:.S:.R:.
Mit der Ritualistik unseres Ordens befassen sich zwei andere Beiträge
in dieser Schrift eingehend. Sehr einfach dargelegt, kommt es zunächst
in den Perfektionsgraden darauf an, dem Freimaurer eine Gewissheit
zu erschließen, die ihn im Wiederfinden des „ Verlorenen Meister
wortes" mit der Schöpfung als deren Teil und mit dem Großen
Baumeister der Welten verbindet. Aufs Neue muss er dann erkennen,
dass es kein Festhalten, kein In-Besitz-Nehmen des Mysteriums gibt.
Das Kapitel vermittelt ihm die Kraft der Hoffnung, die ihn als „Ritter
vom Rosenkreuz" auf seinem weiteren Weg begleitet. Das Licht, das
ihm seit seiner Aufnahme leuchtet, wird aber von den Kräften des
Bösen im Menschen bedroht und daher fühlt er sich als „Ritter
Kadosch" verpflichtet, gegen den Missbrauch weltlicher und geist
licher Macht entschlossen zu kämpfen, wird vom „Lichtträger" - bild
lich gesprochen - zu einem „Krieger des Lichts". Schließlich lernt er
auf seinem weiteren Stufenweg erkennen, welchem Ziel die Religions
stifter und die großen Weisheitslehrer zustrebten. Der A:.A:.S:.R:.
selber stiftet keine Religion, achtet den jeweiligen Glauben seiner
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Dir möchte ich Bruder sein.
Die scharfprüfenden Blicke
Ernster Unbestechlichkeit,
Das Feuer klareren Geistes
Anstrebend, krafrdurchglüht.
Das macht dich anziehender
Als mächtigere Tatmenschen.
Energieschub ausstrahlend,
Kühleren, wärmeren zugleich
In nüchterner Herzlichkeit:
Du sollst mir Vorbild sein,
Sollst mir der Lehrer sein,
Besser die Ziele anzugehen,
Menschen und mir zu helfen.
Br.·. (Prof.) Werner Scheel
75 Jahre A. · .A. ·.S. · .R.·.
Dir möchte ich Bruder sein. Br.·. Werner Scheel 2000 / Fonnat r20 x no cm
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Brüder. Dennoch ist Religion, als Rückbindung (religio) an em Höchstes Wesen, eines seiner tragenden Elemente.
Der A:.A:.S:.R:. ist eine Ritualgemeinschaft und ein initiatorischer Bund. Initiation aber setzt innere Aufgeschlossenheit und stufenweis erlangte Reife voraus: Nur wer sich selber einweiht, erfährt Initiation. Von meditativer und zur Besinnung mahnender Wirkung ist die "Agape" durchdrungen, die alljährlich vor Ostern in den Kapiteln gefeiert wird. Beizutragen zum Frieden in der Welt, dazu fordern besondere Friedensarbeiten der Perfektionslogen auf.
Die Rituale des Ritus dringen auf ihre Weise vor ins „Dahinter", stoßen vor in Tiefendimensionen, ermöglichen „Expeditionen in die Innenwelten", erschließen Wesentliches des „Kosmos Freimaurerei". Manche Kritiker des Ritus schielen nur auf Äußerlichkeiten (und auch die kennen sie meist nur aus veralteter Literatur), etwa antiquierte Gradbezeichnungen oder (in Deutschland sehr bescheidene) Dekorationen. Die sollten sich aber vor Augen führen, dass für die profane Welt Titulaturen, Anreden und Dekor der „symbolischen Maurerei" ebenfalls - gelinde gesagt - befremdlich wirken. Wer die
Pflege von Tradition und Brauchtum recht versteht, wird das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden wissen. Es ist unwesentlich, ob die Legenden und Mythen in unseren Ritualen im Sinne wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit „ wahr" sind oder dass einige ihrer Handlungsabläufe antiquiert daherkommen. Wesentlich ist, was sie an Erkenntnissen, Ideen und Idealen zu vermitteln imstande sind.
Das Erbe Albert Pikes
1871 veröffentlichte Albert Pike (1809 - 1891), der große Reformer unseres Systems, ,,Morals and Dogma" als Kommentar zu Gradaufbau und Ritualen des A:.A:.S:.R: .. Gewiss sind manche seiner religionshistorischen und religionsphilosophischen Auffassungen vom Geist seiner Zeit geprägt. Hinsichtlich seiner humanen, sozialen und gesellschaftlichen Positio
nen bleibt sein Werk aber bemerkenswert aktuell und wertvoll. Man kann sogar feststellen, dass Pike der Maurerei mit globalem Anspruch eine neue Dimension erschlossen hat. Seine Reformen verabschiedeten
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
sich auch von frühen „schottischen" Kopien höfischer und aristokra
tisch-feudalistischer Usancen. Um Meilen überragt sein Denken auch
das von „Geselligkeitsvereinen" des 19. Jahrhunderts, die sich manch
mal nur des Mantels der Freimaurerei zu bedienen pflegten. Ihm ist es
nicht nur um die so genannte „ bürgerliche Gesellschaft", sondern um
den Menschen und die Menschheit zu tun. Pike rückt den freien und
verantwortungsbewussten Menschen überall auf dem Globus als täti
ges Mitglied einer freiheitlichen Gesellschaft in den Fokus.
So stellt er in seinem Kommentar zum Abschluss der Perfektionsgrade
im 14. Grad fest:
„Die ganze Welt ist nur eine einzige Republik und jede Nation in ihr eine
Familie und jedes Einzelwesen ein Kind. Die Maurerei, die in keiner
Weise die unterschiedlichen Pflichten schmälert, die die vielerlei Staaten
auferlegen, strebt danach, ein neues Volk zu schaffen, das, zusammenge
setzt aus Menschen vieler Nationen und Zungen, durch die Bande der
Wissenschaft, Moral und Tugend miteinander verbunden ist."
Seinerzeit noch Vision, beschreibt dies treffend den heutigen Auftrag
des A:.A:.S:.R: ..
Im 32° steht als „Königliches Geheimnis" bei ihm im Mittelpunkt das
„Universal Equilibrium", ,,The Mystery of the Balance". Pikes
Ideenwelt weist durchaus Analogien auf zu modernen Denkkategorien
wie Gesinnungsethik und Verantwortungsethik oder auch einem öku
menischen „Projekt Weltethos".
Das Gleichgewicht zwischen Gegensätzen
Sitzt man in Paris im Pantheon vor Foucaults Pendel, mag man medi
tativ erschauern vor dem Wunder der Schöpfung, das diese Erde rotie
ren lässt, Leben gestattend und erhaltend. Gerade weil man weiß, dass
dies sich in einem unendlich gewaltigen Universum vollzieht, in dem
unausgesetzt Vernichtung und Neugeburt von Myriaden von Sternen
und Galaxien sich vollzieht. Und es stellt sich die Frage, ob und inwie
weit dem Menschen als Gattung und schon ganz dem Einzelnen
Bedeutung zukommt. Aber es kann einem auch bewusst werden, dass
alles miteinander vernetzt ist, vernetzt in einem Ausmaß, das wir allen
falls erahnen können. Verlässt man das Pantheon, den menschlichem
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 19
20
Fortschritt geweihten Tempel, sieht man sich mit der oft brutalen
Realität der Welt unserer Tage konfrontiert. Da ist kein Gleichmaß
von schwingendem Pendel mehr. Die Herstellung von Gleichgewicht
zwischen Gegensätzlichkeiten ist in der Tat die wichtigste globale
Aufgabe unserer Zeit. Wo ist anzusetzen, welche Wege eröffnen sich?
Gesellschaftspolitische Utopien, Nährboden für Diktaturen, begreifen
den, ansonsten für sie bedeutungslosen Menschen nur im Kollektiv,
räumen aber Tyrannen und glorifizierten Heldengestalten Sonder
status ein. ,,Weltverbesserungsmodelle" dieser Art stehen diametral
zum Streben des A:.A:.S:.R: .. Als Beleg mag eines der unsäglichen
Zitate von Alfred Rosenberg dienen, des 1946 als „Urheber des
Rassenhasses" gehenkten Chefideologen der NSDAP. 1930 schreibt er
in seinem „Mythos des 20. Jahrhunderts": ,,Die neue Lehre der
Humanität war die ,Religion' der Freimaurer ... , sie hat auch das poli
tische Schlagwort der letzten 150 Jahre „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit" geprägt und die chaotische, völkerzersetzende „huma
ne" Demokratie geboren . ... Dank der Lehre von der Menschen
gleichheit konnte jeder Jude, Neger, Mulatte, vollberechtigter Bürger
eines europäischen Staates werden ... " Gewiss doch: die Gegenposition
zum Postulat der Menschenrechte - aber auch daraus resultierenden
Menschenpflichten - erhellt unseren Auftrag damals und heute.
Zwischen Diktaturen und Freimaurerei kann es kein „Equilibrium"
geben; Diktatur kann ihrem Wesenskern entsprechend „ Gleich
gewicht" nicht zulassen, muss es zwingend zerstören.
Einen anderen Ansatz als den der Verächter des mit gleichen Rechten
ausgestatteten und nach Glück strebenden Individuums liefern
Erlösungsvorstellungen. Sie sind so alt wie die Menschheit und letzten
Endes aus der Hoffnung geboren, den in der Natur des Menschen verankerten Tod auszuschalten. Die aus Offenbarungen und Glaubensüberzeugungen rührenden Hoffnungen von Menschen sind
nicht Gegenstand dieser kurzen Darstellung. Sie stehen jedoch, sofern
sie nicht durch die Intoleranz von Fundamentalisten missbraucht wer
den oder dem Menschen jegliche Entscheidungsfreiheit absprechen,
absolut nicht im Gegensatz zum auf Wirken im Diesseits unserer Welt
gerichteten Auftrag des A:.A:.S:.R: ..
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
„ Globalisierung" gab es schon immer
Dieser beschreibt profane, auf menschliches Verhalten in der Welt der Gegenwart gerichtete Erwartungen. Konkret gilt es, Handlungsfelder zu skizzieren, die in unserer gegenwärtigen Welt ethische und humanitäre Herausforderungen darstellen und nach Herstellung eines
Gleichgewichts verlangen. Die Problematik wird häufig mit dem
Begriff „Globalisierung" verbunden, ist aber nicht darauf zu reduzieren. Der Prozess der Globalisierung hat mit der Menschwerdung eingesetzt. Sein Ausmaß ist jedoch gewaltig geworden, weil die Erdbevölkerung in nur 100 Jahren von 1,5 Milliarden auf 6,4 Milliarden angewachsen ist. Globalisierung ist gewiss nichts Neues. Neu ist die globale Vernetzung in ihrer Vielfalt und ihrem Tempo. Ihre
rapide Beschleunigung und die wachsende Komplexität lässt Globalisierung zu einem Generalthema unserer Zeit werden. Und da
das Ende des Prozesses offen und die Selbstvernichtung der Menschheit nicht auszuschließen ist, schürt er Ängste. Andererseits hat die weltweite Opferbereitschaft, Hilfeleistung und Nächstenliebe angesichts der Flutkatastrophe im Indischen Ozean, Ende 2004, neben den Notwendigkeiten auch die Chance erkennen lassen, die mit
Globalisierung verbunden ist: das Bewusstsein der einen Welt, die Hoffnung für die Menschheit der einen Welt.
Erstrebenswerte Gleichgewichte
Gestörtem „Equilibrium" muss analytisch und tatkräftig durch eine Ethik der Gesinnung und Verantwortung z. B. begegnet werden bei den Gegensatzpaaren
- Spiritualität und Sinnhaftigkeit des Lebens versus krudem Materialismus,
- Verteidigen von Geistes- und Gewissensfreiheit versus Meinungs-manipulation und „Gehirnwäsche" durch weltliche und klerikaleAgitatoren und die Medien,- Garantie von Religions- und Glaubensfreiheit versus Alleinvertretungsanspruch von Religionen bzw. Machtmissbrauch durch derenfanatisierte Anhänger,- Sicherstellen von Lebens- und Entfaltungsrechten von Minderheits
kulturen und Ethnien versus Missbrauch demokratischer Grundrechte, Rassenhass und Schüren ethnischer Konflikte
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·. 21
22
- Gerechtere Verteilung von Ressourcen und Energien versus deren
hemmungslosen Verbrauch,
- Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse wie der Verteilung von
Nahrung, Wasser und Unterkunft versus hegemoniales oder egoisti
sches Anspruchsdenken,
- Ermöglichen von Erziehung zur Toleranz und wissenschaftlich objek
tiver Bildung für alle versus diktatorische oder religiöse Restriktionen
und Indoktrination,
- Wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fortschritt unter
Achtung von Menschenwürde und gegenüber unseren Mitgeschöpfen
versus gegenteilige biologische, medizinische oder waffentechnische
Experimente und Missbrauch von Forschungsergebnissen,
- Pflege, Erhaltung und Mehrung von Kulturgütern im weitesten Sinne
versus deren Vernichtung durch Spekulation oder Reduzierung durch
ungerechtfertigte Zensur,
- Schaffen von Arbeitsmöglichkeiten und Sozialmaßnahmen in den
Ursprungsländern versus nicht mehr steuerbare Migration,
- Entwicklungshilfe als Hilfe zur Selbsthilfe versus postkolonialistische
Ausbeutung,
- Garantie von Menschenrechten versus Folter, Sklaverei, Unter
jochung von Frauen und Kinderarbeit,
- Einschränken von Drogen- und Gewaltkriminalität und Kontrolle
von Waffenverbreitung versus rücksichtsloses und unmoralisches
Machtstreben von Staaten oder deren Repräsentanten,
- Sicherheit für die Bürger und Kampf gegen Terror versus unvertret
bare und übertriebene Freiheitsbeschränkungen,
- Notwendige Rechts- und Ordnungssysteme versus wuchernde, sich
selbst regenerierende Bürokratien oder wachsende Korruption,
- Gemeinsinn versus Flucht aus der Verantwortung gegenüber
Gemeinwesen und Gesellschaft.
Die meisten der nur angerissenen Problemfelder sind Gegenstand poli
tischer Verantwortung und entsprechenden Handelns. Demzufolge
muss es auch unter Freimaurern recht unterschiedliche Auffassungen
zu manchen Punkten geben und es liegt auf der Hand, dass ein
Realisieren von „Equilibrium" nicht als politischer Handlungsauftrag
für den A:.A:.S:.R:. als Organisation missverstanden werden darf.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Was der A:.A:.S:.R:. initiiert
Jedoch sollte sich ein jeder unserer Brüder die Frage vorlegen, ob und inwieweit er in seinem persönlichen Handlungsbereich und entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, orientiert durch sein Gewissen, zu einer Balance zwischen gegensätzlichen Ansprüchen, kurz zu Moralität und ethischer Verantwortung beitragen kann. Durch jammern ändert man nichts. Bloßes Beklagen von Fehlentwicklungen und Verharren auf der Ebene von Gesellschafts- und Kulturkritik verleitet zu Selbstgerechtigkeit und oft zum Weg in die Isolation.
Was vom A:.A:.S:.R:. als Organisation geleistet werden kann, ist eine Schärfung des Problembewusstseins und eine Stärkung des Verantwortungsbewusstseins seiner Mitglieder. Das der Aufklärung zu verdankende allgemeine Bewusstwerden von Individualität hat als Kehrseite zu einem erheblichen Verlust von Gemeinschaftsgefühl beigetragen; der Mensch versteht sich zunehmend weniger als Gattungswesen. Auswege, die im diktatorischen Kollektivismus gesucht wurden, haben sich als mörderische Sackgasse erwiesen. Gesellschaftlicher Fortschritt aber erfordert Gemeinsamkeit und Miteinander neben individuellen Leistungen. Es gilt beizutragen zu Einsichten in die Gegebenheiten des Lebens und zur Analyse gesellschaftlicher Realitäten. Die Selbstgestaltung des einzelnen Bruders gilt es zu fördern und ihn zu ermuntern und zu ermutigen, die Gesellschaft mit zu gestalten.
Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe
Die Interpretation unserer reichen Ritualinhalte bezogen auf die Erfordernisse der Gegenwart kann dabei viel bewirken. Sie vermitteln Ein
sichten in die Folgen menschlichen Fehlverhaltens, zeigen aber auch Wege auf zu dessen Überwindung, vermitteln Verständnis für das prozessuale Weltgeschehen und damit verbundenen Wandel und Fortschritt trotz aller Rückschläge. Schattenbrüder sollen lernen, ihrem Leben eine positive Richtung zu geben und durch eine Ethik des Einfühlens, des Handelns und Vorlebens auch anderen helfen, ihr Leben in Demut und mit Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft auszurichten. Der A:. A:. S:. R:. darf von seinen Brüdern erwarten, dass sie
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 23
24
eine gute Spur ins Leben zeichnen zum Wohle des Menschen und der
Menschheit. Das ist nicht wenig, das heißt sehr viel.
Schon die erste Konstitution des A:.A:.S:.R:. von 1786 proklamiert
als dessen Ziel ein symbolisch aufzufassendes „Heiliges Reich". Im
Sinne dieser Vision des „Saint Empire", des „Holy Empire" setzt unser
Ritus Wegmarken zum Licht. Aurora, die Morgenröte, ist bereits
angebrochen. So wirkt der Alte Ritus mit an einer Neuen Welt, getra
gen von der Hoffnung, dass in ihr Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft
und Liebe sich ausbreiten mögen für die Menschheit.
Mut möge uns ein Ausspruch von Albert Pike machen:
Wir alle haben nicht nur bessere Absichten,
wir sind auch besserer Dinge fähig,
als wir ahnen!
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Der Schottische Ritus im Überblick
Br:. Wolfgang Weber, 33°
Versucht man, die Rituale der Königlichen Kunst in ihrer geordneten Abfolge in einen Gesamtüberblick zu nehmen, so bleibt der Eindruck haften, dass hier in Form von Initiationen mehrere unterschiedliche geistige Ebenen des menschlichen Erlebens angesprochen werden sollen. Auf der einen Seite werden soziale Fragen behandelt, also Aufgaben, die dem einzelnen Menschen im Zusammenleben mit Anderen gestellt sind. Darüber hinaus sind aber mit den Ritualen stets ethische Komponenten verbunden. Hierbei geschaffene ganz konkrete Situationen fordern zum Nachdenken über Ethik und Moral heraus, wobei man im Gesamtüberblick durchaus von „ Tugendlehre" sprechen kann.
Stets sind dabei eigene symbolische Handlungen eingebettet, die initiatorische Erlebnisse erleichtern sollen und mit Leben füllen, was sonst nur blasse Räume der Abstraktion bleiben würden.
Über alles dies hinaus aber lassen sich zusammenhängende spirituelle Motive erkennen, die in teilweise sehr kunstvoller Verflechtung über die verschiedenen Grade hinweg eine geistige Einbettung des Menschen in übergeordnete Zusammenhänge anbieten und jedem ermöglichen, im kunstvollen Geflecht der rituellen Rückverweisungen oder Vorausschau auf spätere Rituale sich selbst zu orten.
Dieser spirituellen Dimension der Königlichen Kunst seien die folgenden Ausführungen gewidmet, wobei (ohne Verletzung von Arkana) besonders auf das Einweben solcher Kategorien in die konkret vorliegenden Elemente der Rituale geachtet werden soll.
75 Jahre A. · .A.·.S.· .R.·. 25
26
Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad
So ist unmittelbar einsichtig, dass bereits vor dem Aufnahmeakt in den
Lehrlingsgrad während der Vorbereitungszeit des Kandidaten in der
„Kammer der verlorenen Schritte" und angesichts von Symbolen der
Sterblichkeit hier ein „Keimling" in das dunkle Erdreich gesetzt wird,
der erst noch zum Licht der Sonne emporwachsen und zum „Sehen"
ins Tageslicht durchbrechen muss. Dieses Licht kann ihm erst zuteil
werden, wenn er tief in sich hineingehorcht hat und gelernt hat, dass
er der Stimme der Selbsterkenntnis folgen muss.
Hört er diese Stimme deutlicher und bleibt ihr gegenüber weiterhin auf
geschlossen, so kommt für ihn automatisch der Moment, wo er auch die
anderen Menschen um sich herum deutlicher wahrnimmt und den Bezug
zwischen sich selbst und ihnen beobachten und beachten, ja sogar nun
achten lernt. Er ist nicht mehr selbstbezogen, sondern hat das Bewusstsein
erlangt, mit anderen zusammen einer Gemeinschaft anzugehören.
Erneut wird er dann im Meistergrad mit der Sterblichkeit, diesmal sei
ner eigenen, konfrontiert und erfährt gleichwohl, dass eine Erhebung
aus ihr möglich ist. Bitter wird ihm aber auch bewusst, dass etwas ver
loren gegangen ist, nach dem er mit allen anderen Brüdern nun weiter
hin suchen muss, ein Wort! Es ist das Wort, das jene ungetreuen
Gesellen dem Meister Hiram auch unter tödlicher Bedrohung nicht
abringen konnten, das Wort, das den Zugang zum Allerheiligsten des
Tempels nur für den wahren Meister erschließt.
Die Reziprozität der Gewaltandrohung zwecks Erlangung dieses
Wortes und der Unfähigkeit, es auf diese Weise überhaupt erlangen zu
können, ist eine besondere Erkenntnis, die in diesem Meistergrade ver
borgen liegt. Darauf wird nicht explizit hingewiesen, weil es sich nach
dem Plan der Ritualväter wohl erst langsam erschließen soll oder
kann. Erst später wird dem Neophyten bewusst, dass man dieses Wort zwar kennen kann, es aber gleichwohl unaussprechbar bleibt.
Abschluss {Perfektion) des Meistergrades
Der weitergehende Prozess, den nun jeder Freimaurermeister weiter zu
durchlaufen hat, ist über die Frage nach der Befindlichkeit und Sterb
lichkeit des einzelnen und der Gruppe hinaus die Frage nach der
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Findung des Selbst. Dieser Prozess „ vom Ich zum Selbst" wurde in der Tiefenpsychologie auch als „Individuation" bezeichnet und scheint einen allgemeinen für jeden Menschen üblichen Entwicklungsgang zu umfassen. Das Selbst muss aber im Plan der Schöpfung wiedergefunden werden! Wie sagen die Freimaurer? ,,Das Verlorene Wort, der Logos, muss gesucht und wieder gefunden werden".
Der Anfang des Urtextes des Johannis-Evangeliums lautet m der griechischen Urversion: Ev Til apx1111v o Äoyor;,
Luther hat übersetzt: ,,Im Anfang war das Wort", er hätte genauso gut schreiben können: ,,Im Anfang war der göttliche Schöpfungsplan" oder „Im Anfang war der Logos" oder auch „Im Anfang war Gott", denn der Vers geht in der lutherischen Übersetzung ja weiter mit:
,, ... und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Ganz ohne Zweifel wird hier auf den Ursprung allen Seins im Schöpfer hingewiesen. Wem das zu religiös klingt, dem sei nach dem Willen der Väter nicht nur der Rituale, sondern auch der stets zu beachtenden ,,Alten Pflichten" des protokollierenden Reverends Anderson gestattet, zu sagen: ,,In der Schöpfung", ,,in der Natur" usw. Auch hier ist natür
lich nichts anderes gemeint als der Schöpfungsakt, wie immer ihn jemand sich vorstellen will. (Hier ist auch die Brücke gebaut zu den aufgeschlossenen, suchenden (non stupid) Atheisten, die etwa deistischer oder gar z.B. buddhistischer (also gottfreier) Weltanschauung sind, also ebenfalls in die brüderliche Kette einbezogen werden dürfen.) Vertiefende Grade der Freimaurerei in allen Obödienzen (FreimaurerOrden, GL zu den drei Weltkugeln, Schottischer Ritus, York-Ritus), die ja die Suche und Wiederauffindung des Verlorenen Wortes ritualisiert aufgreifen und damit den dritten Grad in erforderlicher Weise
abschließen (perfektionieren) 1 1, kennen dann auch diesen Vorgang des Wiederfindens des Verlorenen Wortes, aber gleichzeitig auch der damit erlangten Erkenntnis, dass es sich gar nicht aussprechen lässt. Diese Unaussprechlichkeit findet sich bereits im 3. der Zehn Gebote des Judentums wieder, das da sagt: ,,Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen!"21. Die jüdische Strafe für die Übertretung dieses Gebotes war die Steinigung. Aber auch für die Christen, die den Dekalog vollständig ebenso wie das Gebot der Nächstenliebe von den Juden übernahmen, war
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eine andere Ausdrucksweise für dieses Gebot in der Form selbstverständlich: ,,Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis von Gott machen!" Dieses Gebot ist leicht verständlich, wenn man der Erkenntnis zustimmt, dass Gott niemals in menschlichen Kategorien begreifbar, also auf eine menschliche Begriffswelt reduzierbar ist. Alles was der Mensch
in Begriffe fasst, also mit Worten ausdrücken kann, muss notwendig beschränkter und kleiner als Gott sein. Manche Gruppierungen der Christen (in der Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche, niemals im Katholizismus) haben diese Erkenntnis des Verbots, Gott, Christus und Heilige abzubilden, in besonders massiver Form in Perioden des Ikonoklastentums sowie auch in der calvinistischen Bilderstürmerei der Reformationszeit umgesetzt, sind ansonsten jedoch moderater mit diesem Gebot umgegangen, besonders nachdem sich Luther gegen die Bilderstürmer ausgesprochen hatte.
Erst der Islam hat wieder mit seinem Bilderverbot strengere Formen der Einhaltung solcher Gebote eingeführt, dass man nämlich nicht nach einem naiven Kinderglauben sich Gott als guten alten Großvater mit langem Bart vorstellen darf. Im Islam gilt ja sogar jegliche Abbildung von Mensch und Tier als Trägern des göttlichen Funkens als blasphemisch. Allen drei Buchreligionen ist jedoch gemeinsam die Erkenntnis, dass die Größe Gottes eine Fassung in menschliche Begriffswelten ausschließt. Wenn man also das wieder gefundene „ Verlorene Wort" zwar als solches erkannt hat, jedoch nicht aussprechen kann, so muss man darüber schweigen. Das Gebot des Schweigens ist spirituell also an den Freimaurer nicht nur gerichtet, wenn es darum geht, die Geheimnisse eines Bruders in seinem Herzen zu bewahren, sondern auch dadurch, dass man gar nicht in der Lage ist, bestimmte Erkenntnisse in Worte zu fassen. Man bleibt ein ,,schweigender Meister", was vielleicht die beste Ühersetzung des angelsächsischen Originals „Secret Master" sein dürfte. Der missverständliche Begriff des „Geheimen Meisters" wäre also so viel sachgemäßer umgangen.
Der Übergang vom Quadrat zum Kreis
Der Meisterschritt31 lässt sich als Konstruktionsvorschrift der alten Bauhütten interpretieren, wie man zu einem gegebenen Quadrat (Reißbrett des Meisters) einen flächengleichen Kreis (Kreissymbol als Schöpfer-
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Die Perfektionsloge Br.·. Gerd Scherm 2005
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30
symbol) konstruieren kann, auch wenn es nur näherungsweise und mit
Ungenauigkeit möglich ist. Die so vollzogene „ Quadratur des Kreises",
wie der umgekehrte Vorgang genannt wird, deutet an, dass im Meister
grad vorbereitet oder inbegriffen ist, dass durch die folgende Individua
tion des Einzelnen er aus der menschlichen Dimension (dem Quadrat)
zur Dimension des Schöpfers (der Kreis als altes Symbol des [Sonnen]
Gottes) übergeht. Die simple geometrische Konstruktionsmethode fin
det hier also eine spirituelle Transformation in die Ebene des Transzen
denten, dem der Einzelne zugeordnet ist.
Alchemistische Transformationen der Seele
Die vertiefenden Grade tragen in ihren Ritualen aber auch manche
alchemistischen Elemente mit sich, die einen Umformungsprozess der
seelischen Gehalte des Menschen vom rein Menschlichen bis zum
Göttlichen hin mit Hilfe verschiedener alchemistischer Transforma
tionsprozesse skizzieren. An derem Anfang steht etwa der Prozess der
Putrefactio (Das Verfaulen organischer Substanzen)4 1, durch den erst
einmal die schwarze Grundmaterie (Blei) unter Absonderung von weiß
schimmernden Wassertropfen entsteht (schwarzer Grund mit silber
nen Tränen als Farbgebung im Tempel).
Die weiteren bis zu zwölf alchemistischen Verarbeitungsprozesse
erbringen dann mit der Quinta essentia (Quintessenz, Druidenfuß,
Pentagramm) das angestrebte Ziel des „Steins der Weisen".
Nebenbei sei bemerkt, dass eine flache Interpretation des Umfor
mungszieles von Alchemisten stets die Erzeugung von Gold aus Blei
war, zu jenen Zeiten (vor den exakten Naturwissenschaften) durchaus
also ein Ziel, an das naive Landesfürsten glaubten und auf das sie
hoffen konnten, um ihre leeren Staatskassen zu füllen. Das Apotheker
zeichen für Gold ist aber der Kreis, der in anderer Bedeutung als „Sol" das Symbol des Sonnengottes darstellt. Gold und Gott liegen hier durchaus als angestrebte Ziele benachbart.
Mehrere Zugänge zum Verständnis haben sich also in diesen
Perfektionsgraden offenbart: ,,Von unedler Materie zu edlem Gold" oder
,,Übergang vom Quadrat der Menschenwelt zum Kreis des Göttlichen"
versinnbildlicht uns die Suche und Wiederfindung des „Verlorenen
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Wortes", unaussprechlich zwar, aber Schlüssel zur Individuation im Selbst einer Persönlichkeit, die ihren Platz im Schöpfungsplan gefunden hat.
Von der Individuation zur Aktion (Die Kapitelgrade)
Ist der Freimaurer also nun von der rein egozentrierten Reflexion des
„Schau in Dich, schau um Dich, schau über Dich" durch seinen
Individuationsprozess bis zur Wiederfindung des Verlorenen Wortes, aber auch gleichzeitig der Erkenntnis der menschlichen Begrenztheit und ihren damit sich aufzuerlegenden Selbstbeschränkungen gelangt, so haben sich die Väter der freimaurerischen Rituale sicher mit diesem fortgeschrittenen Erkenntnisprozess, den der Einzelne durchschreitet, nicht zufrieden gegeben. Konkret soll hieraus ja ein zielgerichtetes Handeln entstehen, das
dem Freimaurerlehrling bereits nahegelegt wird und dem Beförderten,
Erhobenen und Weitersuchenden zuvor schon mit den abstrakten Begriffen Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit umrissen wird. Diese müssen aber nun mit aktiver Energie in die Praxis umgesetzt werden.
Man kann diesen Übergang vom Symbolismus zum Aktivismus auch kurz auf den Nenner „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" der
mosaisch-jüdischen Geistesgeschichte51 bringen, der auch von den Christen
inhaltlich genauso wie die Zehn Gebote übernommen wurde. Und hier
sind bei den vertiefenden Graden der Freimaurerei Abläufe erreicht, die zwar auch mit Symbolen, etwa des Pelikans, der seine Brust aufreißt, um seine Jungen zu nähren, also einem Symbol der Nächstenliebe begleitet sind, aber auch in anderer Hinsicht an die der schon zuvor bearbeiteten Grade anknüpfen.
Die alchemistischen Umformungen der prima materia in Gold werden
nun dadurch abgeschlossen, dass die chemische Einwirkung des
Feuers auf die umgeformten Zwischenstufen der Materie sich hier in
der roten Farbe des Tempels abbildet. Das Rosenkreuz wird (im roten Tempel) ein wichtiges Symbol dieser Umformung des Charakters zu einem selbstverständlichen Verhalten in Nächstenliebe anderen Menschen gegenüber, wobei der Begriff des „Ritters" vom Rosenkreuz allein aus dieser Sicht heute sicher entbehrlich wäre61
• Das Ritual mündet in eine spirituelle Handlung, in ein mystisches Mahl ein, wo die
Nächstenliebe in besonderer Form verdeutlicht wird (Ayrui:11).
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. '
9· .L. :ff.
Das Kapitel Br.·. Gerd Scherm 2005
32 75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Im eigentlichen Ritual tritt das Kreuz als Symbol Tau ( T) auf, das in seiner horizontalen Linie die Scheidung zwischen Tod und Leben, in seiner vertikalen Linie die Beziehung zwischen Mensch und Schöpfergott charakterisiert. Im hebräischen Alphabet entspricht das Tau auch der höchsten hier möglichen darstellbaren Zahl der Hebräer, also der 4.00. Alles was über diese 400 hinausgeht, also alles was oberhalb des Tau liegt, weist auf das Unendliche hin71
•
Die drei theologischen Tugenden
Diesem Kreuz gesellt sich aber nun die Rose hinzu. Das hebräische Wort für Rose, Schoschana, finden wir im Mädchennamen Susanna wieder. In diesem Wort steckt zunächst einmal das hebräische "Schesch" (die Zahl 6) und dann der Wortanteil "Yana", das soviel wie "jährlich" bedeutet. Gemeint ist hier die in der Schöpfungsgeschichte (Genesis, 1. Moses 1, 29) genannte Schöpfung besamter Pflanzen, die sich jährlich mit ihren Blüten neu entwickeln. Gott schuf sie am sechsten Tag (schesch) der Schöpfungsgeschichte. Diese Rose ist nun ein altes Liebessymbol, enthält aber auch Elemente, die wiederum an zuvor durchlaufene Grade erinnern, insofern die Rose ein Schweigegebot andeutet. Man teilt jemandem anderen ein Geheimnis "sub rosa", unter der Rose mit, um seine Verpflichtung zum Schweigen zu verdeutlichen. (Das von der Rose bewahrte Geheimnis findet sich auch in der „im Bade belauschten Susanna", deren geheimnisvoller Liebreiz sich trotz Nacktheit den sie heimlich beobachtenden alten Männern gerade nicht offenbart.) Im Grad der Rosenkreuzer spielt natürlich der Zusammenhang zwischen der Nächstenliebe und den drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung eine Rolle. Auch werden in manchen Systemen Interpretationen des Wortes I·N·R·I gegeben, ohne allerdings hier auf christliche Religionen beschränkt zu bleiben. Mit der abgekürzten Aussage von "Igne natura renovatur integra (I·N·R·I)" ist wiederum von der Kraft des Feuers für die Erneuerung der Materie die Rede, wie sie in den alchemistischen Prozessen Verwendung findet. Johann Wolfgang von Goethe scheint hier besondere Affinität gehabt zu haben, wie man aus seinem Gedicht "Die Geheimnisse" ersehen kann. :& wird deutlich, dass hier alle Religionen (bei ihm 12 an der Zahl) in einer
75 Jahre A. · .A. ·.S.· .R.·. 33
34
Kongregation ihren Platz gefunden haben. Man weiß aus Andeutungen
auch von Cotta, dass Goethe ursprünglich geplant hatte, später noch eine
religionsphilosophische Arbeit zur Ausführung dieser Dinge auszuarbeiten,
was aber bedauerlicherweise nur als Vorhaben erhalten geblieben ist. Man
hätte sich hieraus eine Art „überreligiöser Weltsicht" versprechen können.
Ritterliches Auftreten gegen Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch (Der Areopag)
Bedeutete die Ausrichtung aller Handlungen nach den Forderungen
der Nächstenliebe bereits schon eine große und häufig nicht erfüllba
re Herausforderung an den einzelnen, der er zu folgen aber nach
Kräften aufgefordert ist, so bedeutet die Aufforderung, sich gegen
Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch zu wenden, eine noch sehr viel
stärkere Anforderung an den Charakter eines Menschen.
Der Kampf gegen Ungerechtigkeit soll nämlich gerade auch gegen diejeni
ge Ungerechtigkeit wirksam werden, die anderen Menschen widerfährt,
nicht nur gegen die, die ich selbst erfahre. Den Machtmissbrauch muss ich
nicht nur dann bekämpfen, wenn er gegen mich gerichtet ist, sondern auch
gerade dann, wenn er auch andere betrifft und unterdrückt. Dass dieser
Widerstand gegen ungerechtes und machtmissbräuchliches Handeln nicht
mit beliebigen Mitteln, nicht etwa mit Heimtücke und dem „Dolch im
Gewande" bekämpft werden soll, lässt sich mit der Aufforderung zu „rit
terlichem Handeln" besonders gut umschreiben, weil ritterliches Eintreten
für andere Menschen sicher eine eindeutige und keineswegs missverständ
liche Auslegung findet. Menschen dieser Art als „Ritter" zu bezeichnen, ist
dann also ein eindeutiges Positivum, was die Verwendung in frei
maurerischen Ritualen durchaus legitim erscheinen lässt. Man denke hier
auch an das Ethos von Soldaten in demokratischen Staaten, denen der
Begriff der Ritterlichkeit gewiss Berufsauffassung wie Selbstverständnis ist. (Die gelegentlich gehörte lächerliche Behauptung, es handele sich in derar
tigen freimaurerischen Ritualen um spätpubertäre Ritterspiele, meist
gebetsmühlenartig wiederholt, verdient da nur noch Mitleid}.
Natürlich spielt aber bei einem solchen Verhalten ritterlicher
Einstellung auch die Kardinaltugend der Gerechtigkeit eine hervorge
hobene Rolle. Sich in dieser Tugend zu üben und sie verstehen zu ler-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
nen, ist daher für den aktiven Freimaurer von größter Bedeutung. Dass diese Tugend ihrerseits nicht ohne die noch höher anzusiedelnde Kardinaltugend der Klugheit existieren kann, ist bekannt, jedoch
wurde ja auch das Verhalten nach dieser Tugend schon seit dem 1. Grad gefordert, denkt man an eines der drei kleinen Lichter oder denkt man an die Aussage „Lerne Weisheit, mein Bruder!"
Die vier Kardinaltugenden (Das Konsistorium)
Es liegt nun nahe beim Fortschreiten durch vertiefende Grade hier im Anschluss an die Gerechtigkeit auch die drei anderen Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit und Maß in den Blick zu nehmen, da sich ein gut und vorbildlich geführtes ritterliches Leben (KCIAoc; Kai aya0o�)
im Spannungsfeld dieser vier Haupttugenden bewegen sollte. Die vier Tugenden Prudentia, Justitia, Fortitudo, Temperantia heißen hier
etwas anders Vemunh, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe und entspre
chen etwa den Forderungen an Ritter des Mittelalters mit den Begriffen Rehte, Milte, Staete, Masz (bei den mittelalterlichen Rittern traten noch als Tugenden hinzu: Diemute (Demut), Triuwe (Treue), Zuht (Zucht), Vreude (Freude, Heiterkeit)).
Die Krypta der Religionsstifter und Gründer
Erneut greift der Schottische Ritus in seinen vertiefenden Graden die Überzeugung auf, dass tiefere religiöse Wahrheiten von allen Religionen geteilt werden. Exemplarisch werden acht Religionsstifter und Gründer vorgestellt, deren Lebenswerk erkennen lässt, dass die Kardinaltugenden für alle Kulturen und Religionen nahezu gleich aussehen.
Spätestens in dieser Verpflichtung zum ritterlichem Kampf gegen
Rechtswillkür und Machtmissbrauch, wie sie am Beispiel der Vernichtung des Templerordens 1307 und seines Hochmeisters Jacques de Molay 1314 durch den Willkürakt des französischen Königs Philipp rv. und die schwächliche Passivität von Papst Clemens V. verdeutlicht wird, ist der große thematische Bogen freimaurerischer Bildungs
bemühung deutlich in seiner abschließenden Vollendung vorauszuahnen: Jeder, der die Königliche Kunst recht versteht, hat die wichtigste
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Aufgabe seines Lebens darin zu sehen, stets jede Unterdrückung von
Menschen und Völkern durch absolutistische oder despotische
Machtträger mit aktivem Einsatz zu bekämpfen, zwar mit ritterlich
ehrenhaften Methoden, aber entschieden und mit Tapferkeit.
Im Machtgefüge des Abendlandes tobten sich zu Beginn der modernen
Freimaurerei die Kräfte absolutistischer Monarchen noch frei aus,
wenngleich die Aufklärung in England bereits früh erste Einschrän
kungen der königlichen Macht in verfasster Form kannte (Magna
Charta Libertatum 1215, Habeas-Corpus Akte 1628, Bill of Rights
1689) und sich überall in Europa zu Anfang des 18. Jahrhunderts die
geistigen Kräfte der Machtbeschränkung zu Worte meldeten (z.B. die
Denker der Aufklärung, die praktischen Resultate in der amerikani
schen Unabhängigkeitserklärung und Verfassungsgebung, aber auch
in der französischen Revolution, die Freiheitsdichter, Freiheitskämpfer
und erste parlamentarische Verfassungen.)
Freimaurerei also als Kampf für die Werterhaltung der westlich abend
ländischen Kultur (nicht unbedingt christlich abendländischen Kultur)
und ihres Menschenbildes. Die heutige Freimaurerei ist davon über
zeugt, dass Menschenwürde und Menschenrechte Begriffe sind, die
universelle Gültigkeit besitzen, so dass die Einbeziehung östlicher
Kulturen und Religionen nicht mehr unter Vorbehalten steht, durch
aus aber jede Form von fundamentalistischem Machtanspruch, auch
etwa der christlichen Glaubensgemeinschaften.
Das Feldlager
Das große Feldlager zeigt uns, dass wir auch wahrhaft darum kämpfen
müssen, die Forderungen der Tugenden zu erfüllen, damit wir die Spirale
des Alls erreichen können. Das Feldlager ist so konstruiert, dass hier ein
Kreis nacheinander durch ein Dreieck, Fünfeck, Siebeneck, Neuneck angenähert wird. (So in der Tat ist auch in der Mathematik die Annäherung von
Vielecken an einen Kreis, die dann zur irrationalen Zahl :rt (Pi) führt.
Der Freimaurer darf hier nun schließen, dass durch diese Approxi
mation die Annäherung an das Göttliche gemeint ist. Man kann aber
als Ziel, nämlich das Erreichen der Spirale des Alls, auch die Wieder-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
kunft des „Heiligen Jerusalems" der Gottes-Offenbarungen im Neuen Testament sehen, denn der „Heilige Fels in Jerusalem", der heute von der Kuppel des moslemischen Felsendoms überwölbt ist, sah in vorgeschichtlicher Zeit Abrahams gehorsame Bereitschaft, Gott seinen Sohn zu opfern, sah Christi Himmelfahrt und war Startpunkt von Mohammeds Übergang in den Himmel. Umgekehrt wird dann das zurückkehrende „Heilige Jerusalem" mit seinen zwölfeckigen Stadtmauern mit sich bringen, was „Jerusalem" bedeutet: ,,Der Heilige Frieden" (:iepo Salim/Schalom).
So findet hier der große Bogen seinen Abschluss, der in den ersten drei Graden zum „Ich" führte, über das „Selbst" der Perfektionsgrade die aktive Nächstenliebe der Kapitelgrade verdeutlichte und dann eine weitere Steigerung im aktiven ritterlichen Eintreten für Gerechtigkeit und Machtmissbrauch gerade im Kampf für die Mitmenschen erfahren hat. So wurde der Bruder Freimaurer schließlich in der Erkenntnis der Haupttugenden und der Respektierung aller Religionen in das Rittertum eines humanen, toleranten und brüderlichen Menschen eingeführt, der die Wiederkehr des Heiligen Jerusalem als Einkehr ewigen Friedens als eschatologische Konsequenz erhoffen darf.
Anmerkungen: 1) Die Bezeichnung „Lodge of Perfection" würde statt mit „Perfektions-Loge" bessermit „Loge des Abschlusses (des Meistergrades)" übersetzt, da es hier keineswegs umeine Verbesserung (perfection) etwa charakterlicher Eigenschaften geht, die demMaurer ohnehin als Pflicht auferlegt ist, sondern um das Suchen und Wiederfindendes „ Verlorenen Wortes" zum Abschluss (perfection) des Meistergrades. Die „blaue"Maurerei der regulären englischen UGL kennt daher seit ihrem Gründungsjahr(1813) auch die Anerkennung eines 4. (Ergänzungs)-Grades im sogenannten RoyalArch Chapter, der diesem Abschluss zugeordnet ist.
2) Die ersten 3 Gebote des Dekalogs (Exodus 20, 1 - 17) lauten nach derEinheitsübersetzung:
1) Ich bin Jahweh, Dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.2) Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbildmachen und keine Darstellung von irgendwas am Himmel droben, auf der Erdeunten oder im Wasser unter der Erde ... .3) Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn derHerr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.
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3) Der Meisterschritt wird gelegentlich auch als Ausweichbewegung des MeistersHiram interpretiert, der vor den ihn bedrohenden ungetreuen Gesellen flieht. DasRitual hat bei manchen Modernisierungen diesen Zusammenhang aus dem Blick verloren, weil die Himmelsrichtungen im Begleittext nicht mehr mit dieserAusweichbewegung kongruieren.Eine Konstruktionsvorschrift eines flächengleichen Quadrates zu einem gegebenenKreis war jedoch gewiss ein Bauhüttengeheimnis, das dem Meister anvertraut worden sein dürfte und ihm etwa dabei half, in Fenster Maßwerke einzufügen oder allgemeine Berechnungen beim Dombau zu bewältigen, ohne mit den erst später verbreiteten kaufmännischen Rechenregeln eines Adam Riese vertraut zu sein, undschon gar ohne Kenntnis irrationaler Zahlen.
4) Die Alchemie kennt etwa Prozesse wie die Calzinatio, Separatio, Conjunctio,Coagulatio, Fermentatio usw., denen bei der chemischen Umformung bestimmteFarben des Prozesses eigen sind. Man kennt etwa die Weißung (albedo), die Rötung(rubedo), die Gelbung (citrinitas) und die Grünung (viriditas). In manchen Ritualenerinnern die Farben des Tempels an diese alchemistischen Wurzeln, in die die psychischen Umformungsprozesse der menschlichen Seele nach altehrwürdiger Spekulationeingebettet sein können.
5) ,,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" ist bereits im 3. Buch Moses(Leviticus), Kap.19, Vers 18 formuliert, also jüdischen Ursprungs. Das Christentumhat diese edle Forderung noch einmal mit dem totalen Gebot der Liebe überhöht:,,Liebe Deine Feinde!"
6) Die Entstehung der modernen Freimaurerei fällt in eine Zeit, wo der Abstand zwischen Adeligen und „Bürgerlichen" noch eine soziale Konstituante darstellte. Wolltenalle Brüder einer Loge sich als gleichwertige „craftsmen" ansehen und respektieren,so mussten in geöffneter Loge alle Nichtadligen den Adelstitel als „Ritter" (SirKnight) mit dem symbolisch dazugehörigen Schwert im Gehenk tragen dürfen. Sowurde dieser Standesunterschied durch die Verleihung des Titels „Ritter" behoben,durch eine Geste also, die heute gewiss nicht mehr zur Herstellung vonGleichwertigkeit benötigt wird.
7) Oberhalb von 400 liegt also das Unendliche (nicht mehr Gezählte). ChristlicheZahlenmystik hat hier die Acht verwendet (als Lemniskate oo, also eine liegende 8,in der Mathematik heute Zeichen für „Unendlich"). Unendlichkeit als AttributGottes (und Christi) war für die Christen dann auch verbunden mit der 8, die manaus den 6 Tagen der Schöpfungsgeschichte mit dem 7. Tag als Ruhetag erschloss, weilam 8. Tag dann die Ewigkeit beginnen musste. So hat etwa die karolingischeKaiserpfalz (z.B. Aachen und Otmersheim) oder die Kaiserkrone des HeiligenRömischen Reichs Deutscher Nation die Form des Achtecks erhalten.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Die sieben Stufen der Initiation
in der humanitären Freimaurerei
Br :.Hubert Victor Kopp, 33°,
Souveräner Alt- und Ehren-Groß-Kommandeur
Zum besseren Verständnis
Wer die Geschichte der Freimaurerei richtig
erfaßt hat, wird erkannt haben, daß sie einem
permanenten Entwicklungsprozeß unterlag
und keineswegs als abgeschlossen betrachtet
werden kann. Wenn diese Feststellung nicht zuträfe, würden wir uns
ritualistisch noch heute in der Erfahrungs- und Vorstellungswelt des
18. Jahrhunderts befinden.
Die humanitär geistige Bewegung der Freimaurerei orientierte sich in
ihrer Frühzeit ritualistisch am rein handwerklichen Brauchtum der
Steinmetz-Zünfte und adaptierte dieses letztlich für sich. Wie jede
andere Gruppierung hatte diese Bewegung nur dann eine Zukunft,
wenn sie dem gesellschaftlichen Fortschritt diente. Entweder konnte
sie diesem Anspruch sowohl gesellschaftlich als auch geistig genügen
oder sie wäre wieder verschwunden. Ihre Faszination bestand offen
sichtlich darin, daß sie beiden Forderungen der damaligen Zeit gerecht
wurde.
Ihren Siegeszug um die Welt verdankt die Freimaurerei einem ritua
lisierten Menschentum, das für Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und
Liebe eintritt. Zugegeben, eine Utopie, der wir zwar im Laufe der
vergangenen drei Jahrhunderte in Teilbereichen näher gekommen
sind, aber bezogen auf die ganze Menschheit sind wir davon noch weit entfernt. Wir wissen aus schmerzlicher Erfahrung, daß wir diesem
Quellenhinweis: Mit freundlicher Genehmigung Auszug aus dem Buch "Im Zeichen des Logos - Alle Menschen werden Schwestern und Brüder -Geschichte und Wesen der humanitären Freimaurerei". Copyright 2005 by Hubert Kopp Verlag, 30161 Hannover, Hohenzollerstr. 33; eMail: HubertKopp@t-online.de
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Ziel nur durch einen inneren, einen geistigen Wandel der Menschen
näher kommen können.
Freimaurerei ist ihrem Wesen nach eine ge1st1ge Bewegung. Sicher
wird auch Geselligkeit gepflegt, aber deshalb muß man keiner
Freimaurerloge angehören. Der eigentliche Sinn freimaurerischer
Arbeit liegt in der sittlichen Vervollkommnung des Menschen.
Wie wir wissen, begegnen wir in der Welt vielen eigenständigen
Systemen der Freimaurerei, natürlich auch in Deutschland. Das von
mir hier vertretene, ist vielmehr als eine Vision zu verstehen im
Hinblick auf die Zukunft der humanitären Freimaurerei. Was als
Grundlage außer Frage steht, sind die humanitären Grundsätze in den
„Alten Pflichten" von 1723. Die Freimaurerei hat sich im Laufe der
vergangenen 300 Jahre entsprechend den veränderten Gesellschafts
und Lebensbedingungen weiterentwickelt und muß von Generation zu
Generation neu interpretiert werden.
Warum eigentlich dieses Streben des Menschen nach Vervollkomm
nung? Halten sich etwa Freimaurer für etwas Besseres, vielleicht für
die Auserwählten? Nein, natürlich nicht. Wenn sie nicht nur
Mitglieder einer Loge, sondern aus geistigem Engagement und mit
ganzem Herzen Freimaurer sind, dann werden sie in aller Beschei
denheit ihre Arbeit verrichten, wohl wissend, daß die Vollkommenheit
in diesem, unserem Sein nur angestrebt werden kann und allein bei
dem „Großen Baumeister aller Welten" liegt. Woher nehmen wir
eigentlich dieses Wissen? ,,Weil der Mensch das einzige mit Vernunft
begabte Wesen in dem uns zugänglichen Universum ist und dem eher
nen Gesetz der Evolution unterliegt."
Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist der materialistische Monismus endgültig ad acta gelegt worden und damit die
Annahme, daß unser Groß- und Stirnhirn den Geist selbst produ
ziert. Im Laufe von einer Million Jahren hat sich das menschliche
Gehirn durch Evolution gebildet, um das, was wir Geist nennen,
aufzunehmen. Bezogen auf unser heutiges Großhirn ist diese evolu
tionäre Entwicklung erst in den vergangenen 300 000 bis 600 000
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Der Areopag Br.·. Gerd Scherm 2005
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Jahren vollzogen worden. Wer es genau wissen will, dem empfehle ich das Buch von Professor Dr. Hoimar von Ditfurth „Der Geist fiel nicht vom Himmel". Von Ditfurth ist einer der erfolgreichsten Wissenschaftsjournalisten, den es in dem Fachbereich von der menschlichen Evolution gegeben hat. Wir wissen nun also, daß wir dieser evolutionären Entwicklung unsere Vernunftfähigkeit verdanken.
Schon im klassischen Altertum stand „Logos" für das, was wir Geist nennen. Ihm, dem Geist, verdanken wir auch die im Menschen angelegte Fähigkeit der spirituellen Hinwendung zu einem „Höheren Sein". Diese bewußte oder auch intuitive Hinwendung zu einem Höheren Sein berechtigt zu der Annahme, daß der Mensch zu seiner fortschreitenden Vervollkommnung fähig ist. Mit seiner geistigen Mündigkeit ist der Mensch „aus dem Paradies" gefallen. Er mußte von nun an selbst entscheiden, was gut und was böse ist. Wer also die Erkenntnis erworben hat, daß er ein „ Vernunft begabtes Wesen" ist, wird nicht daran vorbeikommen, über seine ganz persönliche, ethische Weiterentwicklung nachzudenken.
In dieser Überzeugung gehen wir Freimaurer an die Arbeit an uns selbst. Wir sind keine Weltverbesserer im ideologischen oder konfessionellen Sinne, sondern wir sind viel bescheidener, indem wir nicht die anderen verbessern wollen, sondern nur uns selbst. Andererseits sind wir sehr wohl der Auffassung, daß Menschen, gleichgültig welchen Geschlechts, die durch rituelle Arbeit eine „eigenständige, freimaurerische Geisteshaltung" erworben haben, besser mit den Problemen der Zeit fertig werden, als jene, die ihr Schicksal dem Zufall oder anderen überlassen. Damit ist auch der Streitpunkt beantwortet, daß Freimaurerei kein geschlechtsspezifischer Weg ist, sondern allen Menschen guten Willens offensteht.
Die humanitäre Freimaurerei ist also ein geistiges Angebot, um durch die ihr eigene rituelle Arbeit einen Beitrag zu einer ethisch-moralischen Entwicklung des Menschen zu leisten. Sie beruht auf einer konfessions- und ideologiefreien Esoterik. Diese setzt die Erkenntnis eines „Höheren Seins" voraus, was immer der einzelne darunter verstehen
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mag. Ohne dieses Bewußtsein von einem Höheren Sein wären die von
uns praktizierten Rituale inhaltslos.
Nur der guten Ordnung halber sei festgestellt, daß alle in den Ver
einigten Großlogen v. D. arbeitenden Großlogen diesen gegenseitigen
Anerkennungskriterien genügen. Dabei bleibt es der Eigenständigkeit
jeder Großloge überlassen, ob sie nach dem humanitären oder einem
rein christlichen Prinzip arbeiten will.
Sicher gibt es auch andere Systeme, die sich Freimaurerei nennen und
beispielsweise die Hinwendung zu einem Höheren Sein und damit die
Anrufung des "Großen Baumeisters aller Welten" der Beliebigkeit
ihrer Mitglieder überlassen. Nur dann ist es eine andere Freimaurerei,
die mit unserer humanitären, auf ein Höheres Sein bezogenen nicht
vergleichbar und deshalb auch nicht kompatibel ist. Der Name
"Freimaurer" oder "Loge" ist nicht schutzfähig, so daß sich unter die
sem Deckmantel jeder verstecken kann.
Was verstehen wir Freimaurer unter „Initiation"?
Ganz einfach gesagt, die Bewußtbarmachung von Werten und
Inhalten. Diese werden dem Einzuweihenden (Initianden) in einer dra
maturgischen Handlung vermittelt. Sie besteht aus einer Legende,
einer Pflichtenlehre und der eigentlichen Initiation. Diese ist darauf
ausgerichtet, das geistige Potential im Menschen im Bewußtsein eines
Höheren Seins zu aktivieren. Wie bereits mehrfach ausgeführt, werden
sämtliche rituellen Handlungen "in Ehrfurcht vor dem Großen
Baumeister aller Welten" vollzogen, denn diese Anrufung bedeutet die
geistige Hinwendung zu diesem "Höheren Sein", welche Gottesvor
stellung der Initiand auch immer damit verbinden mag.
Im allgemeinem sprechen wir von „Körper, Geist und Seele", ohne uns
konkret darüber Gedanken zu machen, welche wesentlichen Erkenntnisse darunter zu verstehen sind. Spätestens auf Plato geht dieses Wissen
zurück, auch wenn es schon viel früher in fernöstlichen Religionen und
Weltanschauungen anzutreffen ist. Erst in der Renaissance und der folgen
den Aufklärung beginnen wir, überbrachte Klischees abzustreifen und uns
mit dem Wesen Mensch etwas intensiver zu befassen.
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In der schottischen Maurerei sollten wir nach meiner Überzeugung deshalb in aller Klarheit von den „Sieben Stufen der Initiation" sprechen. Schon in der Antike begegnen wir der „heiligen Zahl" Sieben. Interessanterweise kennen wir in der Theosophie die „sieben Aspekte"
menschlichen Seins, den vier niederen und den drei höheren. Auch wenn in der humanitären Freimaurerei schon aus dem Grundsatz der Toleranz die Erkenntnisvorgabe dort aufhört, wo der Glaube beginnt, ist die Ähnlichkeit der freimaurerischen Betrachtung des Wesens Mensch nicht zu verkennen. Andererseits bleibt es der Persönlichkeit des einzelnen überlassen, entsprechend seinem Glauben individuell seine Erkenntnisfähigkeit zu vertiefen.
In der humanitären Freimaurerei bearbeiten wir in Deutschland die drei Basisgrade, zu denen nach englischer Lehrart der vierte Grad vom „Königlichen Gewölbe" als Abschluß der Hiramslegende gehört. Diese
vier Grade befassen sich mit dem Menschen in dieser Welt, seinem Sein von der Geburt bis zum Tod. Sie gipfeln mit der vierten Initiation in der Erkenntnis, daß der Mensch ein Teil dieser Schöpfung ist. ,,Gott ist in Dir!" lautet die Botschaft. Wir Freimaurer symbolisieren Gott im Zeichen des Logos, dem griechischen Wort auch für „ Geist", also jener allumfassenden Energie, die uns erst zum Menschen macht. Mit anderen Worten behandeln diese vier Initiationen in der humanitären Ritualistik die Individualethik des Menschen. Die drei folgenden weiterführenden Grade befassen sich in ihrer
Initiation mit der Sozialethik der humanitären Freimaurerei, die in der Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe gegenüber allen Menschen, gleich welcher Rasse, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit, gipfelt. Zweifellos ist das eine Zukunftsvision der Menschheit, die unsere Brüder schon vor dreihundert Jahren hatten
und die Schiller in seiner Ode an die Freude „Alle Menschen werden Brüder" zum Ausdruck brachte.
Zu den Grundprinzipien der Freimaurerei gehört die freie, geistige Entfaltung des Menschen. Folglich bleibt es jedem überlassen, mit welcher Intensität er Freimaurerei betreibt. Großartige Geister wie Lessing haben sich mit ihrer Aufnahme, also der Initiation des ersten Grades begnügt und ein so einmalig humanitär freimaurerisches
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Das Konsistorium Br.·. Gerd Scherm 2005
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Drama wie „Nathan der Weise" geschaffen. Andere sind der
Meinung, in den drei ersten Graden sei alles enthalten, was der
Mensch zu seiner Vervollkommnung benötigt. Jeder kann „nach sei
ner Fasson selig werden", wie der Freimaurer und Logengründer
,,Friedrich der Große" in seinem Staat verkündete.
Das einzige, was gegen alle freimaurerischen Grundsätze verstieße,
wäre die Bevormundung, an welchen rituellen Handlungen ein
Logenmitglied teilnehmen darf und an welchen nicht. Diese Rituale
müssen allerdings mit der Freimaurerischen Ordnung übereinstimmen
oder durch Konkordat mit der Großloge abgesichert sein. Mit ande
ren Worten: Der freimaurerische Bildungsweg muß allen regulären
Freimaurern innerhalb ihres Systems offenstehen.
Reminiszenzen leidvoller Ereignisse vergangener Jahrhunderte, wie die
der Strikten Observanz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
oder die fatale Fehleinschätzung mancher Großlogen 1933 gegenüber
den Nationalsozialisten, können und dürfen uns nicht davon abhalten,
neue, zeitgemäße Wege zu gehen, die den geistigen Bedürfnissen intel
lektuell interessierter Menschen unserer Tage gerecht werden. Jede
Generation hat die Pflicht, die geistigen Defizite zu analysieren und
hierauf ihre Antwort zu geben.
Eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Zeit ist die
Säkularisierung(!) und die sich daraus ergebende Suche nach neuen
Werten und Inhalten. Wir als Freimaurer haben, wie keine andere
Vereinigung, eine über Jahrhunderte gewachsene Antwort in Form unse
rer rituellen Arbeit anzubieten, die das berechtigte Bedürfnis nach huma
nitären Werten und Inhalten in freier, geistiger Entfaltung befriedigt.
Entscheidend ist allerdings, daß die Logen ihre eigentliche Aufgabe begrei
fen, damit jeder Freimaurer befähigt wird, auf die in ritueller Arbeit gewonnene, eigenständige Geisteshaltung seine eigene Antwort zu finden.
Das geistige Potential unserer humanitären, freimaurerischen Esoterik
liegt in der Freiheit des Initianden, sich sowohl mit dem Verstand als
auch mit dem Gemüt dem Höheren Sein zu nähern. Der eine erfährt
seine Inspiration zum Guten aus der spirituellen Hinwendung zum
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Höheren Sein, der andere versucht es mehr mit der Vernunft. Beides sind geistige Vorgänge, die jeder für sich selbst entscheiden muß. Je älter wir werden, um so mehr kommen wir zu der Erkenntnis, daß wir ständig Suchende bleiben, allerdings auf einem geistig fortschreitenden, höheren Niveau.
( 1 ) Zum Thema „Säkularisierung" Q: Erhebungsdaten „AWA 2002", Institut für Demoskopie Allensbach, Bevölkerung ab 14 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland:
Konfession: Evangelisch: 23,34 Mio. {36,2 %), Katholisch: 20,74 Mio. {32,2 %), Andere: 0,93 Mio. {1,4 %), Ohne, keine Kirchenmitglieder/ ausgetreten: 19,18 Mio. {28,8%)
Kirchenbesuch: Protestanten: Jeden, fast jeden Sonntag, ab und zu: 8,65 Mio. { 13,4 % ), selten, nie: 14,88 Mio. {22,8 % ) Katholiken: Jeden, fast jeden Sonntag, ab und zu: 5,38 Mio. {8,3 %), ab und zu, selten, nie: 15,39 Mio. {23,9 %)
Religiöse, gläubige Menschen, gesamt: 13,16 Mio. (20,4 %)
,,AWA 2004" (wie vorgenannt) Weltanschauung, Philosophie: Interessiert an Informationen, Ratgeber / Experten Interessiert, insgesamt: 30,59 Mio. (47,1 %), ganz besonders interessiert: 9,35 Mio. {14,4 %) Ratergeber, Tips -Experte-: 5,50 Mio. (8,5 %)
Mitglieder einer Kirche: 44,72 Mio. {68,9 %) Kein Kirchenmitglied/ ausgetreten: 19,99 Mio. {30,8 %) Evangelisch: 22,89 Mio {35,3 %), Katholisch 20,77 Mio. {32,0 %) Andere Konfessionen: 1,05 Mio. {1,6 %) Religiöse, gläubige Menschen: 12,95 Mio. {20,0 %) Religion: Feste Glaubensüberzeugung 14,10 Mio. {21,7 %)
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Die sieben Stufen der Initiation sind in der humanitären Freimaurerei als
ein ganzheitliches System zu verstehen, weil sie den Weg des Menschen in
seiner individuellen Entwicklung und gesellschaftlichen Verantwortung
beinhalten. In den folgenden Stufen skizziere ich eigene Vorstellungen von
Form und Inhalt der Grade. Sie entsprechen nicht in allen Teilen den
gebräuchlichen Ritualen der AFuAM und des A:.A:.S:.R: ..
Das jeweilige Aufnahme-, Beförderungs- und Erhebungsritual sollte
aus dem Symbol, der Legende, der Pflichtenlehre, den Regularien und
der eigentlichen Initiation bestehen.
I)ie erste Stufe
Das Symbol: ,,Der Logos", das gleichseitige Dreieck mit dem einge
schriebenen „G".
Am Anfang freimaurerischer Esoterik steht die Lichtsymbolik. Sie ist
eine uralte Menschheitserfahrung, denn ohne das Licht der Sonne
gäbe es in unserer Lebenswirklichkeit kein Sein.
Entsprechend der Legende „Schau in Dich" betritt der Initiand den
Arbeitsraum der Loge (Tempel) ,,nichtsehend", den Blick nach innen ge
wandt. Nicht der äußere Schein entscheidet über seine Aufnahme, sondern
nur sein ehrlicher Wille, an seiner Vervollkommnung arbeiten zu wollen.
Vor seiner Aufnahme wird er mit den Pflichten eines Freimaurer
lehrlings vertraut gemacht, die nichts enthalten, ,, was den Pflichten
gegen Gott und gegenüber den Gesetzen des Staates zuwider wäre".
In der Kette der verschlungenen Hände seiner Brüder erfährt er seine
erste Initiation. Dem Osten der Loge zugewandt, wird ihm nach
Abnehmen der Augenbinde „das Licht" gegeben. Das Licht einer neuen, tieferen Erkenntnis von sich und über sich, bar aller mensch
lichen und irdischen Attribute. In der Hinwendung zu einem
,,Höheren Sein" erkennt er seine Fähigkeit, sich zu vervollkommnen.
Wir symbolisieren das Bemühen der Freimaurer-Lehrlinge, indem sie
mit dem Spitzhammer einen unbehauenen Stein durch fleißige Arbeit
an sich selbst zu glätten suchen.
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Die zweite Stufe
Das Symbol: ,,Der Flammende Stern", das Pentagramm mit den fünf Flammen.
Als initiierter Bruder schaut er in einem neuen Bewußtsein um sich und schreitet frohen Mutes voran. Nach der Legende hat sich der FreimaurerLehrling redlich bemüht, mit dem Spitzhammer seinen unbehauenen Stein zu glätten, um sich als „Kubischer Stein" in den Bau der Menschheit einzubringen. Als Handwerkszeug dient ihm hierzu die „Kelle".
Gemäß der berühmten Inschrift des Apollontempels zu Delphi „Erkenne Dich selbst" wird er sich als Freimaurer-Geselle seiner Pflichten gegenüber seinen Brüdern und der ganzen Menschheit bewußt. Mit dem Blick nach Osten weist der „Flammende Stern" dem FreimaurerLehrling in der zweiten Initiation den rechten Weg. Die Flammen symbolisieren das Licht, den Geist, der uns erleuchtet. Leonardo da Vinci hat uns beeindruckend in seiner Harmonie den Fünfstern im Kreis als Mittler zwischen Gott und dem Menschen dargestellt.
Damit sind die aus der Steinmetzzunft adaptierten Rituale abgeschlossen. Selbstverständlich haben sich diese Rituale in der humanitären Freimaurerei im Laufe von mehr als drei Jahrhunderten zu dem entwickelt, was unserem heutigen Verständnis von der geistigen Entfaltung des Menschen entspricht. In der Übergangszeit des 17. Jahrhunderts, von der operativen zu spekulativen Maurerei, waren diese Rituale noch stärker im handwerklich zunftmäßigen Ursprung von Zeichen, Wort und Griff verhaftet. Dieses sogenannte „Geheimnis", was bereits im frühen Mittelalter als Erkennungszeichen der Zunftlehrlinge und -gesellen seine Bedeutung hatte, wird heute nur noch als Tugend der Verschwiegenheit bewahrt.
Die dritte Stufe
Das Symbol: ,,Das Hexagramm" aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken. Das weiße Dreieck zeigt gen Himmel, das schwarze zur Erde. Bei der Gründung der ersten Großloge der Welt, 1717, gab es noch keinen Meistergrad in unserem rituellen Sinne. Der Meister war der
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Vorsitzende der Bauhütte (Lodge), also in alten Zeiten der Baumeister.
Erst um 1730 wurde, wie wir aus der Geschichte wissen, von dieser
ersten Großloge von „London und Westminster" das Meisterritual
von der Großloge von York übernommen, die ihrerseits dieses Ritual
sehr wahrscheinlich aus dem katholischen Schottland erhalten hatte.
Nach dem Alten Testament wurde der erste, dem „Einen Gott" geweihte
Tempel von König Salomo in Jerusalem durch seinen Baumeister Hiram
Abif erbaut. Man nennt ihn deshalb den „Salomonischen Tempel". In der
Freimaurerei erkennen wir ihn symbolisch als „Tempelbau der
Menschheit", an dem jeder nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten
soll, damit der Bau gefördert werde. Da dieser Tempel dem „Einen Gott"
geweiht ist, von dem „alles war, alles ist und alles sein wird", verehren ihn
die Freimaurer weltweit in ihren Ritualen als den „Großen Baumeister
aller Welten" und symbolisieren ihn im Zeichen des „Logos".
Nach der Legende besaß Meister Hiram als einziger den Zugang zum
,,Allerheiligsten", wo sich ihm das „Königliche Geheimnis" offenbarte.
Dieses intime Wissen um das sogenannte Geheimnis ist erforderlich,
um den „ Tempelbau der Menschheit" in den Herzen aller Menschen
dieser Erde zu verwirklichen.
Drei böse Gesellen, welche die rechte Zeit bis zu ihrer Meisterschaft
nicht abwarten wollten, lauerten Meister Hiram auf, um von ihm unter
Androhung von Gewalt das Geheimnis zu erpressen. Hiram aber blieb
standhaft und erlitt in Angesicht seiner Pflichterfüllung eher den Tod, als
das Geheimnis zu verraten. Mit ihm ging das „Heilige Wort" verloren.
In seiner dritten Initiation folgt der Freimaurer-Geselle dem Beispiel
Hirams. Auf seiner Wanderung zur Meisterschaft wird er also mit dem
Tode konfrontiert und aufgefordert, lieber sein Leben zu opfern, als seine guten Vorsätze, seine Pflichten zu verraten. Auf Anweisung von König
Salomo haben sich nach der Legende die getreuen Gesellen zu ihrer
Meistererhebung ein Ersatzwort gegeben, damit der Bau gefördert werde.
Als Anmerkung ist sicher von Interesse, daß in den beiden vorange
gangenen Graden der Lehrlinge und Gesellen die Arbeitstafel den
Grundriß des Salomonischen Tempels zeigt. In ihm sind auch die drei
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Tore im Westen, Norden und Süden enthalten, wo die drei bösen
Gesellen Hiram Abif das Meisterwort abtrotzen wollten. Natürlich ist
dieser Grundriß auch erst nachträglich in die Arbeitstafel der ersten
Großloge von 1717 aufgenommen worden, als sie das Meisterritual
übernahmen. Bis dahin wurden nur die Werkzeuge der Steinmetze
anläßlich ihrer Zusammenkünfte mit Kreide auf den Boden ihres
Versammlungsraumes gezeichnet. Diese Werkzeuge dienten den
Lehrlingen und Gesellen als Symbole erstrebenswerter Tugenden ihrer
Arbeit und ihres Verhaltens in der Zunft.
Bei uns in Deutschland wird anstelle der im englischen Ritual üblichen
Arbeitstafel ein Teppich mit den Werkzeugen aufgeschlagen oder
durch Auflegen der Werkzeuge zur Arbeitstafel gewandelt.
Die historische Entwicklung
Eigensinnig, also typisch menschlich, wie man auch unter Freimaurern
sein kann, entschieden sich die inzwischen zur „ Großloge von
England" avancierten Londoner Brüder, es bei diesen „drei Graden" zu
belassen. Von der Geburt über die Eingliederung in die menschliche
Gesellschaft bis zum Tod sei in diesen drei Graden alles enthalten, was
ein Mensch zu seiner Vervollkommnung benötigt. Diese Eigenwilligkeit
haben unsere englischen Brüder bis 1813 durchgehalten.
Ob sie nun die Französische Revolution oder der glorreiche Sieg über
Napoleon zu neuer Einsicht gebracht haben, sei dahingestellt. Sicher
war das Ende der unseligen „Strikten Observanz" in Mittel-Europa
und die sich vorwiegend in Skandinavien ausbreitende Christiani
sierung der Freimaurerei mit ihren Hochgraden von Einfluß, so daß
sich die Großloge von England und die von York zur „United
Grandlodge of England" (UGLoE) zusammengeschlossen haben. Tat
sache ist jedenfalls, daß die Großloge von York nur zur Vereinigung
bereit war, wenn die Großloge von England die vierte Initiation als
Basis der Gemeinsamkeit anerkannte. Gemeint ist damit der zweite
Teil oder die Pointe der Hirams-Legende.
Bei der humanitär freimaurerischen Ritualistik geht es nicht allein um
den rechten Weg zwischen Geburt und Tod, sondern um die vom Geist
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bestimmte Vervollkommnung des Menschen als Gesetz der Evolution. Mit dem Tod endet also nicht das menschliche Sein, sondern es wird bestimmt von der fortschreitenden Vervollkommnung des Menschen. Als Freimaurer sprechen wir davon, daß sich der verstorbene Bruder im „ Übergang zum Ewigen Osten" befindet. Für uns ist die Seele des Menschen unsterblich, gemeint ist die „Geistseele", denn der Geist ist jene „göttliche Energie", die wie jede andere Energieart nur in einen anderen Energiezustand übergehen kann. Entsprechend bedeutend ist die Suche nach dem „ Verlorenen Wort".
Die Situation in Deutschland
Zum besseren Verständnis muß an dieser Stelle wiederholt werden, daß wir uns in Deutschland mit der Antwort auf die Suche nach dem ,,Verlorenen Wort" im 18. und 19. Jahrhundert sehr schwer getan haben. Die tonangebenden preußischen Großlogen, die etwa zwei Drittel der Mitglieder ausmachten, hatten ihre christlichen Systeme und damit ihre eigene Antwort. Die humanitären Großlogen, besonders die „Schröderlogen" übten konsequente Abstinenz gegenüber den vertiefenden Graden und leiden bis heute noch unter dem Schock der Strikten Observanz,
obwohl der A:.A:.S:.R:. nichts mit diesem System zu tun hatte.
In allen Teilen der Welt hatte sich der „Schottische Ritus" seit 1801, der Gründung des ersten „Obersten Rates" in Charleston, USA, ausgebreitet, nur nicht in Deutschland. Das hat sicher auch etwas mit der nationalkonservativen Einstellung der deutschen Freimaurer im 19. Jahrhundert und erst recht nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu tun. So dauerte es bis 1930, bis unter dem Protest und der strikten Ablehnung, ja sogar Feindschaft der etablierten Großlogen, der Schottische Ritus in Deutschland das „Licht" erhielt. 1933 war bereits Schluß mit diesem Ritus, bevor er sich zu seiner heutigen Stärke entfalten konnte. Wie ich bereits ausführte, haben sich die meisten Großlogen nach dem Zweiten Weltkrieg, einschließlich der ehemals verfemten Symbolischen Großloge, die mit dem A:.A:.S:.R:. verbunden war, zu einer „Vereinigten Großloge von Deutschland" zusammengefunden. Dieser Zusammenschluß schaffte erst die Voraussetzung für die Akzeptanz und weitgehend ungehinderte Verbreitung des Schottischen Ritus in Westdeutschland.
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Offensichtlich hatten die wenigen Freimaurer, die das Naziregime überlebt hatten, aus der leidvollen Geschichte unseres Volkes gelernt. Deshalb können wir erst von einer legalisierten Tradition durch ein Konkordat mit unserer humanitären Großloge seit Juni 1963 sprechen. Der Deutsche Oberste Rat des A:.A:.S:.R:. hatte durch seine internationalen Verbindungen wesentlichen Anteil an der Anerkennung unserer Großloge in Europa und Übersee, besonders in den USA.
Zur Ritualistik des A:.A:.S:.R:.
Verständlicherweise hatten unsere Altvorderen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufbau unserer Organisation mehr zu tun, als sich mit Ritualfragen zu befassen. Auch mag es eine Rolle gespielt haben, daß wir schon bei unseren unmittelbaren Nachbarn in der Schweiz und den Niederlanden nicht von einer einheitlichen und vor allen Dingen inhaltlichen Gradfolge der Rituale ausgehen konnten, so daß erst der eigene Weg gefunden werden mußte. In diesen beiden Ländern ist es auch heute noch möglich, als Freimaurer-Meister gleich in das Kapitel aufgenommen zu werden. Das geht auf alte Traditionen und eine stärker christliche Ausrichtung dieser Kapitel zurück.
Bei uns hatte man 1972 mit dem zweiten Entwurf für ein Ritual des 14. Grades versucht, die Lücken zu schließen. Dieser Entwurf warbereits 1988 überholt. In diesem wurde der 13. Grad des „RoyalArch" stärker hervorgehoben. Leider fehlte noch der Mut, ihn konsequent in den Mittelpunkt der Perfektionsloge zu stellen und mit dem14. Grad des „erhabenen und vollkommenen Maurers vomKöniglichen Gewölbe" abzuschließen. Immerhin ist diese Ritualistikbei unseren englischen Freunden, auf die wir uns so gerne berufen,spätestens seit 1813 üblich.
Der Schottische Ritus ist seit dem 19. Jahrhundert das am weitesten verbreitete Hochgradsystem der Welt mit mehr als einer Million Mitgliedern. Bis auf wenige Ausnahmen besteht der Grundsatz, daß sowohl die Großloge als auch der Oberste Rat des betreffenden Staates „souverän" sind. Diese voneinander unabhängigen Körperschaften sind durch ein schon erwähntes „Konkordat" miteinander verbunden.
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Die Aufnahme in den Schottischen Ritus
Das ist der Grund, warum am Anfang eine Aufnahme des FreimaurerMeisters in den A:.A:.S:.R:. erfolgen muß. Hierbei handelt es sich nicht um eine weitere Initiation, sondern um ein Aufnahmeritual, in dem er noch einmal auf seine Pflichten als Freimaurer-Meister hingewiesen wird und zusätzlich auf neue Pflichten gegenüber dem Obersten Rat des A:.A:.S:.R: ..
Zu seiner Aufnahme als „Geheimer Meister" wird er mit Lorbeer und Ölzweig als Lohn für erfolgreiche Arbeit und dem Sinnbild des Friedens gekrönt. Bekleidet wird er mit einem blau-schwarzen Band, an dem der „Beinerne Schlüssel" befestigt ist, dem Passepartout zum Allerheiligsten des Salomonischen Tempels, denn er ist auf der Suche nach dem Verlorenen Wort. Das ist eine würdige Aufnahme, die ihm den Weg zu seiner weiteren Vervollkommnung aufzeigt. Der Spannungsbogen ist also zu seiner bevorstehenden Initiation bereitet.
Nur als Anmerkung: Die Übersetzung des „secret master" bedeutet nicht „geheim", sondern sinngemäß „ verschwiegen". Ich bin schweigsam und betroffen durch die Ermordung von Meister Hiram, aber voll Vertrauen zu meinen Brüdern, die mir helfen werden, das Verlorene Wort wiederzufinden.
Die vierte Stufe
Das Symbol: ,,Der Beinerne Schlüssel zum Allerheiligsten".
Das Tal des Jammers ist durchschritten, der Tränen sind genug geflossen. Wir betreten einen lichten Tempel voller Hoffnung. Als Legende dienen die Zwischengrade 5 bis 12. Auf meiner Wanderung werde ich auf meine Pflichten hingewiesen und auf das große Ereignis der „Erleuchtung" vorbereitet. Mit dem rechten Arm auf meinen Vordermann gestützt, in der linken Hand die Fackel, begegne ich der heiligen Zahl „9" (3 x 3 ), denn ich steige neun Stufen hinab in die Vergangenheit des Seins. Jetzt brauche ich meinen Schlüssel, um mir Zutritt zum Allerheiligsten zu verschaffen. Ich betrete das „Königliche
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Gewölbe" und finde das Symbol des Menschen. In ihm erkenne ich, warum ich zur Verschwiegenheit aufgefordert wurde.
Im übertragenen Sinne erkenne ich mich selbst, denn in der vierten Initiation werde ich durch den „Logos" darauf hingewiesen, daß ich ein geistbeseeltes Wesen bin. Das erst macht mich zum Menschen. Ihm verdanke ich meinen Geist als einzigem Wesen in dem mir zugänglichen Universum. Nach meinem Empfinden ist dieses initiatorische Erlebnis das Tiefsinnigste und auch das Äußerste, was Freimaurerei vermitteln kann. Alles andere wie Ethik, Moral, Pflicht, also menschliches Verhalten schlechthin, leitet sich von und aus dieser Erkenntnis ab.
Die Hiram-Legende wird in den verschiedenen freimaurerischen Systemen unterschiedlich vermittelt, aber in der Kernaussage stimmen
sie alle überein. Ich betrachte es deshalb als einen großen Verlust, wenn einem Freimaurer-Meister dieser rituelle Schritt vorenthalten wird. Erst
mit dieser „Perfektion", sprich Vervollkommnung, hat die Hiram
Legende ihren Abschluß gefunden. Gleichzeitig ist damit die Vermittlung der „Individualethik" abgeschlossen und ein neues Kapitel der „Sozialethik" wird in der humanitären Freimaurerei aufgeschlagen.
Die Erkenntnisstufen der freimaurerischen Sozialethik
Die drei folgenden Erkenntnisstufen werden auch die „philosophischen Grade" genannt. Sie beinhalten das soziale Verhalten des
Menschen in der Gesellschaft. Von vielen Freimaurern werden diese Grade als die intellektuell anspruchsvollsten angesehen, ohne damit die Einweihung im „Königlichen Gewölbe" in seiner überragenden Bedeutung abwerten zu wollen. Das hat auch historische Gründe, wie in der bereits erwähnten englischen Tradition, in welcher der Royal Arch de facto zur „blauen Maurerei" gehört. In Frankreich war bereits Mitte des 18. Jahrhunderts der direkte Einstieg in das Kapitel üblich, was sich vereinzelt noch bis heute erhalten hat.
Der wesentliche Unterschied, ja, ich bin geneigt, von einem Einschnitt zu sprechen, ist der Rollenwechsel zum „Rittertum". Auch hier müssen wir die Ursprünge in der Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts
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suchen. Das aufstrebende Besitz- und Bildungsbürgertum fühlte sich in seiner sozialen Aufwertung als „Ritter" besonders angesprochen. Heute, im 21. Jahrhundert, hat diese soziale Komponente keine Bedeutung mehr, so daß „ritterliches" Verhalten als eine Tugend angesehen wird, wie wir sie aus der Romantik kennen und sie uns beispielsweise als „Ritter im Straßenverkehr" begegnet. Die Worte „Ritter" oder „ritterlich" haben also eine ganz andere Wertigkeit erhalten, die in unseren folgenden Ritualen moralisch verpflichtend nachempfunden werden. Sie könnten natürlich auch durch die mehr freimaurerischen Begriffe „Meister" oder „meisterlich" ausgetauscht werden, aber da sie seit zwei Jahrhunderten rituell üblich sind, sieht man schon aus Tradition keine Veranlassung, eine Änderung vorzunehmen.
Die fünfte Stufe
Das Symbol: ,,Das rosengeschmückte Kreuz" .
Ähnlich, wie die Perfektionsgrade 5 bis 12 nur in einer Legende erwähnt werden, bilden im Kapitel die Grade 15 und 16 den historischen Übergang von der Hiramslegende des Alten Testaments zur mittelalterlichen Zeit der Kreuzzüge. Jene Ritter, die ausgezogen waren, um den wahren Glauben zu schützen und ihn gegen die Ungläubigen zu verteidigen, mußten sehr bald einsehen, daß auch heilige Kriege im Zeichen des Kreuzes Verbrechen gegen die Menschheit sind. Aus der Erkenntnis, daß Unwissenheit und Irrtum einen verhängnisvollen Einfluß auf das Schicksal der Menschheit ausüben, gelobten sie im 17. Grad als „Ritter von Osten und Westen", dem reinen Licht und der Wahrheit zuzustreben, die Schwachen zu schützen, die Freiheit des Glaubens zu verteidigen und alle Menschen mit der. gleichen Liebe zu umfassen. Sie folgen dem Licht, das in ihnen leuchtet. Nirgendwo sonst wird die Nächstenliebe in den Ritualen der humanitären Freimaurerei so beeindruckend vermittelt wie in dieser fünften Initiation zum edlen „Ritter vom Rosenkreuz".
Die Suche nach dem Verlorenen Wort beschäftigt uns das ganze Leben. Es ist die Frage nach dem Sinn des Lebens schlechthin. Jeder kann sie nur für sich selbst beantworten. Rituale mit initiatorischem Charakter
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setzen gena� dort an, wo das Geistige im Menschen aktiviert wird. Eine Initiation kann man nicht „ verraten" und auch nicht anlesen, denn sie ist ein Erlebnisvorgang in der Gemeinschaft der Brüder, der Gemüt und Geist gleichermaßen aktiviert. Erst durch die wiederholte Teilnahme an derartigen Arbeiten vertieft sich die Einsicht in die Notwendigkeit, seinen Lebensweg nach den Idealen der Freimaurerei auszurichten. Aktive Mitarbeit ist dafür die unabdingbare Voraussetzung.
Die sechste Stufe
Das Symbol: ,,Die siebenstufige Leiter".
Als Ritter vom Rosenkreuz, die dem Licht der Nächstenliebe folgen, werden sie mit dem Dunkel menschlicher Wirklichkeit, dem Mißbrauch der Macht und des Rechts konfrontiert. Die Grade des Areopags verdeutlichen deshalb, daß Menschenwürde nur dann gewahrt werden kann, wenn die ungeschriebenen Gesetze der gesellschaftlichen Ordnung und der Gleichheit aller Menschen gewahrt werden.
Wie bei den vorangegangenen Initiationen werden die Zwischengrade 19 bis 28 nur in Form einer Vertiefung ihrer neu zu übernehmenden Pflichten behandelt, um in den 29. Grad der „ Groß-Schotten vom Heiligen Andreas" erhoben zu werden. Zusammengefaßt beinhaltet diese Erkenntnisstufe: Streng nach den Gesetzen der Logik zu handeln, der Wahrheit zu dienen, die Tugenden zu fördern und für das Recht zu kämpfen.
In einer Legende werden die Ritter vom Rosenkreuz mit einer freimaurerischen Betrachtung des Ordens der Templer in die Zeit des frühen Mittelalters versetzt. Während ihrer zweihundertjährigen Geschichte konnte es nicht ausbleiben, daß die Templer mit der Kultur und der Religion des Orients in Berührung kamen. Aus dieser neuen Erkenntnis gründete ein Teil von ihnen die Schule der „Ritter Kadosch", um die Weite des Geistes in sich aufzunehmen. Als Bekenner der Freiheit und Wahrheit gelobten sie, gegen Aberglauben und Fanatismus mit den Waffen des Geistes zu kämpfen und sich durch Verbreitung ethischer Grundsätze für echte Bildung einzusetzen.
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So stürzen unsere Ritter vom Rosenkreuz die Säulen des alten Tempels, um über ihre Trümmer hinweg in eine neue, strahlende
Zukunft zu schreiten. Sie sind somit bestens auf ihre sechste Initiation
vorbereitet. Im uralten Symbol der siebenstufigen „Mystischen Leiter"
erschließt sich ihnen das antike Wissen der Menschheit.
Im Unterschied zur christlichen „Jakobsleiter" steigen sie nach Erreichen des Zenits auf den sieben Stufen der menschlichen Tugenden wieder in die irdische Wirklichkeit zurück. Sie werden sich somit erneut ihrer Verantwortung als Freimaurer gegenüber der Gesellschaft, in der sie wirken, bewußt.
Sie werden jeglicher Form der Diktatur entschieden entgegentreten und
für die Freiheit des Geistes, des Glaubens und des Gewissens kämpfen.
Die siebente Stufe
Das Symbol: ,,Die Krypta".
So verlassen wir dieses Zeitalter in der Entwicklungsgeschichte
abendländischer Kultur. Die mittelalterliche Zeit der edlen Ritter
vom Rosenkreuz und der Ritter Kadosch lassen wir hinter uns. Wir gehen über zur Epoche der Aufklärung. Jener Aufbruch der geistigen Eliten, in der die Fesseln klerikaler und staatlicher Unfreiheit mit selbstaufopfernder Bereitschaft abgeschüttelt wurden.
Ein leuchtendes Fanal ist 1600 die Verbrennung von Giordano Bruno
in Rom. Dieser katholische Priester aus Neapel hat es nach sieben
jähriger Kerkerhaft vorgezogen, lieber auf dem Scheiterhaufen qual
voll zu sterben, als seiner Erkenntnis von dem allumfassenden Gott abzuschwören.
Im erhabenen „Konsistorium" der „Meister des Königlichen Geheimnisses" treffen sie auf jenen Großrichter, der nach sorgfältiger Prüfung bereit ist, sie in den 31. Grad des Schottischen Ritus zu „ Groß -
Richtern" zu erheben. Sie verpflichten sich, der Gerechtigkeit im pro
fanen wie im freimaurerischen Leben zu dienen. Damit erhalten sie zwar keine Befugnis zur Rechtsprechung, sind jedoch dazu befähigt, in derartige Ämter berufen zu werden.
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Auf ihrer langen Wanderung durch die Menschheitsgeschichte nähern
sich die Groß-Richter ihrem ersehnten Ziel. Sie treten ein in den
strahlenden Tempel vom „Königlichen Geheimnis". Natürlich han
delt es sich nicht um ein Geheimnis, das gleich den vorangegangenen
Einweihungen verschwiegen werden soll, sondern um ein Geheimnis,
das erlebt und verinnerlicht werden muß. Dieses Geheimnis ist im
Menschen verborgen und entzieht sich daher der Mitteilung, denn es
gibt keine zwei Geheimnisse, die dieselben sind, weil jeder Mensch
seine Initiation individuell aufnimmt und verarbeitet.
Vor dem geistigen Auge der Brüder Groß-Richter vollzieht sich noch
einmal der weite Weg vom Vieleck der Unvollkommenheit zum Kreis
der Vollkommenheit. Es war ein weiter Weg innerer Wandlung, um
das Ideal der Freimaurerei, das „Heilige Reich" zu errichten, in dem
alle Menschen „Schwestern und Brüder" sind. Dazu bedarf es der
siebenten und letzten Initiation.
Im Symbol der Krypta begegnen sie jenen geistigen Größen in der
Geschichte der Menschheit, die Richtung und Ziel zu einem Höheren
Sein vorlebten und vorgaben.
Damit schließt sich der Kreis freimaurerischer Erkenntnis. Der 33. und
letzte Grad des Schottischen Ritus enthält keine weitere Initiation. In ihm
wird noch einmal der Weg vom Lehrling zum Meister des Königlichen
Geheimnisses als Einheit humanitärer Freimaurerei nachvollzogen. Die
Aufgaben des „Obersten Rates" bestehen in der Verwaltung des Ordens,
der Einhaltung der Gesetze und Rituale. Sie sind die Grundlage für die
Anerkennung durch die Obersten Räte der Welt, die „souverän", also
voneinander unabhängig sind, aber rituell das gleiche Ziel verfolgen.
Noch einmal zum Thema „Arkanum"
in der freimaurerischen Esoterik
Der äußere Rahmen einer rituellen Handlung ist kein Geheimnis, das
die humanitäre Freimaurerei vor Außenstehenden schützen müßte,
abgesehen von der Tatsache, daß jedem Interessierten eine über
Jahrhunderte gewachsene Bibliothek zur Verfügung steht.
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Der wesentliche Unterschied zu diesen „historischen" Darstellungen
liegt darin, daß sie nicht die Entwicklung des gesellschaftlichen
Umfeldes, der Sprache und des Sprachverständnisses berücksichtigen.
Das führt nicht nur zu einer falschen Einstellung zur freimaurerischen
Ritualistik, wie alte Kupferstiche aus dem 18. Jahrhundert demon
strieren, sondern sogar zu der für uns unerwünschten Unterstellung,
wir wären in der geistigen Welt der durchaus ehrenvollen
Vergangenheit unserer Väter stehengeblieben.
In der humanitären Freimaurerei geht es also nicht vordergründig um
eine theatralische Handlung, die den Initianden als solches beein
drucken soll, sondern um geistige Inhalte. Wer das nicht begreift, dem
geht ohnehin das „Geheimnis" einer inneren, einer geistigen
Wandlung verloren. Der Mensch ist nun einmal ein geistiges Wesen,
das der ständig fortschreitenden Evolution unterliegt, auch wenn wir
mit der Momentaufnahme unseres irdischen Daseins diese
Entwicklung nur aus der geschichlichen Entfaltung des menschlichen
Seins nachvollziehen können. Deshalb erscheint es mir dringend gebo
ten, daß wir allen intellektuell interessierten Menschen den humanitär
freimaurerischen Weg einer geistigen Vervollkommnung aufzeigen,
zumal unsere Zeit ohnehin sehr arm an geistigen Inhalten ist, an denen
sich ein verantwortungsbewußter Mensch orientieren könnte. Wer
allerdings glaubt, daß er mit seiner Aufnahme in die Freimaurerei die
„Erleuchtung" im Schnellverfahren erleben könne, der irrt sich. Zu
dem mühsamen Weg einer inneren, geistigen Entwicklung des
Menschen gehören Beständigkeit und Demut.
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Der deutsche Zweig des Schottischen Ritus
Br:. Thomas Richert, 33°
Die Vorgeschichte
Das freimaurerische Gradsystem entwickelte sich
rasch nach der organisatorischen Festigung der
ersten Großloge. Schon zwischen 1723 und 1738
schob sich zwischen die beiden ersten Grade ein
anderer, so daß ein Dreigradsystem entstand, in dem der Meistergrad den
des Gesellen aufnahm und erweiterte, während der neue Gesellengrad
eher inhaltsschwach blieb. Um 1740 finden wir dann sowohl in England
wie in Frankreich Ergänzungen zum Meistergrad, die bald in viele
Systeme mit unterschiedlichen Zahlen von Graden ausgeformt wurden
und sich auch auf dem europäischen Kontinent verbreiteten. Hier wurde
bis 1782 die Strikte Observanz das dominierende Hochgradsystem, das
von sich behauptete, die Fortsetzung des Templerordens zu sein. Es schei
terte schließlich an seinen inneren Widersprüchen.
Die Entwicklung blieb nicht auf Europa beschränkt, sondern erfaßte
nach und nach auch die Kolonien. So dehnte sich der französische
Perfektionsritus bald in die Karibik aus, vom französischen Haiti und
Santo Domingo ins englische Jamaika. Dort wurde er durch Grade
ergänzt, die sowohl in London wie in der nordenglischen Grand
Lodge South of the River Trent ihre Heimat hatten. Zwischen 1771
und 1783 formte sich so ein 25-gradiges System aus, das auf den nord
amerikanischen Kontinent übersprang.
Aus diesen Wurzeln und mit der Ergänzung durch weitere acht Grade
entstand 1801 in Charleston in Süd-Carolina der erste Oberste Rat
des 33. Grades für die Vereinigten Staaten. Mit seinem Motto Ordo ab
Chao wollte er zeigen, daß aus dem Wirrwar der verschiedensten
Hochgradsysteme durch Zusammenfassung ein einziges werden sollte.
In der Konstitution dieses neuen Systems griff man auf die Autorität
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Friedrichs II. von Preußen zurück, der als Freimaurer und Freund der USA dort beliebt war. Man erklärte ihn zum Großkommandeur und
behauptete, er hätte 1786 diese Bestimmungen erlassen. Die Forschung
hat dies alles längst als Legende entlarvt. Das neue 33-Grad-System wurde in den USA bald so populär, daß 1813 ein weiterer Oberster Rat in New York gegründet wurde, der der Nördlichen Jurisdiktion. Der OR in Charleston, der später nach Washington, D. C. umzog, nannte sich dann Südliche Jurisdiktion.
Während der Periode der Französischen Revolution waren Sklaven
aufstände in den französischen Kolonien ausgebrochen. Daher flüch
teten französische Brüder aus Santo Domingo und Haiti nach
Charleston, die dem ehemals gemeinsamen 25-Grad-System angehört hatten. Einige von ihnen wurden in diesen Obersten Rat aufgenom
men und nahmen ihn mit zurück nach Frankreich. Dort errichteten sie 1804 den ersten Obersten Rat in Europa und nannten ihn Schottischer
Alter Angenommener Ritus.
So schnell und umfangreich sich der AASR im 19. Jahrhundert in Nordamerika entwickelte, so schwerfällig ging seine Ausbreitung in Europa
vonstatten. Ein Grund dafür war, daß Napoleon versucht hatte, die fran
zösische Freimaurerei unter Führung der Hochgrade zu vereinen und seinen politischen Zwecken dienstbar zu machen. Erst nach Überwindung der Restaurationszeit begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts der erneu
te Aufstieg des Schottischen Ritus im romanischen Sprachgebiet. Nach
Mitteleuropa stieß der AASR - bis auf die Schweiz 1873 und einen anscheinend kurzlebigen ungarischen Obersten Rat um die gleiche Zeit -sogar erst im 20. Jahrhundert vor: 1912 in die Niederlande, 1923 nach
Polen und in die Tschechoslowakei, 1925 nach Österreich.
Ein wesentlicher Grund war, daß bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Mitteleuropa nur von drei Staaten beherrscht war: Rußland, dem Habsburgerreich, also Österreich-Ungarn, und dem Deutschen Reich. Nur im ungarischen Teil der Habsburger Monarchie und im Deutschen Reich war die Freimaurerei erlaubt, nicht jedoch in Russland und Öster
reich. Im Reich gab es eine Dominanz der Altpreussischen Großlogen mit ihren christlichen Hochgradsystemen, die auf eine lange Tradition
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zurückblicken konnten. Die kleineren humanitären Großlogen waren
dagegen noch von der inneren Ablehnung der Strikten Observanz
geprägt, die sie in der Reformzeit um 1800 zu einer Beschränkung auf die
drei blauen Grade veranlaßt hatte. Für einen Neuankömmling 1m
Hochgradbereich war das eine schwierige Ausgangslage.
So wie die Vereinigte Großloge von England sich als Muttergroßloge
aller Symbolischen Großlogen versteht, so sieht sich der Oberste Rat
von Charleston, heute die Südliche Jurisdiktion der USA, als Mutter
Oberster- Rat für den weltweiten Schottischen Ritus. Und so, wie die
Alten Pflichten als Grundlage der blauen Grade angesehen werden, ver
binden die Großen Konstitutionen von 1786 die Obersten Räte.
Der internationale Zusammenhalt bildete sich allerdings erst im Laufe
der Jahre heraus. Im September 1875 trafen sich auf Initiative des
Obersten Rates der Schweiz in Lausanne die Obersten Räte von England,
Belgien, Cuba, Frankreich, Ungarn, Italien, Peru und Portugal. Sie
beschlossen einen Konföderationsvertrag und legten einen neuen
Wortlaut der Großen Konstitutionen von 1786 fest, in dem sie auf den
Bezug zu Preußen und zu Friedrich II. als angeblichem Stifter verzichte
ten. Weiter formulierten sie eine Deklaration der Prinzipien und einigten
sich auf einen Tuileur der 33 Grade, in dem die wesentlichen rituellen
Elemente festgelegt wurden. Diese Konvention von Lausanne wurde von
den europäischen Obersten Räten bis 1970 als verbindlich angesehen.
1877 hatte sich allerdings unter Führung der Südlichen Jurisdiktion in
Edinburg ein Kongreß der Vereinigten Obersten Räte getroffen, der
Irland, Schottland, Mittelamerika und Griechenland zu einer Liga als
Gegengründung zu Lausanne verband. In Kontinentaleuropa blieb
dies jedoch lange Jahre unbeachtet.
Die Vorbereitungen in Deutschland bis 1929
Einen ersten offiziellen Versuch zur Einführung des Ritus in Deutsch
land machte der belgische Großkommandeur Goblet d'Alviella 1907,
als er im Auftrag der Internationalen Konferenz in Brüssel an die
Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth schrieb. Da der Deutsche
Großlogenbund diesen Vorstoß 1908 negativ beschied, war man auf der
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nächsten Internationalen Konferenz, 1912 in Washington, der Ansicht,
eine Einführung des Ritus in Deutschland sei einstweilen aussichtslos.
Vermutlich wußte man nicht, daß mit dem gleichen Namen eines
Obersten Rates des Schottischen Ritus Theodor Reuß zwischen 1904
und 1911 sein Unwesen in Deutschland trieb, was die Situation
sowohl für den Großlogenbund als auch für Goblet nicht erleichterte.
Aus diesem Kreis war es dann doch ein Br:., Adrianyi-Pontet aus
Nürnberg, der ein Verbindungsglied wurde, nachdem er der Großen
Landesloge beigetreten war. Der Oberste Rat von Italien hatte vor
1914 heimlich ein Kapitel in Wien errichtet, in das er aufgenommen
wurde. Für diesen Obersten Rat hat er dann in den 20er Jahren bei der
Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth gewirkt, indem er einige Brüder in
den Schottischen Ritus aufnahm. Er gründete allerdings mit ihnen kein
Atelier, sondern beließ es bei der persönlichen Graderteilung.
Bei der Internationalen Tagung von 1922 in Lausanne erklärte der
Oberste Rat der Niederlande, er würde die Frage Deutschlands weiter
im Auge behalten. Da die deutschen Großlogen aber alle brüderlichen
Beziehungen zum Ausland abgebrochen hatten, schien das zunächst
nicht sehr aussichtsreich. Andere Entwicklungen außerhalb der regu
lären Logen offerierten aber scheinbar neue Möglichkeiten.
Mit dem Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne (FZAS) hatte sich in
Nürnberg 1907 eine Organisation gebildet, die sich als Reform
freimaurerei verstand. Auf monistischer und pazifistischer Grundlage
stehend, wollte dieser Zusammenschluß nichts mit den „Altlogen"
genannten Freimaurern zu tun haben, die ihn wiederum nicht als regu
lär anerkannten. Er entwickelte sich dennoch rasch zu einem mehrere
Tausend Mitglieder umfassenden Bund, der sich um Kontakte ins
benachbarte Ausland bemühte. Dazu wurden sogenannte Freimaure
rische Friedensmanifestationen veranstaltet, die zu Begegnungsstätten
insbesondere mit französischen Freimaurern wurden. FZAS-Mitglieder bekamen auf diese Weise auch Gelegenheit, in die Hochgrade
des französischen AASR aufgenommen zu werden.
Eine weitere Organisation, die außerhalb der regulären Großkörper
schaften stand, aber ihrerseits - nach einer Phase der Unsicherheit -
nur reguläre Freimaurer aufnahm, war die Universelle Freimaurer-
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Liga.(UFL). Sie ging aus der Esperanto-Bewegung hervor und bemühte sich, eine Ebene der brüderlichen Begegnung für alle Freimaurer darzubieten. Auch sie veranstaltete Kongresse mit internationaler
Beteiligung. Führend in der frühen UFL waren die Brr. Lennhoff, Dop
und Uhlmann, die gleichzeitig wichtige Positionen in den Obersten Räten von Österreich, den Niederlanden und der Schweiz hatten.
Spätestens seit 1925 mischten sich die Aktivitäten insoweit, daß UFL' FZAS- und Ritus-Brüder sich immer häufiger begegneten und dabei Verbindungen knüpften, die zu neuen Konstellationen führten. Die französischen Aufnahmen von Mitgliedern aus dem FZAS schufen in Deutschland ein Potential, aus dem 1929 Kapitel in München,
Stuttgart und Mannheim gebildet wurden, die dem Französischen Obersten Rat unterstanden. Der Verbindungsmann als Beauftragter des Obersten Rates war das FZAS-Mitglied Sigismundo Neuman aus Zürich. Zudem gab es in der Tschechoslowakei wohnende FZASBrüder, die er gleichfalls nach Paris vermittelte. Einer davon war Richard Epstein aus Prag. Der Tschechische Oberste Rat erhob gegen
Neumans Aktivitäten, die gegen das Sprengelrecht verstießen, 1931 massiven Einspruch bei Großkommandeur Raymond in Paris.
Der OR von Frankreich war aber nicht nur in Deutschland und der Tschechoslowakei aktiv, sondern gründete 1930 auch ein Kapitel und einen Areopag in Dänemark und beförderte Brüder in den 33. Grad. Für 1931 war geplant, mit diesen Brüdern einen schon 1927 von
Italien aus gegründeten irregulären Obersten Rat von Dänemark zu
regularisieren. Wegen der Schwierigkeiten in Deutschland und der Tschechoslowakei sah man in Paris davon dann allerdings ab. Die in der UFL aktiven Schottenbrüder wollten auch Deutschland für den Ritus erobern. Hatten schon 1926 Gespräche darüber stattgefunden, gab die Gründung einer eigenen deutschen Landesgruppe der UFL endlich die personellen Grundlagen. Hier begegnete Lennhoff den Brüdern Bing, Müffelmann und Koner, die regulären Bauhütten angehörten. Sie gingen bald nicht nur in eine Wiener Loge, sondern traten dort auch dem AASR bei und bildeten mit weiteren regulären Berliner Brüdern 1929 ein Kapitel und einen Areopag in Berlin, die dem österreichischen Obersten Rat unterstanden.
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So war die paradoxe Lage entstanden, daß es in Deutschland „italie
nische", ,,österreichische" und „französische" Ritusbrüder und unter
schiedliche Kapitel des AASR gab. Drei davon bestanden aus nicht
anerkannten FZAS-Brüdern unter französischer Jurisdiktion.
Zumindest bei der ersten Gründung in Stuttgart durch Raymond und
S. Neumann waren aber die Brr:.Lennhoff, Bing, Müffelmann und
Adrianyi anwesend. Ein Kapitel gab es mit regulären Brüdern unter
österreichischer Jurisdiktion, dazu einen Areopag. Genau diese
Situation hatte man im April 1929 auf der Internationalen Konferenz
in Paris vermeiden wollen, als die Obersten Räte der Schweiz und der
Niederlande beauftragt wurden, in Deutschland einen Obersten Rat
zu errichten.
Die Gründung des Obersten Rates für Deutschland
Großkommandeur Junod aus der Schweiz hatte zunächst die Idee, die
Aktivitäten von Br. Adrianyi-Pontet zu nutzen, der in den 20er Jahren
in den Reihen der Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth einige Brüder in
den Schottischen Ritus aufgenommen hatte, darunter Br. Bernhard
Beyer. Dies sollte nun eigentlich die Basis des neuen Obersten Rates
werden. Br. Adrianyi selbst gehörte der Großen Landesloge an, doch
als er dort um Genehmigung nachfragte, wurde sie verweigert.
Daraufhin nahm Br :.Junod Abstand von diesem Plan. Da er darauf
bestand, daß nur reguläre Freimaurer einen Obersten Rat bilden
könnten, blieb allein das Berliner Kapitel als Grundlage übrig. Es hatte
Anfang 1930 20 Mitglieder.
Am 10. Februar 1930 gründeten zehn dieser Brüder den Obersten Rat
für Deutschland in Berlin. Sie teilten die Gründung den Obersten
Räten der Niederlande und der Schweiz mit und baten um formelle
Einsetzung. Die feierliche Installation fand am Karfreitag, dem 18.
April 1930, im Tempel der Odd Fellows am Kurfürstendamm 1948/49
statt. Die Zeremonie wurde durch Großkommandeur Dop aus den
Niederlanden vollzogen. Auch der neue österreichische Großkomman
deur, Br:. Barolin, war anwesend. Der Oberste Rat für Italien wurde
durch Br :.Adrianyi vertreten.
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Großkommandeur Br :.Ede Janos Bing (1930)
E. J. Bing war ungarischer Staatsbürger. Er wurde 1894 in Budapest geboren , studierte dort Jura und Politologie und wurde 1913 zum Dr. phil. promoviert. Im Ersten Weltkrieg war
er Artillerieoffizier. In den Nachkriegsunruhen
verließ er Ungarn. Er wurde Journalist für eine
amerikanische Nachrichtenagentur und bereiste in den folgenden Jahren Europa, hatte seinen Wohnsitz aber in Berlin. Seit 1934 lebte er in der Schweiz, dann ab 1939 in den USA, deren Staatsbürger er 1942 wurde. 1949 kehrte er in die Schweiz zurück, dann nach Österreich, um schließlich 1962 in New York zu sterben.
Ende 1918 wurde er in die Budapester Loge Vilag aufgenommen und
gehörte dann lange Jahre der Großloge von Ungarn im Exil an, die in Wien ihren Sitz nahm. Mitte der 20er Jahre wurde er in der UFL aktiv, traf dabei Müffelmann und Lennhoff und trat 1928 der Wiener Loge Labor bei. Im Oktober 1929 machte ihn Lennhoff zum ersten Berliner Br:. im 33. Grad. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er in Wien wieder Kontakt zum dortigen Obersten Rat auf und half auch Br:. August
Pauls, für den Deutschen Obersten Rat Kontakte in den USA zu etablieren. Kurz vor seinem Tode ernannte ihn der Deutsche Oberste Rat
1960 zu seinem Ehrenmitglied. Seine Amtszeit als Großkommandeur umfaßte nur wenige Monate. Die erste Tätigkeit war der Beschluß einer Konstitution am 9. März 1930. Sie bezog sich auf die Regelungen des Konvents von Lausanne von 1875 und existierte nur in Maschinenschrift.
Die offizielle Anerkennung der Regularität erfolgte durch die Niederlande, die Schweiz und Österreich schon vor der feierlichen Installation. Die der Südlichen Jurisdiktion der USA blieb allerdings noch aus. Ein wichtiger Bereich war die Erweiterung der personellen Grundlagen des Obersten Rates. Großkommandeur Bing traf sich deshalb im April mit Großkommandeur Raymond in Paris und verabredete einen Weg,
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wie die deutschen Brüder des FZAS, die in Frankreich sowohl in regu
läre Logen wie in die Hochgrade des AASR aufgenommen worden
waren, in die nun bestehende deutsche Jurisdiktion übernommen wer
den könnten. Ende Mai schrieb er ihm aber sehr deutlich, daß sich der
OR an keiner Gründung einer neuen Großloge beteiligen würde. In die
sem Sinne hätte er auch die Brr :. S. Neuman und Lennhoff informiert.
Inzwischen war durch die Brüder des FZAS ein Problem aufgetaucht,
das dringend nach einer Lösung verlangte. Viele Brüder wollten den
FZAS verlassen und suchten eine neue maurerische Heimat in den
symbolischen oder blauen Graden. Die deutschen Großlogen waren
aber nur bereit, sie im schon bestehenden Organisationsrahmen - nicht
durch Neugründung einer Großloge - und nur als Neuaufnahmen zu
akzeptieren. Die durch Frankreich vorgenommenen Regularisierungen
wollte man nicht anerkennen.
Obwohl Lennhoff als österreichischer Großkommandeur Anfang 1930
zurückgetreten war und auch in der Großloge von Wien keine führende
Rolle mehr spielte, nahm er im Juli 1930 aktiv an Verhandlungen teil, in
die auch Brüder der Grande Loge de France und die Brüder Müffelmann
und Koner vom Obersten Rat für Deutschland eingebunden waren.
Am 26. und 27. Juli 1930 taten sie genau das, was Bing gegenüber
Raymond abgelehnt hatte, und gründeten hinter seinem Rücken, aber
im Namen des Obersten Rates für Deutschland, dessen Leutnant
Großkommandeur Müffelmann war, eine neue, die Symbolische
Großloge von Deutschland. Ihr Großmeister wurde Leo Müffelmann.
Als Bing davon erfuhr, erließ er am 22. August ein Rundschreiben, in
dem er jede Beteiligung des Obersten Rates bestritt und die
Neugründung als irregulär bezeichnete. In einer Sitzung des Obersten
Rates in Genf am 23. August wurde er veranlaßt, diesen Brief zu wider
rufen. Seine Stellung war damit unhaltbar geworden. Als Konsequenz
trat er am 6. September 1930 vom Amt des Großkommandeurs, ein
paar Wochen später auch als aktives Mitglied des Obersten Rates
zurück. Anfang Dezember war er nicht mehr in der Liste der Mitglieder
des OR aufgeführt, genausowenig wie Müffelmann. Mit diesem verab-
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redeten Ausscheiden der beiden Kontrahenten sollte versucht werden,
den OR aus der sich abzeichnenden Auseinandersetzung mit den deut
schen Großlogen herauszuhalten.
Großkommandeur Br.·. Gottlieb
Friedrich Reber (1929 - 1933)
G. F. Reber wurde 1880 in Deutschland geboren, verbrachte aber den Hauptteil
seines Lebens in der Schweiz. 1943 wurde er durch das Reich ausgebürgert. Er starb
1959 in Lausanne. Einen Namen hatte er
sich schon vor dem Ersten Weltkrieg als
Sammler und Händler moderner Kunst gemacht. Auf diesem Sektor
war er international so bedeutend, daß ihm zweimal eine Ehrendoktorwürde verliehen wurde.
Freimaurer wurde er 1924 in einer Münchener Loge der Großen National-Mutterloge zu den drei Weltkugeln, der er bis 1931 angehör
te. Vermutlich durch seinen Wohnsitz in der Schweiz, erhielt er Kontakt
zu Sigismundo Neuman aus Zürich, der dem FZAS angehörte und in
den 20er Jahren im Auftrag der französischen Logen eine Möglichkeit
zur Regularisierung für die Brüder suchte, die sich vom FZAS abspal
ten wollten. Schon früh wurde er in die Verhandlungen eingeschaltet und war zeitweilig als stellvertretender Großmeister der zu gründenden neuen Großloge vorgesehen. In den französischen Schottischen Ritus
wurde er 1929 aufgenommen, erhielt im Februar 1930 den 33. Grad
und wurde aktives Mitglied des Obersten Rates für Frankreich ..
Mit dem von Bing schon am 23. 8. in Genf erzwungenen Rücktritt Müffelmanns und dessen eigenem Rücktritt am 6. 9. mußten die Ämter im ORfD neu verteilt werden. Bings Nachfolger wurde Reber, der deswegen nach einem Gespräch mit Großmeister Habicht von den Drei Weltkugeln diese Großloge verlassen mußte. Nachfolger für Müffelmann wurde Fritz Bensch aus Berlin. Da Reber kaum in
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Deutschland anwesend war, fiel die Hauptarbeit auf den LeutnantGroßkommandeur Bensch. Da der neue Großkommandeur aus dem französischen Lager kam, galt es nun, die Vereinigung beider bisher getrennter Gruppen voranzutreiben. Dies umso mehr, als durch die
offenen Auseinandersetzungen um die neue Großloge die Regularitätspolitik der Berliner Gruppe gescheitert war. Wollte der OR überhaupt eine blaue Basis haben, konnte er nicht mehr auf Zulauf aus den regulären deutschen Großlogen rechnen, sondern mußte die von ihnen nicht anerkannte Symbolische Großloge als sein Mitgliederreservoir akzeptieren.
Folgerichtig vereinigte Reber im April 1931 die bisher der französischen Jurisdiktion unterstehenden 104 Brüder mit den Berlinern und erreichte
im Vorfeld dieser Entscheidung, daß Müffelmann wieder als aktives Mitglied in den ORfD aufgenommen wurde. Reber gelang es durch seine Verbindungen mit Frankreich auch, die Anerkennungen des Obersten Rates für Deutschland bis zum Ende seiner Amtszeit auf 21 zu vermehren. Allerdings schaffte er es trotz eines Besuches bei Großkommandeur Cowles von der Südlichen Jurisdiktion der USA nicht, dorthin brüderliche Beziehungen aufzunehmen. Der englischsprachige Bereich blieb
daher - anders als der französisch beeinflußte - verschlossen. Der innere Ausbau konnte durch die Übernahme der französischen Ateliers in Deutschland und durch Neugründungen auf 16 Ateliers gesteigert werden. Hatte man zunächst nur Kapitel als Grundlage gewählt, wurden seit April 1931 nach französischem Muster Perfektionslogen vorgeschaltet. Die höchsten Ateliers blieben in dieser Periode aber die Areopage mit ihrem Schweizer Ritual. Die Kapitel
hatten die österreichische Ritualfassung. Die Grade über dem 30. wurden direkt vom Obersten Rat bearbeitet.
Insgesamt blieb die Mitgliederzahl mit 209 Brüdern bis Ende 1932 jedoch bescheiden. Etwa drei Viertel von ihnen gehörten nun der Symbolischen Großloge an. Diesem Sachverhalt wurde durch ein Konkordat zwischen OR und Symbolikern vom 28. November 1931 entsprochen. Rund 18 % der Schottenbrüder allerdings waren zur Großloge von Wien übergetreten, da sie nicht auf eine reguläre blaue Basis verzichten wollten. Ein Gründungsmitglied der Berliner Ateliers, August Pauls,
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hatte sich sogar im November 1930 entschlossen, den deutschen Zweig zu verlassen und sich dem Obersten Rat für Österreich unterstellt. Die Konstitution, die sich der OR im März 1930 gegeben hatte, war provisorisch gedacht gewesen. Daher beriet man seit September 1931 über eine endgültige Fassung und traf in einer Sitzung am 31. März 1933, als sich die Symbolische Großloge (SGL) schon aufgelöst hatte, den Beschluß zum Druck. Die fertigen Stücke wurden in der Folge noch versandt. Bis zum Frühsommer 1933 haben einzelne Ateliers sogar noch gearbeitet, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Von einer Einstellung der Arbeiten war ihnen nichts bekannt.
Die Angriffe auf Logenhäuser durch die Nationalsozialisten waren anscheinend regional ganz unterschiedlich, so daß die persönliche Gefährdung von den Brüdern differenziert eingeschätzt wurde. Tatsächlich trafen sich die berliner humanitären Logen noch im April 1933, und ihre umgewandelten Vereine wurden erst im April 1935 verboten.
Im Juni 1933 war im New Age, dem Mitteilungsblatt der Südlichen Jurisdiktion der USA, zu lesen, daß der Oberste Rat für Deutschland sich aufgelöst habe. In einem Schreiben mit dem Briefkopf von Roul Koner und einer angeblichen Unterschrift von Reber wurde der Einstellungsbeschluß mit dem 31. 3. 1933 angegeben, was offensichtlich rückdatiert war. Noch im Mai 1933 war Reber in Paris als deutscher Großkommandeur aufgetreten. Danach allerdings hat er bis 1949 diesen Titel nicht mehr benutzt.
Die dunkle Zeit
Späteren Behauptungen zufolge soll am 14. Juni 1933 in Berlin eine Sitzung des OR in kleinem Kreis stattgefunden haben, bei der man sich darauf einigte, daß Koner und Müffelmann die kommissarische Leitung des Obersten Rates übernehmen sollten. Hierbei ergibt sich eine deutliche Parallele zum Vorgehen bei der Symbolischen Großloge. Inzwischen hatte Müffelmann erkannt, daß der Einstellungsbeschluß voreilig gewesen war, da die SGL zwei Logen außerhalb des Reichsgebiets hatte, in Saarbrücken und Jerusalem. Auf dieser
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Der Oberste Rat für Deutschland im Exil in Israel
Grundlage wollte Müffelmann nun eine Exilgroßloge aufbauen und
informierte Emanuel Propper in Palästina Ende Juni entsprechend. Ihn
hatte er über die UFL kennengelernt, mit ihm die erste SGL-Loge in
Palästina gegründet und ihn 1931 in den deutschen AASR geholt.
Offensichtlich dachte Müffelmann auch schon an einen Obersten Rat
im Exil. So jedenfalls äußerte er sich im September 1933 gegenüber dem
dänischen Br:. Gunnar Sjallung bei einem UFL-Treffen in Den Haag,
der zu den „französischen" 33ern gehörte. Ihm legte er eine Vollmacht
mit Datum vom 14. 6. 1933 vor und besprach die voraussichtliche
Verlegung des Exil-ORfD nach Dänemark. Müffelmann wurde kurz
danach verhaftet und kam auf diesen Plan nicht mehr zurück.
Stattdessen sollte dann Richard Epstein in Prag eine zentrale Rolle
spielen, der als FZAS- Mitglied in die französischen Hochgrade aufgenommen worden war. Durch wen er den 33. Grad erhielt, ist unklar. Bis zum März 1932 hatte er vergeblich versucht, über S. Neuman oder
Reber den französischen OR dazu zu bewegen, ihn nach 33° zu beför
dern und ein auf Mai 1930 rückdatiertes Patent zu erteilen. Jedenfalls
verschickte er am 24. Juni 1933 an verschiedene Oberste Räte
Rundbriefe mit der Meldung der Einstellung der Arbeit des ORfD. Er
bezeichnete sich selbst als Leiter der Geschäftsstelle des ORfD in Prag
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und teilte mit, daß der kommissarische Leiter des OR jetzt ein Dr. Paulus sei. Wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg, ist bis heute ungeklärt.
Über die Tätigkeit der Geschäftsstelle ist nicht viel bekannt. Spätestens im Sommer 1935 scheint sie die Tätigkeit eingestellt zu haben, nachdem sich der Oberste Rat für die Tschechoslowakei seinerseits in Rundschreiben an die befreundeten Obersten Räte massiv über die Störung seines Sprengelrechts beschwert hatte.
Die Planungen für Palästina wurden zunächst durch die Verhaftungen von Koner, Müffelmann und Bensch zwischen dem 28. August und 5. September unterbrochen. Als Exponenten einer international und pazifistisch geprägten Freimaurerei schienen sie die geeigneten Opfer für einen Schauprozeß zu sein. Die Ermittlungen ergaben allerdings keine gerichtsverwertbaren Tatsachen. Die Entlassungen der verhafteten Brüder aus dem Konzentrationslager erfolgten daher zwischen dem 16. und 26. September 1933. Eine Intervention amerikanischer Brüder scheint den Vorgang beeinflußt zu haben.
Die Gestapo war allerdings augenscheinlich unzufrieden. So erließ sie durch die Staatspolizei Hamburg am 10. Januar 1934 ein Rundschreiben, in dem sie der Freimaurerei generell vorwarf, staatsund volksfeindlich zu sein, den Tatbestand der Geheimbündelei zu erfüllen und die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften zu beschimpfen und verächtlich zu machen. Diesem Rundschreiben fügte sie die deutsche Übersetzung einer französischen Ritualsammlung des AASR von 1886 bei. Darin waren ausführlich der 4., 18. und 30. Grad abgedruckt, zudem ein Auszug aus der Ansprache im 33. Grad. Dies Material wurde durch Fußnoten kommentiert, die die Strafbarkeit beweisen und ein Verbot vorbereiten sollten. Ein generelles Verbot aller freimaurerischen Organisationen erfolgte dann am 17. August 1935 durch den Reichsminister des Inneren. Diskriminierende Bestimmungen gegen Freimaurer als Beamte und Offiziere folgten.
Auf einer Palästinareise im Frühjahr 1934 installierte Müffelmann die Symbolische Großloge von Deutschland im Exil und setzte Propper als
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Großmeister pro tempore ein. Am 23. 4. 1934 entschied Müffelmann
mit Gustav Slekow - Mitglied des ORfD und nach Palästina aus
gewandert - auch über die Zukunft des ORfD. Sie verlegten dessen
Sitz gleichfalls nach Jerusalem und setzten dort ein Kapitel und einen
Areopag ein, in die sie weitere jüdische Brüder aufnahmen.
Am 24. 4. erteilte Müffelmann allein Propper eine Generalvollmacht.
In ihr bezeichnete er sich selbst als kommissarischer Großkom
mandeur. Propper setzte seinerseits Andor Fodor - einen Ungarn - als
designierten Großkommandeur ein, der um sich einen Obersten Rat
im Exil bildete. Auf der Internationalen Konferenz von 1935 in
Brüssel wurden die Obersten Räte der Schweiz und der Tschecho
slowakei mit der Beobachtung der Entwicklung in Jerusalem beauf
tragt. Mit dem Tod von Müffelmann im August 1934 endete die
Verbindung mit Deutschland für lange Zeit. Durch Beförderungen -
die letzte am 22. 8. 1939 - erhielten Propper und Fodor die nötige
Zahl von 9 Brüdern für ihren Exil-OR.
Nach der Neubildung des Deutschen Obersten Rates in Frankfurt/
Main stellte das Exilgremium im März 1948 seine Tätigkeit ein und
erklärte sich bereit, sein Archiv nach Deutschland zu überstellen. Im
Gegenzug wurde Br:.Fodor in den DOR aufgenommen und die noch
lebenden israelischen Schattenbrüder als Mitglieder im deutschen
AASR anerkannt. Erst diese Vorgänge ermöglichten die umfassende
internationale Anerkennung des DOR ab 1951.
Die Überlebenden sammeln sich
Während der dunklen Zeit war es die Hauptaufgabe von Leutnant
Großkommandeur Fritz Bensch in Berlin gewesen, die Verbindungen
unter den Brüdern nicht ganz abreißen zu lassen. Zum Wehrdienst ein
berufen, durfte er als Hochgradfreimaurer nicht Offizier, sondern nur
Feldwebel sein. Als er nach kurzer russischer Kriegsgefangenschaft im
Juni 1945 schwer krank entlassen wurde, begann er sofort mit der
Reorganisation. Viel Zeit blieb ihm nicht, denn er starb schon im
August 1946 an einem Nierenleiden.
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Alt-Großkommandeur Bing war in den USA, Großkommandeur Reber in Italien, beide für Bensch nicht zu erreichen. Koner lebte noch in Österreich, meldete sich aber erst 1946 wieder bei ihm. AdrianyiPontet und Bernhard Beyer, August Pauls und Adolf Bünger waren die wichtigsten Kontakte von Fritz Bensch beim Versuch des Neuaufbaus. Noch kurz vor seinem Tode nahm er am 27. August 1946 August Pauls wieder in den deutschen Ritus auf, ernannte ihn zum aktiven Mitglied des OR und bat ihn, der gerade erst von Magdeburg nach Frankfurt/Main umgezogen war, die Organisation in Westdeutschland und die Zulassung bei der amerikanischen Besatzungsbehörde zu übernehmen.
Raoul Koner andererseits bat er, bei seinem Ableben kommissarisch die Leitung des Ritus als Großkommandeur zu übernehmen, auch wenn jener immer noch in Braunau wohnte. Da der jedoch von dort nicht wegkonnte, legte er nach der ersten Ratssitzung im Laufe des Junis 1947 sein kommissarisches Amt nieder, das Pauls, der schon seit September 1946 die von Bensch übertragenen Aufgaben als LeutnantGroßkommandeur wahrnahm, nun übernahm.
Obwohl die Entscheidungen von Fritz Bensch nicht durch formelle Beschlüsse einer ordentlich gebildeten Ratsversammlung bestätigt werden konnten, waren sie nach Artikel 12 der ersten gedruckten Konstitution des Obersten Rates von 1933 wirksam. In diesem Artikel wurden die Notmaßnahmen beschrieben, die ein überleben des Obersten Rates ermöglichen sollten, ,, ... wenn die maurerische Arbeit des Obersten Rates unmöglich gemacht ... " würde. Daher erkannten die anderen überlebenden Brüder sowohl die kommissarische Stellung von Raoul Koner als auch die von August Pauls an.
Die erste Sitzung des nunmehr Deutscher Oberster Rat genannten OR leitete Pauls noch in Koners Auftrag als Leutnant-Großkommandeur. Sie fand am 1. Juni 1947 in Frankfurt/Main statt, das als zukünftiger Sitz bestimmt wurde. In ihr fand eine historische Erteilung des 33. Grades an mehrere Brüder statt, darunter an Theodor Vogel, um den OR auf seine reguläre Zahl zu bringen. Die Umbenennung erschien den damaligen Brüdern aus juristischen Gründen sinnvoll, da ein
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Deutschland zu dieser Zeit nicht existierte, sondern nur vier
Besatzungszonen und drei Gebiete unter fremder Verwaltung, das Saarland, die Ostgebiete unter polnischer und das nördliche Ostpreußen unter russischer Verwaltung.
Großkommandeur Br :.August Pauls (1947 - 1956)
August Pauls wurde 1873 bei Aachen ge
boren. Er studierte in Bonn, Heidelberg und Berlin, wurde 1894 zum Dr. jur. promoviert und arbeitete als Rechtsanwalt,
zunächst in Aachen, dann in Magdeburg.
Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsgerichts
rat einer Division und erhielt das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Magdeburg verließ er 1945 kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee und ging nach Frankfurt/Main. Sein berufliches Wirken wurde durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes geehrt. Er starb am 13. 8. 1956 an den Folgen einer Operation.
Der Freimaurerei trat er 1901 in einer Loge der Großen NationalMutterloge zu den drei Weltkugeln in Aachen bei und erreichte dort
den 7. Grad. In den deutschen Schottischen Ritus trat er unter Pseudonym im November 1929 in Berlin ein, verließ ihn aber im Herbst 1930 wieder und unterstellte sich dem Obersten Rat für Österreich, von dem er im November 1932 den 33. Grad erhielt. Gleich
zeitig gehörte er weiter den Drei Weltkugeln an. 1947 wurde er in
Frankfurt/Main Vorsitzender der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, in
der er zusammen mit Theodor Vogel und Georg Geier die Gründung einer humanitären Einheits-Großloge vorbereitete.
Schon in der Weimarer Republik tat er sich als freimaurerischer Historiker hervor, und war auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein eifriger Schriftsteller in Blau und Rot. Von bleibendem Wert ist neben
seiner „Geschichte der Aachener Freimaurerei" seine Studie „Entstehung, Ursprung und Bedeutung des Meistergrades".
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Auf der 2. Sitzung des DOR am 1. November 1947 wurde August Pauls zum Großkommandeur gewählt. Als wesentliche Aufgaben stellten sich ihm der innere Aufbau, die Genehmigung durch die Besatzungsbehörden, die Einigung mit dem Obersten Rat im Exil und die internationale Anerkennung.
Anders als bei der Gründung 1930 traf jetzt die Wiederbelebung des Schottischen Ritus auf großes Interesse der Bruderschaft. Schon 1948 konnte der DOR daher mit mehreren - wegen der Besatzungsbestimmungen nur auf Länderebene organisierten - Großlogen Konkordate abschließen. Sicher half dabei, daß Pauls als Vorsitzender der 1947 gegründeten Frankfurter Arbeitsgemeinschaft große Bekanntheit erwarb. So wurde es ihm möglich, in seiner Amtszeit insgesamt 58 Ateliers wiederzueröffnen oder neu zu gründen.
Eine neue Konstitution war durch die Ereignisse notwendig geworden. Daher wurde die 2. Auflage mit Änderungen im Februar 1949 beschlossen und im Mai herausgegeben. Im Juni 1949 erschienen dann erstmals wieder die Amtlichen Mitteilungen, die seit 1952 unter dem Titel ELEUSIS mit fortlaufender Jahrgangszählung bis heute weitergeführt werden. Im September gab es ein revidiertes Ritual für den 4. Grad. Nachdem aus der Schweiz die Rituale für 31 ° und 32 ° gekommen waren, wurden Mitte 1950 die ersten beiden Konsistorien in Essen und Mannheim errichtet. Im August wurde mit der 1949 gegründeten Vereinigten Großloge ein Konkordat abgeschlossen, das die früheren Einzelkonkordate ersetzte. Das alles wirkte so, daß bis Februar 1950 schon etwa 350 Brüder beigetreten waren.
Der Kampf um die Anerkennung erwies sich jedoch als sehr schwierig, da die Südliche Jurisdiktion der USA als Mutter-Oberster-Rat weder die Gründung von 1930 noch die durch Müffelmann verursachte ExilGründung jemals anerkannt hatte. Pauls versuchte daher seit 1948 über die Obersten Räte der Schweiz und der Niederlande bei Großkommandeur Cowles eine Änderung zu erreichen. Eine kleine Hilfe war zwar die offizielle Einstellung der Tätigkeit des Exil-Obersten-Rates in Jerusalem, doch gab es im März 1950 bei der Konferenz der europäischen Großkommandeure in Brüssel trotz der Schweizer Fürsprache noch keinen Durchbruch.
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Um hier eine Verbesserung zu bewirken, brachte der OR für Österreich die Brüder Bing und Pauls im Januar 1951 zusammen. Br :.Bing kannte Br:. Cowles ja noch aus seiner eigenen Tätigkeit als Großkommandeur. Gleichzeitig wurde Großkommandeur Collet vom OR der Schweiz in den USA tätig. Bei ihm war nämlich im April 1949
B:.Reber nach seiner Rückkehr aus Italien erschienen und hatte sich als deutscher Alt-Großkommandeur vorgestellt. Auf diesen Besuch
kam Collet in einem Schriftwechsel mit Reber im Frühsommer 1951
zurück. Die Informationen daraus nutzte er gegenüber Cowles, der schließlich im Oktober seitens der Südlichen Jurisdiktion offizielle Beziehungen aufnahm.
Reber tat aber noch mehr. In einem Brief vom 31. März 1952 bestätigte er gegenüber Collet die rechtmäßige Verleihung des 33. Grades an Pauls durch Österreich im Jahre 1932 und seinen eigenen Verzicht
auf das Amt des Großkommandeurs. Als August Pauls am 13. Mai 1952 vor der Europäischen Konferenz der Großkommandeure den Standpunkt des DOR in der Anerkennungsfrage vortrug, wurde er
durch das persönliche Erscheinen von Reber überrascht, der ihn als rechtmäßigen Großkommandeur bezeichnete.
Die Frage der Regularität des DOR und damit der Anerkennung durch den Mutter-Obersten-Rat war damit zufriedenstellend gelöst. Interessanterweise gelang dies dem DOR also vier Jahre früher als seiner blauen Basis, denn die AFAM konnte erst im Dezember 1956 offizielle Beziehungen mit der Muttergroßloge in England aufnehmen.
Nun konnten endlich auch die amerikanischen Soldaten dem Schotti
schen Ritus in Deutschland beitreten. Abkommen darüber schloß der
DOR im Sommer 1953 sowohl mit der Südlichen wie mit der Nördlichen Jurisdiktion der USA. Für die amerikanischen Brüder wurde im Mai 1954 in Frankfurt/Main ein eigenes Konsistorium Seneca gegründet.
Im Juli 1954 traten dänische Brüder des 33. Grades mit der Bitte an Br:.Pauls heran, dort einen Obersten Rat zu gründen. Es waren jene Brüder, die zwischen 1930 und 1935 von Frankreich aufgenommen,
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dazu angeregt und dann fallengelassen worden waren. Der DOR behandelte die Frage zwar freundlich, aber sehr zurückhaltend. Das
Problem war die blaue Basis eines solchen Obersten Rates, denn sie bestand zwar unter der Bezeichnung Großorient von Dänemark, war aber nicht anerkannt. Als diese Gruppierung 1960 im Dänischen
Freimaurerorden aufging, konnte auch die XVI. Konferenz der
Europäischen Großkommandeure das Thema in Istanbul als erledigt
abschließen. Ein eigener Oberster Rat für Dänemark war nun neben
dem Dänischen Höchsten Ordenskapitel nicht mehr möglich.
Erste Schwierigkeiten mit der Großloge AFAM wurden erkennbar, als die VGL eine Änderung des Konkordates mit dem DOR anstrebte, die dessen Außenbeziehungen der Kontrolle der VGL unterworfen hätten. Dies, obwohl Großmeister Theodor Vogel immer noch aktives
Mitglied des DOR war. Er hatte zwar seit Februar 1949 eine grund
sätzliche Beurlaubung von den Ratssitzungen, war aber zwischen
durch doch anwesend. So schlug er am 4. November 1951 dem DOR
z. B. vor, doch ein Konkordat mit dem in Deutschland einzuführendenYork Rite abzuschließen.
Im Februar 1953 besprach Theodor Vogel bei einem Besuch in den USA die Modalitäten einer deutschen Gründung mit Vertretern des
General-Groß-Kapitels der USA. Das erste deutsche Kapitel wurde dann am 17. Oktober 1953 in Frankfurt am Main gegründet, mit
Theodor Vogel als erstem Mitglied. Das Großkapitel folgte am 6. März 1955. Und am 26. September 1955 kündigte die VGL das Konkordat
mit dem DOR fristlos. Sie begründete das mit der dem Konkordat widersprechenden Doppelbesetzung von Ämtern. Dahinter stand allerdings auch der Versuch, im Rahmen der Einigungsverhandlungen, die
zur Magna Charta führten, der neuen Großloge mit dem Titel
Vereinigte Großlogen von Deutschland mehr Autorität zu verschaffen.
Und deren erster Großmeister sollte und wollte Theodor Vogel werden.
So stand Pauls am Ende seines Lebens wieder vor dem gleichen persönlichen Problem mit Theodor Vogel, das schon 1949 die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft zerstört hatte. Und doch konnte er - anders als damals - auf ein erfolgreiches Werk blicken. Der Schottische Ritus
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hatte in der Bundesrepublik Deutschland 62 aktive Ateliers mit rund
1000 deutschen und 600 amerikanischen Brüdern, eine gefestigte
innere Verfassung, ein reiches, geistiges Leben, ein hohes Ansehen und
gefestigte internationale Beziehungen.
Großkommandeur Br:.Georg Geier (1957 - 1960)
Georg Geier wurde 1891 im Kreis Schlüch
tern geboren. Er war kaufmännischer
Angestellter, später selbständig als Leiter
einer Textilfirma. Im Ersten Weltkrieg
wurde er verwundet. Als Auszeichnungen
erhielt er das Verwundetenabzeichen, das
Eiserne Kreuz II. Klasse und den Türki
schen Halbmond für den Einsatz an der Palästinafront. 1935 wurde er
auf Grund von französischen Kontakten verhaftet, nach zwei Mona
ten Untersuchungshaft aber vom Gericht freigesprochen. Nach 1945
war er in der Frankfurter Handelskammer und als Handelsrichter
aktiv. 1952 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Am 1. September
1960 starb er mitten in der Amtsperiode an einem Magenleiden.
1926 wurde Georg Geier in eine FZAS-Loge in Offenbach aufgenom
men und trat 1930 mit ihr zur Symbolischen Großloge über. Im
Oktober 1931 wurde er auch Mitglied im AASR. Nach 1945 schloß
er sich der Frankfurter Loge Lessing an und arbeitete mit August Pauls
zusammen in der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft. Im Juni 1947
wurde er in den DOR berufen.
Der Ausbau im Inneren ging unter ihm weiter, wenn auch jetzt mit ver
minderter Kraft. Doch konnte er immerhin weitere 10 Ateliers einwei
hen. Die Mitgliederzahl des Ritus betrug zum 31. 12. 1960 1098
Brüder. Auch die geistige Ausrichtung wurde weiter gefördert. Mit
einer Grundsatzerklärung, die seit 1957 in jeder Nummer der ELEU
SIS abgedruckt wurde, bezog der AASR eine deutlich liberale Position.
Zudem wurde von einigen Brüdern des Obersten Rates seit Mai 1958
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der Plan verfolgt, ein Europagymnasium Gustav Stresemann zu gründen, das Schüler in freimaurerischem Geiste erziehen sollte. Auch wurde die Gründung einer weiteren Zeitschrift beschlossen. Apollon sollte in deutscher, englischer und französischer Sprache erscheinen, konnte aber 1960 nur vier Nummern erreichen, um dann aus Kostengründen wieder eingestellt zu werden.
Die Verhältnisse wurden jetzt schwieriger, weil der sich schon unter Pauls andeutende Konflikt zwischen der Großloge, konkret Theodor Vogel, und dem DOR verschärfte, obwohl Vogel von der Gründung des DOR 1947 bis 1961 aktives Mitglied des DOR blieb und trotz seiner grundsätzlichen Beurlaubung immer wieder einmal an Rats-Sitzungen teilnahm. Gleichzeitig war er von 1949 bis 1953 und dann wieder 1957 Großmeister der VGL AFAM und 1958 bis 1959 erster Großmeister der neugegründeten Vereinigten Großlogen von Deutschland.
Im November 1957 teilte er als Großmeister der AFAM dem DOR mit, daß die Satzung der AFAM der des AASR übergeordnet sei, beanspruchte also praktisch eine Oberaufsicht über den DOR. Der DOR beharrte dagegen auf seiner Souveränität und kündigte im Juni 1958 das Konkordat von 1950 fristgemäß. Theodor Vogel stellte sich nun auf den Standpunkt, es hätte nie gegolten. In Verhandlungen mit der Großloge gelang es dann schon im Juli 1958, zu einer gegenseitigen Übereinkunft zu kommen. Darin erkannten sich beide Organisationen gegenseitig als souveräne Obödienzen an und bestätigten die traditionelle Abgrenzung zwischen beiden, was die rituellen Arbeiten anging.
Großkommandeur
Br:.Erich Schalscha (1961 - 1969)
Mit der Wahl von Erich Schalscha verhärtete sich die Situation erneut und entwickelte sich zu einer publizistischen Auseinandersetzung bisher nicht gekannten Ausmaßes. Die Kämpfe seiner Amtszeit sind auch ein Spiegel der unruhigen 60er Jahre der
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Bundesrepublik, in denen eine konservative Grundhaltung durch eine
liberale bis linke Tendenz abgelöst wurde. Kennzeichnend dafür bleibt,
daß es die einzige Periode in der Geschichte unseres Ritus ist, in der sich
der Ministerpräsident eines Bundeslandes in der Freimaurerischen
Akademie und ein Bundesjustizminister im DOR engagierten.
Erich Schalscha wurde 1893 in Breslau geboren. Sein Jurastudium
schloß er mit der Promotion ab und wurde dann Rechtsanwalt. Als Jude
mußte er im Januar 1936 Deutschland verlassen und ging nach England.
Erst 1948 ging er als Richter nach Frankfurt/Main zurück. 1953 wurde
er als Bundesrichter nach Karlsruhe berufen. Er starb 1981.
Freimaurer wurde er 1928 in einer Loge des Eklektischen Bundes in
Breslau. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schloß er sich einer
Loge in Wiesbaden an. 1951 trat er dem AASR bei und wurde 1960
in den DOR berufen.
Nach seiner Wahl zum Großkommandeur im Januar 1961 griffen drei
Mitglieder des DOR - darunter Theodor Vogel - diese Wahl intern an.
Gleichzeitig veröffentlichte Vogel zwei Druckschriften, die sowohl die
Regularität der Gründung des Obersten Rates im Jahre 1930 bestrit
ten wie seine Lehre als irreligiös bezeichneten.
Zusätzlich bemängelte der Nachfolger Vogels im Amt des Großmeisters
der Vereinigten Großlogen die Grundsatzerklärung des DOR.
Insbesondere die Ablehnung der Bekenntnisschule und die Forderung,
auf Gewalt in der Auseinandersetzung der Staaten untereinander zu ver
zichten, wurden als staatsgefährdend, östlich beeinflußt und das
Ansehen der Freimaurerei gefährdend bewertet. Gleichzeitig mit diesem
Angriff auf den AASR schlossen die VGLvD ein Abkommen mit dem
York Rite, dem konkurrierenden Hochgradsystem.
Im Herbst 1961 wurde Br. Schalscha aus dem Obersten Rat der
Schweiz über einen Versuch Theodor Vogels informiert, sich in
England ,, ... die Anerkennung für einen von ihm zu gründenden
Obersten Rat zu verschaffen ... ". Er hatte Anfang des Jahres den engli
schen Großkommandeur besucht, doch blieb der Plan offenbar schon
im Ansatz stecken. Sichtbare Schritte zu seiner Verwirklichung sind
jedenfalls nicht festzustellen.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Im Mai 1961 traten Theodor Vogel und seine beiden Vertrauten
aus dem DOR aus, begannen aber gleichzeitig in der Großloge AFAM
eine weitere Kampagne gegen den AASR. Der DOR wehrte sich
seinerseits mit zwei Druckschriften, einer Reihe von offenen Briefen
und einer Versammlung der Atelierpräsidenten in Frankfurt/Main. Die
öffentlichen Auseinandersetzungen hatten nun ein Ausmaß erreicht,
das für alle Beteiligten schädlich zu werden drohte. Seit Oktober gab
es daher Verhandlungen zwischen dem DOR und der AFAM, um das
Verhältnis zu entkrampfen. Als Vorleistung erklärte der DOR, die
Grundsatzerklärung nicht mehr abzudrucken.
So konnte im Juni 1962 eine Gemeinsame Erklärung veröffentlicht
werden. Zwar erhoben die VGLvD und Altgroßmeister Vogel erneut
Einwände gegen den Inhalt, doch ließen sich die Stuhlmeister der
AFAM davon nicht beeindrucken und nahmen diese vorläufige
Regelung im September 1962 auf ihrem Stuhlmeistertag an. Das war
die Grundlage, auf der im Juni 1963 ein neues Konkordat zwischen der
AFAM und dem DOR geschlossen wurde, das bis heute Bestand hat.
Der Kampf von Theodor Vogel gegen den Schottischen Ritus schade
te diesem nicht, sondern brachte sogar weiteren Zulauf. Hatte der
Ritus im Januar 1961 noch 1280 deutsche Brüder, war der Mitglieder
bestand im November 1966 bei 1549 deutschen und rund 800 ameri
kanischen Brüdern. Zehn neue Ateliers konnten in der Amtszeit von
Erich Schalscha gegründet werden.
Und es gab einen weiteren Erfolg: Nachdem die Große National
Mutterloge zu den drei Weltkugeln 1963 den VGLvD beigetreten und
damit wieder allgemein akzeptiert war, schloß der DOR mit ihr im
April 1965 ein Besuchsabkommen.
Ein besonderer Erfolg von Br:. Schalscha war die seit 1963 betriebene Gründung des Obersten Rates von Israel. Zunächst wurden dort 1965
zwei Perfektionslogen gebildet und im Januar 1966 Br:. Grassiani als
ein weiterer Leutnant-Großkommandeur unseres OR ernannt. Im
November 1966 installierte Br:. Schalscha dann den Obersten Rat von
Israel mit Br:. Grassiani an der Spitze und wurde seinerseits zum
75 Jahre A.· .A. · .S. · .R. ·. 83
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Ehren-Großkommandeur dieses Obersten Rates ernannt, um die besonderen historischen Beziehungen beider Länder zu betonen.
Für Großkommandeur Schalscha gab es jedoch keine Atempause, da sich die internationalen Beziehungen komplizierten. Schon im Mai 1961 hatten die Vereinigten Großlogen die Beziehungen zur Grande Loge de France gelöst. Das bedeutete für den DOR, sein Verhältnis zum Supreme Conseil de France überprüfen zu müssen, da dessen blaue Basis nun plötzlich nicht mehr anerkannt war. Bevor es zu einer Entscheidung kam, griff der OR der Niederlande in die französischen Verhältnisse ein. Mit Zustimmung der Südlichen Jurisdiktion der USA gründete er im Mai 1965 einen neuen Obersten Rat in Frankreich, den Supreme Conseil pour la France.
Da es wegen des Widerstandes einiger europäischer Oberster Räte keine Einigung über die Anerkennung dieser Neugründung gab, platzte die im Juni 1967 stattfindende IX. Internationale Konferenz in Brüssel. Die Delegationen der Schweiz, der Türkei, Österreichs, Italiens, Spaniens im Exil und Deutschlands verließen die Tagung unter Protest. Kurz darauf -im November - brach die Nördliche Jurisdiktion der USA die Beziehungen zum DOR ab, die Südliche folgte im Dezember. Die Hauptbegründung griff auf den Vorwurf zurück, den Theodor Vogel schon 1961 erhoben hatte: Atheismus. Das Ritual des 18. Grades beweise, daß die Gottesauffassung des DOR von der amerikanischen Auffassung abweiche. Gleichzeitig bestritt nun die Südliche Jurisdiktion, daß sich die europäischen Obersten Räte bei ihren Verfahren auf die Konvention von Lausanne stützen könnten, die 1875 geschlossen worden war.
Die Südliche Jurisdiktion erhöhte den Druck auf den DOR weiter, indem sie ihm die amerikanischen Brüder entzog. Für sie wurden eigene American Scottish Rite Bodies gebildet. So blieb dem DOR keine andere Wahl, als seine Beziehungen zu beiden französischen Obersten Räten einstweilen zu neutralisieren. In einem Gespräch mit der Nördlichen Jurisdiktion in Boston wurde im Juni 1968 angeboten, zukünftig in den Arbeiten die Drei Großen Lichter aufzulegen, das Ritual des 18. Grades zu überarbeiten und aus der Konstitution des DOR alleBezüge zur Konvention von Lausanne zu entfernen. Daraufhin stelltedie Nördliche Jurisdiktion im September die Beziehungen wieder her.
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.
Da die persönlichen Beziehungen zwischen Großkommandeur
Schalscha und Vertretern der Südlichen Jurisdiktion der USA seit der
Internationalen Konferenz in Brüssel gestört waren, trat er mit dem
Ablauf seiner Amtszeit nicht für eine Neuwahl an.
Großkommandeur
Br:. Udo Sonanini (1969 - 1972)
Udo Sonanini lebte von 1911 bis 2002. Er
war promoviert und arbeitete als Rechts
anwalt und Justitiar der Schweizer Bot
schaft in Bonn.
In die Freimaurerei wurde er 1949 in Bonn
aufgenommen. Dem Schottischen Ritus
trat er 1951 bei. In den DOR wurde er
1963 berufen. Nach einem Herzanfall 1970 mußte er seine Aktivität
stark einschränken und verzichtete daher auf die Kandidatur für eine
zweite Amtszeit.
Es ist dem ausgleichenden Talent von Udo Sonanini in den
Verhandlungen in Boston zu verdanken, daß die internationale
Position des DOR sich verbesserte. Der Wiederherstellung der
Beziehungen zur Nördlichen Jurisdiktion war geschafft, doch mit der
Südlichen gelang dies zunächst nicht.
Die Lösung der internationalen Probleme gelang Udo Sonanini zu
nächst wenigstens insoweit, als er im Januar 1970 auf der X. Inter
nationalen Konferenz in Baranquilla, Kolumbien, trotz der fortbeste
henden Auseinandersetzungen mit der Südlichen Jurisdiktion gleich
berechtigt teilnehmen konnte. Der Preis war allerdings die vorherige
de facto Anerkennung der American Bodies in Deutschland und die
Auflösung des Konsistoriums Seneca. In Baranquilla konnte zudem
die Südliche Jurisdiktion durchsetzen, daß die Konvention von
Lausanne nicht mehr als verbindlich angesehen wurde. Damit fielen
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auch die anderen Vereinbarungen, so daß nun wieder die amerikani
sche Fassung der Großen Konstitutionen von 1786 mit dem mythi
schen Gründer Friedrich II. von Preußen galt. Als Folge beschloß der
DOR im Mai 1970 die vierte Auflage seiner Konstitution, in der die
Bezüge zu Lausanne nicht mehr enthalten waren.
Erfreulich war, daß Großkommandeur Sonanini drei neue Ateliers ein
richten konnte. Zudem gelang es ihm, im Dezember 1970 eine
Besuchsvereinbarung mit der Großen Landesloge der Freimaurer von
Deutschland (FO) abzuschließen, nachdem die komplizierte Frage der
Entsprechung der Grade geklärt worden war. Damit konnten
Schottenbrüder nun die wesentlichen christlichen Hochgradsysteme in
Deutschland besuchen. Nicht geregelt blieben aber die Beziehungen
zur Großen Loge Royal York zur Freundschaft und zum Royal Arch
bzw. zum York-Ritus.
Im 1986 formulierten Rückblick auf seine Amtszeit zog er als
Resümee: ,, ... die Erkenntnis der Naivität meines Traums und meiner
anfänglichen Bemühungen von und um eine eigenständige europäische
Maurerei; die ... Erkenntnis, daß die Macht- und Einflußstrukturen in
der internationalen Maurerei jeweils ... das Abbild der profanen poli
tischen Situation darstelle. Die UGL England hält an der Fiktion eines
auch maurerischen Empire oder doch wenigstens Commonwealth fest.
Von den USA her bestimmt die Südliche Jurisdiction die Regularität
aller Obersten Räte der Welt und damit letztlich deren Existenz ... ".
Großkommandeur
Br :.Heinz Lott (1972 - 1978)
Heinz Lott wurde 1925 in Frankfurt/Main
geboren. Im Zweiten Weltkrieg leistete er
Dienst als Fallschirmjäger. Nach dem
Krieg begann er ein Bauingenieur-Studium
und schloß es als Diplomingenieur ab.
Von 1948 bis 1997 arbeitete er als
Architekt. Er starb 1999.
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1954 wurde er in Frankfurt/Main in die Loge Lessing aufgenommen.
Dem AASR trat er 1958 bei. In den DOR wurde er 1966 berufen. Nach
seiner Amtszeit als Großkommandeur war er in der Forschungsloge
Quatuor Coronati von 1983 bis 1989 deren Meister vom Stuhl.
Erst im November 1972 gelang die Wiederaufnahme der Beziehungen zur
Südlichen Jurisdiktion. Eine der Voraussetzungen war, daß auf der 23.
Konferenz der Europäischen Großkommandeure im Mai 1972 in Den
Haag die französische Frage dahingehend geregelt worden war, daß der
SC pour Ja France als Teilnehmer akzeptiert wurde. Da der DOR sich mit
einer förmlichen Anerkennung noch schwer tat, blieben die Beziehungen
zu beiden französischen Obersten Räten einstweilen neutralisiert.
Eine weitere Voraussetzung war die förmliche Anerkennung der
American Military Scottish Rite Bodies durch den DOR. Damit hatte
sich die Südliche Jurisdiktion auf der ganzen Linie durchgesetzt.
Zwei neue Ateliers konnte Heinz Lott einweihen, doch war auf Grund
der internationalen Schwierigkeiten die Mitgliederzahl unseres Ritus
1975 auf 1484 Brüder gesunken. So war seine wichtigste Arbeit die
innere Konsolidierung, die er mit großem Einsatz und vielen
Atelierbesuchen betrieb.
Großkommandeur
Br:.Kurt Hendrikson (1978 -1984)
Kurt Hendrikson wurde 1913 bei Wilna
geboren. Sein Studium der Wirtschafts
wissenschaften in Warschau schloß er
1937 mit der Promotion ab. Seine Habili
tation erfolgte 1943 in Berlin. Obwohl er
zahlreiche Untersuchungen zu wirtschafts
wissenschaftlichen Themen veröffentlich
te, ergriff er keine akademische Karriere, sondern wurde nach seinem
Kriegseinsatz bei „Fremde Heere Ost" Wirtschaftsprüfer. Von 1959
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 87
88
bis 1978 war er hauptsächlich mit Projekten der Entwicklungshilfe in
Zusammenarbeit mit der Weltbank befaßt. Er starb 1991.
1950 wurde er in Hamburg aufgenommen und wechselte 1952 nach
Frankfurt/Main in die Loge Lessing. Dem Schottischen Ritus trat er
1953 bei und wurde 1959 in den DOR berufen.
Zusammen mit Herbert Kessler war er ein großer Förderer des geisti
gen Lebens im AASR. Seine Tätigkeit als Großkommandeur begann er
mit einer kritischen Bestandsaufnahme durch zwei Kommissionen und
einer Umfrage unter den Ritusrnitgliedern. Daraus erwuchs eine erste
Schrift Wegweiser zur Freimaurerei. Um die geistige Aktivität und das
Ritualverständnis zu vertiefen, begann auf seine Anregung hin 1979
die Schriftenreihe, die bis 2004 auf insgesamt siebzehn Hefte ange
wachsen ist
Da die ELEUSIS sich mittlerweile von einer Zeitschrift mit internen
Nachrichten zu einer reinen Publikation von Aufsätzen gewandelt
hatte, schuf er ein neues Medium, um alle Mitglieder des Ritus errei
chen zu können, das Mitteilungsblatt. Es ersetzte 1981 den Atelier
präsidentenbrief, der nur den Funktionsträgern zugänglich gewesen
war.
Eine Spätfolge der Auseinandersetzungen mit der Südlichen Juris
diktion der USA war die Aufnahme brüderlicher Beziehungen zum SC
pour la France, die gleich nach seinem Amtsantritt erfolgte. Auch
wurde nun das Ritual des 18. Grades revidiert und im Oktober 1980
allen Kapiteln überstellt. Dadurch war die durch Udo Sonanini und
Heinz Lott eingeleitete Konsolidierung der Position des DOR im welt
weiten Schottischen Ritus gesichert.
Ein Höhepunkt seiner ersten Amtszeit wurde daher die SO-Jahrfeier
des DOR in der Würzburger Residenz mit dreizehn ausländischen
Delegationen. Ein weiterer Erfolg war der Abschluß eines Konkordats
mit der Grossen Loge Royal York in Berlin, der das Besuchsrecht zwi
schen dem Ritus und dem Inneren sowie Innersten Orient, den
Erkenntnisstufen der Royal York, regelte.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Die vielen Aktivitäten erzeugten auch eine neue Attraktivität des
Ritus, so daß er in seiner Amtszeit vier neue Ateliers eröffnen konnte.
Die Mitgliederzahl stieg von 1460 im Jahre 1979 auf 1621 für 1982.
Auch nachdem er das Amt des Großkommandeurs abgegeben hatte,
schrieb er weiter grundlegende Aufsätze und Bücher für die Brüder.
Von bleibendem Wert sind insbesondere Ein Schotten-Kodex (ELEU
SIS 4/1987) und die noch kurz vor seinem Tode erschienene umfang
reiche Freimaurerische Lebenskunst.
In einem Rückblick auf seine Amtszeit, den er gegen Ende seines Lebens
in einem langen Gespräch mit dem Verfasser gab, beschrieb er die seit
Würzburg erreichte Position des deutschen Schottischen Ritus. Er sah sie
in einer mittleren Stellung innerhalb der pluralistischen Weltfreimaurerei.
Zwischen den unterschiedlichen Freimaurereien der mitgliederstarken
anglo-amerikanischen Gruppe, dem schwedischen Ordenssystem in den
nordischen Ländern und dem romanisch beeinflußten Südeuropa und
Südamerika, stünden die zahlenmäßig kleinen deutschsprachigen
Obersten Räte. Ihre engere Zusammenarbeit hielt er für besonders wich
tig, um die von ihm konstatierte geistige Stagnation aufzubrechen. Dem
sollten besonders die verschiedenen Veröffentlichungen dienen, auch
wenn er ihre Wirkung nicht überschätzte.
Großkommandeur
Br :.Herbert Kessler (1984 - 1993)
Herbert Kessler wurde 1918 in Mann
heim geboren. Im Zweiten Weltkrieg zur
Artillerie eingezogen, verlor er als vorge
schobener Beobachter in Frankreich einen
Unterschenkel. Sein Jurastudium schloß
er 1944 in München mit der Promotion
ab. Er arbeitete als Rechtsanwalt. Für
seine langjährigen Aktivitäten in der
Humboldt-Gesellschaft und der Sokratischen Gesellschaft erhielt er
1983 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Zudem wurde ihm 1987 in
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 89
90
Anerkennung seiner philosophischen Werke vom Land Baden
Württemberg der Professorentitel ehrenhalber verliehen. Die
Russische Akademie der Wissenschaften in Moskau kooptierte ihn
1994 als ordentliches Mitglied. Er starb 2002
Aufgenommen in die Freimaurerei wurde er 1965 in Mannheim. Dem
Schottischen Ritus trat er 1969 bei und wurde 1974 in den DOR berufen.
Als langjähriger Chefredakteur der ELEUSIS und erster Herausgeber
der Schriftenreihe hat er das geistige Leben des Ritus fühlbar be
stimmt. Aus seinem umfangreichen schriftstellerischen Werk sind
Bauformen der Esoterik und Philosophie als Lebenskunst wohl die für
Freimaurer wichtigsten bleibenden Bücher.
Die hohe Wertschätzung, die der DOR inzwischen international
besaß, zeigte sich 19 84 bei der 31. Konferenz der Europäischen Groß
kommandeure in Schlangenbad und beim 1. Ordensfest in Nürnberg
im Jahre 1985. Aus beiden Anlässen konnten viele ausländische
Delegationen begrüßt werden, genauso wie 1992 zum 2. Ordensfest in
Moers.
Herbert Kessler war aber nicht nur ein erfolgreicher, ausgleichender
und vermittelnder Großkommandeur in der Vertretung nach außen.
Wichtiger noch war seine Wirkung nach innen. Neben den publizisti
schen Verdiensten war er besonders um die philosophischen Inhalte
der Rituale bemüht. 1987 wurde das Ritual für den 5. bis 14. Grad
und 1989 das für den 32. Grad angenommen. Zeremoniale für die
Friedensarbeit und die Osteragape erschienen 1992. Auch um eine
Neustrukturierung der freimaurerischen Akademie bemühte er sich.
So war es nicht verwunderlich, daß der Ritus weiter wuchs. Groß
kommandeur Kessler konnte 9 weitere Ateliers einrichten und die
Mitgliederzahl betrug Ende 1990 1766 Brüder.
Am Ende seiner Amtszeit mußte er allerdings erleben, daß durch die
Südliche Jurisdiktion der USA erneut Unruhe in Europa aufkam. Der
Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes hatte eine völlig
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
neue Lage geschaffen, in der die Freimaurerei im Osten wieder mög
lich schien. In Südosteuropa wurden daher von der Südlichen
Jurisdiktion über die American Scottish Rite Military Bodies beförder
te Brüder als Oberste Räte eingesetzt, ohne dies in allen Fällen mit den
europäischen Obersten Räten abzustimmen.
Großkommandeur Br:.Gunter Münzberg (1993 -1997)
Mit der Wahl von Gunter Münzberg
wurde der Versuch gemacht, nach der lan
gen Amtszeit von Herbert Kessler einen
deutlichen Generationswechsel vorzuneh
men. Gunter Münzberg wurde 1941 im
Sudetenland geboren. In Stuttgart studierte
er Elektrotechnik und schloß das Studium
1967 als Diplomingenieur ab. Er war Abteilungsleiter bei AEG, dann
Geschäftsführer einer Maschinenfabrik. 1963 wurde er in eine Stutt
garter Loge aufgenommen. Dem AASR trat er 1973 bei und wurde
1983 in den DOR berufen.
Ein Höhepunkt seiner Amtszeit war im Mai 1994 die 39. Konferenz
der Europäischen Großkommandeure in der alten und neuen
Hauptstadt Berlin. Mit der 6. Auflage der Konstitution nahm der
Oberste Rat als Konsequenz aus der Wiedervereinigung und der mit
ihr wiederhergestellten Souveränität des deutschen Staates den alten
Namen an.
Gunter Münzberg bemühte sich, Bewegung in die von ihm als zu ruhig
angesehene Ritustätigkeit zu bringen. Dazu sollten ihm Kontakte zu
den verschiedenen französischen Obödienzen, aber gleichzeitig ein
engerer Anschluß an die Südliche Jurisdiktion der USA dienen. Die
redaktionelle Linie der ELEUSIS veränderte sich durch das Aus
wechseln des Redakteurs stark ins Politische. Zugleich bezog der
Großkommandeur deutlich Stellung gegen eine zu esoterische
Auffassung von der Freimaurerei. Der sich hier andeutende Richtungs-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 91
92
wechsel schuf schon bald nach Amtsantritt erhebliche Unruhe in der Bruderschaft. Dazu kam die reale Gefahr, durch die unkontrollierten französischen Aktivitäten des Großkommandeurs die Regularität des Obersten Rates zu gefährden. Im Juli 1997 sahen sich die drei AltGroßkommandeure Sonanini, Lott und Kessler zur Erhaltung der internationalen Anerkennung und des inneren Friedens im Ritus selbst zum Eingreifen veranlaßt. Sie führten durch einen gemeinsamen Antrag einen Beschluß des Obersten Rates herbei, die Amtszeit von Gunter Münzberg zu beenden. 1998 erlosch seine Mitgliedschaft im AASR.
In seinen vier Jahren konnte er vier neue Ateliers einweihen, doch ging die Gesamtmitgliederzahl leicht zurück und betrug Ende 1996 1726 Brüder.
Großkommandeur Br .·.Hubert Victor Kopp (1997 - 2002)
Hubert Victor Kopp wurde 1927 in Berlin geboren. In den letzten Kriegsmonaten wurde er noch eingezogen und verwundet. Nach Kriegsende machte er sein Abitur und studierte Naturwissenschaften und Philosophie. Seit 1948 ist er im Verlagswesen tätig. Von 1958 bis 1998 war er Inhaber einer Werbeagentur und eines Zeitschriftenverlages in Hannover.
1959 trat er in Hannover der Freimaurerei bei. Aufgenommen in den Schottischen Ritus wurde er 1968, berufen in den DOR 1985 und als Bezirksinspekteur „Nord-West" aktives Mitglied im Obersten Rat 1990.
Hubert Kopp entwickelte und gründete 1974 die Zeitschrift „humanität" für die Großloge AFuAM, dessen Verleger und Herausgeber er bis 1979 war. Die Gründung der Freimaurerloge „Georg Am Hohen Ufer" 1987 und als dessen Gründungsmeister v. St. zeugt ebenso von seinen visionären Vorstellungen zeitgemäßer Maurerei, die er in sei-
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nem Buch „Im Zeichen des Logos - Alle Menschen werden Schwestern und Brüder - Geschichte und Wesen der Freimaurerei" niederschrieb.
Während seiner Amtszeit als Großkommandeur konnte Br.·. Kopp, dank seines zielstrebigen Wirkens, den Ritus wieder in ruhige Bahnen lenken. Zukunftsweisende Vorhaben und Beschlüsse wurden so initiiert: Neufassung des Mitgliedschaftsgesetzes, der Gerichtsordnung, Umzug der Kanzlei nach Berlin mit personeller Neubesetzung des Kanzleisekretärs, Atelierpräsidenten-Seminare, sowie die Aufarbeitung der Rituale.
Es gelang ihm mit Hilfe engagierter Brüder sogar erstmals, in den neuen Bundesländern das Licht in vier Ateliers einzubringen. Insgesamt entstanden neun neue schottische Arbeitsstätten. Im Dezember 1999 hatte der Ritus wieder 1765 Mitglieder wie unter Br :.Herbert Kessler. Am Ende seiner Amtszeit konnte Großkommandeur Kopp seinem Nachfolger sogar 106 Ateliers mit 1815 Brüdern übergeben.
Das 3. Ordensfest in Ettlingen im September 2000 machte ganz deutlich, dass es ihm auch gelungen war, die durch den Wechsel im Amt hervorgerufenen Irritationen im Ausland schnell zu beruhigen. Ausgewählte Reisen zu befreundeten OR in Europa und Übersee begründeten eine neue Ära der Verständigung; so ist er Groß-Repräsentant für die Nördliche und Südliche Jurisdiktion in den USA, Slowenien und Iran im Exil der USA.
Großkommandeur Br.·. Friedrich
Wilhelm Schmidt ( seit 2002)
Friedrich Wilhelm Schmidt wurde 1933 in Neunkirchen/Saar geboren. Er machte eine Lehre als Vermessungstechnik.er und die Fachausbildung zum Ingenieur. 1961 begann eine Karriere in Hamburg als hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär der DeutschenAngestellten-Gewerkschaft, bei der er bis
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 93
94
zum Ressortleiter und Bundesvorstandsmitglied aufstieg. EW. Schmidt
konnte dabei reiche internationale Edahrungen sammeln und engagierte
sich auch in Schwarzafrika in der Entwicklungshilfe. Er wirkte mit in zahl
reichen Kommissionen und in bedeutenden Aufsichtsräten der Wirtschaft.
Nach zwei Jahrzehnten ehrenamtlicher Tätigkeit in der Selbstverwaltung
der Techniker Krankenkasse wurde er 1978 zu deren Hauptgeschäftsführer
gewählt und leitete diese sehr erfolgreich bis zu seinem Ruhestand 1996.
1967 trat Br:.Friedrich Wilhelm Schmidt in eine Hamburger Loge ein
und 1970 in den Schottischen Ritus. In den DOR wurde er 1987 beru
fen, im Folgejahr als aktives Mitglied der Ratsversammlung.
Seine vielfältigen Aktivitäten im Distrikt Hamburg-Schleswig-Holstein
führten bald zu weiteren Aufgaben für die Großloge AFuAM aufgrund sei
nes reichen, freimaurerischen Wissens, unermüdlichen Wirkens und viel
schichtigen Könnens. So war er sechs Jahre Großredner, wurde Mitglied
des Senats der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) und
Großvertreter der französischen Grande Loge Nationale für Deutschland.
Aktiv war er u. a. am Aufbau der Freimaurerei in Litauen beteiligt. Zum
Zeitpunkt seiner Wahl zum Großkommandeur war er Stellvertretender
Großmeister der VGLvD. Als Träger des Großen Ehrenzeichens bleibt er
lebenslang beratendes Mitglied des Senats der VGLvD.
Als Großvertreter des A:.A:.S:.R:. der Niederlande und Frankreichs,
sowie in Fortsetzung der Vorarbeit seines Amtsvorgängers hat
Friedrich Wilhelm Schmidt die Bindungen zwischen dem ORD und
diesen, ferner zur Nördlichen und Südlichen Jurisdiktion des amerika
nischen A:.A:.S:.R:., sowie zu den osteuropäischen Obersten Räten
nachhaltig gestärkt. Das Ordensfest in Berlin zum 75jährigen Bestehen
des A:.A:.S:.R:. in Deutschland wird dies durch die Teilnahme von
deren Repräsentanten deutlich machen.
In seiner bisherigen Amtszeit konnten fünf Ateliers neu installiert werden.
Mit seiner Wiederwahl für die Periode 2005 bis 2008 hat die
Ratsversammlung das Vertrauen ausgedrückt, mit ihm anstehende
Aufgaben, wie Ritualarbeit, Konstitution und „Aufbau Ost" fortzusetzen.
t----
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.
Die Freimaurerische Akademie
Br:.Werner Boppel, 33°
Nach § 81 des Gesetzes über Mitgliedschaft und
Organisation im Alten und Angenommenen Schottischen Ritus (A:.A:.S:.R:.) unterhält der ORD „Die Freimaurerische Akademie des AASR", die den Auftrag hat, ,,das freimaurerische Gedankengut gei
stig zu durchdringen und durch Einsichten aus
Leben, Wissenschaft und Kunst zu vertiefen." Die
Akademie ist damit - neben der ELEUSIS - eine
wichtige inhaltliche Säule des ORD.
In den fast 50 Jahren ihres Bestehens und in -bis Ende 2004 - insge
samt 97 Tagungen hat die Akademie versucht, diesem hohen Anspruch
gerecht zu werden. Eine Fülle von oft recht unterschiedlichen Themen
wurden unter der Verantwortung von bisher sieben Akademie - Präsiden
ten eingehend erörtert, wobei immer darauf geachtet wurde, dass ein
gewisser freimaurerischer Bezug sichtbar wurde.
Das Ritual selbst war dabei nur zum Teil Gegenstand der Arbeit in der
Akademie. Es wurde vielmehr versucht, die den Ritualen zugrundelie
genden geistesgeschichtlichen Fragen zu erörtern und dabei zu unter
suchen, auf welch vielfältige Weise das freimaurerische Ritual mit der
Entwicklung der Wissenschaften und dem Selbstverständnis des
Menschen als vernunftbegabtes Wesen in Einklang zu bringen ist.
Die Arbeit der Akademie ist eingebettet in einen rituellen Ablauf. Sie
folgt einem Zeremoniell, das die eigenständige freimaurerische
Geisteshaltung vergegenwärtigen soll, die in den Zusammenkünften
befördert werden soll.
Die Tätigkeit der Akademie heißt "Arbeit", weil ihre Teilnehmer
davon überzeugt sind, dass jeder Mensch kraft seiner geistigen
Fähigkeiten in der Lage ist, zur Selbsterkenntnis und zu vernünftigem
Handeln zu gelangen. Die auf der Akademie gehaltenen Vorträge wer
den in der ELEUSIS veröffentlicht.
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96
Die Anfänge der Akademie
Vom 31.8.1956 bis zum 3.9.1956 trafen sich 36 Brr:. vorwiegend aus Niedersachsen , aber auch aus Berlin und Hamburg zu einer Freizeitarbeit in Osterode a. Harz unter der Federführung des damaligen Bezirksinspekteurs für Niedersachsen, Br.·. Hörstmann . Die inhaltliche Leitung übernahm Br:.( Dr.) Paul Ehmke, der eine Fülle von inhaltlichen Fragen aufgeworfen und dazu Stellung genommen hatte. Er forderte, dass die freimaurerische Arbeit mehr in die Breite und in die Tiefe gehen sollte und dass es besonders wichtig sei, die eigenständige freimaurerische Geisteshaltung deutlich zu machen. Die sich vollziehenden Änderungen in der Gesellschaft müssten auch von der Freimaurerei angepackt werden. Besondere Vorträge befassten sich mit den Aufgaben der Freimaurerei heute und der Bedeutung der Rituale gerade in der heutigen Zeit. In dieser Arbeit kam man schließlich zu dem Schluss, dass viele der zu erörternden Fragen nur im Rahmen einer Akademie, die der Ritus einrichten sollte, eingehend diskutiert und einer Lösung zugeführt werden könnten. Vor diesem Hintergrund wurde nun am 2.9.1956 das Gründungsprotokoll zur Errichtung einer Freimaurerischen Akademie von 9 Brr :. unterzeichnet. Das Gründungsprotokoll wurde von dem Bewusstsein getragen, ,,dass Freimaurerei zu allen geistigen Problemen der Zeit, der Weltanschauung, Jugend, Arbeit, Wirtschaft, sozialen Lage, Gesellschaft, dem Frieden, der Völkerbeziehungen, aus eigenständiger Geisteshaltung nicht nur Stellung nehmen muss, sondern sie auch kundzutun und zu verbreiten hat." Hierfür sollen Grundlagen gebildet „und diese immer wieder auf ihren Wert und ihre Gültigkeit im fortschreitenden Geist" geprüft werden. Zum ersten Akademie - Präsidenten wurde Br:. (Dr.) Paul Ehmke gewählt.
Überlegungen zur Gründung einer Freimaurerischen Akademie gab es allerdings schon vorher, allerdings zunächst im Rahmen der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGL).Ritusbrüder waren dabei von Anfang an vertreten, die zum Teil auch zum engeren Kreis des Collegium Masonicum gehörten. Bereits 1949 wurde der Entwurf einer Satzung der Deutschen Freimaurer - Akademie mit Sitz in Frankfurt am Main vorgelegt. Danach sollte die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen in eine deutsche Freimaurer Akademie mit dem Sitz in Frankfurt am Main unter dem Schutze der Vereinigten Großloge von
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Deutschland umgewandelt werden. Die deutsche Freimaurer - Akademie
sollte eine wissenschaftliche Institution sein, insbesondere mit dem Ziel
einer unabhängigen Forschung auf allen Gebieten der Freimaurerei und
ihren Grenzgebieten. Die Idee wurde von der VGL zunächst nicht weiter
verfolgt, insbesondere von den Ritusbrüdern im inneren Kreis des
Collegium Masonicum aber weiter diskutiert. Schließlich forderte der
damalige erste Großkommandeur nach dem Zweiten Weltkrieg, Br:.
August Pauls, im Jahre 1956 die Gründung einer Akademie und beauf
tragte Br:. Geier damit. Es fand ein Gespräch der Brr:. Ehmke,
Horneffer, Müss und Selter in Northeim statt, bei der als Tagungsort der
Freizeitarbeit und im Grunde der ersten Tagung der Freimaurerischen
Akademie Osterode a. Harz festgelegt wurde. Wegen seines plötzlichen
Todes konnte Br :.Pauls selbst an dieser Tagung nicht mehr teilnehmen.
Die ersten Jahre unter Br :.Paul Ehmke
Die Arbeit der Akademie wurde wesentlich geprägt durch Br :.Paul
Ehmke, der die Akademie insgesamt 15 Jahre leitete. Schon die zweite
Tagung, eigentlich die erste der neugegründeten Akademie stand gleich
unter zwei Generalthemen: einmal „Die Angst und ihre Überwindung"
und zum anderen „Erziehung als freimaurerische Aufgabe". Dieser
letztere Vortrag von Br :.Krippendorf war im Übrigen der erste auf
einer Akademie gehaltene Vortrag, der auch in der Eleusis veröffent
licht wurde. In dieser Tagung wurden auch die Möglichkeiten einer
freimaurerischen Musterschule erörtert.
Viele Themen unter der Verantwortung von Br :.Paul Ehmke behandel
ten Ritualfragen, aber auch Grundfragen der menschlichen Existenz,
so z.B. auf der Herbsttagung 1961 in Mannheim das Thema; ,,Über
Schicksal und Bedeutung des Menschen". Es wurden neben freimau
rerischen Themen auch Themen aus Wirtschaft, Politik und Presse
behandelt. In den Anfängen gab es nicht immer ein Generalthema, oft
wurden verschiedene Themen nebeneinander behandelt. Aus der Fülle
der behandelten Bereiche seien u.a. genannt religiöse und kulturelle
Fragen auf der Frühjahrstagung 1963 in Osterode, Probleme der
Kybernetik auf der Frühjahrstagung 1964 ebenfalls in Osterode, um
das wissenschaftliche Weltbild und die Zivilisation auf der 20. Tagung
in Hamburg, um „Krise und Grundlagenforschung aus biologischer
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 97
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Sicht" auf der 21. Tagung im Herbst 1966 in Freudenstadt, ,,Gedanken zur Weltbruderkette" auf der Herbsttagung 1960 in Bonn,
die „Eigenständige freimaurerische Geisteshaltung" im Herbst 1962 in Köln, ,,Erziehung und Bildung für morgen" auf der Herbsttagung 1963 in Würzburg, um „Grundbegriffe der Freimaurerei" auf der 16. Tagung 1964 wiederum in Osterode, um den „Weg zu einer sozialen Neuordnung der Gesellschaft" oder um „Materie und Geist" im Herbst 1965 in Augsburg, ,,Freimaurerei und das zweite Vatikanum" auf der 20. Tagung in Hamburg, ,,Die eigenständige Geisteshaltung der Freimaurerei" sowie um „Herkunft und Entwicklung der Rituale"
oder den „Stellenwert der Rituale" im Frühjahr 1967 in Köln, z.T. auch im Herbst in Starnberg, oder auch um Beiträge zum ,,Selbstverständnis der Jugend heute" im Herbst 1968 in Saarbrücken.
Schon früh wurde der Vorschlag gemacht, die Basis der Akademie zu verbreitern, insbesondere über Deutschland hinaus. So nahmen bereits auf der Frühjahrstagung 1958 in Osterode die Präsidenten der Obersten Räte von Belgien und Holland teil. Auch mit Österreich und
Luxemburg wurde ein engerer Kontakt hergestellt. Versucht wurde auch, die Brüder der Großen Landesloge (FO) stärker einzubinden, was aber eher zurückhaltend aufgenommen wurde. Im Herbst 1963 und u.a. auch auf der 17. Tagung im Herbst 1964 in Bamberg wurde die Gründung einer Europäischen Freimaurerakademie diskutiert, die
zweimal jährlich junge Leute (auch Nichtfreimaurer) zu je 8 - 14tägi
gen Kursen einladen sollte, um allgemeine Kulturfragen zu erörtern. Dazu sollten Wissenschaftler aller Richtungen verpflichtet werden.
Der Vorschlag wurde aber nach eingehender Diskussion vor allem wegen fehlender finanzieller Mittel nicht weiterverfolgt.
In engem Zusammenhang mit der Arbeit in der Akademie standen in den ersten Jahren auch Überlegungen zur Schaffung eines „Europa - Gymnasiums Gustav Stresemann". Hierzu wurde ein eigener Verein gegründet, der in der Regel immer im Zusammenhang mit den Akademie - Tagungen seine Mitgliederversammlungen abhielt. Im Jahr 1965 wurde der Verein, der zuletzt immerhin 201 Mitglieder zählte, liquidiert, weil er die erforderlichen Mittel zur Errichtung und zum Unterhalt eines Gymnasiums nicht beschaffen konnte. Es wurden dabei auch immer wieder Überlegungen
75 Jahre A.· .A. · .S.· .R.·.
angestellt, den Verein auf eine breitere Basis zu stellen, auch unter
Einbeziehung der Blauen Logen. Aber auch dies führte nicht zum Erfolg.
Die Akademie unter Br :.Fritz Bolle.
Am 9./ 10.10.1970 wurde Br:.Fritz Bolle als Nachfolger von Br:.Paul
Ehmke zum zweiten Präsidenten gewählt. Er hat allerdings schon von
Herbst 1969 an in Vertretung für den erkrankten Br :.Paul Ehmke die
Tagungen geleitet. Unter der Führung von Br :.Bolle begann man , jede
Tagung unter ein bestimmtes Generalthema zu stellen. Das übergeordne
te Generalthema „Menschenbild und Menschenbildung" wurde gleich
auf vier aufeinanderfolgenden Akademien ,beginnend auf der 29.Tagung
1970 in Mannheim bis zur 32. Tagung im Frühjahr 1972 in Würzburg
eingehend diskutiert. Ein weiterer übergeordneter Bereich war das
Generalthema „Symbolik und Symbole" , das ebenfalls auf vier Tagungen
erörtert wurde, beginnend auf der 34. Akademie - Tagung im Frühjahr
1973 in Braunschweig bis zur 37. Tagung im November 1974 in
Wiesbaden. Die 38. Tagung im April 1975 in Hof, gleichzeitig die letzte
Tagung, die Br :.Bolle selbst leitete, befasste sich mit der sehr wichtigen
Frage nach Ziel und Bedeutung des Schottischen Ritus und der Frage,
warum wir Schottenbrüder sind. Die 39. Tagung im Herbst 1975 wurde
in Vertretung für Br:. Fritz Bolle von Br:. Rüdiger Hachtmann geleitet und
befasste sich mit den Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung.
Die Akademie unter Br :.Herbert Kessler
Am 12.3. 1976 wurde der damalige Großredner und spätere Souveräne
Großkommandeur, Br:. (Prof. Dr.) Herbert Kessler mit der Leitung der
Akademie betraut. Br:.Rüdiger Hachtmann wurde Vizepräsident. Seine
erste Tagung im Frühjahr 1976 befasste sich in der Nachfolge des Themas
der 39. Tagung mit dem Thema Freimaurerei und Gesellschaftsordnung
und dabei vor allem mit den Minderheiten in unserer Gesellschaft. Die
beiden folgenden Tagungen im Herbst 1976 in Mannheim und im
Frühjahr 1977 in Bad Nauheim befassten sich mit dem Themenbereich Selbstverwirklichung heute, einmal in Gesellschaft und Wissenschaft und
zum anderen im Schottischen Ritus. Auf der 43. Tagung im Herbst 1977
in Celle wurde dann das Thema Grundlagen unserer Gesellschafts
ordnung erneut aufgegriffen, wobei auch die Bedeutung der Werte eine
besondere Rolle spielte. Die erste Tagung im Jahr 1978 in Augsburg be-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 99
100
fasste sich mit der Humanität und die beiden folgenden in Mannheim und
Dortmund mit dem Thema „Freimaurerei und Ethik", behandelt auch
aus der Sicht der einzelnen Grade. Die Herbsttagung 1979 in Bad
Schlangenbad befasste sich erstmals mit dem Generalthema Polarität, das
dann auch auf der 49. Tagung im Herbst 1980 in Königstein/ Ts. und auf
der 50. Tagung im Frühjahr 1981 in Hannover fortgesetzt wurde. Im
Frühjahr 1980 gab es eine eingeschränkte Tagung nur für Ritusbrüder, in
der eine kritische Analyse des Schottischen Ritus vorgenommen wurde,
weil in diesem Jahr der A:.A:.S:.R:. den SO. Jahrestag seiner Einsetzung
feierte. Für die 51. Tagung im Herbst 1981 in Karlsruhe und die darauf
folgende Tagung in Darmstadt wurde als Generalthema „Humanität und
Toleranz in der täglichen Praxis" gewählt.
Im Herbst 1982 in Essen befasste man sich mit den Stiftergestalten der
Menschheitskultur, bevor man sich dann ab .198 3 dem neuen
Generalthema „Königliche Kunst" zuwandte.
Die Akademie unter Br:. Wolfgang Weber
Am 3.3.1984 wurde Br:.( Prof. Dr.) Wolfgang Weber zum Präsidenten der
Freimaurerischen Akademie gewählt. Er leitete insgesamt 16 Tagungen,
wobei allerdings die beiden ersten Tagungen noch unter dem General
thema Königliche Kunst standen und z. T. noch von Br.·. Herbert Kessler
vorbereitet wurden. Im Präsidium waren Br:.Horst Döre, Br:.Alfried
Lehner und die Brr:. Hans Nicolaus und Ralf Hallemann vertreten.
Eingehend diskutiert wurden während der Amtszeit von Br.·. Wolfgang
Weber insgesamt vier Generalthemen. Die 58. und 59. Tagung in
Mannheim und Goslar, die beiden Tagungen 1986 in Augsburg und
Lübeck und auch die Frühjahrstagung 1987 in Stuttgart befassten sich
mit dem Thema „Die Zukunft des Menschen - Befürchtungen, Prognosen, Hoffnungen". Die 58. Tagung behandelte dabei vor allem
medizinisch - psychosomatische Aspekte, die 59. Tagung philoso
phisch- ethische Fragen, die 60. Tagung sah ihren Schwerpunkt mehr
im Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Auf der 61. Tagung in
Lübeck wurde das Generalthema mit einem Vortrag über „Die
Zukunft der Arbeitswelt" fortgeführt. Außerdem wurde über den
Gehalt der Rituale gesprochen.
75 Jahre A. · .A. · .S.· .R. ·.
Im Mittelpunkt der Herbsttagung 1987 in Hannover, der beiden Tagun
gen 1988 in Münster und Bad Dürkheim und der Frühjahrstagung 1989
in Würzburg stand das Generalthema „Die Freimaurerischen Pflichten".
Es gab hierzu eine Fülle von historischen, philosophischen theoretisch
- analytischen, aber auch lebenspraktischen Vorträgen. Die 63. Tagung
in Bad Dürkheim wurde zusammen mit dem Forum Masonicum
durchgeführt.
Die folgenden Tagungen in Lüneburg, Konstanz, Hannover, Köln und
Hof waren dem Generalthema „Freimaurerei und Aufklärung" gewid
met. Es wurden eine Fülle von historischen, philosophischen, aber
auch zeitkritischen Fragen erörtert, wobei auch die Fortsetzung der
Aufklärung und die geistigen Anstrengungen zu einer „Neuen
Aufklärung" eine Rolle spielten.
Im Jahre 1988 legte Br:.Wolfgang Weber Vorschläge zur Ergänzung
der Struktur der Freimaurerischen Akademie vor, die auch im ORD
beraten wurden. Es ging u.a. um eine Verbreiterung der Basis der
Akademie, eine Erhöhung der Wirksamkeit durch Schaffung eines
Kuratoriums aus hochrangigen Persönlichkeiten der Freimaurerei und
des öffentlichen Lebens. Er ließ eine eigene Medaille des Obersten
Rates prägen für besonders aktive Mitglieder der Akademie, insbeson
dere aus dem Ausland. Vorgeschlagen wurde auch eine neue
Rechtsform, z.B. ein eingetragener Verein oder eine Stiftung , in die
Mitglieder berufen werden sollten. Nach eingehender Diskussion kam
man jedoch überein, es bei der bisherigen Struktur zu belassen.
Die Akademie unter Br:. Vox Vogeler
Als fünfter Akademiepräsident wurde Br:.Vox Vogeler 1992 gewählt.
Die 72.Tagung im Frühjahr 1992 in Wiesbaden wurde schon von
Br:. Vox Vogeler geleitet, obwohl er noch nicht offiziell gewählt war. Es
gab kein besonderes Generalthema. Es wurde über verschiedene Themen gesprochen, u.a. über Esoterik, Aufklärung oder die
Beschäftigung mit dem Tod im Leben. Die beiden folgenden Tagungen,
im Herbst 1992 in Weimar und im Frühjahr 1993 in Karlsruhe standen
unter dem Generalthema „ Was Menschen trennt - was Menschen ver
bindet". In den folgenden Tagungen, im Herbst 1993 in Bad
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 101
102
Lauterberg/Osterode a. Harz und später in Lüneburg, Fürth, Darmstadt und Köln standen vor allem zwei Generalthemen im Vordergrund „Erziehung und Bildung als Ethos der gesellschaftlichen Kultur" und ,,Ursachen kultureller Umbrüche". Dabei wurden auch Themen behandelt wie „Die Freimaurerische Tugendlehre als Verhaltenskodex", Die Toleranzlehre als Ordnungsprinzip der Gesellschaft", ,,Bildung ohne Wegweisung", ,,Praxis der deutschen Bildungspolitik", ,,Freimaurerisches Handeln als Forderung des Sittengesetzes" oder „Methoden der Bewusstseinsbildung durch rituelle Arbeit".
Unter Vorsitz von Br:. Vox Vogeler wurde erstmals auch ein besonderes Ritual für Öffnung und Schließung des Forums der Akademie und auch der Matinee zugrunde gelegt. Im Jahr 1994 wurde erstmals auch eine sehr detaillierte Geschäftsordnung vorgelegt, in der die Grundlagen der Akademie im Einzelnen dargestellt und die Aufgaben der Präsidiumsmitglieder beschrieben wurden.
Die Akademie unter Br.·. Alfred Schmidt
Mit Beginn des Jahres 1996 übernahm Br:. (Prof. Dr.) Alfred Schmidt die Leitung der Akademie Zum Vorstand gehörten die Brr:. (Dr.) Werner Boppel, Heinz Thoma und (Dr.) Roland Hanke. Von vorneherein zielte die Arbeit der Akademie unter der Leitung von Br :.Alfred Schmidt darauf ab, das aus dem 18. Jahrhundert stammende Grundvokabular der Freimaurerei angesichts des historischen Wandels auf seine heutige Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Nicht das Ritual als solches war Gegenstand der Diskussion, sondern seine tragenden Begriffe. Ein modernes Verständnis von Freimaurerei soll das Verständnis von Moral und Natur zeitgemäß neu bestimmen. Vor diesem Hintergrund widmeten sich die ersten Tagungen einer Klärung der Grundpositionen der Aufklärung. Im Zentrum dieser Philosophie standen die Kategorien Toleranz, Sittengesetz, Fortschritt, Vervollkommnung und moralische Bestimmung des Menschengeschlechts. Die 80. Tagung im Frühjahr 1996 in Hannover stand unter dem Generalthema: ,,Die Entzauberung der Welt - vom Mythos zum Logos". Dieses Thema sollte auch eine Fortführung des im Frühjahr 1995 in Darmstadt erörterten Generalthemas „Konturen einer neuen
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Aufklärung" darstellen . Es wurde dargestellt, wie - ausgehend von
Kepler, Galilei, Bacon und Newton - die Wegbereiter des modernen
naturwissenschaftlichen Denkens mit zunehmender Naturbeherrschung
die Befreiung des Menschen aus der Befangenheit in mythologischen
Naturverklärungen leisten wollten.
Generalthema der Herbsttagung 1996 in Bayreuth war die Frage nach
dem Fortschritt. Die Referenten stellten die Philosophen der deutschen
und der französischen Aufklärung vor sowie die maßgeblichen
Vertreter europäischer Naturforschung und den Begriff des Fortschritts
in den Geschichtswissenschaften. Es wurde deutlich, dass die
Vorstellung eines materiellen geistigen und moralischen Fortschreitens
der Menschheit zu den Grundüberzeugungen der Aufklärung gehörte.
Um die Bedeutung der Religion im Selbstverständnis des modernen
Menschen ging es bei der 82. Tagung in Ettlingen mit dem Thema:
„Religiöses Bewusstsein heute". Religiöse Bezüge - so das Resümee
der Tagung - verweisen auf ein elementares religiöses Bedürfnis der
Menschen, und die große Spannweite der Sinnsuche und Sinngebung
lässt sich auf dieses Bedürfnis zurückführen. Religion erweist sich
damit als wesentlich mit der Natur des Menschen verbunden. Die
Tagung stellte auch die systematischen Zusammenhänge zwischen
Moralphilosophie und säkularisierter Religion heraus.
Diesen säkularen Formen widmete sich dann die 83. Tagung im Herbst
1997 in Frankfurt/M. mit dem Thema: ,,Sittliche Normen und ihre
Begründung." Dabei ging es auch um das Verhältnis von Rechtsnormen
und ethischen Normen und auch um die Gedanken einer materiellen
Wertethik, wie sie Max Scheler vor rund 100 Jahren entwickelt hatte.
Auf der Frühjahrstagung 1998 in Schleswig standen die „Geistigen
Wurzeln der Freimaurerei" im Mittelpunkt. Sie beschäftigte sich mit
der Besonderheit, dass Freimaurerei weder eine Religion noch eine
bestimmte Morallehre darstellt, dass sie aber gleichwohl die wesent
lichen Impulse europäischer Religion einerseits sowie den bedeutend
sten Lehren von einem moralisch Guten im philosophischen Sinn andererseits in sich aufgehoben weiß.
Auf der folgenden Tagung in Frankfurt ging es schließlich um die
„Geistigen Wurzeln des Schottischen Ritus". Anders als die Wurzeln
der „blauen Maurerei" zeigen die Ursprünge der „roten Maurerei"
einen stärker ausgeprägten naturphilosophischen Charakter.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 103
104
Die 86. Tagung im Frühjahr 1999 in Berlin befasste sich - dem genius loci folgend - mit der Aufklärung in Preußen, auch mit den Berliner Aufklärern sowie mit Friedrich II. und Voltaire. Er wurde der Frage nachgegangen, was Aufklärung wirklich ist. Insgesamt gab die Tagung der Überzeugung neue Impulse, dass Aufklärung ein prinzipiell unabschließbarer Prozess ist. Die Herbsttagung 1999 in Frankfurt ging der Frage nach dem Verhältnis der Freimaurerei zur Natur nach mit dem Generalthema: „ Von der Physis zum Rohmaterial". Um zu zeigen, dass Natur nicht per se eine Gegenposition zur Moral impliziert, verfolgten die Referate den Weg vom mythischen Naturdenken zum wissenschaftlichen Naturbegriff. Dabei wurde sichtbar, dass Natur hin und wieder selbst normative Kraft für das Handeln gewinnen kann. Die 88. Akademietagung im Frühjahr 2000 in Bielefeld befasste sich mit den „Perspektiven der Freimaurerei im 21. Jahrhundert". Selbst wenn die Freimaurerei als Institution insgesamt von dem Säkularisierungsprozess keine Vorteile für sich hat ziehen können, ist die Freimaurerei gerade wegen ihrer Ritualistik von großer Bedeutung. Für den Herbst des Jahres 2000 in Frankfurt hat die Akademie anlässlich des 100. Todestages Friedrich Nietzsches dessen radikale Kritik an der Moralistik zum Thema gewählt. Die Akademietagungen im Jahr 2001, die 90. Akademie in Augsburg mit dem Generalthema „Begriff und Theorie des Vorurteils" und die Herbsttagung in Frankfurt mit dem Thema „Was ist Fundamentalismus?" befassten sich letztlich auch mit der Frage des nicht abgeschlossenen Prozesses der Aufklärung und der Humanisierung des Menschen sowie mit Religionsphilosophie . Vorurteil und Fundamentalismus entspringen letztlich der Neigung des Menschen nach festen, unveränderlichen Normen. Der Freimaurerei fällt auch die Aufgabe zu, verhärtete Denkformen aufzulösen und dadurch der niemals völlig aufzulösenden Tendenz zu Vorurteil und Fundamentalismus einen Teil ihrer zerstörerischen Kraft zu nehmen.
Die Akademie heute
Seit Anfang 2002 wird die Akademie von Br:. (Dr.) Werner Boppel geleitet. Dem Präsidium gehören weiter an die Brr. ( Dr. ) Klaus - Jürgen Grün, Reinhold Bendel und (Dr.) Roland Hanke, bzw. ab 2005
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Br.·. Heinrich Borger an. Die Akademie greift nun verstärkt, aktuelle und
auch gesellschaftspolitische Themen auf, ohne dabei aber den Bezug zur
Freimaurerei aus dem Auge zu verlieren. Die 92. Tagung im April 2002
in Magdeburg befasste sich mit dem Generalthema „ Toleranz - Utopie
und Wirklichkeit einer ethischen Forderung" Erörtert wurden im
Einzelnen der Begriff der Toleranz in seiner zeitgeschichtlichen
Entwicklung, die rechtliche und soziale Umsetzung der Forderung nach
Toleranz und die Ausdrucksformen der Toleranz in der Freimaurerei.
Die Herbsttagung in Düsseldorf stand unter dem Generalthema „Der
Mensch zwischen Materie und Geist". Deutlich gemacht wurde die
Komplexität und Bedeutungsvielfalt beider Begriffe, ihre Gegensätze,
aber auch ihre Gemeinsamkeiten, wobei auch die Erkenntnisse der
Hirnforschung eine Rolle spielten.
Die 94. Tagung im Frühjahr 2003 in Dresden hatte als Generalthema
,,Verfügbarkeit über Leben und Tod", ein hochaktuelles Thema gera
de vor dem Hintergrund, dass Leben und Tod auch vor dem
Hintergrund der modernen Genforschung vielfach neu abgegrenzt
werden. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob und inwieweit
Moral und Ethik neu definiert werden müssen. Die Herbsttagung
2003 in Fürth befasste sich dann - sehr aktuell - mit dem Thema
,, Globalisierung - Chancen und Risiken". Globalisierung, für Wirt
schaft und Finanzwelt heute eine Selbstverständlichkeit, hat auch auf
die Gesellschaft erhebliche Auswirkungen. Ganz wichtig ist auch,
welche Antworten die Freimaurerei als weltumspannender Bruder
bund geben kann.
Auf der 96. Tagung im Frühjahr 2004 in Rostock und auf der Herbst
tagung in Celle standen mit: ,,Der Islam in Geschichte und Gegenwart"
und: ,,Gibt es einen Kampf der Kulturen?" ebenfalls zwei sehr aktuelle
Themen im Vordergrund. Unabhängig von dem zunehmenden Funda
mentalismus im Islam ist es für die Freimaurerei wichtig zu erkennen, welche Berührungspunkte es gibt, worin die Natur des Islam begründet
ist und wie die Fanatisierung seiner Anhänger zu erklären ist. Dabei
spielt auch die Frage eine Rolle, ob der Beginn des 21. Jahrhunderts
weniger von politischen oder wirtschaftlichen Auseinandersetzungen
bestimmt wird, sondern vom Kampf der Kulturen.
75 Jahre A. · .A. · .S. ·.R. ·. 105
106
Arbeitskreis für die Schwestern
Die Tagungen der Freimaurerischen Akademie sind keine öffentlichen
Veranstaltungen, sondern für Brüder gedacht und auf der Grundlage
der freimaurerischen Ideale einer besonderen Zielsetzung verpflichtet.
Da die Tagungen von Anfang an ein breites Interesse fanden, stellte
sich die Frage, was die wachsende Zahl von Frauen unternehmen soll
te, die ihre Männer zu diesen Tagungen begleiteten. Am Anfang waren
die Frauen auf sich selbst gestellt bzw. auf die Gastfreundschaft der
Schwestern der örtlichen Loge angewiesen. Auf der 15. Tagung im
Herbst 1963 in Würzburg gab es zum ersten Mal ein verbindliches
Programm für die Schwestern. Dies lag zunächst in den Händen der
jeweils gastgebenden Loge, die die Aufgabe der Programmgestaltung
für die anwesenden Schwestern übernommen hatte. Schon bald kam
aber der Wunsch auf, aus dem Kreis der Schwestern heraus zu bestim
men, in welcher Form sie sich zusammenfinden wollten.
Erste Überlegungen hierzu gab es von Schw :. Ruthild Carola Brücker
schon 1968. Br :.Paul Ehmke war von dieser Idee begeistert und erteil
te Schw :.Brücker den Auftrag, ein Konzept zu erstellen. Anlässlich der
27. Tagung im Herbst 1969 in Darmstadt hielt Schw:.Ruthild Brücker
zum ersten Mal ein Referat „ Über die Gestaltung eines Programms für
die Schwestern bei zukünftigen Akademietagungen". Nach eingehen
der Aussprache , bei der es auch erhebliche Einwände gegen den
Vorschlag gab, wurde schließlich der Beschluss gefasst, es einmal zu
versuchen. Von der 28. Tagung in Hannover an gab es dann ein
„Programm für die Schwestern", als Beilage zur Einladung oder auf
der Rückseite der Einladung. Von der 40. Tagung an im Frühjahr
1976 gab es einen „Arbeitskreis für die Schwestern", mit einem - wie
es nun heißt: ,, Vortragsprogramm für die Damen".
Es wurden in den nunmehr fast 35 Jahren ihres Bestehens auch von den Frauen eine Fülle sehr anspruchsvoller Vorträge gehalten, ange
fangen von einem Vortrag über "Tradition und Wandel der Frau in
unserer Gesellschaft", über „ Gedanken über die Erziehung" oder „
Wege zu einer menschenwürdigen Gesellschaft" bis hin zu Leitthemen
wie „Angst", ,,Zeit" oder „Begegnung mit fremden Kulturen".
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Die ELEUSIS
Br:.Hans-Udo Wolf, 33°
Die ELEUSIS ist seit 1952 ein Organ des
A:.A:.S:.R: .. Sie erscheint derzeit in einer
Auflage von 2300 Exemplaren. Von Beginn an
sollte die ELEUSIS als Forum einer lebendigen,
geistigen Auseinandersetzung unter den Brüdern des Ordens dienen. In
den Beiträgen und Aufsätzen repräsentiert sich das gesamte Spektrum
der im freimaurerischen Geist verbundenen Brüder. Wird die ELEUSIS
von allen Brüdern gelesen? Regen die Themen dazu an, eigene
Geistesarbeit zu initiieren? Das bleibt den engagierten, ehrenamtlich
wirkenden Redakteuren weitgehend verborgen. Mit Zuschriften zu den
Beiträgen hielten und halten sich die Leser sehr zurück. Nach der
Präambel auf Seite 2 der ELEUSIS und den Zielen des A:.A:.S:.R:.
der Konstitution, bedeutet aber die Stellungnahme zu den Themen
einen unverzichtbaren Bestandteil des brüderlichen Dialogs über das
eigene Atelier hinaus.
Vorgängerschrift der ELEUSIS
Im Jubiläumsjahr (75 Jahre des A:.A:.S:.R:. in Deutschland)
erscheinen wieder 6 Hefte des 60. Jahrganges. Das war nicht immer
so. Mit Datum vom 15. Mai 1931 erschien die Nr. 1 des 1. Jahrganges
im DIN-A4 Format als „Mitteilungen des Obersten Rates für Deutsch
land". Die wichtigsten Beschlüsse und bedeutendsten Vorkommnisse
im Schottischen Ritus sollten den Brüdern bekannt gemacht werden.
„Veröffentlichungen jeder Art ziehen den sofortigen Ausschluss aus
dem Schottischen Ritus nach sich," so der warnende Hinweis unter
dem Doppeladler. Solche Arkandisziplin wurde bis in die 60er Jahre
von den Mitgliedern erwartet.
Die letzte Ausgabe der Mitteilungen erschien als 3. Jahrgang Nr. 5 am 15.
Dezember 1932. Damit ruhte das Blatt 16 Jahre lang bis am 15. Juni 1949
die Nr. 1 im 4. Jahrgang die Information für die Brüder wieder aufnahm.
Der SGK, Br :.August Pauls, eröffnete mit einem historischen Rück
blick das Wiederaufleben des SR in Deutschland. In Folge der
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·. 107
108
Ausgaben stellten Brüder, die im Laufe der Jahre auch unter der Liste
der Redakteure zu finden sind, ihre Gedanken zur vertiefenden
Ritualarbeit zur Diskussion.
Die Seiten fortlaufend nummeriert, schloss die Ausgabe Nr. S des 6.
Jahrganges am 15. Dezember 1951 auf Seite 155 mit dem Hinweis „An
unsere Leser", dass ab 1952 „unsere Hochgradzeitschrift" im Oktav
Format unter dem Titel „ELEUSIS" als Organ des Deutschen Obersten
Rates der Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen
Ritus erscheint. Für die Schriftleitung zeichneten Br :.August Pauls
(SGK) und Br:.Robert Bley (Gen:.Gr:.Kanzler) verantwortlich.
Die Vorgängerausgaben wurden im Jahr 2000 vom Br :.Falk
Reckelkamm als Reprint elektronisch erfasst. Sie können im
Sekretariat erworben werden. Nicht nur aus historischem Interesse
sind die Mitteilungen lesenswert. Die starken Persönlichkeiten der
ersten Jahre vermitteln die geistige Energie der Gründer und der
Nachkriegsbrüder, die ganz von vorn beginnen mussten.
Die Entwicklung der ELEUSIS
Mit der Ausgabe 6/1995 - SO Jahre ELEUSIS - haben Br:. Vox Vogeler
„Die ersten 25 Jahre" und Br:. Herbert Kessler, späterer SGK, ,,Die
zweiten 25 Jahre" der Zeitschrift ELEUSIS mit Anspruch und Wirkung
dargestellt. Diese Aufsätze sollen weder inhaltlich wiederholt noch
ergänzt werden. Sie zeigen uns einmal mehr, welche leitenden Interessen
mit der Herausgabe der Zeitschrift verknüpft waren und sind.
Die ausgewählten Beiträge sind oft auch ein Spiegelbild der
Intentionen der Redakteure, steht ihnen doch ein Vielfaches an Texten
aus den Arbeiten der Mitglieder zur Verfügung.
Als derzeitiger Redakteur mit der Erfahrung aus 6 Jahren Redaktions
arbeit und dem jährlichen Lesepensum von ca. 180 Arbeiten plus
Vorträgen der Freimaurerischen Akademie und vieler eingereichter
Zeichnungen, fällt es mir schwer, mit hochtrabenden Worten die ELEU
SIS zu bewerten. Dies mögen andere tun, denen das Lesen der ELEUSIS
auf ihrem eigenen freimaurerischen Weg Anstöße, Anregungen und
Vertiefungen ihrer geistigen und spirituellen Ausbildung geben.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Übergang von den
.Amtlichen Mitteilungen
zur ELEUSIS
ELEUSIS Organ des
Deutschen Obersten Rats der Freimaurer
des Allen und Angenommenen Schottischen Ritus
VII. Jahrgang Nr. 1 · Januar/Februar 1952
109
75 Jahre A.·.A:.S.·.R.·.
110
Nach meiner Überzeugung, auch gewachsen in den ersten Jahrzehnten meiner Ritusmitgliedschaft, in der mir die Lektüre der ELEUSIS
Richtung und Impuls zu eigener Denkarbeit und Bewusstseinsbildung war, ersetzt die ELEUSIS nicht den erforderlichen Dialog mit dem gleichgesinnten Bruder.
Je näher die Thematik an die realen Bedingungen der Gesellschaft
rückt, desto wichtiger ist der Dialog zwischen den Brüdern. Wohl wissend, dass jeder geschriebene Satz nur Theorie ist, hoffen wir auf die Aktivität des Einzelnen, die Gesellschaft durch die Tat zu verändern.
An Arbeiten mit Konzepten zur grundlegenden Veränderung der
Gesellschaft auf vier bis sechs Seiten dargestellt, mangelt es nicht,
ebenso an Aufsätzen, in denen die Floskeln „wir müssen" und „nur so geht es" in jedem Absatz auftauchen.
Es mag eine Zeiterscheinung sein, die Welten möglichst umgehend und grundlegend zu „reformieren", wobei wohl keiner so recht weiß, zu welcher Form die Lebenshaltungen zurückgeführt werden sollen. Mir scheinen da Rückbesinnungen auf vormaterialistische Zeiten und die Ausbildung spiritueller Eigenschaften vordringlicher.
Provokatorische Aufrufe zur Störung herrschender Machtstrukturen lese ich aus einigen Beiträgen heraus ebenso wie Forderungen nach kollektiven Einflussnahmen auf die sozio-politischen Verhältnisse
durch die Amtsträger der Großlogen und der Ratsversammlung.
Beide Ansätze sind m. E. nicht freimaurerisch, weil sie zu Ideologien und Dogmatisierungen führen, die dem Verständnis von „sowohl als
auch" zuwider laufen.
Gestalt und Umfang der ELEUSIS?
Auffällig in den Ausgaben seit 1952 bis heute ist der geringe Anteil an grafischen Darstellungen. Von einigen Porträts der amtierenden Großkommandeure und Fotos abgesehen, erfolgt die Kommunikation nur über die Schrift. Es ist sicher auch eine Kostenfrage.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Der Jahresseitenumfang von 200 Seiten im Jahr 1952 steigerte sich bis
1965 auf 323 Seiten in vier bis fünf Heften pro Jahr. Neu ab diesem
Jahr war ein Inhaltsverzeichnis auf der Kartonumschlagseite (schlecht
lesbar) und das regelmäßige Erscheinen von 6 Heften. Der
Seitenumfang erreichte 1981 die max. Höhe von 504 Seiten.
Die Verbreitung der ELEUSIS auch an Nichtmitglieder des Ordens
wurde durch einen Beschluss 1963 gestoppt und so konnten wieder
Kundmachungen, Arbeitstermine und sonstige Informationen einge
fügt werden. Eine der lnternas zum Stand 1965: 78 Ateliers und 2
ruhende in Breslau.
Möglicherweise im Widerstreit mit Auffassungen aus den symboli
schen Logen oder der gebotenen Arkantreue wechselte das Angebot
für oder nicht nur für Ritusbrüder. In 5/93 wird von der Herbstsitzung
des DOR berichtet, dass „zukünftig die ELEUSIS wieder eine
Zeitschrift für Ritusbrüder sein wird und den Brüdern Meistern der
Blauen Logen nicht mehr zugänglich sein soll". Vorher stand im
Impressum: ,,Brr :.Johannismeister können die ELEUSIS abonnieren."
Nach heutiger Auffassung scheint die ELEUSIS geeignet zu sein, allen
Brüdern Freimaurern als Brevier geistiger Arbeit zu dienen. Per Anzeigen
wird in freimaurerischen Publikationen um Abonnenten geworben.
Die Redaktion hat dieses konzeptionell bei der Auswahl der Beiträge
zu berücksichtigen. Dieses lässt sich leicht bewältigen, weil gradbeglei
tende Hefte mit ritualbezogenen Erläuterungen und Lehrgespräche zu
den einzelnen Graden den beförderten Brüdern überreicht werden.
Diese Hefte sind als Schriftenreihe bekannt.
Ein abschließender Blick auf die Entwicklung der Jahresseitentabelle
gibt Kenntnis von einer Reduzierung auf ca. 320 Seiten in 5 Ausgaben
pro Jahr, die bis Ende 1993 eingehalten wurde.
Mit der Ausgabe 1/1994 begann eine umwälzende Erscheinungsweise,
die noch heute die ELEUSIS kennzeichnet. Format und Layout, zwei
spaltig mit Vorspann und Zwischenüberschriften kommt dem zeitge-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 111
112
mäßen Leseverhalten der Leser entgegen. Dies verdanken wir der Kreativität und dem verlegerischen Know How unseres Brs:.Hubert V. Kopp, der als SGK nicht nur in dieser Weise richtungsweisendeImpulse gab. Seit 1/1994 erscheint die ELEUSIS wieder in 6 Ausgabenim Umfang von ca. 290 Jahresseiten.
Inhaltliche Festlegungen
Konzeptionell erfolgte mit der Übernahme der Schriftleitung durch den jetzigen Redakteur im Laufe des Jahres 1998 wieder die Ausweitung des Leserkreises auf die Johannismeister und ausgewählte Profane (Bibliotheken).
Die Vorträge der Freimaurerischen Akademie, ausgewählte Beförderungsarbeiten und Zeichnungen aus den Ateliers machen die ELEUSIS zu einer Zeitschrift zur Kultur aus freimaurerischer Geisteshaltung. Die Themen folgen damit der Präambel, die der Konstitution vorangestellt ist.
Bereits im Heft 3/1957 hatte die Schriftleitung Handlungsmaximen des DOR auf die Umschlagseite genommen, die bis 1963 abgedruckt wurden. Darauf entfielen sie bis 1/1971, bis die Präambel der Konstitution dafür eingesetzt wurde, allerdings nur bis Ende 1975.
Erst wieder mit der neuen Gestalt der ELEUSIS 1994 erschien sie wieder, wurde aber ab 5/1994 in dem Absatz von der „Umsetzung" vom Redakteur verändert, wo es heißt: ,, ... und zur Mitgestaltung der Gesellschaft" mit der Satzendung: ,, ... zum Wohle unseres Vaterlandes und seiner Bürger" versehen. Diese Formulierung führte in der Bruderschaft zu heftigen Reaktionen, insbesondere in den Grenzgebieten im Westen Deutschlands.
Die Präambel wurde Ende 1998 herausgenommen und ab 4/2003 erschien sie zur Zufriedenheit der Leser in der vorherigen Fassung von 1994, wie sie auch heute von der Ratsversammlung akzeptiert wird.
Dieses Beispiel zeigt, wie sorgfältig mit Setzungen und Programmen umgegangen werden muss. Ein früheres Beispiel von 1987, wo der
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
hoch geachtete SGK Br:.Kurt Hendrikson unter „Ein Schottenkodex"
Thesen über „Normen der eigenständigen Geisteshaltung" veröffent
lichte, führte ebenso zu heftigen Diskussionen, die bis in die Blauen
Logen reichten. Zwei Jahre danach haben verschiedene Autoren in der
ELEUSIS ausgleichend Stellung zum „Schottenkodex" bezogen.
Die Frage nach dem Niveau der ELEUSIS ist ambivalent zu beantwor
ten. Erwarten einige Brüder Beiträge rein philosophischer Qualität
und Güte, so bevorzugen andere Brüder lebensnahe populäre Themen
zur Anwendung in eigenen Lebensstrategien.
Im Laufe der fast 4o Jahre Freimaurerische Akademie - die erste fand
im Mai 1957 statt- haben deren Präsidenten versucht, ihrem Selbstver
ständnis vom Freimaurertum entsprechend, die Generalthemen durch
Referenten von außen (Universitäten) und innen (Brüder) dem gleichen
Anspruch gerecht zu werden. (s. auch Beitrag von Br:. W. Boppel)
Die ELEUSIS hatte zeitweise nur einzelne Vorträge aufgenommen, eine
Zeit lang mit je eigenen Redaktionen Akademie- und Atelierausgaben
herausgegeben. Der heutige Leser kann davon ausgehen, die Vorträge,
wenn auch erforderlich redigiert, in der ELEUSIS zu finden.
Auswahl der Beiträge
Soweit die Vorträge der Akademie ein oder zwei Hefte pro Jahr bean
spruchen, liegen für die restlichen Hefte aus der Vielzahl der eingereich
ten Beförderungsarbeiten und Zeichnungen aus den Ateliers, weit mehr
als es die zur Verfügung stehenden Seiten zulassen, gute Arbeiten vor.
Dennoch gelingt es nur sehr selten, Themenhefte zu konzipieren. Auch
haben die mehrfach in den zurückliegenden Jahren empfohlenen
Ansätze, mit Jahresthemen in den Ateliers zu operieren, fehlgeschla
gen, von einigen Atelierverbünden abgesehen.
Somit gilt es, verschiedene Tendenzen zu erkennen und auf mehreren
Ebenen anzusetzen, da die Beiträge auch den Entwicklungsgang des
Bruders von Grad zu Grad ausweisen.
75 Jahre A.·.A.· .S.·.R.·. 113
114
Die heutige Erscheinungsform der ELEUS/S
Die .Asymptotische Annäherung des Menschen an die VervoIIkomn,_
nung als Erfüllung seines Mandats" hat der A. u. EG!( Br:.Kurt
Hendrikson sein Bucl, .Freimaurerische Lebenskunst" untertite/t und
bringt damit auch <lie Intention des Redakteu,s der ELEUsrs au/ den
Punkt.
Aus- und abgewogen in zeitgemäßem Denken für eine freimaurerische
Geisteshaltung, Entwicklung des Menschengeistes und die Teilhabe
am Geistesstrom in Vergangenheit und Gegenwart kann dem ernsthaft
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Suchenden auf der Grundlage des Sozial-Ethischen der Symbolischen
Loge vertiefend und dabei geistig freiwerdend zu den Wurzeln des
Glaubens zurückfinden.
Dies ist humanitär und konfessionsfrei zu verstehen, aber weit vor den
rationalistischen Materialismus zurückgehend, um „die im Menschen
angelegte Fähigkeit der spirituellen Hinwendung zu einem höheren
Sein" (Br :.H. Kopp) zu entwickeln.
Die Redakteure der ELEUSIS
Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes ist allemal der Herausgeber
und das ist der jeweils amtierende SGK. Mit Beginn der ELEUSIS-Reihe
versah der SGK Br :.August Pauls noch selbst die Schriftleitung zusam
men mit GK Br:. Robert Bley. Aber mit dem Veröffentlichen von
Arbeiten aus dem Bruderkreis übernahmen dann auch andere Brr:. der
Ratsversammlung die zeitintensive Arbeit. Sie wird von allen in „ehren
amtlicher" Weise unter Opferung von Tag- und Nachtstunden ausgefüllt.
Mehr als es heute unter Zuhilfenahme aller elektronischen Komponenten
der modernen Kommunikationstechnik, wie Scanner, PC, Internet arbeits
vereinfachend möglich ist, muss das Engagement der früheren Brr :. hoch
gelobt werden. Bis der Text für den Umbruch reif war, waren viele Stun
den des Redigierens, Schreibens und mehrfachen Korrekturlesens not
wendig gewesen. So waren es auch immer zwei und mehr Brr:., die, wie
bereits erwähnt, bis zu 500 Jahresseiten fertig stellten. Auch war es sicher
eine Kostenfrage, Schreibkräfte für die Texterfassung zu unterhalten.
Bis 1992 ist es auffällig, dass dennoch die Redakteure über längere
Zeiträume diese Arbeit leisteten als danach. Zu den Redakteuren mit
den längsten Dienstzeiten zählen: (Dr.) Br:.Adolph Seeger (12 Jahre),
Br:.Fritz Hajek (12 Jahre) und Br:.Fritz Bolle (14 Jahre).
So, wie Letzterer am 08.04.1982 74-jährig in den E:.0:. einging und
ihm unmittelbar damit die „Schrift-Werkzeuge" aus der Hand genom
men wurden, haben 6 weitere Redakteure hochbetagt, 73- bis 83-jäh
rig, bis zu ihrem Tode die Redaktionstätigkeit ausgeführt. Achtungs
voll würdigen wir die 20 Redakteure durch Nennung ihrer Namen:
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 115
116
Br:.(Dr.) August Pauls,
Br :.Robert Bley,
Br:. (Dr.) Kurt Krippendorf,
Br:. (Dr.) Emil Selter,
Br:. (Dr.) Adolph Seeger,
Br :.Fritz Hajek,
Br:. (Dr.) Helmut Eichardt,
Br :.Fritz Bolle,
Br.·. Günther Bergemann,
Br:. Wolfgang Brachvogel,
Br:. (Dr.) Herbert Kessler,
Br:. Wolfgang Voges,
Br:. (Dr.) Hans-J. Nicolaus,
Br:. Alfried Lehner,
Br:. Gerhard Adam,
Br:. Thomas Richert,
Br:. Lothar Schneider,
Br:. Vox G. Vogeler,
Br:. Rüdiger Oppers,
Br:. Ulrich Wolfgang.
Gleichwohl sind die Brr :. in die Reminiszenz eingeschlossen, die mit im
Impressum genannt, aber im Stillen wichtige Zuarbeit leisteten. Es
sind die Verlagssekretäre und helfenden Brr :. , die für den Versand, die
Abrechnung, den zusätzlichen Verkauf und insbesondere für die
Adressenpflege ihren zeitlichen und fachlichen Anteil einbrachten.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R. ·.
Die Schriftenreihe des Schottischen Ritus in Deutschland
Br:. Thomas Richert, 33°
Im Zusammenwirken von Großkommandeur Br:.Kurt Hendrikson und Br:.Herbert Kessler entstand der Wunsch, die geistige
Arbeit innerhalb des Ritus und zugleich sein Wrrken in die blauen Logen zu intensivieren. Das hing auch damit zusammen, daß sich der Charakter der ELEUSIS zeitweilig wandelte, von einer internen Zeitschrift für Schottenbrüder zu einer Zeitschrift auch für Freimaurermeister.
Damit mußten die eher verwaltungsmäßigen Nachrichten eme eigene Veröffentlichung erhalten, das Mitteilungsblatt.
Für all das, was der Arkandisziplin unterlag, sollten darüber hinaus
eigene Veröffentlichungsreihen entstehen, aber auch Einzelpubli
kationen für bestimmte Zwecke. Die äußere Gestaltung entsprach der
der alten ELEUSIS, also im Format DIN A 5 und mit rotem Einband.
Aus einer seit 1979 tagenden Kommission heraus wurde 1980 der
Wegweiser zur Freimaurerei geschaffen, der inzwischen mit einem
neuen Vorwort in dritter Auflage erschienen ist. An ihm waren die
Brr :. Hans-Heinz Altmann, Alain Bernheim, Fritz Bolle, Kurt
Hendrikson, Johann Müss, Thomas Richert und Gustav Vogeler betei
ligt. Gedacht ist er immer noch als Schrift zur Unterstützung der sym
bolischen Logen bei ihrer Information von Suchenden.
Von Br :.Johann Müss verfaßte Annalen erschienen 1980. In ihnen
wurden in chronologischer Aufzählung die wesentlichen Daten unse
rer Geschichte von 1907 bis 1979 erfaßt. Den im Jahre 2000 gedruckten
Folgeband, Annalen II, schrieb Br:. Wolfgang Weber. Darin wird die
Periode von 1979 bis 1999 in gleicher Weise dargestellt.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 117
118
Abweichend von der üblichen Gestaltung gab es zwei Veröffentlichun
gen mit grünem Umschlag, 1987 von Br:. Thomas Richert das Biblio
theksverzeichnis und 1992 das ELEUSIS-Register der Jahrgänge 1952
- 1990 von Br:.Fritz Münchau.
Eine eigene Reihe, Der Schottische Ritus in Geschichte und Gegenwart,
war den geistigen und historischen Aspekten des Schottentums gewid
met, erlebte aber nur zwei Ausgaben, die Br :.Herbert Kessler betreute.
Heft I, Ideengut und Vorgehen der Freimaurerei insbesondere der
Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus gegen
Ende des 20. Jahrhunderts, enthielt Aufsätze von Br :.Ernst Ackermann
aus der Schweiz, Br:. Michel Garder aus Frankreich, Br:. Reuven
Trostler aus Israel und Br :.Kurt Hendrikson sowie Bemerkungen von
Br :.Herbert Kessler und Br:. Raoul Mattei. Hiermit wurde der
Versuch gemacht, die besondere freimaurerische Haltung des moder
nen Schottischen Ritus zu bestimmen. Dieses Heft erschien 1985.
Heft II, Historische Beiträge zur Geschichte des A:.A:.S:.R:. sowie
zur Entstehung des Deutschen Obersten Rates, wurde 1986 gedruckt
und enthielt geschichtliche Beiträge von Br:. Wolfgang Brachvogel,
Br:. Thomas Richert und Br:. Henning Wolter.
Die umfangreichste und bis heute fortgesetzte Reihe hat den Serientitel
Der Schottische Ritus, ein Gang durch die Grade des A:.A:.S:.R: ..
Als Herausgeber fungierte bis 1987 Br:. Herbert Kessler, von 1988 bis
1990 Br:. Wolfgang Brachvogel, 1991 nochmals Br :.Herbert Kessler
und seitdem Br:. Thomas Richerr.
Heft 1, Was ist und was will der Schottische Ritus?, von Br :.Herbert
Kessler, 1979, war der Versuch, Brüdern der symbolischen Logen den
Schottischen Ritus nahezubringen.
Heft 2, Die Rituale der Perfektionsloge, von Br:. Thomas Richert,
1982, gab eine Einführung in die Ritualistik der Perfektionsloge
auf der Grundlage der historischen Rituale des 18. und 19. Jahr
hunderts.
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.
In Heft 3, Der Alte und Angenommene Schottische Ritus innerhalb
der deutschen Freimaurerei, 1983, gab Br :.Herbert Kessler eine
Standortbestimmung des Ritus im Verhältnis zu den deutschen Groß
logen und ihren Hochgradsystemen. Diese Schrift war wiederum für
Freimaurermeister gedacht.
Heft 4, Der Areopag und seine Philosophischen Grade, 1983, von
Br:. Thomas Richert, erläuterte die Grade 19 bis 30 auf der Grundlage
der historischen Rituale.
Heft 5 aus dem Jahre 1984 widmete sich erneut der Perfektionsloge.
Br:. Rüdiger Hachtmann schrieb über Zeitgemäße Vollkommenheits
lehre und der belgische Großkommandeur Br:. Maurice Verbist über
Königliche Kunst.
Mit Heft 6 setzte Br:. Thomas Richert 1986 die Beschreibung der
historischen Rituale für die Grade 31 und 32 in Das Konsistorium fort.
Heft 7 versammelte 1987 in Das Kapitel Artikel von den Brrn:.Hans
Joachim Altmeyer, Theodore Pontzen, Ulrich Ehmke, Fritz Bolle, August
Pauls und Thomas Richert zur Interpretation der Grade 15 bis 18.
Mit Heft 8 wurden 1988 für Brüder aller Grade Stiftergestalten vorgestellt,
die einen Bezug zu unserer Ritualistik haben. Die Aufsätze stammten von den
Brrn:.Hubert Schleicher, Friedo Zölzer, Detlef-Ingo Lauf, Shlomo Lewin,
Reinhold Huscher, Gerd Wolandt, Otto Böcher und Rüdiger Hachtmann.
1990 erschien außerhalb dieser Reihe und mit weißem Einband Der
3 3. und letzte Grad von Br.·. Herbert Kessler und Br.·. Thomas Richert.
Br:. Vox Vogeler hatte sich seit einiger Zeit schon darum bemüht,
einen Roten Faden für die Schottischen Hochgrade zu formulieren.
Das Ergebnis war ein Breviarium Masonicum, Ein Ritualring für
Schottische Meister, 1991 als Heft 9 herausgegeben.
1993 schrieb Br:.Herbert Kessler Unterwegs zum Heiligen Reich,
Gedanken zum 3r. und 32. Grad, veröffentlicht als Heft 10.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 119
120
Heft 11 behandelte hauptsächlich den 18. Grad. Der Ritter vom
Rosenkreuz erschien 1995 und enthielt Aufsätze von den Brrn:.
Gerhard Baumann, Ernst Bienz, Ingomar Conrad, Falk Reckelkamm,
Thomas Richert und Leon Zeldis.
Das 1996 gedruckte Heft 12 widmete sich unter dem Titel Auf dem
Weg zur Vollkommenheit erneut den Perfektionsgraden und vereinte
Aufsätze von den Brrn:.Herbert Kessler, Günter Lensch, Thomas
Richert und Alfred Schmidt.
Heft 13, Alles entwickelt sich von selbst, hatte den 30. Grad zum
Thema. Es erschien 1997 mit Beiträgen von den Brrn:.Eberhard
Barth, Otto Kornmeier, Rüdiger Oppers, Alfred Schmidt, Friedrich
Wilhelm Schmidt, Henning Wolter und Ernst Wuppermann.
Mit dem neuen Jahrtausend fiel die Entscheidung, die Zählung der
Hefte aufzugeben. Auch war das Erscheinungsbild der Reihe zu
modernisieren, der besseren Lesbarkeit wegen andere Typen zu benut
zen und farbige Bilder beizugeben. In dieser Gestalt legten wir textlich
etwas verändert Das Kapitel im Jahre 2003 neu auf.
Eine Neuauflage des Heftes über den 4. Grad ist Anfang 2005 erschie
nen. Sobald die Ritualrevision für die Grade 5 bis 14 abgeschlossen
ist, soll auch dazu eine Erläuterung in der Schriftenreihe folgen.
Schließlich ist noch an eine Handreichung für Atelierpräsidenten
gedacht.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Aktive Mitglieder der Ratsversammlung Das Beamtenkollegium
Souv :. Ltn. ·. Groß�l<ommandeur Br:. Ernst Jahn, 33°
•
Gen.·. Groß-Zeremoni��ci�ier Br:.Klaus Hastedt, 33°
So Br:.Friedrich Wilhelm Schmidt, 33°
Gen:.Groß-Kapitän der Wachen Br:.Peter Schuma, 33°
Gen:. Groß-Kanzler Br:.Hans Dieter Klisch, 33°
Br:.Heinrich Borger, 33°
121
Aktive Mitglieder der Ratsversammlung Die Bezirks-Inspekteure
Bezirks-Inspekteur „Ost" Br:.Harald Meyer, 33°
Bezirks-Inspekteur „Nord" Br:.Ingo Nehlsen, 33°
Bezirks-Inspekteur „West" Bezirks-Inspekteur „Mitte"
Bezirks-Inspekteur „Nord-West" Br:.Michael Rother, 33°
Br:.Dr. Juan Brackins-Romero, 33° Br:.Hans Dieter Gamm, 33°
Bezirks-Inspekteur „Süd" Br:.Norbert Mann, 33°
122
Bezirks-Inspekteur „Süd-Ost" Br:.Ernst Jahn, 33°
Beauftragter für die neuen Bundesländer
Br:.Günter Hellmich, 33°
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Aktive Mitglieder der Ratsversammlung
Br:.Heinz Cyss
Br:.Dr. Gerhard Müller
Br:. Helmut Weppler (i.d.E.O. 03. Juni 2005)
Br:. Dr. Rolf Höhler Br:.Peter Krämer Br:.Gerhard Löbel
Br:. Günter Sandmann Br:.Franz-Gustav Schild Br:.Prof. Dr. Alfred Schmidt
Mitglieder mit besonderem Auftrag
Redaktion ELEUSIS Schriftenreihe
Br:.Hans-Udo Wolf
75 Jahre A. ·.A.·.S.·.R. ·.
Freimaurerische Akademie
Br:.Dr. Werner Boppel
123
Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei
Von der Johannismaurerei zur Perfektionsloge
Br:. (Prof. Dr. phil.)Alfred Schmidt, 33°
Nicht nur weltanschauliche und politische Gegner sind, obgleich in abwegigster Weise, bemüht gewesen, herauszufinden, was es mit der Freimaurerei auf sich hat. Auch wir selbst sind dieser Frage immer wieder nachgegangen und tun es noch immer. Wohl kann man über die Geschichte und das gegenwärtige Selbstverständnis des Bundes Interessierten eine knappe Auskunft erteilen. Mit einer abschlußhaften, allseits befriedigenden Definition dessen, was Freimaurerei ist, können wir nicht dienen. Die Arbeit des I\l. Grades unseres Ritus, ein Grad des Übergangs, lädt in lehrreicher Weise dazu ein, sich erneut über Einheit und Differenz
der beiden freimaurerischen Systeme zu verständigen, in denen sich die dialektische Wahrheit spiegelt, auf jeder Erkenntnisstufe die ganze Freimaurerei und doch jeweils nur einen ihrer Aspekte zu enthalten.
Eine neue Qualität geistiger Erfahrung
Der wesentliche Lehrgehalt der Freimaurerei, so wird oft gesagt, ist enthalten in den drei symbolischen Graden des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters. Da diese Ansicht durchaus zutrifft, bedarf der höhere, weiterführende Anspruch des Schottischen Ritus näherer Rechtfertigung. Eine solche kündigt sich an in den einleitenden Betrachtungen des Bruders Experten bei der Aufnahme von Johannismeistern in den I\l. Grad. Betont wird hier beides: die neue Qualität geistiger Erfahrung, die den Aufzunehmenden erwartet, und die „Einheit und Verbundenheit" des Ritus mit der humanitären Großloge. Es handelt sich also beim Übergang zur roten Maurerei nicht um einen Bruch, nicht um völlig neue Inhalte, sondern darum, ein tieferes Verständnis des vom Adepten bereits Angeeigneten zu erreichen. Der Ritus folgt denn auch methodisch wie in
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 125
126
seinen Zielen der „universellen, unzerstörbaren Idee unseres Bundes".
Sein System ist so unvollendet wie die Welt. Es gehört zu seinem antidog
matischen Grundzug, daß er keine Definition der Freimaurerei gelten
läßt, die „eindeutig und endgültig" wäre. Bedeutsam für neue Brüder
dürfte die geschichts- und sozialphilosophische Dimension sein, die das
Schottische Lehrgebäude über die blaue Maurerei hinausführt, die insge
samt stärker an den Stadien des individuellen Lebensweges orientiert ist.
Demgegenüber rekapituliert die rituelle Abfolge der Schottengrade die
epochalen Stufen der Entwicklung des menschlichen Geistes. ,, Wir
erfahren durch ihn", so die einleitende Betrachtung, ,,die geistesge
schichtliche Entwicklung der Menschheit und die des individuellen
Lebens als einen ganzheitlichen Prozeß, der jeweils in Abhängigkeit
von den zeitlichen und gesellschaftlichen Bedingungen eine angemes
sene Antwort fordert auf die immerwährende Frage nach dem Sinn des
Lebens." Die Maurerei, soviel geht hieraus hervor, verfolgt zwar ein
ewiges Ziel, ist aber dabei wie alles Menschliche gebunden an die end
lichen Bedingungen von Raum und Zeit.
Die Suche nach dem Verlorenen Wort
Aus der moralischen Aufgabe, für den Fortschritt und das Glück des
Individuums wie des sozialen Ganzen zu arbeiten, ergibt sich für das
Selbstverständnis des Ritus, daß er die Pflichten, die neuen Brüder
schon in der Johannisloge auferlegt werden, nicht etwa als „ablegba
re und überwundene Stufen" betrachtet, sondern als „notwendige
Ergänzung" seines eigenen Weges.
Geistige Arbeit ist im Schottischen Ritus kein Selbstzweck. Sie soll auch
und vor allem seiner blauen Basis zugute kommen. Seine Mitglieder
befinden sich nicht in der Chefetage des Bundes, sondern bilden dessen
Vorhut. Die neu aufgenommen Brüder, heißt es in unserem Ritual,
bekunden durch Ablegen der maurerischen Bekleidung ihre
„Bereitschaft", sich „unbelastet durch bereits erworbene Kenntnisse" zu
öffnen für „neue Wege und Einsichten". Dadurch erst, heißt es hier wei
ter, wird sich der „bleibende Wert" jener älteren Kenntnisse erweisen.
Die blaue Maurerei ist im Ritus „aufgehoben" im Hegelschen Sinn; die
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
neue Stufe relativiert und bewahrt das Vorangehende. Das zeigt sich
daran, daß die Legende des IV. Grades die des m. fortsetzt, die den
Johannismeistem nur in ihrem abschließenden, eschatologischen Teil
bekannt ist. Wichtig an dessen erweiterter Version, wie sie im Ritual des
IV. Grades vorliegt, ist der Umstand, daß hier das im m. Grad lediglich
ersetzte, nicht aber wiedergefundene Verlorene Wort wieder auftaucht: als
das Unaussprechliche. Das besagt: Unsere Sehnsucht nach Sinn und Halt,
unserer metaphysisches Streben nach absolutem Wissen finden kein Ende.
Gibt es die absolute Wahrheit?
Der Freimaurer lebt mit dem Bewußtsein, daß Wahrheit kein fertiges
Ding ist, keine Münze, die eingestrichen werden kann, wie Lessing
sagt; sie ist auch in den Wissenschaften ein beschwerlicher, prinzipiell
unabschließbarer Prozeß. Jede erreichte Einsicht wird früher oder spä
ter herabgesetzt zum Teilaspekt eines noch umfassenderen Wissens.
Soweit es um die Wirklichkeit des Numinosen geht, entzieht sie sich
jeder sinnlichen Wahrnehmung und begrifflichen Fixierung. Sie wird
erahnt, erlebt und läßt uns verstummen. Wahrheit, betont das Ritual,
ist ein „hehrer Begriff" der Philosophie, den wir nicht jeder
,,beschränkten menschlichen Vorstellung" gleichsetzen sollten.
Bezogen auf die empirische Welt ist Wahrheit seit Aristoteles die
Eigenschaft sachgemäßer Urteile. Die Sache aber, daran erinnert
Schopenhauer, wird nur zu oft, wenn es um Metaphysisches geht,
durch Vorurteile, ideologischen Wahn und Aberglaube, aber auch
handfeste Interessen verfälscht. Sachdienlich dagegen, sagt Schopen
hauer, sind Religionen, die - inspiriert von der Erfahrung des Todes - in
mythisch-allegorischer Rede nach dem Einen und Ewigen tasten und
uns so von einer trostlosen, rein physischen zu einer moralischen
Weltansicht hinüberführen.
Es gibt die absolute Wahrheit; erkennbar jedoch ist sie nur auf den
relativen Stufen fortschreitenden Wissens. Der Ritus, das sei nicht
gering veranschlagt, weckt das Interesse des Neophyten an philosophi
schen, ja letzten Fragen, aber er hütet sich vor dogmatischen Ant
worten. Die vier allegorischen Reisen knüpfen sachlich an eine dem
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 127
128
Neuaufgenommenen bisher unbekannte Version der Hiramslegende an. Hiram, der Märtyrer treuer Pflichterfüllung bis in den Tod, erscheint hier in einer eindrucksvollen Episode seines Lebens. Wir werden darüber belehrt, wie entscheidend es ist, die „Autorität der Persönlichkeit" von bloß „institutioneller Macht" zu unterscheiden; wir erfahren, daß die „ wahre Macht" des bedeutenden Individuums, seine Fähigkeit, Menschen zu führen, auf seiner Freiheit beruht. Ferner, daß -vorauf schon Platon hinweist - ein gedeihliches Gemeinwesen Gerechtigkeit voraussetzt; die letzte Reise schließlich erinnert an die Pflichten des einzelnen gegenüber sich selbst, seinen Mitmenschen und den überindividuellen Ordnungen, in denen er steht. Die gesellschaftlichen Bezüge des N. Grades drücken sich aus im Schritt „ vom Symbolismus zum Aktivismus"; darin, daß auf die Notwendigkeit praktischer Umsetzung der rituellen „Erfahrungen und Erkenntnisse" hingewiesen wird.
Die Perfektionsloge
Der neue Bruder wird Mitglied einer „Perfektionsloge". Der Ausdruck enthält die Erwartung, daß der in den Ritus Berufene an seiner maurerischen wie allgemein-menschlichen Vervollkommnung arbeitet. Vollkommenheit im strengsten Wortsinn bleibt der Transzendenz vorbehalten; Menschen können nur danach streben, stufenweise aufzusteigen. Unser Bund folgt hierin dem aufklärerischen Gedanken der materiellen wie moralischen Perfektibilität des Menschengeschlechts. Daß es darauf ankomme, alle menschlichen Fähigkeiten harmonisch zu entfalten, wird von vielen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts vertreten, von Condorcet, Leibniz, Wolff, Kant und Shaftesbury. Br :.Herbert Kessler hat unter dem Titel Vollkommenheit die heutige philosophische Problematik dieses Begriffs eingehend erörtert. Sein Fazit lautet: ,, Was vom Menschen geschaffen wird, die Kultur schlechthin, kann der Mensch auch verändern, zum Guten wie zum Schlechten. Ein unübersehbares Arbeits- und Wirkungsfeld, in dem der menschlichen Freiheit die Vervollkommnung aufgetragen ist."
1----
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Freimaurerei und Postmoderne
Br:. (Dr.) Frank Schley,33°
In der Präambel des Schottischen Ritus wird gefordert, sich mit den Erkenntnissen der Natur- und Sozialwissenschaften auseinanderzusetzen und diese zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. ,, [ ... ]; Auswertung gewonnener Einsichten aus Leben, Wissenschaft und Kunst für Gegenwart und Zukunft; Umsetzung der Erfahrungen und Erkenntnisse in die Tat zur Selbstgestaltung des Einzelnen und zur Mitgestaltung der Gesellschaft; [ •.. ]"
Eine Anpassung an den Zeitgeist ist nicht die Aufgabe der Freimaurerei, wohl
aber die Spiegelung des Zeitgeistes an den grundlegenden Idealen unseres
Bundes, denn wenn die Freimaurerei auch in der Zukunft einen Platz in der
Gesellschaft als ethisch-moralischer Bund einnehmen will, so kann und darf
sie die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht unreflektiert hinnehmen. Es ist
weiterhin nicht die Aufgabe des Bundes, die Ideen einer menschlicheren
Gesellschaft nur zu reflektieren, sondern jeder Bruder ist aufgefordert, diese
Ideen aktiv in die Gesellschaft zu tragen und im jeweils persönlichen Ent
scheidungsbereich umzusetzen. Somit sind die Brüder unseres Ordens auch
aufgefordert, sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen aktiv
auseinanderzusetzen und ihre Position unter Beachtung der Ziele unseres
Ordens in der Gesellschaft jederzeit neu zu bestimmen.
Ein Paradigmenwechsel
Die heutige Gesellschaftsphilosophie spricht von emem not1gen
Paradigmenwechsel und stellt gegen das Modell der Modeme die
Theorie der Postmoderne.
Die Gesellschaftsphilosophie versteht unter der „Modeme" die Epoche
beginnend mit der Neuzeit mit „ihrem Grundzug, die Vielfältigkeit des
Lebens [ ... ] auf eine einzig geltende Leitvorstellung (Idee, Paradigma) von Vernünftigkeit (Denken) und Wirklichkeit (Sein) zurückzuführen.
[ ... ] Die Postmoderne tritt ein für die Destruktion dieser uniformen
Rationalität, für die unaufhebbare Vielfalt der Denkansätze, Hand
lungsorientierungen, Lebensformen und kulturellen Welten. Die Grund
überzeugung ist, daß die Wirklichkeit nicht homogen, nicht einheitlich,
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 129
130
sondern divers strukturiert ist" /1/. Lyotard /2/ verweist nachdrücklich
darauf, ,,daß allen postmodernen Gesellschaftsentwürfen keine
Metaerzählungen zugrunde liegen". Das bedeutet nach Kron /3/, ,,in der
Postmoderne gibt es keine sozialen Tatbestände sui generis (Durkheim),
keine unabdingbaren normativen Muster oder Wertsysteme (Parsons)
und keine kommunikativ erarbeitete Moral (Habermas)" .
Die blaue Freimaurerei, wie sie sich 1717 konstituiert hat, und auch
der Orden des Schottischen Ritus sind Systeme, die ihre Wurzeln in
den mythischen Erzählungen haben. Auch die rituellen Arbeiten stüt
zen sich darauf ab, auch die Denkansätze der Aufklärung. Sie sind
somit unbestritten Modelle der Modeme.
Genannt seien hierbei für die blauen Logen die Hiramslegende (eine
der Voraussetzungen für die Regularität einer Loge) und die sonstigen
rituellen Bezüge auf die Berichte des Alten und Neuen Testamentes als
der dominierenden Wurzel der abendländischen Moralvorstellungen.
Dieser Bezug auf große sinngebende Erzählungen wird im Schottischen
Ritus, der seinen Ritualen die geistig-moralische Entwicklung der
Menschheit oder zumindest die Entwicklung der Freimaurerei zugrunde
legt, konsequent weiterentwickelt. Zu nennen sei hier der Bezug auf den
Templerorden, aber in besonderem Maße das Symbol der Krypta, wel
ches auf die Gemeinsamkeiten menschlicher Moralvorstellungen in allen
Metaerzählungen und damit auf allgemeine übergeordnete Werte, die
allen Menschen aufgrund ihrer Vernunft a priori innewohnen, hinweist.
Allerdings hat der Schottische Ritus bisher darauf verzichtet, die jewei
lige transzendente Begründung dieser offenbarten Moralsysteme als
eine verbindliche Forderung oder die alleinige Voraussetzung für mora
lisches Handeln anzusehen; vielmehr beruft sich unser Bund nur auf die
Gemeinsamkeiten der moralischen Vorstellungen, die die menschliche
Vernunft über Zeiten und kulturelle Grenzen hinweg erahnt hat, und
verweist auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Ursache.
Die Philosophie der Aufklärung
entwarf moralische Systeme, die nicht eine transzendente Begründung
haben, sondern auf die Vernunft des Menschen zurückgeführt werden.
Eine Entwicklung, die Lessing in der „Erziehung des Menschen
geschlechtes" zu der Feststellung bewegte, daß in den offenbarten Lehren
75 Jahre A. · .A. · .S.· .R. ·.
des Neuen Testamentes (oder der Religionen) ,, ... Wahrheiten vorgespie
gelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie
die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und
mit ihnen verbinden lernt"/4/. Die wohl bedeutendste Formulierung eines
in der Vernunft begründeten Wertekodexes ist die des Kantischen kate
gorischen Imperativ und seiner de- ontologischen Morallehre. Die Moral
des einzelnen Menschen sollte aus Einsicht in die Notwendigkeit morali
schen Verhaltens entstehen, aus einer Selbstverpflichtung jedes einzelnen
zu einem guten Leben, ohne daß es hierzu diesseitiger oder jenseitiger
Belohnung oder Bestrafung bedarf.
Das Prinzip der Selbstverpflichtung zu moralischem Verhalten inner
halb eines allgemeingültigen Wertesystems aufgrund eines gesellschaft
lichen Konsenses - der Gesinnungsethik - ist eines der Prinzipien, auf
denen die Arbeit unseres Bundes beruht.
Die Postmoderne macht nun diese Gesinnungsethik verantwortlich für
die in den letzten Jahrhunderten aufgetretenen Greueltaten bis hin zum
Holocaust und fordert als Konsequenz das Modell der Verantwor
tungsethik ein. Nicht allgemein anerkannte moralische Grundsätze sol
len das Maß für eine Handlung sein, sondern nur die Verantwortbarkeit
des Ergebnisses einer Handlung. Die Verantwortungsethik macht aller
dings keine verbindliche Aussage, gegenüber wem das Ergebnis vertre
ten werden muß. Gegenüber der Schöpfung und dem Schöpfer, der
Menschheit, der Nation oder einer Gemeinschaft Gleichgesinnter?
Gleichermaßen wird keine Aussage gemacht, welche Maßstäbe ange
legt werden sollen, um zu entscheiden, ob das Ergebnis zu verantwor
ten ist. Würde es hierzu verbindliche Aussagen geben, so wären ihre
Begründungen gleichermaßen zu hinterfragen wie die Begründung
allgemeingültiger Handlungsanweisungen.
Eine neue Interpretation der Rituale
Auch hier hat unser Bund schon früh in den Ritualen eine Antwort
gegeben, zum einen mit den Symbolen des Winkels und des Zirkels
und ihrer Anordnung in den unterschiedlichen Graden, aus dem
Wissen, daß der Notwendigkeit des Rechts als Ausdruck der
Gerechtigkeit die Menschenliebe entgegenstehen müsse, um eine
humane Gesellschaft zu bauen.
75 Jahre A. · .A.·.S.·.R.·. 131
132
Eine reine Gesinnungsethik kann daher genau wie eine reine Verantwortungsethik nicht das alleinige Ziel sein, denn die Abwägung der Auswirkungen des Handelns in einer gegeben Situation muß sich an einem Katalog von Werten orientieren. Werte, die zwar nicht absolut zu befolgen sind, sondern die verantwortlich in eine der Situation angemessene Hierarchie gestellt
werden müssen und deren Auswirkungen untereinander abgewogen werden müssen. Der Schottische Ritus verweist im 30. Grad nachdrücklich darauf, daß die Anwendung erkannter und anerkannter Prinzipien ohne das Regulativ sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht der Errichtung des Tempelbaus dienen kann. ,,So ermahne ich Euch ... , daß Verstand und
Gemüt unablässig und untrennbar zusammenwirken müssen. Sonst durch
mißt die Wissenschaft kalt und seelenlos den Raum, oder das ungebändigte
Gefühl verliert sich in den ziellosen Bahnen des Kreises" (TA30)
Die Ablehnung der Anerkennung allgemeingültigei; übergeordneter und auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhender Werte durch die Postmoderne ergibt sich aus der Hypothese, daß sich die Individualität ausschließlich gesellschaftslos darstellt; die Gesellschaft zerstöre das Individuelle und
mit diesem werde der „moralische Impuls" des Menschen gleichermaßen zerstört. Die Individualität eines Menschen definiert sich vielmehr durch
den persönlichen Bereich, den er der Gesellschaft entzieht (Exklusionsbereich). In demjenigen persönlichen Bereich, in dem der Mensch an der Kommunikation an Teilsystemen partizipiert „wird nur auf Teil-, i. e.
Rollenaspekte, auf partikuläre Identitäten zurückgegriffen, die die Gesamt
persönlichkeit des Menschen ausdrücklich ausblenden" /5/. Das Idealbild der Postmoderne ist der sich selbst inszenierende Mensch, der sich ohne Rücksicht auf Konventionen und die Rechte anderer individualistisch dar
stellt und sich so bewußt von den Normen der Gesellschaft abhebt. Dieses Verhalten wird als die höchste Form der Selbstbestimmung angesehen.
Von der Individualethik zur Sozialethik
übersehen wird, daß Individualismus, wenn er sich als uniformer Gegensatz zu bestehenden Konventionen manifestiert, keine glaubhafte Manifestation von Selbstbestimmung ist, sondern durch den Zwang zur Nonkonformität letztlich eine durch die abgelehnten Normen oktroyierte Fremdbestimmung ist und daß eine auf auffällige Äußerlichkeiten reduzierte Individualität kein Nachweis von Persönlichkeit ist.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Eine konsequente Ausblendung der Person aus der Gesellschaft und
eine nur auf Rollenaspekte reduzierte Teilnahme löst letztlich die
Gemeinschaft auf und führt zu einer Entsolidarisierung der Menschen;
Solidarität wird nur noch als Forderung an die Gesellschaft gesehen,
der Anspruch der Gesellschaft auf Solidarität wird negiert. Unser
Bund verweist jedoch - zu Recht - in vielen Graden darauf, daß die
Gemeinschaft die unabdingbare Basis jeder Gesellschaft ist. Und der
von uns als Ziel unseres Bundes angesehene Tempel der Humanität ist
ein Sinnbild einer idealen Gemeinschaft, in der sich jeder einzelne
ungeschmälert mit allen seinen Fähigkeiten einbringt.
Die Freimaurerei will ihre Adepten dazu anleiten, eine geschlossene
Persönlichkeit hervorbringen, welche in allen Lebensbereichen eine
berechenbare Haltung zeigt; kein Chamäleon, welches seine
Gesinnung den jeweiligen Umständen anpaßt. Sie gibt den Menschen
nicht vor, wie sie sein sollten, sondern leitet sie dazu an, das in ihnen
vorhandene Potential zu erkennen und zu entwickeln und so sich
selbst zu einer in sich ruhenden Person zu entwickeln.
Als Voraussetzung für das Gesellschaftsmodell der Postmoderne wird
eine uneingeschränkte Toleranz eingefordert. ,,Im Idealfall ist in einer
pluralen und pluralistischen Welt der Postmoderne jede Lebensform
prinzipiell erlaubt oder, besser gesagt, es sind keinerlei allgemeine
Prinzipien evident[ ... ], die irgendeine Lebensform unzulässig machen
würden" /6/. Hieraus folgt, daß die Toleranz gegenüber jedweder
Lebensform eingefordert wird, da es keine allgemeinverbindlichen
Ablehnungsgründe gibt, bis hin zur Toleranz gegenüber Intoleranz
und Gewalt, da auch diese Verhaltensformen in den denkbaren
Katalog der geschützten Individualität fallen.
Das Prinzip der Toleranz
Die Freimaurerei war von Anbeginn ein konsequenter Verfechter der Toleranz, allerdings einer Toleranz, die sich in ihrer Gewährung selbst
Grenzen setzen muß und die gegenüber solchen Systemen verweigert
werden muß, die ihrerseits die Toleranz nicht als Prinzip beinhalten,
weil sich sonst die Tugend der Toleranz auflöst und zu einem mora
lischen Relativismus führt, bei dem letztlich keinerlei Werte mehr
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 133
134
existieren. Die Vorstellung postmoderner Toleranz ist es, die „Funda
mentalität der Differenz muß absolut gesehen werden" /71; eine nicht
absolut gewährte Toleranz wird von den Vertretern der Postmoderne
als traditionelles Herrschaftsinstrument diffamiert.
Unser Bund muß zu diesen Tendenzen Stellung beziehen, wir müssen
uns mit dem Gedankengut der Postmoderne auseinandersetzen, denn
aus den Widersprüchen zu unseren Ideen einer idealen Gesellschaft,
zu denen unbestritten ein für alle Menschen verbindliches Wertesystem
gehört, ergibt sich, wie jeder einzelne von uns in der Gesellschaft zu
dem gesellschaftlichen Modell der Postmoderne Stellung bezieht. Wir
sollten uns nicht nur in unsere Tempel wie in einen Elfenbeinturm ein
schließen und über den Bau einer menschlicheren Gesellschaft in schö
nen Worten reden und von anderen die Taten für den Erhalt einer
Gesellschaft, in der wir existieren können, überlassen. Vertrauen wir
bei dem Erhalt des bisher Erreichten der Weiterentwicklung der
Gesellschaft nicht auf andere, sondern vertrauen wir auf uns.
Die Freimaurerei in allen ihren Erscheinungsformen ist von ihrem
Selbstverständnis her ein System, welches der Zukunft der Menschheit
verpflichtet ist, dargestellt durch das Symbol des Baus am Tempel der
Humanität. An diesem Bau zu arbeiten hat jeder Bruder bei seiner
Aufnahme gelobt und mit seinem Eintritt in den Schottischen Ritus
bekräftigt er dies mit der Verpflichtung zur Tat noch einmal ausdrücklich.
„Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe" sind die Statuten und
Regeln unseres Ordens, von denen wir überzeugt sind, daß sie die ver
bindlichen Grundpfeiler einer humaneren Menschheit sind. Wir müs
sen also untersuchen, ob diese Regeln im Hinblick auf die Ablehnung
allgemeinverbindlicher Grundsätze auch weiterhin Bestand haben.
Die Vernunft
Die Vernunft ist diejenige Eigenschaft, die der Mensch exklusiv für sich
reklamiert; er ist überzeugt, daß diese Eigenschaft eigentlich das
Menschsein definiert. Die Negation dieser Eigenschaft als dasjenige
Werkzeug, welches das Zusammenleben der Menschen regelt, hieße zu
unterstellen, daß die Menschheit außerstande ist, sich aus sich heraus zu
organisieren; dies wäre zugleich die Aufgabe der Annahme der Freiheit des
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
menschlichen Handelns. Daß der Mensch nicht immer vernünftig handelt,
das heißt, sich nicht der Vernunft bedient, wird hiervon nicht berührt. Die
Vernunft des Menschen kann also nicht in Frage gestellt werden.
Freiheit und Gerechtigkeit
Freiheit und Gerechtigkeit stehen einander entgegen; die Gerechtigkeit
begrenzt die persönliche Freiheit, so wie die persönliche Freiheit das
Ausmaß der denkbaren Gerechtigkeit begrenzt. Die Abwägung der
Balance zwischen diesen beiden Antagonismen ist stets neu vorzuneh
men. Sie unterliegt dem Wandel der jeweiligen gesellschaftlichen und
kulturellen Randbedingungen. Denn die jeweilige Gerechtigkeit einer
Zeit und einer Gesellschaft ist keine unveränderlich zementierte Norm,
wenngleich die Gerechtigkeit und die Freiheit absolute Ideen bleiben:
„Nur wenn die gesellschaftlichen Normen des Staates und das ethische
Bewußtsein des Einzelnen übereinstimmen, kann das Gesetz der
Gerechtigkeit und dem Frieden dienen. Deshalb bedingt der ständige
Wandel der gesellschaftlichen Strukturen auch den Wandel der Normen
und Gesetze. Das Recht wandelt sich mit der Gesellschaft, aber Idee und
Gebot der Gerechtigkeit bleiben". (TA 31) Das hier angesprochene ethi
sche Bewußtsein, welches auch die Würde der eigenen Person in der
Gesellschaft reflektiert, berücksichtigt wertend das Ausmaß der persön
lichen Freiheit, welches von der Gesellschaft gewährt wird.
Der Versuch, eine absolute Gerechtigkeit zu etablieren, d. h. jeder
noch so kleinen gesellschaftlichen Gruppe gerecht zu werden, kann zu
einer nicht mehr akzeptierten Einschränkung der Freiheit der jeweils
anderen Mitglieder der Gesellschaft führen. Die Forderung der
Postmoderne einer tolerierten, absoluten Freiheit des einzelnen auch
auf Kosten der Freiheit der anderen hebt die Gerechtigkeit auf und
schränkt damit das in einer Gesellschaft mögliche Optimum der
Freiheit aller Mitglieder der Gesellschaft ein.
Die Liebe
Die Werkzeuge, um die Gerechtigkeit und die Freiheit miteinander in
Einklang zu bringen und die der Zeit und den gesellschaftlichen
Randbedingungen angemessene Ausgewogenheit zu gewährleisten, sind
die Vernunft und die Empathie, die wir in unseren Ritualen als die
allumfassende Liebe bezeichnen. Die Vernunft, um die Regeln und das
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 135
136
Recht zu definieren und die Empathie, um dem Wunsch des einzelnen
nach Persönlichkeit und Selbstbestimmung gerecht zu werden. Vernunft
und Empathie sind die invarianten Voraussetzung, Gerechtigkeit und
Freiheit die von ihnen justierten Grundwerte einer Gesellschaft. Dieses
Parallelogramm der Werte ist in der Lage, alle anderen von unserem
Bund geforderten Tugenden zu begründen - Toleranz, Achtung des
anderen, Rechtschaffenheit, Moralität, Beständigkeit etc. Sie ergeben
sich zwangsläufig aus diesen Regeln. Vernunft, Liebe, Gerechtigkeit und
Freiheit sind also auch weiterhin eine verläßliche Basis für die Schaffung
eines humanen Zusammenlebens der Menschen innerhalb emer
Gesellschaft, aber auch von Gesellschaften untereinander.
Die Negation verbindlicher Grundregeln durch die Postmoderne und
die Forderung nach absoluter Freiheit bedroht nicht allein den Tempel
der Humanität, sondern sie stellt das Fundament, auf dem dieser
gebaut werden soll, gleichermaßen in Frage.
Die Freimaurerei, und insbesondere der Schottische Ritus, muß sich
durch jeden einzelnen, aber auch als Institution, wenn sie den sich selbst
gegebenen Auftrag, den Bau des Tempels der Humanität ernst nimmt,
gegen diesen Trend stellen. Bleiben wir Verfechter der ursprünglichen
Ideen der Aufklärung, daß nur die Vernunft und eine sinnvoll limitierte
Toleranz, das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gerechtigkeit und die
Brüderlichkeit aller eine humane Gesellschaftsordnung gewährleisten
können. Wir können und müssen den Vorstellungen der Postmoderne
den Sinnspruch unseres Ordens entgegenhalten: ordo ab chao.
Literatur: /1/ Alois Haldei; Philosophisches Wörterbuch, Herder Verlag, Freiburg, 2000, /2/ JeanFrarn;;ois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Ein Bericht, Edition Passagen, Wien, 1994; 13/ Thomas Kron, Postmoderne Gesellschaft - als Gesellschaft, Beitrag zur Konferenz "Postmoderne Perspektiven", Erlangen, November 1999; /4/ Gotthold Ephraim Lessing, Freimaurergespäche und anderes, Bibliothek des 18. Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag München, 1981; /5/ Arnim Nassehi, Inklusion, Exklusion - Integration, in Heitmeyer „ Was hält die Gesellschaft zusammen", Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1997; /6/ Zygmunt Baumann, Modeme und Ambivalenz, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1992; /7/ Hartwig Schmidt, Postmoderne Aussichten, Berliner Initial, Heft 4, 1991
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Für eine Einheit von Kultur und sozialer Organisation
Br:. Theodor Kowalski, 32°
Nachdem sich der Wirbel um die Eröffnung der PINAKOTHEK
DER MODERNE gelegt hatte, machte ich mich auf den Weg, mir
einen eigenen Eindruck von diesem Museum zu verschaffen. Ich
bekenne freimütig, dass ich nicht als besonders kunstbeflissen
gelten kann und ein umfassendes Urteil zu dem Ensemble und zu
den einzelnen Exponaten strebe ich hier nicht an. Gleichwohl sind
mir bei dem Rundgang Einsichten und Perspektiven erwachsen,
die ich gerade an dieser Stelle zusammenfassen und wiedergeben
möchte.
Zunächst muss ich herausstellen, wie sehr mich die Schlichtheit und
kühne Großzügigkeit der Architektur des neuen Museums, die
dabei jedoch weder pompös noch großspurig wirkt, beeindruckt
hat. Schon der örtliche Zusammenhang mit der Technischen
Universität, dem Leibniz-Rechenzentrum, der Alten und Neuen
Pinakothek weist über das Zufällige hinausgehende Bezüge auf.
Dann aber bei Betreten des Museums wird man von der Weit
läufigkeit, von Aufgeschlossenheit und lichter Klarheit überwältigt
und man bemerkt, wie innerlich eine positive Gemütshaltung ent
steht.
Und dann nähert man sich den Bildern, die als der Modeme zugerech
net gelten. Bilder, die aus der ersten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts, aus der Zeit zwischen den - vor allem europäischen -
Weltkriegen, aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, aus den blasphe
misch so genannten „Goldenen Zwanziger Jahren" und später stam
men. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass ihr Gegenstand und ihre
Darstellung sich von der Wirklichkeit entfernt, sich von den
Realitätstraditionen der Renaissance und der Aufklärung absetzen,
positiv ausgedrückt; abstrakt werden.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 137
138
Manche Bilder sind für den unvorbereiteten Betrachter völlig undeut
bar, viele wecken jedoch Assoziationen von bedrückender Gefängnis
stimmung, von Gewalt, Zerstörung, Wahnsinn, von Trübsinn, von
Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit. Wohl gibt es einige Werke, die
durch ihre farbliche Gestaltung, durch Formen, Kontraste und
Strukturen positiv ansprechen. Doch die meisten spiegeln die Trost
losigkeit jener Zeit, den geistigen Zerfall zwischen Wirtschaftskrise
und mechanistischen Allmachtsphantasien, die seelische Orien
tierungslosigkeit und eine alles durchdringende Disharmonie wider.
Picasso selbst hat dazu angemerkt: ,,Alle Wege stehen der Scharla
tanerie offen. Das Volk findet in der Kunst weder Trost noch
Erhebung. Ich habe die Kritiker mit zahllosen Schmerzen zufriedenge
stellt, die mir einfielen und die sie um so mehr bewunderten, je weni
ger sie ihnen verständlich waren."
Ob man nun die Modeme als Fortentwicklung aus Jugendstil, Impres
sionismus und Expressionismus erklären mag oder sie einfach als
Spiegel ihrer Zeit begreifen will, ich sehe diese Werke aus einer Zeit
epochaler wirtschaftlicher, politischer und zu vorderst menschlicher
Katastrophen als Ausdrucksformen einzelner Menschen. Sie entfalten
keine Wendewirkung, sie künden als Epitaphe der Resignation vom
Chaos und den Verirrungen dieser Zeit.
Mitten in diesem Chaos entsteht ein neuer Ansatz: das Bauhaus.
Walter Gropius spricht über „Kunst und Technik- eine neue Einheit"
und weist auf den ästhetischen Wert hin, der aus der künstlerischen
Formgebung erwächst, wenn sie auf die Funktion des Kunstgegen
standes bezogen wird und sie zu ihrer Bestimmungsgröße macht. Die
Schlichtheit, Einfachheit und Klarheit des Bauhausstils stehen in einem
extremen Kontrast zur undurchdringlichen Komplexität abstrakter
Kunstwerke. Dass in einer Zeit höchster Chaotisierung eine Neu
orientierung praktisch möglich ist und zu einer tragenden Entwick
lung wird, ist für mich die herausragende Erkenntnis meines Besuchs
der PINAKOTHEK DER MODERNE.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Der Schottische Ritus im Zenit der Modeme
Die Einsetzung des Obersten Rates für Deutschland der Freimaurer
des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus in Berlin fällt 1930
genau in den Zenit der Modeme, seine Devise „ORDO AB CHAO"
erscheint wie auf diesen Zeitpunkt gemünzt. Doch hat der Schottische
Ritus zu dieser Zeit schon eine weit mehr als hundertjährige
Entwicklung hinter sich. Mit Blick auf die freimaurerische Geschichte
mit ihren vielen Systemen und Lehrarten könnte man auf eine auf die
Freimaurerei rückbezügliche Interpretation der Losung kommen, der
geistigen Rückbesinnung. Diese Interpretation geht jedoch nach mei
nem Verständnis vom und meinen Erfahrungen im Schottischen Ritus
an den eigentlichen Zielsetzungen vorbei. Schon ein Blick in die
Präambel unserer Konstitution weist als Aufgabe des Schottischen
Ritus neben dem vertieften Durchdringen freimaurerischen
Gedankengutes auf die Auswertung gewonnener Einsichten aus
Leben, Wissenschaft und Kunst für Gegenwart und Zukunft hin. Es
ergibt sich damit eine vor allem extrovertierte Orientierung, im frei
maurerischen Sinne Einsichten und Verbesserungsmöglichkeiten auf
zuzeigen. Im Chaos eine Orientierung zu erarbeiten, Bedingungen und
Bezüge aufzuspüren und eine stabile Ordnung zu erreichen - einen
Kosmos zu gestalten - steht in der Tradition der alten
Kathedralenbaumeister, die stabile, epochenübergreifend ästhetische
Konstruktionen aus unzähligen, planmäßig behauenen Steinen schu
fen. Das Motto ORDO AB CHAO war 1930 hochaktuell und wird in
diesem Sinne immer hochaktuell bleiben.
So auch heute! Sicherlich ist unsere jetzige geschichtliche Situation
mit der von 1930 nicht zulässig zu vergleichen. Der Weltkriegs
bedrohung sind wir durch Beendigung des Kalten Krieges ent
kommen, die Wirtschaftskrisen schlagen große Wellen, scheinen
aber nicht mehr so bedrohlich wie zu jener Zeit. Individuelle
Freiheiten und die Absicherung gegen existentielle Not sind heute
weiter verbreitet als je zuvor und die Bevölkerungskatastrophe
findet jenseits der Wahrnehmungsfähigkeit der westlichen Zivili
sationen statt.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 139
140
Zur Lage am Ende der Postmoderne
Aber es gibt eine Reihe von Erscheinungen, die trotz intensiver Behandlung in der Öffentlichkeit nur Ratlosigkeit beim Einzelnen hinterlassen. Es besteht ein Chaos neuer Art.
Ich meine die Globalisierung und ihre vielfältigen Auswirkungen auf den Einzelnen; die unge
heuerliche Informationsflut, über die wir verfügen können - nicht abstrakt wir
gemeinsam, sondern konkret jeder Einzelne - und die damit tatsächlich verbundene geringere Informiertheit des Einzelnen, die Schwächung des Bewusstseins und den unzügelbaren Einfluss der Medien. Ich meine aber
auch den öffentlichen Umgang mit-einander, die Entsolidarisierung durch
die überbordenden Sozialsysteme, die Erstickung der Eigeninitiative und die
Überreglementierung, die Korruption und die Unfähigkeit unseres Gemeinwesens, die
gestiegene Lebenserwartung in erhöhte Produktivität des Sozialsystems umzusetzen, ja nicht einmal die Arbeitslosigkeit ist in ihrer Dynamik zwischen den Strategen des shareholder-value und den Arbeitsplatzapologeten in den Griff zu bekommen. Und dann meine ich noch die Diskrepanzen im Meinen, Wollen und Handeln.
Zwar sind wir im Alten Europa stolz auf unseren traditionellen Wertekanon, unsere Erfahrungen in der Austragung von Konflikten sind unübertroffen ebenso wie wir Meister in ihrer Moderation sind. Großherzig schlüpfen wir dann gerne in die Rolle des Retters und Helfers, aber wie oh erdrückt die vermeintlich helfende Hand die Würde des Empfängers und verschlechtert seine Situation oder es werden gar große Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die dann nicht erfüllt werden können. Die allfälligen Enttäuschungen gehen im Getöse neuer Ankündigungen unter.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Ein chaotisches Weltbild
Auf all diesen Feldern stellt man eine mangelnde Reichweite eigener
Möglichkeiten fest, die Komplexität des Problems kann kaum - schon
gar nicht vom Einzelnen - erfasst werden. Alle Phänomene tangieren
jeden Einzelnen als Steuerzahler, als Bürger, Gemeindemitglied oder
Mitarbeiter. Wenn die Probleme auch allenthalben bekannt sind und
einer Lösung harren, so bleibt doch entscheidend, wie jeder Einzelne
sich zu ihnen stellt und sie angeht: Ob er allgegenwärtiger, intentiona
ler und wohlfeiler Propaganda folgt oder ob er rational analysierend
Alternativen erwägt und eigene Lösungen, wenigstens für seinen
Lebensraum, findet. Ich jedenfalls mag die Quintessenz nicht ziehen,
dass die Welt schlecht sei und wir uns damit abfinden müssen, ja dass
wir unsere ethischen Erwartungen und Standards einfach absenken
müssen, damit wir die chaotischen Verhältnisse in Seelenruhe ertragen
können!
Die Chaostheorie lehrt uns, dass in einem chaotisch unübersehbaren
System kleine Ursachen auf Grund unbekannter Zusammenhänge dra
matische Auswirkungen hervorstechen lassen und eine zeitweise
Teilordnung etablieren können. Dies geschieht zufällig, d. h. ihre
gemeinsame Ursache bleibt unerkennbar, wenn im Kleinen inmitten
der unendlich vielen Ursache - Wirkung- Beziehungen und aufgrund
von Rückkoppelungsprozessen eine wahrnehmbare, übergeordnete
Entwicklung mit spontan-organisierenden Wirkungen entsteht.
Deswegen ergibt sich sehr wohl eine Aussicht auf Besserung der oben
angesprochenen chaotischen Komplexitäten in unserem sozio-ökono
mischen System, wenn die Beteiligten Impulse setzen und durch akti
ve Interaktion, vielleicht aus einem gemeinsamen ideellen Hintergrund
heraus, eine solche spontan-organisierende Wirkung initialisiert wird.
Dabei geht es wahrlich nicht um die Akkumulation weiterer
Potentiale, sondern es geht um deren Einsatz, um die aktive
Einflussnahme!
Wir stehen in einem großen und traditionsreichen kulturellem Umfeld,
mit dem wir in jedem persönlichen und gemeinschaftlichen Bezug
uns wechselseitig austauschen und beeinflussen, in dem wir unseren
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·. 141
142
kulturellen Anspruch beitragen, behaupten und einfordern können.
Diesen kulturellen Anspruch gilt es nicht nur im künstlerischen
Schaffen und in Sonntagsreden, sondern besonders im täglichen
Leben, im großen gemeinschaftlichen Kontext, in der sozialen
Organisation, unserem alltäglichen wirtschaftlichen und politischen
Wirken, umzusetzen.
Es geht um unsere persönliche Interaktion mit dem Nächsten, mit der
gesellschaftlichen Umgebung und der intentionalen Pflege unserer
Beziehungen, um das Kultivieren unserer gemeinschaftlichen Existenz.
Ob bewusst oder unbewusst, durch unsere aktive Teilnahme ge
stalten wir unsere unmittelbare Umgebung mit und müssen die
damit · verbundene Verantwortung übernehmen. Deswegen liegt
die Forderung nach zielbewusster Gestaltung unseres Umgangs nahe -
ja, sie bietet sogar die entscheidende Chance zur Verbesserung der
Verhältnisse.
Gegenseitige Beeinflussung und die jeweilige Rückäußerung ver
langen von uns, dass wir versuchen, den Mitmenschen einzu
nehmen, zu beeindrucken und zu überzeugen, um Unterstützung
für uns zu erreichen und gleichzeitig, den Mitmenschen weder zu
irritieren, noch ihn zu verschrecken oder zu verstocken, um
Aggressionen zu vermeiden. Um diese Kultur geht es zuerst, sie ist
der Kern jeder sozialen Organisation. Die Kultur des Umgangs
miteinander ist die entscheidende Grundlage unseres allgemeinen
kulturellen Niveaus und ihre Bestimmungsgröße. Ohne die Kultur
des Umgangs miteinander gibt es keinen weitergehenden kulturellen
Anspruch - eine soziale Organisation, die sich von einer anerkann
ten Kultur des Umgangs entfernt, verliert ihre kulturelle Dimension
und damit ihre menschliche Würde und Legitimation. Das
Bewusstsein einer Einheit von Kultur und sozialer Organisation tut
also Not!
Besinnung auf die persönliche Interaktion - Kultur im Kleinen
Ich will im Folgenden einige Möglichkeiten aufzeigen, Impulse im
Umgang miteinander auf unsere chaotische Umwelt auszuüben.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Dabei handelt es sich vor allem um Verhaltensweisen, die jeder
Einzelne leisten kann, und um Ansprüche, die zu vorderst gegen sich
selbst einzuhalten und umzusetzen wären. Hier äußert sich die
eigene Kultur des Umgangs und hier beginnt jede Form der sozialen
Organisation.
So banal es klingt, zuerst sei auf die schlichte Höflichkeit, auf den
natürlichen, aufrichtigen und aufgeschlossenen Umgang miteinander
verwiesen. Dazu gehören Respekt und Zurückhaltung, aber auch die
klare Stellungnahme - allerdings: der Ton macht die Musik. Wie leicht
wird diesen Aussagen zugestimmt und bei nächster Gelegenheit doch
wieder geschwafelt und dem Anderen nach dem Munde geredet. Und
Sensationen und Sensatiönchen werden schnell kommuniziert und
kolportiert, aber nicht durchdacht. Die Freimaurerei bietet das weite
Spektrum vom Arbeitsabend bis zum Konvent, sich diesbezüglich zu
vervollkommnen.
Einfluss ausüben
Dann geht es um die Vermittlung eigener Ideen, Ansichten und
Perzeptionen. Oftmals wird dazu einfach eine Beschreibung oder
gar nur ein Stichwort abgeliefert, und der Initiator wundert sich
über die geringe Resonanz. Dem Empfänger fehlt einfach der
Kontext, um derlei Mitteilungen richtig aufnehmen zu können. Viel
besser ist es meiner Ansicht nach, auf die Initiierung von
Denkprozessen hinzuarbeiten. Dies erreicht man weniger durch
schlaue Statements, vorschnelle Urteile, Meinungsspiegelungen oder
irgendeine Form der Resignation. Viel weiter helfen offene, poin
tierte oder schlicht neugierige Fragen. Damit kann man ein weites
Netz aufspannen, das aus der Faktenlage zum Sachverhalt,
Bedingungen und Strukturen sowie Zielsetzungen besteht, mit dem
im Dialog aber konstruktiv umgegangen werden kann. Dieser
Vorschlag ist unmittelbar daran zu verifizieren, wie gut sich zum
Beispiel Experten oder alte Freunde verständigen können, aber eine
Einhelligkeit einer Talkrunde oder in einem Journalistentreffen
undenkbar erscheint.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 143
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Eine Besonderheit der Freimaurerei ist, solche Denkprozesse über Gleichnisse anzustoßen. Die Rituale bieten hier einen reichen Fundus, wie die Symbole schier unerschöpfliche Interpretationsmöglichkeiten bieten. Die redeartlichen Anleihen und Anklänge1 an freimaurerisches Sprach- und Brauchtum sind ja gerade Ausdruck dafür, wie klar bestimmte Ideen damit vermittelt werden können. Ich meine damit keinesfalls, dass man die in freimaurerischen Ritualen auffindbaren Gleichnisse verabsolutieren sollte, sondern möchte nur auf die besondere Kraft dieser Methodik hinweisen, die es dem Gegenüber insbesondere erlaubt, einen eigenen Zugang zur Sachproblematik zu gewinnen, ihn also nicht einfach zu vereinnahmen oder zu überrumpeln versucht. Gleichwohl bieten gerade die Rituale des Schottischen Ritus einen besonders reichen Schatz solcher Gleichnisse und Symbole, die sich aus der Tradierung und Sublimation antiker Mythen, philosophischer Schulen, historischer Lehren oder einfach originärer humanitärer Geisteshaltung ergeben und zeitlose Pfeiler ethischer und sozialer Bildung sind.
Eine Abwandlung des Gleichnisses ist das Gedankenspiel, (vor-) wissen-schaftlich das Gedankenexperiment, die Kontingenz- und Parameteranalyse. Das Gespräch dreht sich dann um die Frage: ,, Was wäre, wenn ... " - bestimmte Bedingungen so oder anders gesetzt wären. Diese Frage lässt sich immer mit Gewinn einbringen, und man kann dabei seine Einschätzungen, Präferenzstrukturen und Ergebnisbeurteilungen austauschen - das Verständnis kann wachsen, Rechthaberei und mangelnde Kenntnis blieben weniger unentdeckt. Es braucht nicht immer gleich der Kategorische Imperativ2 oder das Allgemeine Sittengesetz3 herbeizitiert zu werden, sondern die Methode des Gedankenspiels wirkt schon im alltäglichen Diskurs, wenn man z. B. aktuelle Tendenzen oder Prozesse mit kritischen Ansprüchen konfrontiert.
Eine weitere Möglichkeit zur positiven Impulssetzung ist der heute bemerkenswerterweise oftmals verpönte Verweis auf anerkannte
1 Z. B. etwas ausloten, den Ham mer schwingen, einen Maßstab anlegen. 2 Richte Dein Verhalten so ein, dass es zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte 3 Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das tu' auch keinem andern an - Liebe Deinen Nächsten
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.
Autoritäten, auf deren Bekenntnis, Meinung, Expertise oder Rat. Man
braucht ja mit diesen Autoritäten keinesfalls einer Meinung zu sein,
aber ihre Stellungnahme ist zunächst einmal wohlbegründet und unter
vielerlei Blickwinkel geprüft. Autoritäten derart zu bemühen, erleich
tert das gegenseitige Verständnis und bedeutet immer auch Klärung
des Gesprächsgegenstandes, wie es auch Voraussetzung für kongeniales
Verhalten ist.
Vorbildlichkeit
Mit ähnlichen Schwierigkeiten hat das gleichfalls einsetzbare Vorbild
zu kämpfen. Der Generation der Postmoderne ist die Affinität zu jeg
lichem Vorbild über Ausbildung und Sozialisation schlicht nicht ver
mittelt, spitzer formuliert, wohl vorenthalten worden. Trotzdem sind
die Suche nach Vorbildern und die Fähigkeit, solche Persönlichkeiten
zu identifizieren, jedem Menschen gegeben. Nur manche Menschen
kultivieren diese Anlagen mehr als andere. Auch hier geht es mir
nicht darum, bestimmte Vorbilder herauszustellen - es gibt sie als
Freimaurer, Gelehrte, Philosophen, Feldherrn, Heilige und einfache
Menschen. Ich möchte nur darauf hinweisen, wie positiv ein
Gespräch geführt werden kann, wenn man auf bestimmte Vorbilder
zurückgreifen, ihr Verhalten über Analogien auf die aktuelle
Situation übertragen kann, oder eben die Unmöglichkeit dessen
erkennt. Wenn man mit Vorbildern operiert, möchte man über die
Nachahmung auch immer ihren Erfolg erreichen. Es kann sehr
fruchtbar sein, Nachahmungs- und Erfolgsmöglichkeiten in einem
sich gegenseitig ausbalancierenden Dialog zu diskutieren. Wie würde
das Vorbild heute agieren, und was wäre die Folge? So entstehen
Visionen ...
Die persönliche Interaktion in der Öffentlichkeit - Kultur im Großen
Jetzt ist es mir gelungen: ich habe das Unwort der Epoche, das
Vorbild, und das super-hipe-Wort des anbrechenden Kommunika
tionszeitalters in einem Absatz genannt. Heute braucht keiner mehr
den Mund aufzumachen, wenn er nicht auch eine Vision zu verkün-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 145
146
den hat. Auch die Freimaurerei hat eine Vision: "Wenn alle Menschen
Brüder sind und die Humanität ihren Sieg feiert! ... " Aber wie soll
man heute einen Mann verstehen, der zu einer Angelegenheit nur ein
paar beschreibende, erzählende und lobende Sätze findet. Man ver
steht ihn jedoch gleich ganz genau, wenn er verkündet, im übrigen sei
er der Meinung, Karthago müsse zerstört werden, jeder deutsche
Arbeiter sollte einen Volkswagen bekommen, oder „populate the
internet! ". Das sind großspurige Visionen - es gibt auch banale,
lächerliche usw.
Die Visionitis konterkariert sich selbst. Natürlich soll man seme
Mitmenschen begeistern, Ziele und Wünsche kommunizieren, aber
sie mit einer geschlossenen Vision zu konfrontieren bedeutet, sie zu
Sklaven oder Außenseitern zu machen, man vereinnahmt sie oder
macht sie zu Gegnern. Zwar schafft dieses Verhalten im allgegen
wärtigen Chaos sogar belastbare Strukturen, aber es schafft vor
allem Spannungen. Deswegen erfordert eine geschlossene Vision im
Umgang miteinander eine besonders sensible Behandlung. Sonst
sind, trotz anfänglicher Begeisterung, spätere Probleme vorpro
grammiert.
Rationale Annäherung an Problemstellungen
Und dann möchte ich noch eine Anleihe bei der allgemeinen Wissen
schaftstheorie machen. Es gibt so etwas wie ein allgemeines
Problemlösungsverhalten. Man betreibt dabei eine ordentliche
Problembeschreibung, unternimmt eine geeignete Faktensuche und
Sachfeststellung, kombiniert einschlägige Gesetzmäßigkeiten mit
Zielvorstellungen und verfügbaren Mitteln und leitet daraus eine
Problemlösung her.
Diese vernunftgemäße Annäherung an Problemstellungen wird heute
oftmals versäumt. Viele öffentliche, private und dienstliche Gespräche,
Diskussionen und Verhandlungen wären fruchtbarer, wenn wenigstens
ein Abglanz dieser Vorstellung berücksichtigt würde. Ich meine, man
sollte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wo immer möglich, soll
ten schärfere Einschränkungen eingeführt werden, um realistische
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Lösungsmöglichkeiten überhaupt sichtbar werden zu lassen. Ich meine
damit, dass man das Notwendige vom Wünschenswerten unterschei
det, die Zielsetzung von der Utopie, den Bezug zur realen Welt und die
Einordnung in Raum und Zeit nicht verliert. In diesem Zusam
menhang darf die heute grassierende Regelungswut nicht unbemerkt
bleiben. Ich denke dabei an Steuergesetze und Ordnungen aller Art. Es
ist unübersehbar, dass allenthalben über das notwendig zu Regelnde
hinausgegangen wird und Ausnahme- und Sonderregelungen über
hand nehmen. Dies führt zu lntransparenz und verstärkt das Chaos,
anstatt es zu lichten.
Unsere Lage ist prekär, aber nicht hoffnungslos
Ausgehend von einem Beispiel, wie im Chaos eine neue
Orientierung auftaucht, habe ich einige aktuelle epochale und
globale Phänomene angesprochen, die viele durchaus in einer
chaotischen Situation befindlich sehen würden. Diesem Beitrag
bleibt es erspart, den Königsweg aufzuzeigen. Vielmehr appelliere
ich an einen kultivierten Umgang miteinander, um die aus dem
Chaos erwachsende Ungewissheit, Unbestimmtheit und praktische
Unsicherheit im interaktiven Miteinander abzubauen. Hinter
diesem Appell steht die Einsicht in die extreme Komplexität unse
rer Wohlstandsgesellschaft und ihre ungeheuer fragilen sozialen,
technologischen, wissenschaftlichen und eben kulturellen Voraus
setzungen. Als Beispiel denke man an die Chipproduktion und die
extrem komplexen Voraussetzungen für ihre nachhaltige Ver
fügbarkeit einerseits, und die Folgen einer Aussetzung oder eines
Ausfalls dieser Technologie andererseits. Hier liegt eine große
Verantwortung, die aber nur im sozialen Konnex getragen und auf
gelöst werden kann.
Fernab in Afrika hat Albert Schweitzer um 1923, in der oben ange
sprochenen, sonst vom Chaos bestimmten Zeit, in seiner Schrift
„Kultur und Ethik" seine Schlussfolgerung aus seinen Erfahrungen
und der Ethikdiskussion vergangener Zeiten in der Formel
„Ehrfurcht vor dem Leben" zusammengefasst. Darin spiegelt sich die
Bewunderung für die Natur, in der alles Lebendige nach Verbesserung
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strebt und die damit verbundene, durchaus religiös fundierte
Hoffnung auf eine gute Entwicklung.
In diesem Sinne das Streben nach Verbesserung umzusetzen, indem
Führungsverantwortung übernommen und initiativ auf eine
Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses und auf eine bewusste
soziale Interaktion entsprechend unserem hohen Anspruch hingear
beitet wird, kann als Herausforderung für die sich besonders engagie
renden Brüder des Schottischen Ritus und als großartige Zukunfts
perspektive der Freimaurerei gesehen werden.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als unverrückbares Fundament der gesellschaftlichen Ordnung
Br:. (Prof. Dr.) Werner Maiwald, 32°
Braucht uns die Zukunft? Genauer gefragt, braucht die Zukunft den
Menschen, wie er ist, dessen Gedeihen und Wohl zu fördern wir uns
beim Beitritt zu unserem Bund verpflichtet haben? Da erklärt uns
mancher Bioethiker, daß es möglich sei, mangelhaftes, unglückliches,
(unwertes?) Leben zu verhindern und vielleicht durch Klonen einen
neuen Menschen zu schaffen, gesund, umweltresistent, erbbiologisch
rein. Auch ohne das heute noch meist abgelehnte Klonen von
Menschen: Täglich wird nicht nur in der Werbung ein Bild vom
Menschen gezeichnet: gesund, stark, schön. Das wird als das Normale
dargestellt, wird zur Norm.
Damit wird zumindest indirekt vermittelt: Das nicht dieser Norm
Entsprechende hat geringeren oder keinen Wert, ist auszusondern,
abzusondern, dem wird Zuwendung und Fürsorge, vielleicht gar das
Lebensrecht entzogen, kann die Selbstbestimmung verweigert werden,
ist vielleicht nur noch Organspender für das Wertvolle.
Oder: Am 21. Januar 2000 erklärte der damalige US-Präsident die
Nanotechnologie und die Verbindung von Gen- und Computer
technologie zu den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts: »Diese
nationale Initiative wird uns die Möglichkeit verschaffen, Materie auf
der atomaren und subatomaren Ebene zu verändern. Machen Sie sich
die Möglichkeiten klar: Materialien, die zehnmal so stark sein werden
wie Stahl und nur einen Bruchteil ihres Gewichts haben. Wir werden
alle Informationen der Library of Congress auf den Umfang eines Zuckerwürfels reduzieren können. Wir werden Krebszellen entdecken
können, wenn sie erst ein paar Zellen groß sein werden. Vielleicht
brauchen wir dafür zwanzig oder sogar noch mehr Jahre - deshalb
wird die amerikanische Regierung diese Initiative begründen und
bezahlen."
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150
Die Manipulierung der genetischen Substanz des Menschen hat begonnen
Amerikanische Wissenschaftler prophezeien in einem Memorandum an die Mitglieder des US-Kongresses den Anbruch einer wissenschaftlichen, ökonomischen und sozialen Revolution ersten Ranges. Wächst hier die Freiheit, die wir wollen? Es gibt auch warnende Stimmen: Gentechnologie und Nanotechnologie machen den Menschen zu einer gefährdeten Art. Ein technischer Komplex greift nach der genetischen Identität des Menschen. Man
träumt davon, intelligente Maschinen zu entwickeln, die alles besser können als der Mensch. In diesem Fall wird alle Arbeit wahrscheinlich von riesigen, hochorganisierten Maschinensystemen erledigt, so daß man auf die menschliche Arbeit verzichten kann. Ein neuer Garten
Eden? Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Man könnte den Maschinen erlauben, ihre Entscheidungen selbst und ohne menschliche Kontrolle zu treffen, oder der Mensch könnte die Kontrolle über die Maschinen behalten. Falls man den Maschinen erlaubt, ihre Entscheidungen selbst
zu treffen, lassen sich die Ergebnisse nicht abschätzen, denn wir können unmöglich voraussehen, wie solche Maschinen sich verhalten werden.
Technik ist immer Überlistung der Natur, die mit ihren eigenen Waffen geschlagen wird. Hegel schreibt, daß der Mensch zwischen sich und den Gegenstand das Werkzeug schiebt und so die Dinge überlistet.
„Mechane" heißt griechisch: das Werkzeug. Es heißt aber auch List und Tücke. Entsteht in der kommenden Zeit eine Technologie, die den
Menschen verdrängt? Sollte man nicht auf die List und Tücke der
neuen Technologien achten?
Durch die Verschmelzung mit der Robotertechnik sollen die Menschen nahezu Unsterblichkeit erlangen. ,, ... wenn ich mit einem Körper aus Silizium 200 Jahre werden kann, werde ich ihn nehmen". „Ich bin nicht weniger Mensch, wenn ich künstliche Teile im Körper trage." Schon heute gibt es solche Teile, vom Zahnersatz bis zum Herzschrittmacher. Wo aber ist die Grenze? Müssen wir uns vielleicht vor einer Art Unsterblichkeit schützen, die schlimmer ist als der Tod? Mit Hilfe der Gentechnik entsteht die Möglichkeit, die Menschheit in
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nicht mehr als gleich geltende Arten aufzuspalten. Damit ist die Gleichheit gefährdet, auf der die Demokratie beruht. Es könnte sich eine "genetische Kastengesellschaft" herausbilden.
Die Illusion von der absoluten Machbarkeit
Es wird uns versprochen: Wir werden die Welt vollkommen neu gestalten können. Schöpfungsprozesse geraten in den Einflußbereich des Menschen. Man könnte einwenden, das seien Utopien. Aber selbst einzelne Individuen oder kleine Gruppen könnten diese Technologien mißbrauchen. Dazu benötigen sie keine Großanlagen, sondern nur Wissen. Erfahrungen zeigen doch, daß größte Gefahren drohen, wenn Menschen neue Technologien gegen Menschen einsetzen.
Ist es realistisch, auf allzu gefährliche Technologien zu verzichten, bei der Suche nach bestimmten Formen des Wissens Grenzen zu setzen? Aber es sind doch Fragen zu stellen: Brauchen wir das? Welche Folgen hat das? Es scheint mir ein Auftrag für einen Freimaurer, so ein Nachdenken anzuregen.
Technologie wächst von Natur aus exponentiell. Milliarden Jahre dauerte es, bis sich die ersten Zellen formten, Säugetiere brauchten nur einige Millionen Jahre, der Homo sapiens war in hunderttausend Jahren fit. Dann wurde die weitere kulturelle Entwicklung von den Lebewesen übernommen, die Technik erfunden hatten. Steinwerkzeuge, Feuer, das Rad, das war in ca. zehntausend Jahren getan. Seither �at sich das Tempo immer mehr beschleunigt. Zur heutigen technologischen Entwicklung kann man kontroverse Meinungen lesen. Z. B. bei Friedrich Dürrenmatt finde ich unter der Überschrift "Elektronische Hirne": ,,Noch sind sie unsere Knechte, noch führen sie aus, was wir ihnen vorschreiben, dumm, stur, emsig. Aber schon sind die Resultate, die sie liefern, nicht -mehr zu kontrol-. lieren, nur durch ihresgleichen. Doch bald werden sie weiterrechnen ohne uns, Formeln finden, die (von Menschen vielleicht) nicht mehr zu interpretieren sind. Bis sie endlich Gott erkennen, ohne ihn zu verstehen, schuld- und erbarmungslos, straf- und rostfrei. Gefallene Engel." Und an anderer Stelle: ,,Eine Welt, die sich auf Wissenschaft gründet, hätte nicht unbedingt etwas mit Vernunft zu tun, sondern möglicher-
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weise mit Wahnsinn. Schon Plato entwarf eine schreckliche Welt. Das gleiche gilt für Huxley, Wells und Orwell. Auch die heutigen ScienceFiction-Schreiber, von denen die wichtigsten ernst zu nehmen sind, setzen im Gegensatz zu den Marxisten keine naive Utopie an die Stelle der Zukunft, sondern mögliche Modelle aufgrund der Evolution".
Die Kunst unseres Geschlechts: Humanität
Ich lese aber auch Gegenpositionen wie: Warum sollen wir eine Zukunft annehmen, die uns nicht braucht? Die menschliche Gesellschaft ist zu vielfältig, komplex und widersprüchlich, um mit der biologischen Evolution verglichen werden zu können. Daß heute eine Clique von Forschern und Institutionen, die diese Forschung finanzieren, die gesamte Evolution für sich beanspruchen, kann nur als Anmaßung totalitärer Natur verurteilt werden. Neoliberalismus, Genetik und Streben nach Weltherrschaft bilden ein einheitliches Wertesystem, dessen Feind der
Mensch als soziales Wesen und frei bestimmtes Subjekt ist.
Leben, Freiheit und Unversehrtheit sind die höchsten Güter des Menschen. Wir dürfen nicht dazu schweigen, wenn Unschuldige auch in unseren Tagen unfrei gehalten, geschunden und ermordet werden. Droht auch nur einem Menschen Beeinträchtigung oder Verlust dieser Güter, verstößt dies gegen die Idee der Humanität, von der Herder schreibt: "Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein; denn eine Agilität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen.
Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleich-
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sam die Kunst unseres Geschlechts. Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück." Sowohl diese Befürchtung als auch diese Mahnung sind hochaktuell. Als Freimaurer sollten wir sie annehmen.
Die moralische Identität des Menschen
vor ihrer Manipulierung schützen
Der technische Komplex greih auch nach der moralischen Identität des Menschen. Es ist einfacher, Streß als genetisch veranlagt zu erklären und
mit Pharma-Drogen zu behandeln, als die dafür verantwortlichen sozialen Bedingungen zu verändern. Zumal es so auch mehr finanziellen Gewinn bringt. Nicht die Umwelt entgiften, sondern das Leben giftresistent
machen, den Menschen überlebensfähig gestalten. Ist das die Aufgabe? Wird das Leben auf der Erde für eine Ewigkeit von einem technologischen Abwehrsystem abhängen, vielleicht von wenigen monopolisiert?
Schon heute wird die menschliche Freiheit beeinträchtigt: Es gibt doch
schon trotz Datenschutz die Möglichkeit mit diversen Chipkarten, Internet usw. den Aufenthaltsort eines Menschen, seine Gewohnheiten, Tätigkeiten und Krankheiten zu erfahren. Freiheit ist eine Funktion des menschlichen Willens, sie ist nicht abhängig von technologischen Zwängen. Sie ergibt sich eher aus der Ökonomie, der politischen Organisation der Gesellschaft und den sozialen Gewohnheiten. Aber der technologische Fortschritt geht zunehmend schneller voran als politische Entscheidungsprozesse. Die Technologie setzt sich an die Stelle der Politik.
In einer Zeit des beschleunigten technologischen Fortschritts kommt alles auf die Zirkulation von wahren Informationen an. Aber handeln wir uns in Politik und Ökonomie mit dem Tausch von Informationen tatsächlich mehr Wissen ein? Kernproblem ist nicht der Mangel an Freiheit, der durch Nano- und Gentechnologie u. ä. beseitigt werden muß, sondern die Abwesenheit von Wahrheit. Es werden Theorien entwickelt, mit denen sich dieser galoppierende Irrsinn als Erweiterung der Demokratie verkaufen läßt. In der Werbung der Parteien geht es nicht anders zu als bei der Diesel-Jeans-Werbung.
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Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse
Haben wir eine Ethik, die das technische Handeln zu ihrem Objekt
hat, oder macht die Technik das Ethische zu ihrem Gegenstand und
definiert sie neu? Wer bedient sich wessen? Haben wir bitte keine
Illusionen, denn:
Für die Technik ist das Gebot „Du sollst nicht töten" irrational. Die
technisch geschaffene Realität speist sich aus der Lizenz zur Brechung
strikter moralischer Regeln. Der Versuch, konkretes Leben zu verlän
gern oder zu vereinfachen, kann technisch konkrete Tötungshand
lungen erforderlich machen. Der erste Hauptsatz eines technikkonfor
men Verhaltens könnte etwa lauten: Eine moralische Verweigerung
des technischen Zugriffs auf das Substrat menschlichen Daseins zum
Zwecke der Klonierung ist unmoralisch. Man leiste sich keine
Sentimentalitäten, gegenüber tierischem Leben nicht, gegenüber den
Embryonen nicht und nicht gegenüber Verhungernden oder anderen
,,unvermeidlichen" Quoten. Das Individuum ist längst überlistet.
Unsere Welt ist eine Arena subtiler Beeinflussung. Unsere Psyche ist
Angriffsziel von Experten in Sachen Marketing. Wir sind ständig pro
fessionellen Manipulatoren ausgesetzt. Dabei werden Techniken der
psychologischen Kriegführung eingesetzt. ,, Wie schafft es die Werbung
in Modemagazinen, daß wir uns nie schlank und schön genug fühlen,
und weshalb sehen wir uns gerade deswegen gezwungen, die dann
angepriesenen Produkte zu kaufen? Wie kommt es, daß wir glauben,
über die Wirkung von Werbung und Marketing Bescheid zu wissen
und ihnen doch immer wieder zum Opfer fallen? Warum ist es so
schwer, die einfachste, instinktiv in uns vorhandene Fähigkeit wieder
herzustellen, zu erkennen, was wir wirklich wollen?", schreibt
Douglas Rushkoff.
In diese Zukunft sind wir als Freimaurer, auch die Brüder des Alten und
Angenommenen Schottischen Ritus, gestellt. Hier haben wir zu bestehen.
Und es gilt wie im 18. Jahrhundert der kategorische Imperativ: ,,Handle
nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß
sie ein allgemeines Gesetz werde ... Autonomie - Freiheit also - ist der
Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur."
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Freimaurer werden gebraucht
In der ELEUSIS schrieb ein Bruder: ,,Keine Frage, daß wir der „herr
lichen Unverbindlichkeit der Freimaurerei", wie sie sich heute dar
stellt, entschieden und endgültig eine Absage erteilen müssen. Das
„Schönreden", ,,Sich-selbst-Erheben" und „Beweihräuchern" hat uns
keinen Schritt weiter, aber in die falsche Richtung gebracht." Ihm
kann ich nur zustimmen, denn so kann die Freimaurerei angesichts der
oben aufgeworfenen Fragen nicht bestehen.
Wenn Freimaurer im 21. Jahrhundert noch von dieser pluralistischen
Gesellschaft bemerkt werden wollen, müssen wir im täglichen Wirken,
jeder an seinem Platz, Fragen stellen, Alternativen und neue Konturen
zeigen, und so zu einer gesellschaftspolitischen Kraft werden. Wir soll
ten uns auf unser geistiges Fundament besinnen: Freiheit für alle
Menschen, Toleranz als Billigung und Mißbilligung der Gegensätze,
Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit als Substanz und Methode des
täglichen Lebens. Ich verstehe das als Verpflichtung zur Mensch
lichkeit, weil alle Menschen einen gemeinsamen Ursprung haben. Mit
Voltaire haben wir die Gleichwertigkeit alles Menschlichen heute
angesichts der Bedrohungen neu zu verstehen.
Wer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch heute für alle
Menschen will, wer Sittlichkeit, Ethik und Moral wieder als Not
wendigkeit des gesellschaftlichen Lebens begreift, der darf nicht bei
Proklamationen humaner Werte stehen bleiben.
Logen sind Sammelbecken ungeduldiger, streitbarer Menschen,
,,Schulen edler Menschlichkeit", ,,Baustellen für geistige Bauleute",
,,Baustellen zur Erkenntnis vom Wesen und Sein des Menschen".
Wesentlich für uns als Freimaurer ist, daß der Mensch vor allem
„Mensch" wird, daß unsere Welt „in Ordnung" ist, wesentlich ist die
Liebe von Mensch zu Mensch.
In den kommenden Jahrzehnten werden Freimaurer gebraucht, die
starke Persönlichkeiten sind, die Widerstand leisten von Angesicht zu
Angesicht, von Mensch zu Mensch, die nicht zurückweichen vor der
Auseinandersetzung mit Unmenschlichkeit oder vor der Größe der
bedrängenden Konflikte.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 155
156
Vertiefung und Festigung freimaurerischer Geisteshaltung
Im Schottischen Ritus vertiefen wir unsere freimaurerischen Positionen,
um Nein zu sagen zu Aggressionen, Nein zu sagen zu Ideologien, wel
che die Menschenwürde mit Füßen treten, unter welchem Mantel und
mit welcher Begründung auch immer, Nein zu sagen zu Fanatismus, zu
religiös-politischem Wahn, zu angemaßter Unfehlbarkeit.
Lassen wir die Gründe nicht gelten, die Erich Fried nennt: ,, Weil das
alles nicht hilft, sie tun ja doch, was sie wollen! Weil ich mir nicht noch
mals die Finger verbrennen will! Weil man nur lachen wird: Auf dich
haben sie gewartet! Und warum immer ich? Keiner wird es mir danken!
Weil da niemand mehr durchsieht, sondern höchstens noch mehr
kaputtgeht! Weil jedes Schlechte vielleicht auch sein Gutes hat! Weil es
Sache des Standpunktes ist, und überhaupt, wem soll man glauben?
Weil auch bei den andern nur mit Wasser gekocht wird! Weil ich das lie
ber Berufeneren überlasse! Weil man nie weiß, wie einem das schaden
kann! Weil sich die Mühe nicht lohnt, weil sie alle das gar nicht wert
sind!" Und er endet: ,,Das sind Todesursachen zu schreiben auf unsere
Gräber, die nicht mehr gegraben werden, wenn das die Ursachen sind."
Vor 75 Jahren sind die Freimaurer des Alten und Angenommenen
Schottischen Ritus angetreten für freie Entfaltung jedes einzelnen
Menschen als Voraussetzung für die freie Entwicklung unserer
Gesellschaft und tätige Solidarität und verständnisvolle Toleranz für
die Individuen neben uns. Es bleibt noch viel zu tun.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Die Stellung des Schottischen Ritus
zur blauen Maurerei: Entweder - Oder und Sowohl als Auch?
Br:. (Dr.)Werner Walter Güttler, 33°
Viele Legenden, aber nur wenige Fakten sind uns überliefert vom Ur
sprung der heutigen Freimaurerei. Da ist das Datum vom Johannisfest
des Jahres 1717. Vier Werklogen in London schlossen sich zur ersten,
nicht operativen Großloge der Welt zusammen und knapp zehn Jahre
später verfaßte der Reverend Anderson die alten Pflichten. Das sind
Fakten. Aber was besagen sie? Es bestanden also vorher schon
Bauhütten, sie schlossen sich nun nur zusammen und lösten sich von
den bisherigen zunftbedingten Pflichten der operativen Maurerei.
Deren ethische Sentenzen ließ Anderson weiterhin gelten. Gleichzeitig
erhielt er jedoch auch die alten Legenden am Leben, die er gewissen
haft in seiner den alten Pflichten beigefügten Maurergeschichte
wiederholt.
Da zeigt sich schon unser Problem: Was sollen wir von seiner Aussage
halten, daß bereits Adam ein Freimaurer war, Noah die beim Turmbau
zu Babel korrumpierten Bräuche läuterte und über die Sintflut rettete und
der erste Meister Hiram durch sein Lebensopfer sie vor dem Mißbrauch
durch rebellische Gesellen bewahrte? Geschichte ist das nicht,
Geschichten sind sie sehr wohl. Nicht einmal auf die Bibel können wir sie
ohne Zwang zurückführen. Der Hiram in den Büchern der Chronik und
der Könige wird zwar als ein Meister in Stein und Erz gelobt, doch von
seinem Opfer gegenüber den Gesellen erfahren wir nichts. Ohne Zweifel
bleiben die ethischen Grundsätze, nach denen sich er und bereits Noah
richteten; Adam erscheint da schon viel problematischer.
Selbstverständlich behielten sie die Gültigkeit, die sie für das christli
che Abendland durch das Kompendium der Bergpredigt bis heute
noch als geltend beanspruchen. Schließlich hatten die alten Bauhütten
Dome und Kirchen als Häuser für die Verehrung Gottes zu errichten.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 157
158
Das entfiel jedoch für die neue Maurerei. Nicht einmal die ausschließ
liche Gültigkeit christlicher Religion war für sie Bedingung, denn nur
jene Religion einzuhalten wurde gefordert, in der alle Menschen über
einstimmen, auch wenn hundert Jahre später, im Streit zwischen den
Ancients und den Modems, die Bibel als eines der drei großen Lichter
wieder unabdingbar wurde.
Was blieb als Faktum außer Anderson noch aus jener Gründerzeit
übrig? Die Rituale? Man war gewohnt, sie getreu zu zelebrieren, aber
man schrieb sie nicht auf. Wir wüßten kaum etwas von ihnen, hätte es
nicht die Verräterschriften, z. B. die von Prichard, gegeben, auf welchen
allein unsere heutigen Gebräuche fußen, auch die ganz strengen, auf
die sich Schröder berief, als sich nach dem Wilhelmsbader Konvent
unsere Maurerei versuchte auf die Ursprünge zu besinnen und den
überbordenden Wust der strikten Observanz verwarf.
Wie kam es überhaupt zu solchen Ausuferungen der Bräuche? Waren
sie nur von ehrgeizigen Mystifizierern frei erfunden, um absolutisti
sche Machtansprüche über die beginnende Demokratisierung hinüber
zuretten? Oder wollten diese einen Anspruch auf ein höheres Geheim
nis besser begründen, durch Alchemie, Tempelrittertum und Rosen
kreuzerei gegenüber den simplen Traditionen der Bauhütten? Ja und
nein! Schon Anderson deutete solche Bezüge an, ordnete sie jedoch
den Maurerbräuchen zu und nicht über. Eines ist heute gewiß:
Geschichtlich sind solche Herkünfte nicht haltbar. Sie sind und bleiben
Legenden, wann sie auch immer Eingang in die Maurerei fanden. Sind
sie jedoch so verwerflich, daß wir sie puristisch negieren müssen?
Was sind Legenden?
Wenn sie gut und gehaltvoll sind, sind sie zumindest Dichtung. Damit sammeln sie in eingängigen Bildern Aussagen mit Wahrheitsgehalt. Wir dürfen
da nur nicht Wahrheit mit Wirklichkeit gleichsetzen. Goethes Faust, ein
gutes freimaurerisches Drama, hat mit dem geschichtlichen Faust nur noch
das volkstümliche Greuelmärchen des Teufelspaktes und den Namen
gemeinsam. Schon der Vorname Heinrich stimmt nicht, der wirkliche hieß
Johann. Dennoch enthalten die Worte und Gedanken Goethes Wahrheit.
75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.
Er verwirklichte sie, mangels nachweisbarer Wirklichkeit. Noch deutlicher
wird dies bei Mozarts Zauberflöte. Dort ist alles offensichtliche Legende.
Fort damit? Dann bitte auch mit unserer Hiramslegende! Nicht nur das
Voll< speist man mit Märchen ab, sagt Lessings Nathan dem Saladin. Der
hat gut reden, denn auch er ist Dichtung, ist Legende. Was tun? Spricht
Zeus ... ach ja! Auch der ist nur Legende ...
Können wir uns retten vor Legenden? Vor allem: Müssen wir das denn?
Was bleibt uns dann selbst in unserer abgespeckten Maurerlegende? Unser
edles Menschentum? Ist das nicht, angesichts von Internet, Fernsehen und
wirtschaftlicher Effektivität auch nur Legende, Wunschbild innerhalb
unseres Elfenbeinturmes? Doch wohl nicht! Unsere Tradition ist ganz
konkret. Sinnhaft durch Begreifen, Einsehen, Verstehen von Werkzeugen,
Worten und Erlebnissen, denn für das menschliche Gehirn hat nur das
einen Sinn, was irgendeinen seiner Sinne anrührt. Es wirkt, denn das ist
Kunst. Kunst kommt nicht von Können, sondern von Künden, wenn man
auch können muß, um Künden zu können.
Also ist all unser Tun dichterische Legende. Das ist unsere Besonder
heit. Die ethischen Forderungen gelten für alle Menschen, wir haben
lediglich eine besondere Form, sie als Leitbild aufzuzeigen. Genügt
dafür die vertraute blaue Maurerei?
Zurück zum Ursprung, ja!
War dieser allein jene Großloge der vier alten Londoner Hütten? Gab
es neben denen nichts anderes mehr? Wie war es denn mit jenem
Sinclair, der zweihundert Jahre vorher die Rosslyn-Chapel bauen ließ,
in welcher z. B. bereits bildhaft der Totschlag jener unwürdigen
Gesellen zu sehen ist, wenn auch ohne Hirams Namensnennung? Wie
ist es dann mit Bruce, der flüchtige Templer bei sich aufnahm und mit
ihrer Hilfe das schottische Königtum gegen England behauptete? Wie
ist es außerdem mit seinem Stewart, einem portugiesischen Templer,
Ahnherr der Stuarts, auf die sich schließlich mütterlicherseits dieser
Georg berief, unter dem sich jene erste Londoner Loge formierte? Und
der eben genannte Sinclair konnte sich authentisch berufen auf den
Templerbailli Saint-Clair aus St. Omer. Geschichte? In der Wurzel
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 159
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schon, aber sonst verborgen unter blühenden Legenden. Wir müssen
sie nicht glauben, aber schön finden dürfen wir sie, so wie wir die
Wechselreden unserer Rituale schön finden, obwohl auch sie Legende
sind. Es geht um Anwendbarkeit.
Newton z. B.: Er entdeckte seine Gravitationstheorie so nebenbei. Sein
Herz gab er der Alchemie bis hin zur Quecksilbervergiftung durch den
geheimnisvollen Mercurius. Und sein Kollege bei der Royal Society,
Ashmole? Er war schon lange vor der Londoner Gründung
Freimaurer, genau wie sein Freund Robert Moray, der bereits 1641 in
Edinburg aufgenommen wurde. Beide brachten Gedanken der
Rosenkreuzer mit der Alchemie ein in die von ihnen gegründete Royal
Society und damit auch in die Freimaurerei. Nicht daß sie selbst
Rosenkreuzer waren, sie begeisterten sich nur für die Ideen.
Die Rosenkreuzer als solche hat es nie gegeben. Sie waren eine Fiktion
des protestantischen Predigers Johann Valentin Andreae, ähnlich wie
Roger Bacons Dichtung über die Utopia oder der philosophische
Gottesstaat des Erasmus von Rotterdam (der war übrigens angenom
mener Maurer der Bauhütte von Utrecht). Legenden, Dichtungen all
das, wenn auch mit solchen ethischen Forderungen, daß es reizen
mußte, entweder nach diesen geheimnisvollen Bruderschaften zu
suchen, oder unabhängig davon ihre Ideen selbst zu verwirklichen.
Andere Mitglieder der Royal Society nahmen das auf in ihre neue
Aufklärung, wie Hobbes, Locke, Hume, und schließlich unser
Reverend Anderson. So gelangten sie unbenannt schon in die einfache
Maurerei. In der schottischen Maurerei werden sie gezielt genannt,
das stimmt. Sie sind dort aber lediglich Leitbilder, keine
Identifikationen, wie einst in der strikten Observanz. Nun gut, dann
lassen wir sie dort.
Brauchen wir Hochgrade?
Schon das Wort Hochgrade stimmt nicht. Die gibt es bei den Drei
Weltkugeln oder der Großen Landesloge immer noch, weil es sie
bereits bei der strikten Observanz gab. Dort sind sie hierarchisch ein
gegliedert, im Grunde genommen aber genauso nur vertiefende Grade
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wie bei den Schotten. Entscheidend ist, daß sie dort rein christlich bestimmt sind, nicht humanitär, wie in Andersons Alten Pflichten, der AFuAM und eben auch im Alten und Angenommenen Schottischen Ritus. Hier sind sie Vertiefungsgrade, nicht mehr als die erwünschten, nicht verwirklichten des Meisters der blauen Grade, aber dessen Erweiterung und Vertiefung.
Sie setzen den Meistergrad voraus, weshalb der Ritus mit der AFuAM die Konkordanz schloß, dieser den Weg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister als Aufgabe zu überlassen. Der Weg bleibt weiterhin bildhaft, sinnhaft, weiterhin gestützt auf philosophische Einsichten und kündende Legenden, uralte Gleichnisse für das geistige Wachstum menschlicher Erkenntnisse. Hirams Vorbild wirkt fort, aber nicht nur im Bedenken seiner Haltung, sondern als stärkere Aufforderung zum Handeln. Und aus den Visionen eines Bacon, eines Hume, eines Andreae, eines Ashmole wurden die Anstöße für edleres Menschentum übernommen, nicht rosenkreutzerische Beschwörungen von Elementargeistern und auch nicht alchemistische Goldmacherei, wohl aber das Gleichnis, Unedles zum Edlen zu sublimieren, geistiges Gold, der Wandlung des rauhen Steins zum glatten Kubus, parallel, immer verbunden mit den Anforderungen der wirklichen Welt. Mit den alten Legenden verknüpft, bewahrten sich allerdings die alten Namen und Titel, nicht als Rechtsanspruch, sondern als Mahnbild und Aufgabe. Deshalb bleiben die Handlungsorte immer noch Werkstätten, Ateliers, in denen maurerisch in die Breite und die Tiefe gearbeitet werden soll, nicht in die Höhe.
Industrialisierung der Kultur
In einem neuen Umbruch gesellschaftlicher Verknüpfungen werden wir zur Zeit wieder durch eine andere technische Revolution hineingelenkt. Sie führt allerdings auf der eingeschlagenen Bahn des Fortschritts weiter. Aber es ist nicht mehr eine Vervollkommnung mechanischer Hilfen, sondern mehr eine Eliminierung reiner Handfertigkeiten, wenn auch diese nur noch Bedienungen, nicht mehr Gestaltungen waren. Deren stupide Knechtung wird wirklich überwunden durch neue elektronische Hilfen, indem solche Tätigkeiten, weitgehend losgelöst aus menschlicher Unberechenbarkeit, Robotern übertragen werden.
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Was wird nun aber aus jenen bisher industriell Geknechteten, die längst
weiter nichts gelernt haben, lernen sollten? Welche Tätigkeiten können
ihnen stattdessen jetzt übertragen werden, zu denen sie noch
Fähigkeiten besitzen? Sind damit nicht nur ihre Arbeitsaufgaben, son
dern auch sie selbst überflüssig geworden? Sie leben doch noch, wenn
auch weitgehend als uneinsetzbare Arbeitslose! Was also sollen sie ler
nen, falls sie überhaupt noch lernen können? Die alten handwerklichen
Fähigkeiten, die bis zur Industrialisierung die Kulturgrundlage bilde
ten, sind bis auf wenige vergessen, weil sie nicht mehr benötigt wurden.
Die Erfindung des Computers machte sogar das Durchdenken logischer
Anweisungsfähigkeiten weitgehend ersetzbar, wofür wir sogar dankbar
sind, weil das Arbeits- und Zeitgewinn bedeutet. Seine meisten Anwen
der haben allerdings die immer als mühselig erlebte Fähigkeit verloren,
algebraische und arithmetische Rechenwege zu beherrschen, die junge
Menschen zudem gar nicht mehr erlernen. Geschieht hier vor unseren
Augen, was damals die Spätantike zum Zusammenbruch brachte?
Was sagte damals ein Papst zur Zeit Ludwig des Frommen? ,,Ein Volk,
das nicht schreiben und lesen kann, läßt sich besser regieren." Damals
war jedoch noch ein Teil der alten Kulturbasis lebendig. Heute ist der
Effekt umfassender durch die inzwischen sich weltweit ausbreitende
elektronische Vernetzung. Gewiß sublimiert sie im „Globalen Dorf" die
unterschiedlichen Defizite in der menschlichen Gesamtmenge. Der wach
sende Defekt wird sich erst dann schrecklich erweisen, wenn es zu einem
großen „GAU" kommen sollte. Dann bleibt nichts mehr übrig von den
Denkresultaten des evolutionär ererbten menschlichen Gehirnes.
Noch ist es nicht soweit. Doch schon die gedachte Möglichkeit sollte
uns wachrütteln. Die Zahl der Unzufriedenen, Fortschritt
Enttäuschten wächst stetig. Vielleicht übersehen wir dabei noch zu
gerne die Resignierenden. Die Aufbegehrenden mehren sich jedoch.
Sie wollen handeln. Ich frage nur, was steht ihnen dafür noch zur
Verfügung, wenn sie nichts lernten, wenn sie medienbedingter, einsei
tiger Sinneskonsum zum „Schlucken von Sensationszerstreuungen"
verführte? Was bleibt da noch der breiten Masse? Wenn ihr ererbter
Hang zum Aufhauen gelähmt ist, will sie nur noch stören, und wenn
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
sie darin gehemmt wird, drängt es sie nur noch, zu zerstören. Die
wachsende Zahl der Fanatiker ist schon bereit dazu und verwirklicht
dieses auch, wie wir es zur Zeit erleben. Noch ist der Rest groß genug,
der sich die ererbten Fähigkeiten bewahrte, ähnlich wie damals in der
Spätantike. Wir können nur wünschen, daß diese Wenigen nicht müde
werden. Ich will nicht alle Möglichkeiten aufzählen, diesen Weg zu
unterstützen, immerhin doch einen, der sich diese Potenz bewahrte.
Symbole und Rituale für den sinnvollen Gegenwartsbezug
Auch vor diesem Hintergrund müssen wir die Durchführung freimaureri
scher Bräuche sehen und dann untersuchen, ob sie in solcher Umwelt
noch einen Sinn haben kann, oder ob sie sich wirklich den technischen
Gegebenheiten der gegenwärtigen Gesellschaft kompromißlos angleichen
sollte. Das Grundanliegen mit seinen drei Prinzipien Toleranz, Fraternität,
Humanität stellt schon eine Reaktion dar auf die ersten Ansätze der
Entwicklung, hin zur Massengesellschaft des technischen Zeitalters.
Auch der Begriff der Aufklärung, über den engeren materialistischen
Bezug der damals beginnenden Erfahrungswissenschaft hinaus, wirkte
auf die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen und richtete seine ethische
Entwicklung darauf aus. Dabei hilft ihm immer noch jenes sinnbezogene
Erbe ihrer Symbole und Rituale. Hierdurch besitzt die Freimaurerei die
wesentliche, geistige Substanz, alle ihre Traditionen in einen neuen sinn
vollen Gegenwartsbezug zu stellen. Die Welt der sinnhaften, sprachlich
formulierbaren Begriffe, die in der technisierten Kollektivgesellschaft für
deren abhängige Mitglieder beziehungslos geworden sind, weil sie nicht
mehr erlebnismäßig unterbaut werden, haben in den Logen einen für sich
bestehenden Sinnzusammenhang behalten.
Das Gleichgewicht zwischen Erfahrungs- und Erlebniswelt macht es
weiterhin möglich, die alten ethischen Bedeutungen ungebrochen aufrecht zu erhalten, wenn sie im rechten Maß zu den Erkenntniswerten der moder
nen Wissenschaft in eine polare Spannung gebracht werden. Als solche stel
len sie ein praktikables und philosophisches Weltbild dar, welches einer
religiösen Begründung nicht bedarf, diese aber auch nicht unmöglich
macht, sondern ausschließlich der persönlichen Entscheidung überläßt.
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 163
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Hiermit ist der Freimaurerei ein Arbeitspotential zu eigen, welches es
ohne jede Einschränkung erlaubt, sich sachlich mit der modernen
Gesellschaft auseinander zu setzen und sich ohne Zwang ihren nivel
lierenden Kräften gegenüber zu behaupten. Hierfür muß sie nicht, ja,
sie darf es nicht einmal, auf ihren Symbolbestand im Sinne einer
Angleichung verzichten. Es ist allerdings zu fragen, ob jene Reste der
alten Standesgesellschaft noch aktuell sind, die damals in der
Entwicklungszeit in Frankreich oder Deutschland, die ursprüngliche,
englische Form überschichteten.
Die Loslösung von dem Handwerkertum der Bauhütten hatte die
Arbeitssymbolik zu einer philosophischen gemacht, die der realen
Werkbetätigung nicht mehr bedurfte. Geblieben sind nur jene gesell
schaftlichen Bezüge, die ein Elixier demokratischen Ideengutes kulti
vieren. Gleichberechtigung und Gleichverantwortung bilden hiervon
den Kernpunkt. Sprachlich bewußt geformte Kommunikation wurde
zum Mittel des Gedankenaustausches, um Selbstverantwortung und
Selbstverpflichtung so zu schulen, dass mit deren Einsatz jeder
Einzelne die Aufgabe zu erfüllen bekam, selbständig und allein auf
seine allgemeine Umwelt aufklärend und erziehend zu wirken.
Dieses Anliegen hat seine Wichtigkeit nicht eingebüßt. Es ist sogar
heute sicher die seltenste Möglichkeit, bewußt der ausufernden
Vermassung zu begegnen, hoffentlich sogar der elektronischen
Nivellierung in der nächsten Zukunft. Als eine wichtige Frage bleibt
jedoch das Faktum bestehen, ob der einzelne Freimaurer es weiterhin
vermag, ohne äußeren Anstoß, aus sich selbst heraus, diese Kraft in
die Tat umzusetzen, auch wenn ihm immer mehr von der Masse „mas
sivster" Widerstand entgegengesetzt wird, oder ob er, dies scheuend,
lieber den unausweichlichen Konflikten aus dem Weg geht und uner
kannt in seinem Elfenbeinturm verharrt.
Ein bedeutendes Problem der Freimaurerei heute.
Da es für jeden Menschen gegenwärtig schwierig ist, noch mit all die
sen Problemen fertig zu werden und gegen die herrschenden
Tendenzen stark zu sein, wird aus seiner Haltung heraus auch der ein-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
zeine Freimaurer selten zu dem Erfolg kommen, die erwünschte posi
tive Wirkung auf seinen Mitmenschen so zu erzielen, wie dieses noch
vor einem halben Jahrhundert möglich war. Diese in 90% der Fälle
vorprogrammierte Frustration verleitet ihn verständlicherweise schnell
zur Resignation.
Gegen diese anzugehen, gehört also in erster Linie zu den Aufgaben,
die sich der Freimaurer heute stellen muß. Es gehört zum wichtigsten
Anliegen seiner Institution, ihm dafür eine gute Hilfe zu geben.
Hierüber muß nachgedacht werden, und nicht um irgendwelche An
gleichungen an den sogenannten Zeitgeist, denn dies würde die Frei
maurerei als solche überflüssig machen.
Der richtige Rahmen hierfür wäre immer noch am besten die „blaue"
Maurerei der ersten drei Grade, weil sie am meisten das demokratische
Prinzip gewährleistet. Da dies aber ohne einen gewissen Zwang nicht
mehr zu gehen scheint, ist hier das Ordensprinzip aufgerufen. Würde die
ses jedoch in jener Strenge eingesetzt, die, statt der Pflicht, absoluten
Gehorsam fordert im Sinne der alten Ritterorden, rückte sie gefährlich in
die Nähe der Direktivstrukturen modern gemanagter Wirtschafts
systeme. Der einzelne, gewohnt an die dort üblichen Weisungen, vergißt
dann zu gerne jenes Prinzip der Eigenverantwortung, welches allein die
genannte Negativentwicklung im Bann halten kann.
Eine Konstitution im A:.A:.S:.R:.
Hier ist, auf Grund der gegebenen Gesetze seines Aufbaues, der schot
tische Ritus gut geeignet, das rechte Maß einzuhalten zwischen Weisung
und Selbstverantwortung, da er allein von allen Ordensinstitutionen
auf dem humanitären Prinzip aufbaut.
Nun ist aber jedes Ordensprinzip der Gefahr ausgeliefert, den einfacheren Weg der Befehlserteilung einzuschlagen, weil dieser schneller zu
einem Erfolg zu führen scheint. Wie bei jeder Führungsform ist dieses
auch hier der einfachere Weg, sichere Funktionen zu verwirklichen. Aber,
wie es schon bei den alten Ritterorden war, kann ein einsam gegebener
Befehl auf einen Weg führen, der nicht wieder gut zu machen ist. Das
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wäre jedoch bei dem heutigen Stand der Aufgaben für die Freimaurerei gefährlich und würde ihr die Möglichkeiten nehmen, effektiv zu werden. Der Schottische Ritus besitzt jedoch das System von Anhörung und Weisung, welches er aus eigenem Überlebensinteresse nicht verlassen wird, um jene positiven Kräfte am Leben zu erhalten, die schon in den ersten drei Graden möglich sind, aber dennoch des Nachdrucks bedürfen, die der Ritus ausüben kann. Das bedeutet, daß der Ritusbruder nie vergessen soll, weshalb er immer gemahnt wird, daß sein Wirken in der Johannisloge stets den Vorrang haben muß, um deren Grundanliegen wachzuhalten, auch bei den Brüdern, die nicht den Schritt in die Erkenntnisgrade vollziehen wollen.
Zum anderen darf er dabei auch nicht vergessen, daß sich die versprochene und gewünschte Erkenntnis nicht von selbst einstellt, sondern auch im Ritus erst erarbeitet werden muß. Hierüber sollte jeder Verantwortliche auf allen Erkenntnisstufen ernsthaft nachdenken. Keinesfalls sollte aus diesem Stand der Dinge abgeleitet werden, die beiden Komponenten der blauen und roten Freimaurerei wieder zu einer gemeinsamen Institution zu vereinigen. Möglichkeiten, Fähigkeiten, Bestrebungen sollten nicht unter Zwang gestellt werden. Ein ehrgeiziger Marsch durch die Grade ist keinesfalls wünschenswert, auch wenn nur Wißbegier und etwa Eitelkeit zu ihm anreizt. Wenn erweiterte Erkenntnis Sinn und Zweck bleiben soll, muß auch die Freiheit der Absicht erhalten bleiben. Das sollten wir auch aus dieser Darlegung der langen Entwicklung lernen.
Außerdem ist gerade heute wichtig, daß nicht auch noch die Freimaurerei dem gegenwärtigen Hang zum Fundamentalismus verfällt. Dann erübrigt sich ihr Erhalt, wie sich das inzwischen viele ähnlich bemühte Institutionen gleichfalls fragen müssen. Ich hoffe, daß dieser von mir vorgelegte Text etwas zu einer Bewußtseinsbildung beitragen kann. Versuchen wir also diesen Weg in nächster Zukunft einzuschlagen!
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75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
Über die Religion in einem globalen Veränderungsprozess
Br :.Kambam Ritapal, 33°
Kiesel in der Hand
Es gibt die Relativitätstheorie, kontrollierte und unkontrollierte Kern
spaltung, auch Kernfusion, Quantenmechanik, Nanotechnologie und Organtransplantation, wir kennen den genetischen Code und haben schon Lebewesen geklont und die Planeten in unsere Reichweite gebracht, wir können noch mehr, wir sind immens stolz auf die Wissensgesellschaft, in der wir leben. Wir glauben, das Wissen zu
haben, obwohl der Weg von Information über Meinung, Manipulation und Überzeugung bis zum Wissen immer noch sehr weit ist.
Seriöse Wissenschaftler zitieren noch heute den Satz des britischen Physikers, des Begründers der klassischen Physik, Isaac Newton, der lautet: ,,In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am
Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, während sich der
weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt."
Nur wenige Kinder haben einzelne dieser Kiesel in der Hand. Was ist mit den Milliarden von den anderen, in aller Welt verstreuten, mehr oder weniger begabten Kindern? Viel früher als die heutige Wissenschaft kannte der Mensch „Glaube", ,,Liebe" und „Hoffnung", aber auch Furcht, Ungewissheit sowie Glück, und diese sind keine wissenschaftlichen Begriffe im heutigen Sinne. Emotionen sind jedoch Fakten, gehören doch zur Wirklichkeit.
Alle Menschen, ohne Ausnahme, schwimmen in dem weiten Ozean des
Unbekannten, und man hat zu allen Zeiten versucht, die Wirklichkeit
zu erfassen, den Sinn für sein Dasein zu ergründen und seinem Tun eine Richtung zu geben.
Die Frage nach Gott, der innere Kern des Religiösen, wurde in der Menschheitsgeschichte von Sehern, Gelehrten und Propheten beantwortet. Bei der Wissenschaft beruht das Wissen ebenfalls auf dem
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 167
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Wirken einzelner genialer Forscherpersönlichkeiten, die mit ihren küh
nen Gedanken immer neue Horizonte der Erkenntnis erschlossen und
so die Geschicke der gesamten Menschheit beeinflusst haben. Die
Wissenschaft ist kein Feind der Religion, sondern in ihr sieht man viel
mehr den Weg, die Geheimnisse des Universums kennen- und verste
hen zu lernen. In der Wissenschaft gelten nur die wiederholt nachprüf
baren Fakten, und es gibt weltweit akzeptierte Regeln und keinen
alleinigen Anspruch auf die Wahrheit. Der Anspruch der Religionen
ist weitreichender, Glaube ist die gestellte Anforderung, und die
Einmaligkeit eines religiösen Bekenntnisses wird fast überall unterstri
chen durch den Anspruch auf den alleinigen Besitz der Wahrheit.
Sofern dieser Anspruch in voneinander räumlich getrennten Völkern
praktiziert wird, stört oder tangiert es die anderen nicht. Problematisch
wird es, wenn Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen räum
lich zusammenrücken und sozial sowie existentiell interdependent sind,
wie dies heute durch Migration und Globalisierung immer mehr der
Fall ist. Auch ohne die Globalisierung im modernen Sinne sind die ein
zelnen Regionen nicht unbeeinflusst von den Kulturen der anderen
geblieben. Ein etwaiges regionales Konzept der religiösen Einheit
würde die Menschen ausschließen, die zu den Minderheiten gehören
oder deren Identitäten nicht auf Religion gründen.
In der Wissenschaft haben wir den sachlichen Wettbewerb der Ideen,
während bei Glaubensbekenntnissen, aufgrund inhärenter Abgrenzungs
tendenzen und zum Teil absoluten Wahrheitsanspruchs, eine andersgear
tete, emotional motivierte Rivalisierung vorkommt. In der Wissenschaft
ist die jeweils bestätigte sachliche Richtigkeit maßgebend, solange keine
andere Erkenntnis vorliegt, aber für das friedliche Nebeneinander der
Glaubensbekenntnisse sind Toleranz und Respekt füreinander unentbehr
lich. Mit der Globalisierung wachsen für die Wissenschaft und Technik
die Aussichten, für die Menschen bedeutet dies aber vermehrte Spannung.
Revitalisierung von Religion
Die menschliche Fähigkeit, mit extremer Ungewissheit zurechtzukom
men, ist begrenzt. Religionen haben es ermöglicht, das chaotische
Potential in Krisensituationen im gewissen Sinne in Vorstellungen von
Ordnung umwandeln zu können. Wenn Krisen eingetreten sind, ver-
75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.
mittelten sie Zuversicht auf ihre Bewältigung. Dies gilt sowohl für die existentiellen Situationen des Einzelnen als auch der Gemeinschaft.
Nur wenige mögen im Angesicht des Trends zur Modernisierung und Säkularisierung an das völlige Verschwinden der Religionen als Macht geglaubt haben, nämlich Macht im Sinne einer politischen Kraft, eines Potentials sozialer Identitätsbildung sowie als formendes Prinzip religiöser Subjekte. Ähnlich klein dürfte die Zahl derer gewesen sein, die sich die weltweite Revitalisierung von Religion als eine Macht vorzustellen vermochten.
Was die Rolle der Religion im öffentlichen Leben angeht, so ist es in den außereuropäischen Ländern anders als im weithin säkularisierten Europa. Aufgrund der Migration und Globalisierung beginnt sich die religiöse Szene in Europa als Einwanderungsland zu verändern. Der christlich-europäische Kulturkreis erlebte im Laufe des 20. Jahrhundert eine historisch einzigartige Migration. Hiermit ergab sich eine Begegnung mit Kulturen, die nicht in gleicher Weise wie Europa säkularisiert sind. Es war notwendig, Probleme der Religionsfreiheit zu erörtern. Es ist mehr denn je wichtiger geworden, religiösen Fragen und Problemen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher, denn neben Jahrhunderte alten Problemen zeichnen sich neue Spannungsfelder ab. Insbesondere zu beleuchten war das Spannungsfeld von staatlicher Regulierung, gesellschaftlichem Wandel und individueller Werteorientierung. Die Suche nach Modalitäten des Zusammenlebens der Angehörigen verschiedener Weltanschauungen im vereinten Europa hat eine hohe Priorität erlangt.
Die These des Politologen Samuel Huntington in „Kampf der Kulturen" hat in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks durchaus interessante Hinweise auf eine Revitalisierung der Religionen gegeben. Dies ist allerdings vorwiegend unter außenpolitischen Gesichtspunkten geschehen: Die gegenwärtige globale Konfliktebene ist besetzt durch die Auseinandersetzung zwischen den Kulturen in ihrer jeweiligen geographisch-politischen Ausdehnung. Wie allgemein bekannt, brauchen Menschen irgendwelche „Andersartigen" zu ihrer Selbstdefinition, und Religion dient hier als Abgrenzungskriterium. Für eine differenziertere Analyse der Situation genügt die Etikettierung „christlich", ,,muslimisch",
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„konfuzianisch", ,,hinduistisch", etc. nicht. Globale Konfliktszenarien sind eine Variante, aber nicht minder wichtig sind die auf den Nägeln brennenden unmittelbaren Probleme im Bereich der Wissenschaft und Technik sowie bei der friedlichen Koexistenz in multireligiösen Gemeinschaften. Die dringende praktische Notwendigkeit für das Verstehen der verschiedenen Kulturen und für die Entwicklung eines interkulturellen Gesprächs auf gleichberechtigter Basis zeigt sich beispielsweise bereits in der Bioethik. Hier geht es um einen kulturübergreifenden, globalen Konsens im Umgang mit den immer brisanter werdenden Fortschritten der biomedizinischen Forschung und Praxis.
Zwei Seiten einer Medaille
In einem Gegenszenario zu Huntingtons „Kampf der Kulturen" schlägt der amerikanische Soziologe Martin Riesebrodt vor, nicht den scheinbaren Widerspruch zwischen Säkularisierung und globaler Revitalisierung von Religion wegzuinterpretieren, sondern die Gründe für den gleichzeitigen Vollzug beider Prozesse zu untersuchen. Dabei dürfe eine kritische Prüfung unserer sozialwissenschaftlichen Grundannahmen hinsichtlich der Religion hilfreich sein.
Im Zusammenhang einer soziologischen Theorie der Religion sollten alle impliziten und expliziten Werturteile über religiöse Praktiken und Glaubensinhalte vermieden werden. Religionen in evolutionistische Schemata einzuordnen oder sie in höhere oder niedere, gute oder schädliche, legitime oder illegitime Religionen zu unterscheiden, wäre nicht sinnvoll.
Es wird argumentiert, dass Prozesse der Säkularisierung und der globalen Revitalisierung von Religion in Bezug zueinander stehen. Säkularisierung wird als Konsequenz zunehmender menschlicher Kontrolle und „ Weltbeherrschung" angesehen. Ein wesentlicher Aspekt sei der Erkenntniszuwachs bei den Naturwissenschaften und die Möglichkeiten in der Medizin, welche die menschliche Kontrolle über Bereiche der Lebensrisiken und -bedrohung ausgeweitet hat. Die Ersetzung früherer Formen der Herrschaft durch Demokratie, aber auch die Ausweitung bürokratischer Apparate, habe zu einer so
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genannten „Demokratisierung des Charisma" geführt. Auch die
Expansion des Wohlfahrtstaates, der größere existentielle Risiken neu
tralisiert hat, spiele dabei eine Rolle. Derartige Prozesse haben die
Relevanz der Religion eingeschränkt und diese in gewisser Weise auf
den privaten Bereich konzentriert.
Die andere Seite der Medaille sei eine neue Dimension der Ungewissheit
und Machtlosigkeit, die sich teils gleichzeitig und teils zeitversetzt einge
stellt hat. Neben wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften
gibt es auch neue Risiken wie Klimaveränderungen oder Verseuchung
von Wasser und Luft. Zu berücksichtigen ist auch der ambivalente
Charakter neuer Verfahren wie Atomtechnik und Gentechnologie mit
einhergehenden Existenz- und Zukunftsängsten. Neuer Raum ist ent
standen für die Mobilisierung von Massen durch „charismatische
Führer". Zu den Aufzählungen gehören auch die Destabilisierung der
Familienstrukturen, die Irrationalität und Unberechenbarkeit des
Marktes, Unterminierung sozialer Identitäten u.a.m. So seien religiöse
Formen der Prävention und Bewältigung von Krisen verstärkt in
Erscheinung getreten. In dieser Betrachtungsweise stellen Säkulari
sierung und Revitalisierung von Religion keinen Widerspruch dar, son
dern die zwei Seiten eines globalen Veränderungsprozesses. Auch der
Fundamentalismus sei keine „Rückkehr ins Mittelalter", sondern eine
Form des Widerstandes gegen Aspekte der Modeme.
Gerechtigkeit und Freiheit
Bekanntlich sind Gerechtigkeit und Freiheit die tragenden Säulen jeder
menschenwürdigen Gesellschaft. In „Morals and Dogma" kann man
nachlesen, dass die Gerechtigkeit das grundlegende Gesetz des ethischen
Universums ist. In der heutigen Wirklichkeit haben wir mit Regelungen
für das menschliche Zusammenleben in Frieden und Freiheit zu tun,
wobei das geschriebene Recht nicht eine Verkörperung einer höheren,
unsichtbaren Gerechtigkeit, sondern das neue Rechtsdenken ohne sol
che metaphysische Fundierung „selbstreferentiell" ist. Obwohl es bei
der Gerechtigkeit darum geht, jedem das ihm Angemessene zuzuweisen,
kommen bei Multireligiösität kulturelle und soziale Hintergründe ins
Spiel, mit möglichen Folgen für Politik und Gesetzgebung.
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Problematisch ist es, wenn gewisse Vorstellungen von dem, was recht
und gerecht ist, als Gesetz Gottes gelten sollen. So kämpft jeder für
seine „gerechte" Sache mit dem absoluten Wahrheitsanspruch, der
natürlich einen Kompromiss ohne Verrat nicht dulden kann. Etwas
anderes wären Bemühungen, durch Nachdenken und Beobachtung zu
erfahren, was das Gesetz Gottes wirklich ist.
Gott: Mehr als eine persönliche Angelegenheit
Religionen sind auch eine Macht und üben Einfluss auf der Erde aus. Die
religiösen Kräfte zählen zu den stärksten. Aus der heutigen Sicht ist die
Grundfrage nach Gott nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern
sie ist eine die gesellschaftliche und politische Zukunft entscheidende.
Das erforderliche Neue ist, dass der Mensch mit „Wahrheiten" auskom
men muss, dass die Eine Wahrheit für Menschen ein unermesslich hohes
Ziel ist. Ich denke, dass der Mensch intellektuell und emotional dazu
fähig ist, diese „ Wahrheiten" als einen Teil der Einen zu begreifen, denn
es handelt sich um diese eine Welt und es geht nur diese eine Menschheit
an. Die Beziehung zwischen den Religionen könnte sich zu einer Form
gemeinsamer Erforschung der Wahrheit entwickeln. Es ist das Streben
nach Wahrheit durch die schöpferische Zusammenarbeit, erreicht durch
wechselseitige Kritik und Erweiterung des Horizontes, also Ergebnisse
einer gegenseitigen Wertschätzung aller Denksysteme und Kultur
ordnungen. Der Weg zum Anderen wird frei, wenn das eigene Weltbild
nicht der einzige Maßstab ist. Gelehrte könnten darin einig sein, dass
keine Religion in ihrer derzeitigen Form endgültig ist und ihre eigene
Dynamik die Suche nach neuen Ausdrucksformen veranlassen kann.
Bei dieser Betrachtung stimmt die Entwicklung Europas in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts beispielhaft optimistisch. Das vereinte
Europa ist primär ein Projekt des Friedens und der Versöhnung. Im Schatten dieser Entwicklung wuchs parallel eine andere Situation auf
grund der bereits erwähnten einzigartigen Migration in das magnetisch
wirkende Europa. Dies ruft wieder, wie damals, weitsichtige Menschen
auf den Plan. Die Aufgabenstellung ist diesmal noch etwas komplexer.
Religiöser Frieden kann die Menschheit ein Stück weiterbringen. Der
Frieden beginnt aber bekanntlich im Kopf. Religiöser Diskurs fernab von
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den Menschen wirkt nur rein theoretisch. Die schlichte existentielle Situation müsste die Einsicht in die Notwendigkeit einer entsprechenden geistigen Grundlage fördern. Ein gemeinsames ethisches und religiöses Ideal übt seinen Einfluss auf die ganze zivilisierte Welt aus, und jedes Volk sucht dieses in seiner eigenen Religion und findet es auch dort. ,,Nicht soll der Christ ein Hindu, Buddhist oder Vedantist werden und umgekehrt, sondern jede Religion sollte den Geist der anderen in sich aufnehmen und doch ihre Eigenart bewahren; und der Bekenner jeder Religion sollte lediglich danach streben, seinen Glauben mehr als bisher in die Tat umzusetzen ... " -- so ein Vedanta-Lehrer aus dem 19. Jahrhundert (Sri Vivekananda).
Der freimaurerische Satz über „die Religion, in der alle Menschen übereinstimmen" geht ebenfalls aus der Erkenntnis hervor, dass die eine Wahrheit auf verschiedenen Wegen angestrebt werden kann. Wir wissen auch, dass die Wahrheiten der Maurerei in den Religionen der Welt enthalten sind. In den maurerischen Instruktionen kommen die Hindus, die Buddhisten, Perser, Sabäer, Skandinavier, die Hermetiker im alten Ägypten, Juden, Christen und Moslems vor, aber es wird keiner religiösen Lehre der Vorzug gegeben.
In einer Zeit, in der Fundamentalismus und Populismus Ressentiments schüren, gewinnen solche Instanzen an Bedeutung, die aufklärend wirken und Orientierung geben können. Während die Grenzen der Länder der Welt durchlässiger werden, ist es nur natürlich, über Formen der Integration nachzudenken, das Gefühl der Verantwortung in einer offenen Gesellschaft zu vermitteln und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Gerade in der Freimaurerei lernen wir den Vorzug des Offenseins für die Erkenntnisse anderer und des Verzichts auf Dogmen zu schätzen.
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Max Tau
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Autoren
Werner Boppel, 33°, Dr., Minist. Beamter,
PL „Voltaire" Nr. 17 im Or:.Bonn;
Werner Walter Güttler, 33°, Dr. phil.,
PL „Ernst Horneffer" Nr. 61 im Or:.Göttingen;
Hubert Kopp, 33°, Verleger,
PL „Paulus Ehmke" Nr. 86 im Or:.Hannover;
Theodor Kowalski, Dipl. Informatiker, Offizier,
PL „Olympos" Nr. 84 im Or :. München;
Werner Maiwald, .32°, Prof. Dr. habil.,
PL „Carl zu den drei Palmen" Nr. 109 im Or:. Leipzig;
Thomas Richert, Studiendirektor,
PL „Fortschritt" Nr. 8 im Or :. Berlin.
Kambam Ritapal, 32°, Chefredakteur,
PL „Apollo" Nr. 43 im Or :. Stuttgart;
Werner Scheel, 18°, Prof. Kunstmaler,
PL „Schopenhauer zur Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :. Frankfurt;
Gerd Scherm, 32°, Künstler,
PL „Adrianyi" Nr. 24 im Or:.Nürnberg;
Frank Schley, 33°, Dr. rer. nat., PL „Schopenhauer zur
Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :. Frankfurt am Main.
Alfred Schmidt, 33°, Prof. Dr. phil., PL „Schopenhauer zur
Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :.Frankfurt am Main;
Friedrich Wilhelm Schmidt, 33°, Geschäftsführer a. D.,
PL „Tor zur Welt" Nr. 66 im Or :.Hamburg;
Wolfgang Weber, 33°, Prof. Dr.-lng. Dr. h. c.,
PL „Fidus Achates" Nr. 9 im Or :. Essen
Hans-Udo Wolf,, 33°, Oberstudiendirektor i. R.,
PL „Gutenberg" Nr.32 im Or :.Mainz
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