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75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

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Page 1: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland
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75 JAHRE OBERSTER RAT FÜR DEUTSCHLAND

DER FREIMAURER DES ALTEN UND

ANGENOMMENEN SCHOTTISCHEN RITUS

EINE STANDORTBESTIMMUNG

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75 JAHRE

OBERSTER RAT FÜR DEUTSCHLAND

DER FREIMAURER DES ALTEN

UND ANGENOMMENEN SCHOTTISCHEN RITUS

10. FEBRUAR 1930 - 2005

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Eigenverlag: Oberster Rat für Deutschland der Freimaurer des AASR,

Sigmaringer Str. 18, 10713 Berlin,

Tel.030 86 00 88 53, Fax 030 86 00 88 56

eMail: [email protected] / www.aasr.freimaurer.org

Herausgeber: Friedrich Wilhelm Schmidt, SGK Redaktionsteam: Dr. Werner Boppel, Thomas Richert, Hans-Udo Wolf Layout: Michael Whelan, Springe Bildnachweis: Archiv der Kanzlei, Hans-Udo Wolf und privat Umschlagbild: Herbert Koeller t, 32°, Hamburg Druck: Aalexx Druck GmbH, Kokenhorststr. 22, 30938 Großburgwedel

Die Beiträge geben die Meinung der namentlich genannten Autoren wieder. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des ORD des AASR unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Der Alte und Angenommene Schottische Ritus ist ein

freimaurerischer Orden weltweiter Verbundenheit.

Die Aufgaben der Ritus-Brr.•.sind:

Vertiefung und geistiges Durchdringen

freimaurerischen Gedankengutes

in besonderen rituellen Graden

Auswertung gewonnener Einsichten

aus Leben, Wissenschaft und Kunst

für Gegenwart und Zukunft

Umsetzung der Erfahrungen und Erkenntnisse

in die Tat zur Selbstgestaltung des Einzelnen

und zur Mitgestaltung der Gesellschaft

Förderung des gegenseitigen Verstehens

und des friedlichen Miteinanders

aller Menschen in allen Lebensbereichen

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Inhalt

Vorwort

Morgenröte des Kommenden -ein Alter Ritus für eine Neue Welt

Der Schottische Ritus im Überblick

Die sieben Stufen der Initiation in der humanitären Freimaurerei

Der deutsche Zweig des Schottischen Ritus

Die Freimaurerische Akademie

Die ELEUSIS

Die Schriftenreihe des Schottischen Ritus in Deutschland

Aktive Mitglieder der Ratsversammlung

Seite 7

Seite 9

Seite 25

Seite 39

Seite 61

Seite 95

Seite 107

Seite 117

Seite 121

Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei

Von der Johannismaurerei zur Perfektionsloge Seite 125

Freimaurerei und Postmoderne Seite 129

Für eine Einheit von Kultur und sozialer Organisation Seite 137

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als unverrückbares Fundament der gesellschaftlichen Ordnung Seite 149

Die Stellung des Schottischen Ritus zur blauen Maurerei: Entweder - Oder und Sowohl als Auch Seite 157

Über die Religion in einem globalen Veränderungsprozess Seite 167

Autoren Seite 17 5

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Vorwort

Mit dieser aus Anlass des 75jährigen Jubiläums des A:.A:.S:.R:. in

Deutschland allen Brüdern Freimaurern in die Hand gegebenen Schrift

werden die Ziele des Ordens aus mehreren Perspektiven dargestellt.

Der einstimmig von den Mitgliedern der Ratsversammlung wieder

gewählte Großkommandeur, Br.·. Friedrich Wilhelm Schmidt, Hamburg,

gibt einleitende, standortbestimmende und richtungsweisende Aus­

künfte über das die symbolischen Grade fortsetzende und vertiefende

System freimaurerischer Kultur.

Das Ritual mit der freimaurerischen Symbolik ist und bleibt in den

vertiefenden Graden das tragende Gerüst für gewollte Erkenntnis- und

Wandlungsprozesse. Die zu heutigen Zeiten oft vergessene oder ver­

drängte spirituelle Dimension der Königlichen Kunst hat Br:. (Prof.

Dr.) Wolfgang Weber zum Inhalt seiner Ausführungen gemacht.

Ohne das wirkliche Arkanum rituellen Erlebens zu verletzen, erläutert der vorherige Großkommandeur, Br:. Hubert Kopp, Hannover, mit

Aufmerksamkeit heischender Offenheit die Vorbereitung für vertiefen­

de Einweihungen (Initiationen) in das Geheimnis der Menschlichkeit.

Aus der historischen Darstellung des deutschen Zweiges des

Schottischen Ritus von Br:. Thomas Richert, Berlin, mag der inte­

ressierte Bruder entnehmen, mit welcher Ernsthaftigkeit die Brüder den geistigen Anschluss der weltweit verbreiteten Geistigkeit des

A:.A:.S:.R:. suchten und welche Entwicklungen der Orden unter

den institutionell verantwortlichen Großkommandeuren in Deutsch­land genommen hat.

Die Freimaurerische Akademie und die Zeitschrift ELEUSIS zeichnen

ein Bild geistiger Arbeit der Brüder nach außen. Nicht für die allgemei­

ne Öffentlichkeit, sondern für die Bruderschaft engagieren sich der

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Akademiepräsident, Br:. (Dr.) Werner Boppel, Bonn, und der Redakteur, Br :.Hans-Udo Wolf, Ingelheim, die von diesen Organen des A:.A:.S:.R:. berichten. Akademie und Zeitschrift vermitteln

Bestätigung und Ansatz für den Neuanfang wie für die Fortsetzung freimaurerischer Arbeit.

Über eine weitere Veröffentlichungsreihe, die sich Schriftenreihe nennt, berichtet Br:. Thomas Richert, Berlin. Alles, was für die Instruktionen zu den Graden von Bedeutung ist, wird dort in Aufsätzen und Erläuterungen zusammengetragen.

Die Sprache als Mittel der Verständigung, hier über Aspekte der Besserung des Einzelnen und der Bruderschaft, wird bei jedem Autor vom Intellekt und seiner Ausbildung des „Herzens" beeinflusst. Die Auswahl der Beiträge zum Leitthema „Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei" sollte eindeutig der Tendenz der Entwicklung und der Verbreitung des Schottische Ritus folgen. So haben einige von der Redaktion ausgewählte Brüder aus ihrem Selbst­verständnis heraus Beiträge geschrieben. Ihnen gebührt unser Dank.

Diese Schrift sollte von jedem Bruder, der sie in die Hand bekommt, vor jeder entwürdigenden Profanisierung geschützt werden.

Redaktionsteam: Dr. Werner Boppel, Thomas Richert, Hans-Udo Wolf Berlin, September 2005

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Morgenröte des Kommenden -ein alter Ritus für eine neue Welt

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. in Deutschland

Br:. Friedrich Wilhelm Schmidt, 33 °,

Souveräner Groß-Kommandeur

Am 10. Februar 1930 wurde der Oberste Rat für Deutschland der Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus (A:.A:.S:.R:.) gegründet und am 18. April 1930 in Berlin durch den Obersten Rat des A:.A:.S:.R:. für das Königreich der Niederlande unter Assistenz der Obersten Räte von Österreich und Italien feierlich installiert. Wenn nach 75 Jahren zu fragen ist, wie es um das Selbstverständnis des A:.A:.S:.R:. von heute steht und wie er es mit der Freimaurerei überhaupt hält, dann bedarf es auch der Rückschau auf die Entstehungsgeschichte des Bundes und einiger seiner Zweige. Die historischen Abläufe in Deutschland werden an anderer Stelle dieser Festschrift dargestellt. So wichtig es ist, zu wissen, woher man kommt, stellt die Geschichte lebender Gemeinschaften andererseits nur den Prolog für heutige Gegebenheiten und für die Zukunft dar.

Der vor mehr als zweihundert Jahren konstituierte Alte und

Angenommene Schottische Ritus ist heute das weltweit am weitesten

verbreitete und stärkste System vertiefender Grade. Zu 52 Obersten

Räten und Obedienzen in aller Welt pflegt der Oberste Rat für

Deutschland enge Beziehungen. Regelmäßig treffen sich die Groß­

Kommandeure zu europäischen und zu Weltkonferenzen, territorial

souverän und ohne übergeordnete maurerische Instanz. Zum tieferen

Verstehen der globalen Dimension, der Vielfalt heutiger Freimaurerei

in der Welt und zum Erkennen der sie verbindenden Elemente ist die

Kenntnis des A:.A:.S:.R:. unerlässlich.

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Weil er es so will, sind dem A:. A:. S:. R:. als Organisation bei nach

außen in die profane Welt gerichtetem Handeln enge Grenzen gesetzt.

Demgegenüber verfügen seine Mitglieder über unbegrenzte, nur dem Gesetz und ihrem Gewissen unterworfene freie Möglichkeiten tätigen

Wirkens. Und für das Wirken von Ritusbrüdern im gesellschaftlichen Umfeld hat der A:.A:.S:.R:. wichtige Denk- und Handlungsansätze

in seiner 200-jährigen Geschichte entwickelt.

Der gemeinsame Auftrag

Ohne jede Einschränkung ist zu betonen, dass die Brüder des Ritus

Freimaurer sind und Freimaurer bleiben, welche Grade und Ämter sie auch immer erreichen mögen. Das freimaurerische System des

A:.A:.S:.R:. baut auf den Lehren und Inhalten der drei Grade unserer Großloge A.F.u.A.M. auf. Mit ihr verbindet uns eng der gleiche huma­nitäre Auftrag, mit ihr sind wir durch ein Konkordat fest verbunden.

Nur Freimaurermeister können die vertiefenden Grade unseres

Ordens erlangen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass sich die

Brüder des Ritus aktiv um ihre Loge zu bemühen und zu stetem Wachstum der Großloge beizutragen haben. Da engagierte Mitarbeit

im A:.A:.S:.R:. das Interesse und auch die Begeisterung für die Freimaurerei im Allgemeinen vertieft und stärkt, führt dies in der Regel auch zu besonders interessierter und intensiver Mitarbeit in den „ Symbolischen Logen".

Wechselseitige Befruchtung der Arbeit ist unverkennbar, der Einsatz vieler Ritusbrüder hat nachhaltigem Einfluss auf die gedeihliche Fortentwicklung unserer Großloge genommen und soll auch in Zukunft zu deren Wohl beitragen. Der Ritus bietet mit seinen 111

aktiven Ateliers logenübergreifende Begegnungsstätten von hoher Integrationskraft und seine über 1800 Brüder wissen die engen Bande sehr zu schätzen, die sich in der Weite des Bruderbundes entfalten können.

In neuerer Zeit haben sich die engen brüderlichen Beziehungen zu den anderen vertiefenden Systemen und Erkenntnisstufen deutscher Freimaurerei stetig verstärkt.

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Wohltuend ist zu erleben, wie zu den Brüdern der Großen Landesloge,

zu den Erkenntnisstufen der Großen National-Mutterloge „Zu den

drei Weltkugeln" und den Inneren Orienten von „Royal York zur

Freundschaft" liebgewordene Verbindungen gewachsen sind. Die

Auswirkungen solcher Freundschaft kamen und kommen auch

unmittelbar der „Einheit in der Vielfalt" der Vereinigten Großlogen

von Deutschland zugute.

Die Tat ehrt das Vorbild

Vornehmste Aufgabe des Alten und Angenommenen Schottischen

Ritus ist es, durch rituelle Arbeit und Unterweisung seinen Mitgliedern

zu helfen, ihren Lebensweg mit Sinn zu erfüllen. Der A:.A:.S:.R:.

versteht sich als tatgerichtete Freimaurerei. Der Bruder wird in die

Pflicht genommen, sein Handeln an ethischen Werten auszurichten

und Menschlichkeit vorzuleben. Diesen nicht zeitgebundenen Auftrag

teilt der Schottische Ritus mit jeder recht verstandenen Freimaurerei.

Sein Selbstverständnis aber zwingt ihn, und damit seine Mitglieder, - wie

jeden Orden - in der Realisierung der tragenden Idee ein Höchstmaß

anzustreben. Hierarchien sind dabei nur Mittel zum Zweck, gerechtfer­

tigt allein durch die Leistung gegenüber der Gemeinschaft, der sie die­

nen und die sie trägt. Dem freimaurerischen Ideal sollen sich die Brüder

des Ritus durch permanentes Bemühen so weit wie möglich annähern.

Aus freiem Willen haben sie sich eingeordnet und zu besonderem

Einsatz hierfür verpflichtet. Dadurch werden gleichgelagerte Anstren­

gungen außerhalb einer Ordensstruktur nicht geschmälert. Unbestreit­

bar ist es aber das Recht jedes Einzelnen sich selbst verstärkt zu diszipli­

nieren. Die enge Verbundenheit eines Ordens will seine Brüder mental

und emotional unterstützen im Prozess ihrer Selbsterziehung, im Ringen

um maurerische Erkenntnisse und deren Umsetzung in die Tat. Im

Idealfall sollen sich Führungspersönlichkeiten herausbilden, die

Menschen leiten können auf dem schwierigen Weg in die Zukunft.

Das Spektrum der Freimaurer

Alle Freimaurerei beginnt mit Suche. Symbole und Rituale können

Antworten geben. Selbsterkenntnis wird zum Auftrag, Welterkenntnis

beginnt zu wachsen, Wandel vollzieht sich. Schleier zerreißen, doch

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hinter jedem durchdrungenen Gewebe liegt ein neues, breiten sich

neue Schleierwände, verbirgt sich der weitere Weg.

Es begegnen sich Brüder unterschiedlicher Identitäten: Philanthropen

reinster Prägung, Sozialreformer, verinnerlichte Menschen und

Grübler, Esoteriker, gar Seher, Wohltäter, Enthusiasten und Skeptiker,

Vereinspraktiker und Organisatoren, Lehrmeister und Liebhaber von

Regelwerken, Forscher auf verschiedensten Feldern, agnostische

Rationalisten und Aufklärer, die für alles eine Antwort parat haben.

Ein Schatz an Brüderlichkeit wird gehoben, das Gemenge aus edlen

Metallen, Patina, Rost und Blei harrt erschließender Mühe und man

beginnt zu begreifen, wie gerade die menschliche Verschiedenheit

funktionierende Gemeinwesen ermöglicht. So viele Menschen, so viele

Zwischenstationen werden bewusster, so viel Durst nach Verstehen, so

viel Sehnsucht nach Wahrheit, so viel Verlangen nach Sinn drängt aus

Dunkel zum Licht. Die kurz umrissene Situation ist allen Freimaurern

gemeinsam, sie verbindet alle Maurer, wo immer und in welchen

Gemeinschaftsformen auch immer sie arbeiten.

Individuelle Impressionen von Freimaurerei reichen von "Nichts",

über „Geheimnis" bis zum Willen zur Tat. Jedem die Freimaurerei, die

er verdient, jedem soviel Freiheitsgewinn durch frei machende

Maurerei, wie er sich errungen hat, durch Arbeit an sich selbst. Die

letzte Grenze aber, die dem Menschen gesetzt ist, sie bleibt. ,,Das ist

an der Größe des Menschen groß, dass er sich als elend erkennt", weiß

ein Gedanke von Blaise Pascal (1623-1662). Das zwingt zu Demut,

das fordert aber zugleich Freiheit, Ketten zu sprengen.

Horkheimer sprach von der „Sehnsucht, dass es bei dem Unrecht,

durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleiben soll, dass das

Unrecht nicht das letzte Wort sein möge." ,,Diese Sehnsucht gehört

zum wirklich denkenden Menschen", stellte er fest.

Eine Gemeinschaft von brüderlich verbundenen Menschen mindert

das Elend des Geworfenseins in eine Welt, die im Menschen nur die

verwert- und wegwerfbare Ressource, rasch entwertetes „Human­

kapital" oder den zu manipulierenden Konsumenten sieht. Statt

Fremde und Feindseligkeit fühlen zu lassen, entfaltet sie heimatstiften­de Kraft. Ein Bund von Menschen, eine Bruderschaft, gleicht

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Schwächen aus, lässt Kräfte sich bündeln, führt aus Dunkel zum Licht. Zu den Pflichten des Ritusbruders rechnet auch, dass er sich bewusst macht, wie sehr es dabei ankommt auf sein Denken, sein Verhalten, seine Offenheit für andere, seine Integrationskraft und seine brüder­liche Liebe.

Neue maurerische Dimensionen und neue Horizonte

Der A:.A:.S:.R:. vermag dem ernsthaft Strebenden neue maureri­sche Dimensionen und neue Horizonte zu erschließen durch seine rei­che Symbolik und durch seine Rituale. Die Bauhüttensymbolik macht den geringeren Teil seiner praktizierten Rituale aus. (Vorhandene eige­ne Rituale der ersten drei Grade werden nicht selbst bearbeitet, durch Konkordat wird nach den Ritualen in unserer Großloge A.F.u.A.M. in deren Logen gearbeitet.) Trotz allen historischen Forschens scheinen viele Baugeheimnisse der Kathedralen für immer verschollen zu sein und trotz allen maurerischen Forschens bleibt weitgehend die Frühgeschichte der Maurerei im Dunkel. Was an altem Wissen tradiert, was hinzukomponiert wurde, was durch eifernde Ritualreformer und aufklärerische Besserwisser an Wertvollstem beseitigt oder verstümmelt wurde, es ist nur bruchstückhaft zu erhel­len. Durch manche zu frühe Reform ging mehr verloren als hinzuge­wonnen wurde durch Zugeständnisse an den Zeitgeist. Gewiss wan­delt sich auch Maurerei in moderatem Maße mit dem Wandel der Zeiten, wird auch das Bewusstsein von Freimaurern mit geprägt durch ihr gesellschaftliches Sein. In Zeiten sich immer rascher jagender Informationen und Moden gilt es aber besonders sensibel zu sein für das Bleibende, die Zeiten überdauernde.

Selbstverständlich müssen Freimaurer bestrebt sein, die komplexe Weltsituation unserer Tage so gut wie möglich zu analysieren und begreifen zu können. Der Ritus hat sich zum Ziel gesetzt, gewonnene Einsichten aus Leben, Wissenschaft und Kunst für die Gegenwart und die Zukunft auszuwerten. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse sollen die Ritusbrüder in die Tat umsetzen zur Selbstgestaltung und zur Mitgestaltung der Gesellschaft. Ananke, die oft verhängnisvolle Notwendigkeit, verschont jedoch auch Freimaurer nicht. Kurt Hendrikson, verstorbener Alt-Groß-Kommandeur, hat sich nachhaltig

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mit der Sinnfrage in neuzeitlicher Gesellschaft auseinandergesetzt in

seinen Werken „Ethik und Konsumkultur"(1988) und vor allem in

,,Freimaurerische Lebenskunst" (1991).

Wollte man die Freimaurerei auf ein Philosophieseminar oder auf

materialistische, geometrische und naturwissenschaftliche Denk­

kategorien, Schemata und Hypothesen reduzieren, beraubte man sie

wesentlicher Komponenten ihres inneren Reichtums. Sie ist nicht

schierer „Transmissionsriemen" der Aufklärung. In ihr konnte auch

hermetisches Wissen überleben: Ins Zentrum der Aufklärung vor ihr

geflüchtet, quasi mit einem chinesischen Sprichwort „in die Haut des

Drachen geschlüpft", erfuhr es gar eine neue Blüte. Ohne das „Licht

der Aufklärung" wäre aus der „Krise des europäischen Geistes" (Paul

Hazard) nicht ein neues europäisches Bewusstsein erwacht, wäre das

Abendland in dumpfem Dahindämmern und im Absolutismus ver­

kommen. Andererseits hat das Licht der Aufklärung auch manch

Erhaltenswertes verbrannt, viel Schönes in der Welt „seines Zaubers

beraubt" und die „Initialzündung" abgegeben für den Individua­

lismus, der in unseren Tagen zu schrankenloser Egozentrik und

Primitiv-Materialismus zu pervertieren droht.

Was soll ich tun? Was kann ich erkennen?

Die Arbeit im A:.A:.S:.R:. will Hilfen geben, die Frage „Was soll

ich tun?" zu beantworten. Sie ringt aber auch um Antwort auf die

Frage „Was kann ich erkennen?" Gerade „aufgeklärte", vernunftbe­

gabte Menschen dürfen sich nicht zu der Hybris verleiten lassen, alles

sei machbar, alles beherrschbar. Zu begrenzt ist der Apparat von fünf

Sinnen, zu anfällig für Fehlschaltungen unsere neuro-physiologische

Konstitution, das Unbegreifliche, das Unnennbare besitznehmend zu

durchdringen. Dennoch bleibt mehr an Erkenntnisfähigkeit und an

eigenverantwortlicher Freiheit nach, als uns manche Genetiker und

eifernde Rationalisten in jüngster Zeit glauben machen wollen.

„Dinge entdecken, die seit Anbeginn der Welt versteckt sind" (Rene

Girard: La violence et le sacre, 1972), auch das erhofft manche rastlo­

se Suche. Man muss nicht gleich „die Weltformel" entdecken wollen.

Aber manchmal lässt „der leise innere Klang der Dinge" aufhorchen

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und staunen. Etwa so, wie es Isaac Bashevis Singer in seinem „A Little

Boy in Search of God" (1976) beschreibt: ,,Mystik ist kein Geistes­

weg, der von der Religion zu trennen ist. Beide sind Teile der mensch­

lichen Seele - in dem Gefühl, dass die Welt kein Zufall oder keine blin­

de Macht ist, und dass menschlicher Geist und Körper eng verbunden

sind mit dem Universum und seinem Schöpfer. Der Heide, der einen

Gott aus Stein schuf, war sich dessen bewusst, dass der Stein selber ihn

weder hören noch ihm helfen konnte . ... So primitiv er gewesen sein

mag, er fühlte doch irgendwo in seinem Innern, dass, wenn man das

Wesen dieses Steines, seinen Ursprung und sein Geheimnis erfahren

könnte, man alles wissen würde."

Durch Raum und Zeit in die Tiefe und die Weite der Maurerei vorzu­

dringen stößt auf Blockaden, wo nicht das hinzukommt, was Antoine

de Saint-Exupery konstatiert: ,,Man sieht nur mit dem Herzen gut!"

Die Trägerkonstruktionen der Brücken, die wir als Freimaurer bauen

wollen, müssen nicht den Formeln der Statik genügen. Unsere Brücken

wollen auf Menschen- und Nächstenliebe gegründet und in Herzen

verankert sein.

Die Ritualistik des A:.A:.S:.R:.

Mit der Ritualistik unseres Ordens befassen sich zwei andere Beiträge

in dieser Schrift eingehend. Sehr einfach dargelegt, kommt es zunächst

in den Perfektionsgraden darauf an, dem Freimaurer eine Gewissheit

zu erschließen, die ihn im Wiederfinden des „ Verlorenen Meister­

wortes" mit der Schöpfung als deren Teil und mit dem Großen

Baumeister der Welten verbindet. Aufs Neue muss er dann erkennen,

dass es kein Festhalten, kein In-Besitz-Nehmen des Mysteriums gibt.

Das Kapitel vermittelt ihm die Kraft der Hoffnung, die ihn als „Ritter

vom Rosenkreuz" auf seinem weiteren Weg begleitet. Das Licht, das

ihm seit seiner Aufnahme leuchtet, wird aber von den Kräften des

Bösen im Menschen bedroht und daher fühlt er sich als „Ritter

Kadosch" verpflichtet, gegen den Missbrauch weltlicher und geist­

licher Macht entschlossen zu kämpfen, wird vom „Lichtträger" - bild­

lich gesprochen - zu einem „Krieger des Lichts". Schließlich lernt er

auf seinem weiteren Stufenweg erkennen, welchem Ziel die Religions­

stifter und die großen Weisheitslehrer zustrebten. Der A:.A:.S:.R:.

selber stiftet keine Religion, achtet den jeweiligen Glauben seiner

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Dir möchte ich Bruder sein.

Die scharfprüfenden Blicke

Ernster Unbestechlichkeit,

Das Feuer klareren Geistes

Anstrebend, krafrdurchglüht.

Das macht dich anziehender

Als mächtigere Tatmenschen.

Energieschub ausstrahlend,

Kühleren, wärmeren zugleich

In nüchterner Herzlichkeit:

Du sollst mir Vorbild sein,

Sollst mir der Lehrer sein,

Besser die Ziele anzugehen,

Menschen und mir zu helfen.

Br.·. (Prof.) Werner Scheel

75 Jahre A. · .A. ·.S. · .R.·.

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Dir möchte ich Bruder sein. Br.·. Werner Scheel 2000 / Fonnat r20 x no cm

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Brüder. Dennoch ist Religion, als Rückbindung (religio) an em Höchstes Wesen, eines seiner tragenden Elemente.

Der A:.A:.S:.R:. ist eine Ritualgemeinschaft und ein initiatorischer Bund. Initiation aber setzt innere Aufgeschlossenheit und stufenweis erlangte Reife voraus: Nur wer sich selber einweiht, erfährt Initiation. Von meditativer und zur Besinnung mahnender Wirkung ist die "Agape" durchdrungen, die alljährlich vor Ostern in den Kapiteln gefeiert wird. Beizutragen zum Frieden in der Welt, dazu fordern besondere Friedensarbeiten der Perfektionslogen auf.

Die Rituale des Ritus dringen auf ihre Weise vor ins „Dahinter", sto­ßen vor in Tiefendimensionen, ermöglichen „Expeditionen in die Innenwelten", erschließen Wesentliches des „Kosmos Freimaurerei". Manche Kritiker des Ritus schielen nur auf Äußerlichkeiten (und auch die kennen sie meist nur aus veralteter Literatur), etwa antiquierte Gradbezeichnungen oder (in Deutschland sehr bescheidene) Dekorationen. Die sollten sich aber vor Augen führen, dass für die pro­fane Welt Titulaturen, Anreden und Dekor der „symbolischen Maurerei" ebenfalls - gelinde gesagt - befremdlich wirken. Wer die

Pflege von Tradition und Brauchtum recht versteht, wird das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden wissen. Es ist unwe­sentlich, ob die Legenden und Mythen in unseren Ritualen im Sinne wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit „ wahr" sind oder dass einige ihrer Handlungsabläufe antiquiert daherkommen. Wesentlich ist, was sie an Erkenntnissen, Ideen und Idealen zu vermitteln imstande sind.

Das Erbe Albert Pikes

1871 veröffentlichte Albert Pike (1809 - 1891), der große Reformer unseres Systems, ,,Morals and Dogma" als Kommentar zu Gradaufbau und Ritualen des A:.A:.S:.R: .. Gewiss sind manche sei­ner religionshistorischen und religionsphilosophischen Auffassungen vom Geist seiner Zeit geprägt. Hinsichtlich seiner humanen, sozialen und gesellschaftlichen Positio­

nen bleibt sein Werk aber bemerkenswert aktuell und wertvoll. Man kann sogar feststellen, dass Pike der Maurerei mit globalem Anspruch eine neue Dimension erschlossen hat. Seine Reformen verabschiedeten

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

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sich auch von frühen „schottischen" Kopien höfischer und aristokra­

tisch-feudalistischer Usancen. Um Meilen überragt sein Denken auch

das von „Geselligkeitsvereinen" des 19. Jahrhunderts, die sich manch­

mal nur des Mantels der Freimaurerei zu bedienen pflegten. Ihm ist es

nicht nur um die so genannte „ bürgerliche Gesellschaft", sondern um

den Menschen und die Menschheit zu tun. Pike rückt den freien und

verantwortungsbewussten Menschen überall auf dem Globus als täti­

ges Mitglied einer freiheitlichen Gesellschaft in den Fokus.

So stellt er in seinem Kommentar zum Abschluss der Perfektionsgrade

im 14. Grad fest:

„Die ganze Welt ist nur eine einzige Republik und jede Nation in ihr eine

Familie und jedes Einzelwesen ein Kind. Die Maurerei, die in keiner

Weise die unterschiedlichen Pflichten schmälert, die die vielerlei Staaten

auferlegen, strebt danach, ein neues Volk zu schaffen, das, zusammenge­

setzt aus Menschen vieler Nationen und Zungen, durch die Bande der

Wissenschaft, Moral und Tugend miteinander verbunden ist."

Seinerzeit noch Vision, beschreibt dies treffend den heutigen Auftrag

des A:.A:.S:.R: ..

Im 32° steht als „Königliches Geheimnis" bei ihm im Mittelpunkt das

„Universal Equilibrium", ,,The Mystery of the Balance". Pikes

Ideenwelt weist durchaus Analogien auf zu modernen Denkkategorien

wie Gesinnungsethik und Verantwortungsethik oder auch einem öku­

menischen „Projekt Weltethos".

Das Gleichgewicht zwischen Gegensätzen

Sitzt man in Paris im Pantheon vor Foucaults Pendel, mag man medi­

tativ erschauern vor dem Wunder der Schöpfung, das diese Erde rotie­

ren lässt, Leben gestattend und erhaltend. Gerade weil man weiß, dass

dies sich in einem unendlich gewaltigen Universum vollzieht, in dem

unausgesetzt Vernichtung und Neugeburt von Myriaden von Sternen

und Galaxien sich vollzieht. Und es stellt sich die Frage, ob und inwie­

weit dem Menschen als Gattung und schon ganz dem Einzelnen

Bedeutung zukommt. Aber es kann einem auch bewusst werden, dass

alles miteinander vernetzt ist, vernetzt in einem Ausmaß, das wir allen­

falls erahnen können. Verlässt man das Pantheon, den menschlichem

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 19

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Fortschritt geweihten Tempel, sieht man sich mit der oft brutalen

Realität der Welt unserer Tage konfrontiert. Da ist kein Gleichmaß

von schwingendem Pendel mehr. Die Herstellung von Gleichgewicht

zwischen Gegensätzlichkeiten ist in der Tat die wichtigste globale

Aufgabe unserer Zeit. Wo ist anzusetzen, welche Wege eröffnen sich?

Gesellschaftspolitische Utopien, Nährboden für Diktaturen, begreifen

den, ansonsten für sie bedeutungslosen Menschen nur im Kollektiv,

räumen aber Tyrannen und glorifizierten Heldengestalten Sonder­

status ein. ,,Weltverbesserungsmodelle" dieser Art stehen diametral

zum Streben des A:.A:.S:.R: .. Als Beleg mag eines der unsäglichen

Zitate von Alfred Rosenberg dienen, des 1946 als „Urheber des

Rassenhasses" gehenkten Chefideologen der NSDAP. 1930 schreibt er

in seinem „Mythos des 20. Jahrhunderts": ,,Die neue Lehre der

Humanität war die ,Religion' der Freimaurer ... , sie hat auch das poli­

tische Schlagwort der letzten 150 Jahre „Freiheit, Gleichheit,

Brüderlichkeit" geprägt und die chaotische, völkerzersetzende „huma­

ne" Demokratie geboren . ... Dank der Lehre von der Menschen­

gleichheit konnte jeder Jude, Neger, Mulatte, vollberechtigter Bürger

eines europäischen Staates werden ... " Gewiss doch: die Gegenposition

zum Postulat der Menschenrechte - aber auch daraus resultierenden

Menschenpflichten - erhellt unseren Auftrag damals und heute.

Zwischen Diktaturen und Freimaurerei kann es kein „Equilibrium"

geben; Diktatur kann ihrem Wesenskern entsprechend „ Gleich­

gewicht" nicht zulassen, muss es zwingend zerstören.

Einen anderen Ansatz als den der Verächter des mit gleichen Rechten

ausgestatteten und nach Glück strebenden Individuums liefern

Erlösungsvorstellungen. Sie sind so alt wie die Menschheit und letzten

Endes aus der Hoffnung geboren, den in der Natur des Menschen ver­ankerten Tod auszuschalten. Die aus Offenbarungen und Glaubensüberzeugungen rührenden Hoffnungen von Menschen sind

nicht Gegenstand dieser kurzen Darstellung. Sie stehen jedoch, sofern

sie nicht durch die Intoleranz von Fundamentalisten missbraucht wer­

den oder dem Menschen jegliche Entscheidungsfreiheit absprechen,

absolut nicht im Gegensatz zum auf Wirken im Diesseits unserer Welt

gerichteten Auftrag des A:.A:.S:.R: ..

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„ Globalisierung" gab es schon immer

Dieser beschreibt profane, auf menschliches Verhalten in der Welt der Gegenwart gerichtete Erwartungen. Konkret gilt es, Handlungsfelder zu skizzieren, die in unserer gegenwärtigen Welt ethische und humani­täre Herausforderungen darstellen und nach Herstellung eines

Gleichgewichts verlangen. Die Problematik wird häufig mit dem

Begriff „Globalisierung" verbunden, ist aber nicht darauf zu reduzie­ren. Der Prozess der Globalisierung hat mit der Menschwerdung ein­gesetzt. Sein Ausmaß ist jedoch gewaltig geworden, weil die Erdbevölkerung in nur 100 Jahren von 1,5 Milliarden auf 6,4 Milliarden angewachsen ist. Globalisierung ist gewiss nichts Neues. Neu ist die globale Vernetzung in ihrer Vielfalt und ihrem Tempo. Ihre

rapide Beschleunigung und die wachsende Komplexität lässt Globalisierung zu einem Generalthema unserer Zeit werden. Und da

das Ende des Prozesses offen und die Selbstvernichtung der Menschheit nicht auszuschließen ist, schürt er Ängste. Andererseits hat die weltweite Opferbereitschaft, Hilfeleistung und Nächstenliebe angesichts der Flutkatastrophe im Indischen Ozean, Ende 2004, neben den Notwendigkeiten auch die Chance erkennen lassen, die mit

Globalisierung verbunden ist: das Bewusstsein der einen Welt, die Hoffnung für die Menschheit der einen Welt.

Erstrebenswerte Gleichgewichte

Gestörtem „Equilibrium" muss analytisch und tatkräftig durch eine Ethik der Gesinnung und Verantwortung z. B. begegnet werden bei den Gegensatzpaaren

- Spiritualität und Sinnhaftigkeit des Lebens versus krudem Materialismus,

- Verteidigen von Geistes- und Gewissensfreiheit versus Meinungs-manipulation und „Gehirnwäsche" durch weltliche und klerikaleAgitatoren und die Medien,- Garantie von Religions- und Glaubensfreiheit versus Alleinvertre­tungsanspruch von Religionen bzw. Machtmissbrauch durch derenfanatisierte Anhänger,- Sicherstellen von Lebens- und Entfaltungsrechten von Minderheits­

kulturen und Ethnien versus Missbrauch demokratischer Grund­rechte, Rassenhass und Schüren ethnischer Konflikte

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- Gerechtere Verteilung von Ressourcen und Energien versus deren

hemmungslosen Verbrauch,

- Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse wie der Verteilung von

Nahrung, Wasser und Unterkunft versus hegemoniales oder egoisti­

sches Anspruchsdenken,

- Ermöglichen von Erziehung zur Toleranz und wissenschaftlich objek­

tiver Bildung für alle versus diktatorische oder religiöse Restriktionen

und Indoktrination,

- Wissenschaftlicher, technischer und medizinischer Fortschritt unter

Achtung von Menschenwürde und gegenüber unseren Mitgeschöpfen

versus gegenteilige biologische, medizinische oder waffentechnische

Experimente und Missbrauch von Forschungsergebnissen,

- Pflege, Erhaltung und Mehrung von Kulturgütern im weitesten Sinne

versus deren Vernichtung durch Spekulation oder Reduzierung durch

ungerechtfertigte Zensur,

- Schaffen von Arbeitsmöglichkeiten und Sozialmaßnahmen in den

Ursprungsländern versus nicht mehr steuerbare Migration,

- Entwicklungshilfe als Hilfe zur Selbsthilfe versus postkolonialistische

Ausbeutung,

- Garantie von Menschenrechten versus Folter, Sklaverei, Unter­

jochung von Frauen und Kinderarbeit,

- Einschränken von Drogen- und Gewaltkriminalität und Kontrolle

von Waffenverbreitung versus rücksichtsloses und unmoralisches

Machtstreben von Staaten oder deren Repräsentanten,

- Sicherheit für die Bürger und Kampf gegen Terror versus unvertret­

bare und übertriebene Freiheitsbeschränkungen,

- Notwendige Rechts- und Ordnungssysteme versus wuchernde, sich

selbst regenerierende Bürokratien oder wachsende Korruption,

- Gemeinsinn versus Flucht aus der Verantwortung gegenüber

Gemeinwesen und Gesellschaft.

Die meisten der nur angerissenen Problemfelder sind Gegenstand poli­

tischer Verantwortung und entsprechenden Handelns. Demzufolge

muss es auch unter Freimaurern recht unterschiedliche Auffassungen

zu manchen Punkten geben und es liegt auf der Hand, dass ein

Realisieren von „Equilibrium" nicht als politischer Handlungsauftrag

für den A:.A:.S:.R:. als Organisation missverstanden werden darf.

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Was der A:.A:.S:.R:. initiiert

Jedoch sollte sich ein jeder unserer Brüder die Frage vorlegen, ob und inwieweit er in seinem persönlichen Handlungsbereich und entspre­chend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten, orientiert durch sein Gewissen, zu einer Balance zwischen gegensätzlichen Ansprüchen, kurz zu Moralität und ethischer Verantwortung beitragen kann. Durch jammern ändert man nichts. Bloßes Beklagen von Fehlentwick­lungen und Verharren auf der Ebene von Gesellschafts- und Kultur­kritik verleitet zu Selbstgerechtigkeit und oft zum Weg in die Isolation.

Was vom A:.A:.S:.R:. als Organisation geleistet werden kann, ist eine Schärfung des Problembewusstseins und eine Stärkung des Verantwortungsbewusstseins seiner Mitglieder. Das der Aufklärung zu verdankende allgemeine Bewusstwerden von Individualität hat als Kehrseite zu einem erheblichen Verlust von Gemeinschaftsgefühl beigetragen; der Mensch versteht sich zunehmend weniger als Gattungswesen. Auswege, die im diktatorischen Kollektivismus gesucht wurden, haben sich als mörderische Sackgasse erwiesen. Gesellschaftlicher Fortschritt aber erfordert Gemeinsamkeit und Miteinander neben individuellen Leistungen. Es gilt beizutragen zu Einsichten in die Gegebenheiten des Lebens und zur Analyse gesell­schaftlicher Realitäten. Die Selbstgestaltung des einzelnen Bruders gilt es zu fördern und ihn zu ermuntern und zu ermutigen, die Gesell­schaft mit zu gestalten.

Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe

Die Interpretation unserer reichen Ritualinhalte bezogen auf die Erfor­dernisse der Gegenwart kann dabei viel bewirken. Sie vermitteln Ein­

sichten in die Folgen menschlichen Fehlverhaltens, zeigen aber auch Wege auf zu dessen Überwindung, vermitteln Verständnis für das pro­zessuale Weltgeschehen und damit verbundenen Wandel und Fort­schritt trotz aller Rückschläge. Schattenbrüder sollen lernen, ihrem Leben eine positive Richtung zu geben und durch eine Ethik des Ein­fühlens, des Handelns und Vorlebens auch anderen helfen, ihr Leben in Demut und mit Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft auszu­richten. Der A:. A:. S:. R:. darf von seinen Brüdern erwarten, dass sie

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eine gute Spur ins Leben zeichnen zum Wohle des Menschen und der

Menschheit. Das ist nicht wenig, das heißt sehr viel.

Schon die erste Konstitution des A:.A:.S:.R:. von 1786 proklamiert

als dessen Ziel ein symbolisch aufzufassendes „Heiliges Reich". Im

Sinne dieser Vision des „Saint Empire", des „Holy Empire" setzt unser

Ritus Wegmarken zum Licht. Aurora, die Morgenröte, ist bereits

angebrochen. So wirkt der Alte Ritus mit an einer Neuen Welt, getra­

gen von der Hoffnung, dass in ihr Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft

und Liebe sich ausbreiten mögen für die Menschheit.

Mut möge uns ein Ausspruch von Albert Pike machen:

Wir alle haben nicht nur bessere Absichten,

wir sind auch besserer Dinge fähig,

als wir ahnen!

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Der Schottische Ritus im Überblick

Br:. Wolfgang Weber, 33°

Versucht man, die Rituale der Königlichen Kunst in ihrer geordneten Abfolge in einen Gesamtüberblick zu nehmen, so bleibt der Ein­druck haften, dass hier in Form von Initiatio­nen mehrere unterschiedliche geistige Ebenen des menschlichen Erlebens angesprochen wer­den sollen. Auf der einen Seite werden soziale Fragen behandelt, also Aufgaben, die dem einzelnen Menschen im Zusammenleben mit Anderen gestellt sind. Darüber hinaus sind aber mit den Ritualen stets ethische Komponenten verbunden. Hierbei geschaf­fene ganz konkrete Situationen fordern zum Nachdenken über Ethik und Moral heraus, wobei man im Gesamtüberblick durch­aus von „ Tugendlehre" sprechen kann.

Stets sind dabei eigene symbolische Handlungen eingebettet, die initi­atorische Erlebnisse erleichtern sollen und mit Leben füllen, was sonst nur blasse Räume der Abstraktion bleiben würden.

Über alles dies hinaus aber lassen sich zusammenhängende spirituelle Motive erkennen, die in teilweise sehr kunstvoller Verflechtung über die verschiedenen Grade hinweg eine geistige Einbettung des Menschen in übergeordnete Zusammenhänge anbieten und jedem ermöglichen, im kunstvollen Geflecht der rituellen Rückverweisungen oder Vorausschau auf spätere Rituale sich selbst zu orten.

Dieser spirituellen Dimension der Königlichen Kunst seien die folgen­den Ausführungen gewidmet, wobei (ohne Verletzung von Arkana) besonders auf das Einweben solcher Kategorien in die konkret vorlie­genden Elemente der Rituale geachtet werden soll.

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Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad

So ist unmittelbar einsichtig, dass bereits vor dem Aufnahmeakt in den

Lehrlingsgrad während der Vorbereitungszeit des Kandidaten in der

„Kammer der verlorenen Schritte" und angesichts von Symbolen der

Sterblichkeit hier ein „Keimling" in das dunkle Erdreich gesetzt wird,

der erst noch zum Licht der Sonne emporwachsen und zum „Sehen"

ins Tageslicht durchbrechen muss. Dieses Licht kann ihm erst zuteil

werden, wenn er tief in sich hineingehorcht hat und gelernt hat, dass

er der Stimme der Selbsterkenntnis folgen muss.

Hört er diese Stimme deutlicher und bleibt ihr gegenüber weiterhin auf­

geschlossen, so kommt für ihn automatisch der Moment, wo er auch die

anderen Menschen um sich herum deutlicher wahrnimmt und den Bezug

zwischen sich selbst und ihnen beobachten und beachten, ja sogar nun

achten lernt. Er ist nicht mehr selbstbezogen, sondern hat das Bewusstsein

erlangt, mit anderen zusammen einer Gemeinschaft anzugehören.

Erneut wird er dann im Meistergrad mit der Sterblichkeit, diesmal sei­

ner eigenen, konfrontiert und erfährt gleichwohl, dass eine Erhebung

aus ihr möglich ist. Bitter wird ihm aber auch bewusst, dass etwas ver­

loren gegangen ist, nach dem er mit allen anderen Brüdern nun weiter­

hin suchen muss, ein Wort! Es ist das Wort, das jene ungetreuen

Gesellen dem Meister Hiram auch unter tödlicher Bedrohung nicht

abringen konnten, das Wort, das den Zugang zum Allerheiligsten des

Tempels nur für den wahren Meister erschließt.

Die Reziprozität der Gewaltandrohung zwecks Erlangung dieses

Wortes und der Unfähigkeit, es auf diese Weise überhaupt erlangen zu

können, ist eine besondere Erkenntnis, die in diesem Meistergrade ver­

borgen liegt. Darauf wird nicht explizit hingewiesen, weil es sich nach

dem Plan der Ritualväter wohl erst langsam erschließen soll oder

kann. Erst später wird dem Neophyten bewusst, dass man dieses Wort zwar kennen kann, es aber gleichwohl unaussprechbar bleibt.

Abschluss {Perfektion) des Meistergrades

Der weitergehende Prozess, den nun jeder Freimaurermeister weiter zu

durchlaufen hat, ist über die Frage nach der Befindlichkeit und Sterb­

lichkeit des einzelnen und der Gruppe hinaus die Frage nach der

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Findung des Selbst. Dieser Prozess „ vom Ich zum Selbst" wurde in der Tiefenpsychologie auch als „Individuation" bezeichnet und scheint einen allgemeinen für jeden Menschen üblichen Entwicklungsgang zu umfassen. Das Selbst muss aber im Plan der Schöpfung wiederge­funden werden! Wie sagen die Freimaurer? ,,Das Verlorene Wort, der Logos, muss gesucht und wieder gefunden werden".

Der Anfang des Urtextes des Johannis-Evangeliums lautet m der griechischen Urversion: Ev Til apx1111v o Äoyor;,

Luther hat übersetzt: ,,Im Anfang war das Wort", er hätte genauso gut schreiben können: ,,Im Anfang war der göttliche Schöpfungsplan" oder „Im Anfang war der Logos" oder auch „Im Anfang war Gott", denn der Vers geht in der lutherischen Übersetzung ja weiter mit:

,, ... und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Ganz ohne Zweifel wird hier auf den Ursprung allen Seins im Schöpfer hingewiesen. Wem das zu religiös klingt, dem sei nach dem Willen der Väter nicht nur der Rituale, sondern auch der stets zu beachtenden ,,Alten Pflichten" des protokollierenden Reverends Anderson gestattet, zu sagen: ,,In der Schöpfung", ,,in der Natur" usw. Auch hier ist natür­

lich nichts anderes gemeint als der Schöpfungsakt, wie immer ihn jemand sich vorstellen will. (Hier ist auch die Brücke gebaut zu den aufgeschlossenen, suchenden (non stupid) Atheisten, die etwa deisti­scher oder gar z.B. buddhistischer (also gottfreier) Weltanschauung sind, also ebenfalls in die brüderliche Kette einbezogen werden dürfen.) Vertiefende Grade der Freimaurerei in allen Obödienzen (Freimaurer­Orden, GL zu den drei Weltkugeln, Schottischer Ritus, York-Ritus), die ja die Suche und Wiederauffindung des Verlorenen Wortes rituali­siert aufgreifen und damit den dritten Grad in erforderlicher Weise

abschließen (perfektionieren) 1 1, kennen dann auch diesen Vorgang des Wiederfindens des Verlorenen Wortes, aber gleichzeitig auch der damit erlangten Erkenntnis, dass es sich gar nicht aussprechen lässt. Diese Unaussprechlichkeit findet sich bereits im 3. der Zehn Gebote des Judentums wieder, das da sagt: ,,Du sollst den Namen Gottes nicht miss­brauchen!"21. Die jüdische Strafe für die Übertretung dieses Gebotes war die Steinigung. Aber auch für die Christen, die den Dekalog vollständig ebenso wie das Gebot der Nächstenliebe von den Juden übernahmen, war

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eine andere Ausdrucksweise für dieses Gebot in der Form selbstverständ­lich: ,,Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis von Gott machen!" Dieses Gebot ist leicht verständlich, wenn man der Erkenntnis zu­stimmt, dass Gott niemals in menschlichen Kategorien begreifbar, also auf eine menschliche Begriffswelt reduzierbar ist. Alles was der Mensch

in Begriffe fasst, also mit Worten ausdrücken kann, muss notwendig beschränkter und kleiner als Gott sein. Manche Gruppierungen der Christen (in der Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche, nie­mals im Katholizismus) haben diese Erkenntnis des Verbots, Gott, Christus und Heilige abzubilden, in besonders massiver Form in Perioden des Ikonoklastentums sowie auch in der calvinistischen Bilderstürmerei der Reformationszeit umgesetzt, sind ansonsten jedoch moderater mit diesem Gebot umgegangen, besonders nachdem sich Luther gegen die Bilderstürmer ausgesprochen hatte.

Erst der Islam hat wieder mit seinem Bilderverbot strengere Formen der Einhaltung solcher Gebote eingeführt, dass man nämlich nicht nach einem naiven Kinderglauben sich Gott als guten alten Großvater mit lan­gem Bart vorstellen darf. Im Islam gilt ja sogar jegliche Abbildung von Mensch und Tier als Trägern des göttlichen Funkens als blasphemisch. Allen drei Buchreligionen ist jedoch gemeinsam die Erkenntnis, dass die Größe Gottes eine Fassung in menschliche Begriffswelten ausschließt. Wenn man also das wieder gefundene „ Verlorene Wort" zwar als solches erkannt hat, jedoch nicht aussprechen kann, so muss man darüber schwei­gen. Das Gebot des Schweigens ist spirituell also an den Freimaurer nicht nur gerichtet, wenn es darum geht, die Geheimnisse eines Bruders in seinem Herzen zu bewahren, sondern auch dadurch, dass man gar nicht in der Lage ist, bestimmte Erkenntnisse in Worte zu fassen. Man bleibt ein ,,schweigender Meister", was vielleicht die beste Ühersetzung des angel­sächsischen Originals „Secret Master" sein dürfte. Der missverständliche Begriff des „Geheimen Meisters" wäre also so viel sachgemäßer umgangen.

Der Übergang vom Quadrat zum Kreis

Der Meisterschritt31 lässt sich als Konstruktionsvorschrift der alten Bau­hütten interpretieren, wie man zu einem gegebenen Quadrat (Reißbrett des Meisters) einen flächengleichen Kreis (Kreissymbol als Schöpfer-

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Die Perfektionsloge Br.·. Gerd Scherm 2005

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symbol) konstruieren kann, auch wenn es nur näherungsweise und mit

Ungenauigkeit möglich ist. Die so vollzogene „ Quadratur des Kreises",

wie der umgekehrte Vorgang genannt wird, deutet an, dass im Meister­

grad vorbereitet oder inbegriffen ist, dass durch die folgende Individua­

tion des Einzelnen er aus der menschlichen Dimension (dem Quadrat)

zur Dimension des Schöpfers (der Kreis als altes Symbol des [Sonnen]­

Gottes) übergeht. Die simple geometrische Konstruktionsmethode fin­

det hier also eine spirituelle Transformation in die Ebene des Transzen­

denten, dem der Einzelne zugeordnet ist.

Alchemistische Transformationen der Seele

Die vertiefenden Grade tragen in ihren Ritualen aber auch manche

alchemistischen Elemente mit sich, die einen Umformungsprozess der

seelischen Gehalte des Menschen vom rein Menschlichen bis zum

Göttlichen hin mit Hilfe verschiedener alchemistischer Transforma­

tionsprozesse skizzieren. An derem Anfang steht etwa der Prozess der

Putrefactio (Das Verfaulen organischer Substanzen)4 1, durch den erst

einmal die schwarze Grundmaterie (Blei) unter Absonderung von weiß

schimmernden Wassertropfen entsteht (schwarzer Grund mit silber­

nen Tränen als Farbgebung im Tempel).

Die weiteren bis zu zwölf alchemistischen Verarbeitungsprozesse

erbringen dann mit der Quinta essentia (Quintessenz, Druidenfuß,

Pentagramm) das angestrebte Ziel des „Steins der Weisen".

Nebenbei sei bemerkt, dass eine flache Interpretation des Umfor­

mungszieles von Alchemisten stets die Erzeugung von Gold aus Blei

war, zu jenen Zeiten (vor den exakten Naturwissenschaften) durchaus

also ein Ziel, an das naive Landesfürsten glaubten und auf das sie

hoffen konnten, um ihre leeren Staatskassen zu füllen. Das Apotheker­

zeichen für Gold ist aber der Kreis, der in anderer Bedeutung als „Sol" das Symbol des Sonnengottes darstellt. Gold und Gott liegen hier durchaus als angestrebte Ziele benachbart.

Mehrere Zugänge zum Verständnis haben sich also in diesen

Perfektionsgraden offenbart: ,,Von unedler Materie zu edlem Gold" oder

,,Übergang vom Quadrat der Menschenwelt zum Kreis des Göttlichen"

versinnbildlicht uns die Suche und Wiederfindung des „Verlorenen

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Wortes", unaussprechlich zwar, aber Schlüssel zur Individuation im Selbst einer Persönlichkeit, die ihren Platz im Schöpfungsplan gefunden hat.

Von der Individuation zur Aktion (Die Kapitelgrade)

Ist der Freimaurer also nun von der rein egozentrierten Reflexion des

„Schau in Dich, schau um Dich, schau über Dich" durch seinen

Individuationsprozess bis zur Wiederfindung des Verlorenen Wortes, aber auch gleichzeitig der Erkenntnis der menschlichen Begrenztheit und ihren damit sich aufzuerlegenden Selbstbeschränkungen gelangt, so haben sich die Väter der freimaurerischen Rituale sicher mit diesem fortgeschrittenen Erkenntnisprozess, den der Einzelne durchschreitet, nicht zufrieden gege­ben. Konkret soll hieraus ja ein zielgerichtetes Handeln entstehen, das

dem Freimaurerlehrling bereits nahegelegt wird und dem Beförderten,

Erhobenen und Weitersuchenden zuvor schon mit den abstrakten Begriffen Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit umrissen wird. Diese müssen aber nun mit aktiver Energie in die Praxis umgesetzt werden.

Man kann diesen Übergang vom Symbolismus zum Aktivismus auch kurz auf den Nenner „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" der

mosaisch-jüdischen Geistesgeschichte51 bringen, der auch von den Christen

inhaltlich genauso wie die Zehn Gebote übernommen wurde. Und hier

sind bei den vertiefenden Graden der Freimaurerei Abläufe erreicht, die zwar auch mit Symbolen, etwa des Pelikans, der seine Brust aufreißt, um seine Jungen zu nähren, also einem Symbol der Nächstenliebe begleitet sind, aber auch in anderer Hinsicht an die der schon zuvor bearbeiteten Grade anknüpfen.

Die alchemistischen Umformungen der prima materia in Gold werden

nun dadurch abgeschlossen, dass die chemische Einwirkung des

Feuers auf die umgeformten Zwischenstufen der Materie sich hier in

der roten Farbe des Tempels abbildet. Das Rosenkreuz wird (im roten Tempel) ein wichtiges Symbol dieser Umformung des Charakters zu einem selbstverständlichen Verhalten in Nächstenliebe anderen Menschen gegenüber, wobei der Begriff des „Ritters" vom Rosenkreuz allein aus dieser Sicht heute sicher entbehrlich wäre61

• Das Ritual mün­det in eine spirituelle Handlung, in ein mystisches Mahl ein, wo die

Nächstenliebe in besonderer Form verdeutlicht wird (Ayrui:11).

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Das Kapitel Br.·. Gerd Scherm 2005

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Im eigentlichen Ritual tritt das Kreuz als Symbol Tau ( T) auf, das in seiner horizontalen Linie die Scheidung zwischen Tod und Leben, in seiner vertikalen Linie die Beziehung zwischen Mensch und Schöpfergott charakterisiert. Im hebräischen Alphabet entspricht das Tau auch der höchsten hier möglichen darstellbaren Zahl der Hebräer, also der 4.00. Alles was über diese 400 hinausgeht, also alles was ober­halb des Tau liegt, weist auf das Unendliche hin71

Die drei theologischen Tugenden

Diesem Kreuz gesellt sich aber nun die Rose hinzu. Das hebräische Wort für Rose, Schoschana, finden wir im Mädchennamen Susanna wieder. In diesem Wort steckt zunächst einmal das hebräische "Schesch" (die Zahl 6) und dann der Wortanteil "Yana", das soviel wie "jähr­lich" bedeutet. Gemeint ist hier die in der Schöpfungsgeschichte (Genesis, 1. Moses 1, 29) genannte Schöpfung besamter Pflanzen, die sich jährlich mit ihren Blüten neu entwickeln. Gott schuf sie am sechsten Tag (schesch) der Schöpfungsgeschichte. Diese Rose ist nun ein altes Liebessymbol, enthält aber auch Elemente, die wiederum an zuvor durchlaufene Grade erinnern, insofern die Rose ein Schweigegebot andeutet. Man teilt jemandem anderen ein Geheimnis "sub rosa", unter der Rose mit, um seine Verpflichtung zum Schweigen zu verdeutlichen. (Das von der Rose bewahrte Geheimnis findet sich auch in der „im Bade belauschten Susanna", deren geheimnisvoller Liebreiz sich trotz Nacktheit den sie heimlich beobachtenden alten Männern gerade nicht offenbart.) Im Grad der Rosenkreuzer spielt natürlich der Zusammenhang zwi­schen der Nächstenliebe und den drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung eine Rolle. Auch werden in manchen Systemen Interpretationen des Wortes I·N·R·I gegeben, ohne allerdings hier auf christliche Religionen beschränkt zu bleiben. Mit der abgekürzten Aussage von "Igne natura renovatur integra (I·N·R·I)" ist wiederum von der Kraft des Feuers für die Erneuerung der Materie die Rede, wie sie in den alchemistischen Prozessen Verwendung findet. Johann Wolfgang von Goethe scheint hier besondere Affinität gehabt zu haben, wie man aus seinem Gedicht "Die Geheimnisse" ersehen kann. :& wird deutlich, dass hier alle Religionen (bei ihm 12 an der Zahl) in einer

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Kongregation ihren Platz gefunden haben. Man weiß aus Andeutungen

auch von Cotta, dass Goethe ursprünglich geplant hatte, später noch eine

religionsphilosophische Arbeit zur Ausführung dieser Dinge auszuarbeiten,

was aber bedauerlicherweise nur als Vorhaben erhalten geblieben ist. Man

hätte sich hieraus eine Art „überreligiöser Weltsicht" versprechen können.

Ritterliches Auftreten gegen Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch (Der Areopag)

Bedeutete die Ausrichtung aller Handlungen nach den Forderungen

der Nächstenliebe bereits schon eine große und häufig nicht erfüllba­

re Herausforderung an den einzelnen, der er zu folgen aber nach

Kräften aufgefordert ist, so bedeutet die Aufforderung, sich gegen

Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch zu wenden, eine noch sehr viel

stärkere Anforderung an den Charakter eines Menschen.

Der Kampf gegen Ungerechtigkeit soll nämlich gerade auch gegen diejeni­

ge Ungerechtigkeit wirksam werden, die anderen Menschen widerfährt,

nicht nur gegen die, die ich selbst erfahre. Den Machtmissbrauch muss ich

nicht nur dann bekämpfen, wenn er gegen mich gerichtet ist, sondern auch

gerade dann, wenn er auch andere betrifft und unterdrückt. Dass dieser

Widerstand gegen ungerechtes und machtmissbräuchliches Handeln nicht

mit beliebigen Mitteln, nicht etwa mit Heimtücke und dem „Dolch im

Gewande" bekämpft werden soll, lässt sich mit der Aufforderung zu „rit­

terlichem Handeln" besonders gut umschreiben, weil ritterliches Eintreten

für andere Menschen sicher eine eindeutige und keineswegs missverständ­

liche Auslegung findet. Menschen dieser Art als „Ritter" zu bezeichnen, ist

dann also ein eindeutiges Positivum, was die Verwendung in frei­

maurerischen Ritualen durchaus legitim erscheinen lässt. Man denke hier

auch an das Ethos von Soldaten in demokratischen Staaten, denen der

Begriff der Ritterlichkeit gewiss Berufsauffassung wie Selbstverständnis ist. (Die gelegentlich gehörte lächerliche Behauptung, es handele sich in derar­

tigen freimaurerischen Ritualen um spätpubertäre Ritterspiele, meist

gebetsmühlenartig wiederholt, verdient da nur noch Mitleid}.

Natürlich spielt aber bei einem solchen Verhalten ritterlicher

Einstellung auch die Kardinaltugend der Gerechtigkeit eine hervorge­

hobene Rolle. Sich in dieser Tugend zu üben und sie verstehen zu ler-

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nen, ist daher für den aktiven Freimaurer von größter Bedeutung. Dass diese Tugend ihrerseits nicht ohne die noch höher anzusiedelnde Kardinaltugend der Klugheit existieren kann, ist bekannt, jedoch

wurde ja auch das Verhalten nach dieser Tugend schon seit dem 1. Grad gefordert, denkt man an eines der drei kleinen Lichter oder denkt man an die Aussage „Lerne Weisheit, mein Bruder!"

Die vier Kardinaltugenden (Das Konsistorium)

Es liegt nun nahe beim Fortschreiten durch vertiefende Grade hier im Anschluss an die Gerechtigkeit auch die drei anderen Kardinaltugen­den Klugheit, Tapferkeit und Maß in den Blick zu nehmen, da sich ein gut und vorbildlich geführtes ritterliches Leben (KCIAoc; Kai aya0o�)

im Spannungsfeld dieser vier Haupttugenden bewegen sollte. Die vier Tugenden Prudentia, Justitia, Fortitudo, Temperantia heißen hier

etwas anders Vemunh, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe und entspre­

chen etwa den Forderungen an Ritter des Mittelalters mit den Begriffen Rehte, Milte, Staete, Masz (bei den mittelalterlichen Rittern traten noch als Tugenden hinzu: Diemute (Demut), Triuwe (Treue), Zuht (Zucht), Vreude (Freude, Heiterkeit)).

Die Krypta der Religionsstifter und Gründer

Erneut greift der Schottische Ritus in seinen vertiefenden Graden die Überzeugung auf, dass tiefere religiöse Wahrheiten von allen Religionen geteilt werden. Exemplarisch werden acht Religionsstifter und Gründer vorgestellt, deren Lebenswerk erkennen lässt, dass die Kardinaltugenden für alle Kulturen und Religionen nahezu gleich aussehen.

Spätestens in dieser Verpflichtung zum ritterlichem Kampf gegen

Rechtswillkür und Machtmissbrauch, wie sie am Beispiel der Vernichtung des Templerordens 1307 und seines Hochmeisters Jacques de Molay 1314 durch den Willkürakt des französischen Königs Philipp rv. und die schwächliche Passivität von Papst Clemens V. verdeutlicht wird, ist der große thematische Bogen freimaurerischer Bildungs­

bemühung deutlich in seiner abschließenden Vollendung vorauszuahnen: Jeder, der die Königliche Kunst recht versteht, hat die wichtigste

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Aufgabe seines Lebens darin zu sehen, stets jede Unterdrückung von

Menschen und Völkern durch absolutistische oder despotische

Machtträger mit aktivem Einsatz zu bekämpfen, zwar mit ritterlich

ehrenhaften Methoden, aber entschieden und mit Tapferkeit.

Im Machtgefüge des Abendlandes tobten sich zu Beginn der modernen

Freimaurerei die Kräfte absolutistischer Monarchen noch frei aus,

wenngleich die Aufklärung in England bereits früh erste Einschrän­

kungen der königlichen Macht in verfasster Form kannte (Magna

Charta Libertatum 1215, Habeas-Corpus Akte 1628, Bill of Rights

1689) und sich überall in Europa zu Anfang des 18. Jahrhunderts die

geistigen Kräfte der Machtbeschränkung zu Worte meldeten (z.B. die

Denker der Aufklärung, die praktischen Resultate in der amerikani­

schen Unabhängigkeitserklärung und Verfassungsgebung, aber auch

in der französischen Revolution, die Freiheitsdichter, Freiheitskämpfer

und erste parlamentarische Verfassungen.)

Freimaurerei also als Kampf für die Werterhaltung der westlich abend­

ländischen Kultur (nicht unbedingt christlich abendländischen Kultur)

und ihres Menschenbildes. Die heutige Freimaurerei ist davon über­

zeugt, dass Menschenwürde und Menschenrechte Begriffe sind, die

universelle Gültigkeit besitzen, so dass die Einbeziehung östlicher

Kulturen und Religionen nicht mehr unter Vorbehalten steht, durch­

aus aber jede Form von fundamentalistischem Machtanspruch, auch

etwa der christlichen Glaubensgemeinschaften.

Das Feldlager

Das große Feldlager zeigt uns, dass wir auch wahrhaft darum kämpfen

müssen, die Forderungen der Tugenden zu erfüllen, damit wir die Spirale

des Alls erreichen können. Das Feldlager ist so konstruiert, dass hier ein

Kreis nacheinander durch ein Dreieck, Fünfeck, Siebeneck, Neuneck ange­nähert wird. (So in der Tat ist auch in der Mathematik die Annäherung von

Vielecken an einen Kreis, die dann zur irrationalen Zahl :rt (Pi) führt.

Der Freimaurer darf hier nun schließen, dass durch diese Approxi­

mation die Annäherung an das Göttliche gemeint ist. Man kann aber

als Ziel, nämlich das Erreichen der Spirale des Alls, auch die Wieder-

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kunft des „Heiligen Jerusalems" der Gottes-Offenbarungen im Neuen Testament sehen, denn der „Heilige Fels in Jerusalem", der heute von der Kuppel des moslemischen Felsendoms überwölbt ist, sah in vorge­schichtlicher Zeit Abrahams gehorsame Bereitschaft, Gott seinen Sohn zu opfern, sah Christi Himmelfahrt und war Startpunkt von Mohammeds Übergang in den Himmel. Umgekehrt wird dann das zurückkehrende „Heilige Jerusalem" mit seinen zwölfeckigen Stadtmauern mit sich bringen, was „Jerusalem" bedeutet: ,,Der Heilige Frieden" (:iepo Salim/Schalom).

So findet hier der große Bogen seinen Abschluss, der in den ersten drei Graden zum „Ich" führte, über das „Selbst" der Perfektionsgrade die aktive Nächstenliebe der Kapitelgrade verdeutlichte und dann eine wei­tere Steigerung im aktiven ritterlichen Eintreten für Gerechtigkeit und Machtmissbrauch gerade im Kampf für die Mitmenschen erfahren hat. So wurde der Bruder Freimaurer schließlich in der Erkenntnis der Haupttugenden und der Respektierung aller Religionen in das Ritter­tum eines humanen, toleranten und brüderlichen Menschen einge­führt, der die Wiederkehr des Heiligen Jerusalem als Einkehr ewigen Friedens als eschatologische Konsequenz erhoffen darf.

Anmerkungen: 1) Die Bezeichnung „Lodge of Perfection" würde statt mit „Perfektions-Loge" bessermit „Loge des Abschlusses (des Meistergrades)" übersetzt, da es hier keineswegs umeine Verbesserung (perfection) etwa charakterlicher Eigenschaften geht, die demMaurer ohnehin als Pflicht auferlegt ist, sondern um das Suchen und Wiederfindendes „ Verlorenen Wortes" zum Abschluss (perfection) des Meistergrades. Die „blaue"Maurerei der regulären englischen UGL kennt daher seit ihrem Gründungsjahr(1813) auch die Anerkennung eines 4. (Ergänzungs)-Grades im sogenannten RoyalArch Chapter, der diesem Abschluss zugeordnet ist.

2) Die ersten 3 Gebote des Dekalogs (Exodus 20, 1 - 17) lauten nach derEinheitsübersetzung:

1) Ich bin Jahweh, Dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.2) Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbildmachen und keine Darstellung von irgendwas am Himmel droben, auf der Erdeunten oder im Wasser unter der Erde ... .3) Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn derHerr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.

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3) Der Meisterschritt wird gelegentlich auch als Ausweichbewegung des MeistersHiram interpretiert, der vor den ihn bedrohenden ungetreuen Gesellen flieht. DasRitual hat bei manchen Modernisierungen diesen Zusammenhang aus dem Blick ver­loren, weil die Himmelsrichtungen im Begleittext nicht mehr mit dieserAusweichbewegung kongruieren.Eine Konstruktionsvorschrift eines flächengleichen Quadrates zu einem gegebenenKreis war jedoch gewiss ein Bauhüttengeheimnis, das dem Meister anvertraut wor­den sein dürfte und ihm etwa dabei half, in Fenster Maßwerke einzufügen oder all­gemeine Berechnungen beim Dombau zu bewältigen, ohne mit den erst später ver­breiteten kaufmännischen Rechenregeln eines Adam Riese vertraut zu sein, undschon gar ohne Kenntnis irrationaler Zahlen.

4) Die Alchemie kennt etwa Prozesse wie die Calzinatio, Separatio, Conjunctio,Coagulatio, Fermentatio usw., denen bei der chemischen Umformung bestimmteFarben des Prozesses eigen sind. Man kennt etwa die Weißung (albedo), die Rötung(rubedo), die Gelbung (citrinitas) und die Grünung (viriditas). In manchen Ritualenerinnern die Farben des Tempels an diese alchemistischen Wurzeln, in die die psychi­schen Umformungsprozesse der menschlichen Seele nach altehrwürdiger Spekulationeingebettet sein können.

5) ,,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" ist bereits im 3. Buch Moses(Leviticus), Kap.19, Vers 18 formuliert, also jüdischen Ursprungs. Das Christentumhat diese edle Forderung noch einmal mit dem totalen Gebot der Liebe überhöht:,,Liebe Deine Feinde!"

6) Die Entstehung der modernen Freimaurerei fällt in eine Zeit, wo der Abstand zwi­schen Adeligen und „Bürgerlichen" noch eine soziale Konstituante darstellte. Wolltenalle Brüder einer Loge sich als gleichwertige „craftsmen" ansehen und respektieren,so mussten in geöffneter Loge alle Nichtadligen den Adelstitel als „Ritter" (SirKnight) mit dem symbolisch dazugehörigen Schwert im Gehenk tragen dürfen. Sowurde dieser Standesunterschied durch die Verleihung des Titels „Ritter" behoben,durch eine Geste also, die heute gewiss nicht mehr zur Herstellung vonGleichwertigkeit benötigt wird.

7) Oberhalb von 400 liegt also das Unendliche (nicht mehr Gezählte). ChristlicheZahlenmystik hat hier die Acht verwendet (als Lemniskate oo, also eine liegende 8,in der Mathematik heute Zeichen für „Unendlich"). Unendlichkeit als AttributGottes (und Christi) war für die Christen dann auch verbunden mit der 8, die manaus den 6 Tagen der Schöpfungsgeschichte mit dem 7. Tag als Ruhetag erschloss, weilam 8. Tag dann die Ewigkeit beginnen musste. So hat etwa die karolingischeKaiserpfalz (z.B. Aachen und Otmersheim) oder die Kaiserkrone des HeiligenRömischen Reichs Deutscher Nation die Form des Achtecks erhalten.

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Die sieben Stufen der Initiation

in der humanitären Freimaurerei

Br :.Hubert Victor Kopp, 33°,

Souveräner Alt- und Ehren-Groß-Kommandeur

Zum besseren Verständnis

Wer die Geschichte der Freimaurerei richtig

erfaßt hat, wird erkannt haben, daß sie einem

permanenten Entwicklungsprozeß unterlag

und keineswegs als abgeschlossen betrachtet

werden kann. Wenn diese Feststellung nicht zuträfe, würden wir uns

ritualistisch noch heute in der Erfahrungs- und Vorstellungswelt des

18. Jahrhunderts befinden.

Die humanitär geistige Bewegung der Freimaurerei orientierte sich in

ihrer Frühzeit ritualistisch am rein handwerklichen Brauchtum der

Steinmetz-Zünfte und adaptierte dieses letztlich für sich. Wie jede

andere Gruppierung hatte diese Bewegung nur dann eine Zukunft,

wenn sie dem gesellschaftlichen Fortschritt diente. Entweder konnte

sie diesem Anspruch sowohl gesellschaftlich als auch geistig genügen

oder sie wäre wieder verschwunden. Ihre Faszination bestand offen­

sichtlich darin, daß sie beiden Forderungen der damaligen Zeit gerecht

wurde.

Ihren Siegeszug um die Welt verdankt die Freimaurerei einem ritua­

lisierten Menschentum, das für Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und

Liebe eintritt. Zugegeben, eine Utopie, der wir zwar im Laufe der

vergangenen drei Jahrhunderte in Teilbereichen näher gekommen

sind, aber bezogen auf die ganze Menschheit sind wir davon noch weit entfernt. Wir wissen aus schmerzlicher Erfahrung, daß wir diesem

Quellenhinweis: Mit freundlicher Genehmigung Auszug aus dem Buch "Im Zeichen des Logos - Alle Menschen werden Schwestern und Brüder -Geschichte und Wesen der humanitären Freimaurerei". Copyright 2005 by Hubert Kopp Verlag, 30161 Hannover, Hohenzollerstr. 33; eMail: Hubert­[email protected]

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Ziel nur durch einen inneren, einen geistigen Wandel der Menschen

näher kommen können.

Freimaurerei ist ihrem Wesen nach eine ge1st1ge Bewegung. Sicher

wird auch Geselligkeit gepflegt, aber deshalb muß man keiner

Freimaurerloge angehören. Der eigentliche Sinn freimaurerischer

Arbeit liegt in der sittlichen Vervollkommnung des Menschen.

Wie wir wissen, begegnen wir in der Welt vielen eigenständigen

Systemen der Freimaurerei, natürlich auch in Deutschland. Das von

mir hier vertretene, ist vielmehr als eine Vision zu verstehen im

Hinblick auf die Zukunft der humanitären Freimaurerei. Was als

Grundlage außer Frage steht, sind die humanitären Grundsätze in den

„Alten Pflichten" von 1723. Die Freimaurerei hat sich im Laufe der

vergangenen 300 Jahre entsprechend den veränderten Gesellschafts­

und Lebensbedingungen weiterentwickelt und muß von Generation zu

Generation neu interpretiert werden.

Warum eigentlich dieses Streben des Menschen nach Vervollkomm­

nung? Halten sich etwa Freimaurer für etwas Besseres, vielleicht für

die Auserwählten? Nein, natürlich nicht. Wenn sie nicht nur

Mitglieder einer Loge, sondern aus geistigem Engagement und mit

ganzem Herzen Freimaurer sind, dann werden sie in aller Beschei­

denheit ihre Arbeit verrichten, wohl wissend, daß die Vollkommenheit

in diesem, unserem Sein nur angestrebt werden kann und allein bei

dem „Großen Baumeister aller Welten" liegt. Woher nehmen wir

eigentlich dieses Wissen? ,,Weil der Mensch das einzige mit Vernunft

begabte Wesen in dem uns zugänglichen Universum ist und dem eher­

nen Gesetz der Evolution unterliegt."

Seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist der materi­alistische Monismus endgültig ad acta gelegt worden und damit die

Annahme, daß unser Groß- und Stirnhirn den Geist selbst produ­

ziert. Im Laufe von einer Million Jahren hat sich das menschliche

Gehirn durch Evolution gebildet, um das, was wir Geist nennen,

aufzunehmen. Bezogen auf unser heutiges Großhirn ist diese evolu­

tionäre Entwicklung erst in den vergangenen 300 000 bis 600 000

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Der Areopag Br.·. Gerd Scherm 2005

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Jahren vollzogen worden. Wer es genau wissen will, dem empfehle ich das Buch von Professor Dr. Hoimar von Ditfurth „Der Geist fiel nicht vom Himmel". Von Ditfurth ist einer der erfolgreichsten Wissenschaftsjournalisten, den es in dem Fachbereich von der menschlichen Evolution gegeben hat. Wir wissen nun also, daß wir dieser evolutionären Entwicklung unsere Vernunftfähigkeit verdanken.

Schon im klassischen Altertum stand „Logos" für das, was wir Geist nennen. Ihm, dem Geist, verdanken wir auch die im Menschen ange­legte Fähigkeit der spirituellen Hinwendung zu einem „Höheren Sein". Diese bewußte oder auch intuitive Hinwendung zu einem Höheren Sein berechtigt zu der Annahme, daß der Mensch zu seiner fortschreitenden Vervollkommnung fähig ist. Mit seiner geistigen Mündigkeit ist der Mensch „aus dem Paradies" gefallen. Er mußte von nun an selbst entscheiden, was gut und was böse ist. Wer also die Erkenntnis erworben hat, daß er ein „ Vernunft begabtes Wesen" ist, wird nicht daran vorbeikommen, über seine ganz persönliche, ethische Weiterentwicklung nachzudenken.

In dieser Überzeugung gehen wir Freimaurer an die Arbeit an uns selbst. Wir sind keine Weltverbesserer im ideologischen oder konfessionellen Sinne, sondern wir sind viel bescheidener, indem wir nicht die anderen verbessern wollen, sondern nur uns selbst. Andererseits sind wir sehr wohl der Auffassung, daß Menschen, gleichgültig welchen Geschlechts, die durch rituelle Arbeit eine „eigenständige, freimaurerische Geisteshal­tung" erworben haben, besser mit den Problemen der Zeit fertig wer­den, als jene, die ihr Schicksal dem Zufall oder anderen überlassen. Damit ist auch der Streitpunkt beantwortet, daß Freimaurerei kein ge­schlechtsspezifischer Weg ist, sondern allen Menschen guten Willens offensteht.

Die humanitäre Freimaurerei ist also ein geistiges Angebot, um durch die ihr eigene rituelle Arbeit einen Beitrag zu einer ethisch-moralischen Entwicklung des Menschen zu leisten. Sie beruht auf einer konfes­sions- und ideologiefreien Esoterik. Diese setzt die Erkenntnis eines „Höheren Seins" voraus, was immer der einzelne darunter verstehen

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mag. Ohne dieses Bewußtsein von einem Höheren Sein wären die von

uns praktizierten Rituale inhaltslos.

Nur der guten Ordnung halber sei festgestellt, daß alle in den Ver­

einigten Großlogen v. D. arbeitenden Großlogen diesen gegenseitigen

Anerkennungskriterien genügen. Dabei bleibt es der Eigenständigkeit

jeder Großloge überlassen, ob sie nach dem humanitären oder einem

rein christlichen Prinzip arbeiten will.

Sicher gibt es auch andere Systeme, die sich Freimaurerei nennen und

beispielsweise die Hinwendung zu einem Höheren Sein und damit die

Anrufung des "Großen Baumeisters aller Welten" der Beliebigkeit

ihrer Mitglieder überlassen. Nur dann ist es eine andere Freimaurerei,

die mit unserer humanitären, auf ein Höheres Sein bezogenen nicht

vergleichbar und deshalb auch nicht kompatibel ist. Der Name

"Freimaurer" oder "Loge" ist nicht schutzfähig, so daß sich unter die­

sem Deckmantel jeder verstecken kann.

Was verstehen wir Freimaurer unter „Initiation"?

Ganz einfach gesagt, die Bewußtbarmachung von Werten und

Inhalten. Diese werden dem Einzuweihenden (Initianden) in einer dra­

maturgischen Handlung vermittelt. Sie besteht aus einer Legende,

einer Pflichtenlehre und der eigentlichen Initiation. Diese ist darauf

ausgerichtet, das geistige Potential im Menschen im Bewußtsein eines

Höheren Seins zu aktivieren. Wie bereits mehrfach ausgeführt, werden

sämtliche rituellen Handlungen "in Ehrfurcht vor dem Großen

Baumeister aller Welten" vollzogen, denn diese Anrufung bedeutet die

geistige Hinwendung zu diesem "Höheren Sein", welche Gottesvor­

stellung der Initiand auch immer damit verbinden mag.

Im allgemeinem sprechen wir von „Körper, Geist und Seele", ohne uns

konkret darüber Gedanken zu machen, welche wesentlichen Erkenntnisse darunter zu verstehen sind. Spätestens auf Plato geht dieses Wissen

zurück, auch wenn es schon viel früher in fernöstlichen Religionen und

Weltanschauungen anzutreffen ist. Erst in der Renaissance und der folgen­

den Aufklärung beginnen wir, überbrachte Klischees abzustreifen und uns

mit dem Wesen Mensch etwas intensiver zu befassen.

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In der schottischen Maurerei sollten wir nach meiner Überzeugung deshalb in aller Klarheit von den „Sieben Stufen der Initiation" spre­chen. Schon in der Antike begegnen wir der „heiligen Zahl" Sieben. Interessanterweise kennen wir in der Theosophie die „sieben Aspekte"

menschlichen Seins, den vier niederen und den drei höheren. Auch wenn in der humanitären Freimaurerei schon aus dem Grundsatz der Toleranz die Erkenntnisvorgabe dort aufhört, wo der Glaube beginnt, ist die Ähnlichkeit der freimaurerischen Betrachtung des Wesens Mensch nicht zu verkennen. Andererseits bleibt es der Persönlichkeit des einzelnen überlassen, entsprechend seinem Glauben individuell seine Erkenntnisfähigkeit zu vertiefen.

In der humanitären Freimaurerei bearbeiten wir in Deutschland die drei Basisgrade, zu denen nach englischer Lehrart der vierte Grad vom „Königlichen Gewölbe" als Abschluß der Hiramslegende gehört. Diese

vier Grade befassen sich mit dem Menschen in dieser Welt, seinem Sein von der Geburt bis zum Tod. Sie gipfeln mit der vierten Initiation in der Erkenntnis, daß der Mensch ein Teil dieser Schöpfung ist. ,,Gott ist in Dir!" lautet die Botschaft. Wir Freimaurer symbolisieren Gott im Zeichen des Logos, dem griechischen Wort auch für „ Geist", also jener allumfassenden Energie, die uns erst zum Menschen macht. Mit ande­ren Worten behandeln diese vier Initiationen in der humanitären Ritualistik die Individualethik des Menschen. Die drei folgenden weiterführenden Grade befassen sich in ihrer

Initiation mit der Sozialethik der humanitären Freimaurerei, die in der Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe gegenüber allen Menschen, gleich welcher Rasse, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit, gipfelt. Zweifellos ist das eine Zukunftsvision der Menschheit, die unsere Brüder schon vor dreihundert Jahren hatten

und die Schiller in seiner Ode an die Freude „Alle Menschen werden Brüder" zum Ausdruck brachte.

Zu den Grundprinzipien der Freimaurerei gehört die freie, geistige Entfaltung des Menschen. Folglich bleibt es jedem überlassen, mit welcher Intensität er Freimaurerei betreibt. Großartige Geister wie Lessing haben sich mit ihrer Aufnahme, also der Initiation des ersten Grades begnügt und ein so einmalig humanitär freimaurerisches

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Das Konsistorium Br.·. Gerd Scherm 2005

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Drama wie „Nathan der Weise" geschaffen. Andere sind der

Meinung, in den drei ersten Graden sei alles enthalten, was der

Mensch zu seiner Vervollkommnung benötigt. Jeder kann „nach sei­

ner Fasson selig werden", wie der Freimaurer und Logengründer

,,Friedrich der Große" in seinem Staat verkündete.

Das einzige, was gegen alle freimaurerischen Grundsätze verstieße,

wäre die Bevormundung, an welchen rituellen Handlungen ein

Logenmitglied teilnehmen darf und an welchen nicht. Diese Rituale

müssen allerdings mit der Freimaurerischen Ordnung übereinstimmen

oder durch Konkordat mit der Großloge abgesichert sein. Mit ande­

ren Worten: Der freimaurerische Bildungsweg muß allen regulären

Freimaurern innerhalb ihres Systems offenstehen.

Reminiszenzen leidvoller Ereignisse vergangener Jahrhunderte, wie die

der Strikten Observanz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

oder die fatale Fehleinschätzung mancher Großlogen 1933 gegenüber

den Nationalsozialisten, können und dürfen uns nicht davon abhalten,

neue, zeitgemäße Wege zu gehen, die den geistigen Bedürfnissen intel­

lektuell interessierter Menschen unserer Tage gerecht werden. Jede

Generation hat die Pflicht, die geistigen Defizite zu analysieren und

hierauf ihre Antwort zu geben.

Eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Zeit ist die

Säkularisierung(!) und die sich daraus ergebende Suche nach neuen

Werten und Inhalten. Wir als Freimaurer haben, wie keine andere

Vereinigung, eine über Jahrhunderte gewachsene Antwort in Form unse­

rer rituellen Arbeit anzubieten, die das berechtigte Bedürfnis nach huma­

nitären Werten und Inhalten in freier, geistiger Entfaltung befriedigt.

Entscheidend ist allerdings, daß die Logen ihre eigentliche Aufgabe begrei­

fen, damit jeder Freimaurer befähigt wird, auf die in ritueller Arbeit gewonnene, eigenständige Geisteshaltung seine eigene Antwort zu finden.

Das geistige Potential unserer humanitären, freimaurerischen Esoterik

liegt in der Freiheit des Initianden, sich sowohl mit dem Verstand als

auch mit dem Gemüt dem Höheren Sein zu nähern. Der eine erfährt

seine Inspiration zum Guten aus der spirituellen Hinwendung zum

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Höheren Sein, der andere versucht es mehr mit der Vernunft. Beides sind geistige Vorgänge, die jeder für sich selbst entscheiden muß. Je älter wir werden, um so mehr kommen wir zu der Erkenntnis, daß wir ständig Suchende bleiben, allerdings auf einem geistig fortschreiten­den, höheren Niveau.

( 1 ) Zum Thema „Säkularisierung" Q: Erhebungsdaten „AWA 2002", Institut für Demoskopie Allensbach, Bevölkerung ab 14 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland:

Konfession: Evangelisch: 23,34 Mio. {36,2 %), Katholisch: 20,74 Mio. {32,2 %), Andere: 0,93 Mio. {1,4 %), Ohne, keine Kirchenmitglieder/ ausgetreten: 19,18 Mio. {28,8%)

Kirchenbesuch: Protestanten: Jeden, fast jeden Sonntag, ab und zu: 8,65 Mio. { 13,4 % ), selten, nie: 14,88 Mio. {22,8 % ) Katholiken: Jeden, fast jeden Sonntag, ab und zu: 5,38 Mio. {8,3 %), ab und zu, selten, nie: 15,39 Mio. {23,9 %)

Religiöse, gläubige Menschen, gesamt: 13,16 Mio. (20,4 %)

,,AWA 2004" (wie vorgenannt) Weltanschauung, Philosophie: Interessiert an Informationen, Ratgeber / Experten Interessiert, insgesamt: 30,59 Mio. (47,1 %), ganz besonders inter­essiert: 9,35 Mio. {14,4 %) Ratergeber, Tips -Experte-: 5,50 Mio. (8,5 %)

Mitglieder einer Kirche: 44,72 Mio. {68,9 %) Kein Kirchenmitglied/ ausgetreten: 19,99 Mio. {30,8 %) Evangelisch: 22,89 Mio {35,3 %), Katholisch 20,77 Mio. {32,0 %) Andere Konfessionen: 1,05 Mio. {1,6 %) Religiöse, gläubige Menschen: 12,95 Mio. {20,0 %) Religion: Feste Glaubensüberzeugung 14,10 Mio. {21,7 %)

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Die sieben Stufen der Initiation sind in der humanitären Freimaurerei als

ein ganzheitliches System zu verstehen, weil sie den Weg des Menschen in

seiner individuellen Entwicklung und gesellschaftlichen Verantwortung

beinhalten. In den folgenden Stufen skizziere ich eigene Vorstellungen von

Form und Inhalt der Grade. Sie entsprechen nicht in allen Teilen den

gebräuchlichen Ritualen der AFuAM und des A:.A:.S:.R: ..

Das jeweilige Aufnahme-, Beförderungs- und Erhebungsritual sollte

aus dem Symbol, der Legende, der Pflichtenlehre, den Regularien und

der eigentlichen Initiation bestehen.

I)ie erste Stufe

Das Symbol: ,,Der Logos", das gleichseitige Dreieck mit dem einge­

schriebenen „G".

Am Anfang freimaurerischer Esoterik steht die Lichtsymbolik. Sie ist

eine uralte Menschheitserfahrung, denn ohne das Licht der Sonne

gäbe es in unserer Lebenswirklichkeit kein Sein.

Entsprechend der Legende „Schau in Dich" betritt der Initiand den

Arbeitsraum der Loge (Tempel) ,,nichtsehend", den Blick nach innen ge­

wandt. Nicht der äußere Schein entscheidet über seine Aufnahme, sondern

nur sein ehrlicher Wille, an seiner Vervollkommnung arbeiten zu wollen.

Vor seiner Aufnahme wird er mit den Pflichten eines Freimaurer­

lehrlings vertraut gemacht, die nichts enthalten, ,, was den Pflichten

gegen Gott und gegenüber den Gesetzen des Staates zuwider wäre".

In der Kette der verschlungenen Hände seiner Brüder erfährt er seine

erste Initiation. Dem Osten der Loge zugewandt, wird ihm nach

Abnehmen der Augenbinde „das Licht" gegeben. Das Licht einer neuen, tieferen Erkenntnis von sich und über sich, bar aller mensch­

lichen und irdischen Attribute. In der Hinwendung zu einem

,,Höheren Sein" erkennt er seine Fähigkeit, sich zu vervollkommnen.

Wir symbolisieren das Bemühen der Freimaurer-Lehrlinge, indem sie

mit dem Spitzhammer einen unbehauenen Stein durch fleißige Arbeit

an sich selbst zu glätten suchen.

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Die zweite Stufe

Das Symbol: ,,Der Flammende Stern", das Pentagramm mit den fünf Flammen.

Als initiierter Bruder schaut er in einem neuen Bewußtsein um sich und schreitet frohen Mutes voran. Nach der Legende hat sich der Freimaurer­Lehrling redlich bemüht, mit dem Spitzhammer seinen unbehauenen Stein zu glätten, um sich als „Kubischer Stein" in den Bau der Menschheit ein­zubringen. Als Handwerkszeug dient ihm hierzu die „Kelle".

Gemäß der berühmten Inschrift des Apollontempels zu Delphi „Erkenne Dich selbst" wird er sich als Freimaurer-Geselle seiner Pflichten gegen­über seinen Brüdern und der ganzen Menschheit bewußt. Mit dem Blick nach Osten weist der „Flammende Stern" dem Freimaurer­Lehrling in der zweiten Initiation den rechten Weg. Die Flammen symbo­lisieren das Licht, den Geist, der uns erleuchtet. Leonardo da Vinci hat uns beeindruckend in seiner Harmonie den Fünfstern im Kreis als Mittler zwi­schen Gott und dem Menschen dargestellt.

Damit sind die aus der Steinmetzzunft adaptierten Rituale abgeschlossen. Selbstverständlich haben sich diese Rituale in der humanitären Freimaurerei im Laufe von mehr als drei Jahrhunderten zu dem entwickelt, was unserem heutigen Verständnis von der geistigen Entfaltung des Menschen entspricht. In der Übergangszeit des 17. Jahrhunderts, von der operativen zu spekulativen Maurerei, waren diese Rituale noch stärker im handwerklich zunftmäßigen Ursprung von Zeichen, Wort und Griff ver­haftet. Dieses sogenannte „Geheimnis", was bereits im frühen Mittelalter als Erkennungszeichen der Zunftlehrlinge und -gesellen seine Bedeutung hatte, wird heute nur noch als Tugend der Verschwiegenheit bewahrt.

Die dritte Stufe

Das Symbol: ,,Das Hexagramm" aus zwei ineinander verschränkten Dreiecken. Das weiße Dreieck zeigt gen Himmel, das schwarze zur Erde. Bei der Gründung der ersten Großloge der Welt, 1717, gab es noch keinen Meistergrad in unserem rituellen Sinne. Der Meister war der

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Vorsitzende der Bauhütte (Lodge), also in alten Zeiten der Baumeister.

Erst um 1730 wurde, wie wir aus der Geschichte wissen, von dieser

ersten Großloge von „London und Westminster" das Meisterritual

von der Großloge von York übernommen, die ihrerseits dieses Ritual

sehr wahrscheinlich aus dem katholischen Schottland erhalten hatte.

Nach dem Alten Testament wurde der erste, dem „Einen Gott" geweihte

Tempel von König Salomo in Jerusalem durch seinen Baumeister Hiram

Abif erbaut. Man nennt ihn deshalb den „Salomonischen Tempel". In der

Freimaurerei erkennen wir ihn symbolisch als „Tempelbau der

Menschheit", an dem jeder nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten

soll, damit der Bau gefördert werde. Da dieser Tempel dem „Einen Gott"

geweiht ist, von dem „alles war, alles ist und alles sein wird", verehren ihn

die Freimaurer weltweit in ihren Ritualen als den „Großen Baumeister

aller Welten" und symbolisieren ihn im Zeichen des „Logos".

Nach der Legende besaß Meister Hiram als einziger den Zugang zum

,,Allerheiligsten", wo sich ihm das „Königliche Geheimnis" offenbarte.

Dieses intime Wissen um das sogenannte Geheimnis ist erforderlich,

um den „ Tempelbau der Menschheit" in den Herzen aller Menschen

dieser Erde zu verwirklichen.

Drei böse Gesellen, welche die rechte Zeit bis zu ihrer Meisterschaft

nicht abwarten wollten, lauerten Meister Hiram auf, um von ihm unter

Androhung von Gewalt das Geheimnis zu erpressen. Hiram aber blieb

standhaft und erlitt in Angesicht seiner Pflichterfüllung eher den Tod, als

das Geheimnis zu verraten. Mit ihm ging das „Heilige Wort" verloren.

In seiner dritten Initiation folgt der Freimaurer-Geselle dem Beispiel

Hirams. Auf seiner Wanderung zur Meisterschaft wird er also mit dem

Tode konfrontiert und aufgefordert, lieber sein Leben zu opfern, als seine guten Vorsätze, seine Pflichten zu verraten. Auf Anweisung von König

Salomo haben sich nach der Legende die getreuen Gesellen zu ihrer

Meistererhebung ein Ersatzwort gegeben, damit der Bau gefördert werde.

Als Anmerkung ist sicher von Interesse, daß in den beiden vorange­

gangenen Graden der Lehrlinge und Gesellen die Arbeitstafel den

Grundriß des Salomonischen Tempels zeigt. In ihm sind auch die drei

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Tore im Westen, Norden und Süden enthalten, wo die drei bösen

Gesellen Hiram Abif das Meisterwort abtrotzen wollten. Natürlich ist

dieser Grundriß auch erst nachträglich in die Arbeitstafel der ersten

Großloge von 1717 aufgenommen worden, als sie das Meisterritual

übernahmen. Bis dahin wurden nur die Werkzeuge der Steinmetze

anläßlich ihrer Zusammenkünfte mit Kreide auf den Boden ihres

Versammlungsraumes gezeichnet. Diese Werkzeuge dienten den

Lehrlingen und Gesellen als Symbole erstrebenswerter Tugenden ihrer

Arbeit und ihres Verhaltens in der Zunft.

Bei uns in Deutschland wird anstelle der im englischen Ritual üblichen

Arbeitstafel ein Teppich mit den Werkzeugen aufgeschlagen oder

durch Auflegen der Werkzeuge zur Arbeitstafel gewandelt.

Die historische Entwicklung

Eigensinnig, also typisch menschlich, wie man auch unter Freimaurern

sein kann, entschieden sich die inzwischen zur „ Großloge von

England" avancierten Londoner Brüder, es bei diesen „drei Graden" zu

belassen. Von der Geburt über die Eingliederung in die menschliche

Gesellschaft bis zum Tod sei in diesen drei Graden alles enthalten, was

ein Mensch zu seiner Vervollkommnung benötigt. Diese Eigenwilligkeit

haben unsere englischen Brüder bis 1813 durchgehalten.

Ob sie nun die Französische Revolution oder der glorreiche Sieg über

Napoleon zu neuer Einsicht gebracht haben, sei dahingestellt. Sicher

war das Ende der unseligen „Strikten Observanz" in Mittel-Europa

und die sich vorwiegend in Skandinavien ausbreitende Christiani­

sierung der Freimaurerei mit ihren Hochgraden von Einfluß, so daß

sich die Großloge von England und die von York zur „United

Grandlodge of England" (UGLoE) zusammengeschlossen haben. Tat­

sache ist jedenfalls, daß die Großloge von York nur zur Vereinigung

bereit war, wenn die Großloge von England die vierte Initiation als

Basis der Gemeinsamkeit anerkannte. Gemeint ist damit der zweite

Teil oder die Pointe der Hirams-Legende.

Bei der humanitär freimaurerischen Ritualistik geht es nicht allein um

den rechten Weg zwischen Geburt und Tod, sondern um die vom Geist

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bestimmte Vervollkommnung des Menschen als Gesetz der Evolution. Mit dem Tod endet also nicht das menschliche Sein, sondern es wird bestimmt von der fortschreitenden Vervollkommnung des Menschen. Als Freimaurer sprechen wir davon, daß sich der verstorbene Bruder im „ Übergang zum Ewigen Osten" befindet. Für uns ist die Seele des Menschen unsterblich, gemeint ist die „Geistseele", denn der Geist ist jene „göttliche Energie", die wie jede andere Energieart nur in einen anderen Energiezustand übergehen kann. Entsprechend bedeutend ist die Suche nach dem „ Verlorenen Wort".

Die Situation in Deutschland

Zum besseren Verständnis muß an dieser Stelle wiederholt werden, daß wir uns in Deutschland mit der Antwort auf die Suche nach dem ,,Verlorenen Wort" im 18. und 19. Jahrhundert sehr schwer getan haben. Die tonangebenden preußischen Großlogen, die etwa zwei Drittel der Mitglieder ausmachten, hatten ihre christlichen Systeme und damit ihre eigene Antwort. Die humanitären Großlogen, besonders die „Schröder­logen" übten konsequente Abstinenz gegenüber den vertiefenden Graden und leiden bis heute noch unter dem Schock der Strikten Observanz,

obwohl der A:.A:.S:.R:. nichts mit diesem System zu tun hatte.

In allen Teilen der Welt hatte sich der „Schottische Ritus" seit 1801, der Gründung des ersten „Obersten Rates" in Charleston, USA, ausgebrei­tet, nur nicht in Deutschland. Das hat sicher auch etwas mit der natio­nalkonservativen Einstellung der deutschen Freimaurer im 19. Jahrhundert und erst recht nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zu tun. So dauerte es bis 1930, bis unter dem Protest und der strikten Ab­lehnung, ja sogar Feindschaft der etablierten Großlogen, der Schottische Ritus in Deutschland das „Licht" erhielt. 1933 war bereits Schluß mit diesem Ritus, bevor er sich zu seiner heutigen Stärke entfalten konnte. Wie ich bereits ausführte, haben sich die meisten Großlogen nach dem Zweiten Weltkrieg, einschließlich der ehemals verfemten Symbolischen Großloge, die mit dem A:.A:.S:.R:. verbunden war, zu einer „Vereinig­ten Großloge von Deutschland" zusammengefunden. Dieser Zusammen­schluß schaffte erst die Voraussetzung für die Akzeptanz und weitgehend ungehinderte Verbreitung des Schottischen Ritus in Westdeutschland.

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Offensichtlich hatten die wenigen Freimaurer, die das Naziregime über­lebt hatten, aus der leidvollen Geschichte unseres Volkes gelernt. Deshalb können wir erst von einer legalisierten Tradition durch ein Konkordat mit unserer humanitären Großloge seit Juni 1963 spre­chen. Der Deutsche Oberste Rat des A:.A:.S:.R:. hatte durch seine internationalen Verbindungen wesentlichen Anteil an der Anerkennung unserer Großloge in Europa und Übersee, besonders in den USA.

Zur Ritualistik des A:.A:.S:.R:.

Verständlicherweise hatten unsere Altvorderen in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufbau unserer Organisation mehr zu tun, als sich mit Ritualfragen zu befassen. Auch mag es eine Rolle gespielt haben, daß wir schon bei unseren unmittelbaren Nachbarn in der Schweiz und den Niederlanden nicht von einer einheitlichen und vor allen Dingen inhaltlichen Gradfolge der Rituale ausgehen konnten, so daß erst der eigene Weg gefunden werden mußte. In diesen beiden Ländern ist es auch heute noch möglich, als Freimaurer-Meister gleich in das Kapitel aufgenommen zu werden. Das geht auf alte Traditionen und eine stärker christliche Ausrichtung dieser Kapitel zurück.

Bei uns hatte man 1972 mit dem zweiten Entwurf für ein Ritual des 14. Grades versucht, die Lücken zu schließen. Dieser Entwurf warbereits 1988 überholt. In diesem wurde der 13. Grad des „RoyalArch" stärker hervorgehoben. Leider fehlte noch der Mut, ihn konse­quent in den Mittelpunkt der Perfektionsloge zu stellen und mit dem14. Grad des „erhabenen und vollkommenen Maurers vomKöniglichen Gewölbe" abzuschließen. Immerhin ist diese Ritualistikbei unseren englischen Freunden, auf die wir uns so gerne berufen,spätestens seit 1813 üblich.

Der Schottische Ritus ist seit dem 19. Jahrhundert das am weitesten verbreitete Hochgradsystem der Welt mit mehr als einer Million Mitgliedern. Bis auf wenige Ausnahmen besteht der Grundsatz, daß sowohl die Großloge als auch der Oberste Rat des betreffenden Staates „souverän" sind. Diese voneinander unabhängigen Körperschaften sind durch ein schon erwähntes „Konkordat" miteinander verbunden.

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Die Aufnahme in den Schottischen Ritus

Das ist der Grund, warum am Anfang eine Aufnahme des Freimaurer­Meisters in den A:.A:.S:.R:. erfolgen muß. Hierbei handelt es sich nicht um eine weitere Initiation, sondern um ein Aufnahmeritual, in dem er noch einmal auf seine Pflichten als Freimaurer-Meister hingewiesen wird und zusätzlich auf neue Pflichten gegenüber dem Obersten Rat des A:.A:.S:.R: ..

Zu seiner Aufnahme als „Geheimer Meister" wird er mit Lorbeer und Ölzweig als Lohn für erfolgreiche Arbeit und dem Sinnbild des Friedens gekrönt. Bekleidet wird er mit einem blau-schwarzen Band, an dem der „Beinerne Schlüssel" befestigt ist, dem Passepartout zum Allerheiligsten des Salomonischen Tempels, denn er ist auf der Suche nach dem Verlorenen Wort. Das ist eine würdige Aufnahme, die ihm den Weg zu seiner weiteren Vervollkommnung aufzeigt. Der Span­nungsbogen ist also zu seiner bevorstehenden Initiation bereitet.

Nur als Anmerkung: Die Übersetzung des „secret master" bedeutet nicht „geheim", sondern sinngemäß „ verschwiegen". Ich bin schweig­sam und betroffen durch die Ermordung von Meister Hiram, aber voll Vertrauen zu meinen Brüdern, die mir helfen werden, das Verlorene Wort wiederzufinden.

Die vierte Stufe

Das Symbol: ,,Der Beinerne Schlüssel zum Allerheiligsten".

Das Tal des Jammers ist durchschritten, der Tränen sind genug geflos­sen. Wir betreten einen lichten Tempel voller Hoffnung. Als Legende dienen die Zwischengrade 5 bis 12. Auf meiner Wanderung werde ich auf meine Pflichten hingewiesen und auf das große Ereignis der „Erleuchtung" vorbereitet. Mit dem rechten Arm auf meinen Vordermann gestützt, in der linken Hand die Fackel, begegne ich der heiligen Zahl „9" (3 x 3 ), denn ich steige neun Stufen hinab in die Vergangenheit des Seins. Jetzt brauche ich meinen Schlüssel, um mir Zutritt zum Allerheiligsten zu verschaffen. Ich betrete das „Königliche

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Gewölbe" und finde das Symbol des Menschen. In ihm erkenne ich, warum ich zur Verschwiegenheit aufgefordert wurde.

Im übertragenen Sinne erkenne ich mich selbst, denn in der vierten Initiation werde ich durch den „Logos" darauf hingewiesen, daß ich ein geistbeseeltes Wesen bin. Das erst macht mich zum Menschen. Ihm verdanke ich meinen Geist als einzigem Wesen in dem mir zugänglichen Universum. Nach meinem Empfinden ist dieses initiatorische Erlebnis das Tiefsinnigste und auch das Äußerste, was Freimaurerei vermitteln kann. Alles andere wie Ethik, Moral, Pflicht, also menschliches Verhalten schlechthin, leitet sich von und aus dieser Erkenntnis ab.

Die Hiram-Legende wird in den verschiedenen freimaurerischen Systemen unterschiedlich vermittelt, aber in der Kernaussage stimmen

sie alle überein. Ich betrachte es deshalb als einen großen Verlust, wenn einem Freimaurer-Meister dieser rituelle Schritt vorenthalten wird. Erst

mit dieser „Perfektion", sprich Vervollkommnung, hat die Hiram­

Legende ihren Abschluß gefunden. Gleichzeitig ist damit die Vermittlung der „Individualethik" abgeschlossen und ein neues Kapitel der „Sozialethik" wird in der humanitären Freimaurerei aufgeschlagen.

Die Erkenntnisstufen der freimaurerischen Sozialethik

Die drei folgenden Erkenntnisstufen werden auch die „philosophi­schen Grade" genannt. Sie beinhalten das soziale Verhalten des

Menschen in der Gesellschaft. Von vielen Freimaurern werden diese Grade als die intellektuell anspruchsvollsten angesehen, ohne damit die Einweihung im „Königlichen Gewölbe" in seiner überragenden Bedeutung abwerten zu wollen. Das hat auch historische Gründe, wie in der bereits erwähnten englischen Tradition, in welcher der Royal Arch de facto zur „blauen Maurerei" gehört. In Frankreich war bereits Mitte des 18. Jahrhunderts der direkte Einstieg in das Kapitel üblich, was sich vereinzelt noch bis heute erhalten hat.

Der wesentliche Unterschied, ja, ich bin geneigt, von einem Einschnitt zu sprechen, ist der Rollenwechsel zum „Rittertum". Auch hier müs­sen wir die Ursprünge in der Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts

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suchen. Das aufstrebende Besitz- und Bildungsbürgertum fühlte sich in seiner sozialen Aufwertung als „Ritter" besonders angesprochen. Heute, im 21. Jahrhundert, hat diese soziale Komponente keine Bedeutung mehr, so daß „ritterliches" Verhalten als eine Tugend ange­sehen wird, wie wir sie aus der Romantik kennen und sie uns beispiels­weise als „Ritter im Straßenverkehr" begegnet. Die Worte „Ritter" oder „ritterlich" haben also eine ganz andere Wertigkeit erhalten, die in unseren folgenden Ritualen moralisch verpflichtend nachempfun­den werden. Sie könnten natürlich auch durch die mehr freimaureri­schen Begriffe „Meister" oder „meisterlich" ausgetauscht werden, aber da sie seit zwei Jahrhunderten rituell üblich sind, sieht man schon aus Tradition keine Veranlassung, eine Änderung vorzunehmen.

Die fünfte Stufe

Das Symbol: ,,Das rosengeschmückte Kreuz" .

Ähnlich, wie die Perfektionsgrade 5 bis 12 nur in einer Legende er­wähnt werden, bilden im Kapitel die Grade 15 und 16 den historischen Übergang von der Hiramslegende des Alten Testaments zur mittelalter­lichen Zeit der Kreuzzüge. Jene Ritter, die ausgezogen waren, um den wahren Glauben zu schützen und ihn gegen die Ungläubigen zu vertei­digen, mußten sehr bald einsehen, daß auch heilige Kriege im Zeichen des Kreuzes Verbrechen gegen die Menschheit sind. Aus der Erkenntnis, daß Unwissenheit und Irrtum einen verhängnis­vollen Einfluß auf das Schicksal der Menschheit ausüben, gelobten sie im 17. Grad als „Ritter von Osten und Westen", dem reinen Licht und der Wahrheit zuzustreben, die Schwachen zu schützen, die Freiheit des Glaubens zu verteidigen und alle Menschen mit der. gleichen Liebe zu umfassen. Sie folgen dem Licht, das in ihnen leuchtet. Nirgendwo sonst wird die Nächstenliebe in den Ritualen der humanitären Frei­maurerei so beeindruckend vermittelt wie in dieser fünften Initiation zum edlen „Ritter vom Rosenkreuz".

Die Suche nach dem Verlorenen Wort beschäftigt uns das ganze Leben. Es ist die Frage nach dem Sinn des Lebens schlechthin. Jeder kann sie nur für sich selbst beantworten. Rituale mit initiatorischem Charakter

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setzen gena� dort an, wo das Geistige im Menschen aktiviert wird. Eine Initiation kann man nicht „ verraten" und auch nicht anlesen, denn sie ist ein Erlebnisvorgang in der Gemeinschaft der Brüder, der Gemüt und Geist gleichermaßen aktiviert. Erst durch die wiederholte Teilnahme an derartigen Arbeiten vertieft sich die Einsicht in die Notwendigkeit, sei­nen Lebensweg nach den Idealen der Freimaurerei auszurichten. Aktive Mitarbeit ist dafür die unabdingbare Voraussetzung.

Die sechste Stufe

Das Symbol: ,,Die siebenstufige Leiter".

Als Ritter vom Rosenkreuz, die dem Licht der Nächstenliebe folgen, werden sie mit dem Dunkel menschlicher Wirklichkeit, dem Mißbrauch der Macht und des Rechts konfrontiert. Die Grade des Areopags ver­deutlichen deshalb, daß Menschenwürde nur dann gewahrt werden kann, wenn die ungeschriebenen Gesetze der gesellschaftlichen Ordnung und der Gleichheit aller Menschen gewahrt werden.

Wie bei den vorangegangenen Initiationen werden die Zwischengrade 19 bis 28 nur in Form einer Vertiefung ihrer neu zu übernehmenden Pflichten behandelt, um in den 29. Grad der „ Groß-Schotten vom Heiligen Andreas" erhoben zu werden. Zusammengefaßt beinhaltet diese Erkenntnisstufe: Streng nach den Gesetzen der Logik zu handeln, der Wahrheit zu dienen, die Tugenden zu fördern und für das Recht zu kämpfen.

In einer Legende werden die Ritter vom Rosenkreuz mit einer freimau­rerischen Betrachtung des Ordens der Templer in die Zeit des frühen Mittelalters versetzt. Während ihrer zweihundertjährigen Geschichte konnte es nicht ausbleiben, daß die Templer mit der Kultur und der Religion des Orients in Berührung kamen. Aus dieser neuen Erkennt­nis gründete ein Teil von ihnen die Schule der „Ritter Kadosch", um die Weite des Geistes in sich aufzunehmen. Als Bekenner der Freiheit und Wahrheit gelobten sie, gegen Aberglauben und Fanatismus mit den Waffen des Geistes zu kämpfen und sich durch Verbreitung ethi­scher Grundsätze für echte Bildung einzusetzen.

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So stürzen unsere Ritter vom Rosenkreuz die Säulen des alten Tempels, um über ihre Trümmer hinweg in eine neue, strahlende

Zukunft zu schreiten. Sie sind somit bestens auf ihre sechste Initiation

vorbereitet. Im uralten Symbol der siebenstufigen „Mystischen Leiter"

erschließt sich ihnen das antike Wissen der Menschheit.

Im Unterschied zur christlichen „Jakobsleiter" steigen sie nach Erreichen des Zenits auf den sieben Stufen der menschlichen Tugenden wieder in die irdi­sche Wirklichkeit zurück. Sie werden sich somit erneut ihrer Verantwortung als Freimaurer gegenüber der Gesellschaft, in der sie wirken, bewußt.

Sie werden jeglicher Form der Diktatur entschieden entgegentreten und

für die Freiheit des Geistes, des Glaubens und des Gewissens kämpfen.

Die siebente Stufe

Das Symbol: ,,Die Krypta".

So verlassen wir dieses Zeitalter in der Entwicklungsgeschichte

abendländischer Kultur. Die mittelalterliche Zeit der edlen Ritter

vom Rosenkreuz und der Ritter Kadosch lassen wir hinter uns. Wir gehen über zur Epoche der Aufklärung. Jener Aufbruch der geistigen Eliten, in der die Fesseln klerikaler und staatlicher Unfreiheit mit selbstaufopfernder Bereitschaft abgeschüttelt wurden.

Ein leuchtendes Fanal ist 1600 die Verbrennung von Giordano Bruno

in Rom. Dieser katholische Priester aus Neapel hat es nach sieben­

jähriger Kerkerhaft vorgezogen, lieber auf dem Scheiterhaufen qual­

voll zu sterben, als seiner Erkenntnis von dem allumfassenden Gott abzuschwören.

Im erhabenen „Konsistorium" der „Meister des Königlichen Geheim­nisses" treffen sie auf jenen Großrichter, der nach sorgfältiger Prüfung bereit ist, sie in den 31. Grad des Schottischen Ritus zu „ Groß -

Richtern" zu erheben. Sie verpflichten sich, der Gerechtigkeit im pro­

fanen wie im freimaurerischen Leben zu dienen. Damit erhalten sie zwar keine Befugnis zur Rechtsprechung, sind jedoch dazu befähigt, in derartige Ämter berufen zu werden.

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Auf ihrer langen Wanderung durch die Menschheitsgeschichte nähern

sich die Groß-Richter ihrem ersehnten Ziel. Sie treten ein in den

strahlenden Tempel vom „Königlichen Geheimnis". Natürlich han­

delt es sich nicht um ein Geheimnis, das gleich den vorangegangenen

Einweihungen verschwiegen werden soll, sondern um ein Geheimnis,

das erlebt und verinnerlicht werden muß. Dieses Geheimnis ist im

Menschen verborgen und entzieht sich daher der Mitteilung, denn es

gibt keine zwei Geheimnisse, die dieselben sind, weil jeder Mensch

seine Initiation individuell aufnimmt und verarbeitet.

Vor dem geistigen Auge der Brüder Groß-Richter vollzieht sich noch

einmal der weite Weg vom Vieleck der Unvollkommenheit zum Kreis

der Vollkommenheit. Es war ein weiter Weg innerer Wandlung, um

das Ideal der Freimaurerei, das „Heilige Reich" zu errichten, in dem

alle Menschen „Schwestern und Brüder" sind. Dazu bedarf es der

siebenten und letzten Initiation.

Im Symbol der Krypta begegnen sie jenen geistigen Größen in der

Geschichte der Menschheit, die Richtung und Ziel zu einem Höheren

Sein vorlebten und vorgaben.

Damit schließt sich der Kreis freimaurerischer Erkenntnis. Der 33. und

letzte Grad des Schottischen Ritus enthält keine weitere Initiation. In ihm

wird noch einmal der Weg vom Lehrling zum Meister des Königlichen

Geheimnisses als Einheit humanitärer Freimaurerei nachvollzogen. Die

Aufgaben des „Obersten Rates" bestehen in der Verwaltung des Ordens,

der Einhaltung der Gesetze und Rituale. Sie sind die Grundlage für die

Anerkennung durch die Obersten Räte der Welt, die „souverän", also

voneinander unabhängig sind, aber rituell das gleiche Ziel verfolgen.

Noch einmal zum Thema „Arkanum"

in der freimaurerischen Esoterik

Der äußere Rahmen einer rituellen Handlung ist kein Geheimnis, das

die humanitäre Freimaurerei vor Außenstehenden schützen müßte,

abgesehen von der Tatsache, daß jedem Interessierten eine über

Jahrhunderte gewachsene Bibliothek zur Verfügung steht.

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Der wesentliche Unterschied zu diesen „historischen" Darstellungen

liegt darin, daß sie nicht die Entwicklung des gesellschaftlichen

Umfeldes, der Sprache und des Sprachverständnisses berücksichtigen.

Das führt nicht nur zu einer falschen Einstellung zur freimaurerischen

Ritualistik, wie alte Kupferstiche aus dem 18. Jahrhundert demon­

strieren, sondern sogar zu der für uns unerwünschten Unterstellung,

wir wären in der geistigen Welt der durchaus ehrenvollen

Vergangenheit unserer Väter stehengeblieben.

In der humanitären Freimaurerei geht es also nicht vordergründig um

eine theatralische Handlung, die den Initianden als solches beein­

drucken soll, sondern um geistige Inhalte. Wer das nicht begreift, dem

geht ohnehin das „Geheimnis" einer inneren, einer geistigen

Wandlung verloren. Der Mensch ist nun einmal ein geistiges Wesen,

das der ständig fortschreitenden Evolution unterliegt, auch wenn wir

mit der Momentaufnahme unseres irdischen Daseins diese

Entwicklung nur aus der geschichlichen Entfaltung des menschlichen

Seins nachvollziehen können. Deshalb erscheint es mir dringend gebo­

ten, daß wir allen intellektuell interessierten Menschen den humanitär

freimaurerischen Weg einer geistigen Vervollkommnung aufzeigen,

zumal unsere Zeit ohnehin sehr arm an geistigen Inhalten ist, an denen

sich ein verantwortungsbewußter Mensch orientieren könnte. Wer

allerdings glaubt, daß er mit seiner Aufnahme in die Freimaurerei die

„Erleuchtung" im Schnellverfahren erleben könne, der irrt sich. Zu

dem mühsamen Weg einer inneren, geistigen Entwicklung des

Menschen gehören Beständigkeit und Demut.

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Der deutsche Zweig des Schottischen Ritus

Br:. Thomas Richert, 33°

Die Vorgeschichte

Das freimaurerische Gradsystem entwickelte sich

rasch nach der organisatorischen Festigung der

ersten Großloge. Schon zwischen 1723 und 1738

schob sich zwischen die beiden ersten Grade ein

anderer, so daß ein Dreigradsystem entstand, in dem der Meistergrad den

des Gesellen aufnahm und erweiterte, während der neue Gesellengrad

eher inhaltsschwach blieb. Um 1740 finden wir dann sowohl in England

wie in Frankreich Ergänzungen zum Meistergrad, die bald in viele

Systeme mit unterschiedlichen Zahlen von Graden ausgeformt wurden

und sich auch auf dem europäischen Kontinent verbreiteten. Hier wurde

bis 1782 die Strikte Observanz das dominierende Hochgradsystem, das

von sich behauptete, die Fortsetzung des Templerordens zu sein. Es schei­

terte schließlich an seinen inneren Widersprüchen.

Die Entwicklung blieb nicht auf Europa beschränkt, sondern erfaßte

nach und nach auch die Kolonien. So dehnte sich der französische

Perfektionsritus bald in die Karibik aus, vom französischen Haiti und

Santo Domingo ins englische Jamaika. Dort wurde er durch Grade

ergänzt, die sowohl in London wie in der nordenglischen Grand

Lodge South of the River Trent ihre Heimat hatten. Zwischen 1771

und 1783 formte sich so ein 25-gradiges System aus, das auf den nord­

amerikanischen Kontinent übersprang.

Aus diesen Wurzeln und mit der Ergänzung durch weitere acht Grade

entstand 1801 in Charleston in Süd-Carolina der erste Oberste Rat

des 33. Grades für die Vereinigten Staaten. Mit seinem Motto Ordo ab

Chao wollte er zeigen, daß aus dem Wirrwar der verschiedensten

Hochgradsysteme durch Zusammenfassung ein einziges werden sollte.

In der Konstitution dieses neuen Systems griff man auf die Autorität

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Friedrichs II. von Preußen zurück, der als Freimaurer und Freund der USA dort beliebt war. Man erklärte ihn zum Großkommandeur und

behauptete, er hätte 1786 diese Bestimmungen erlassen. Die Forschung

hat dies alles längst als Legende entlarvt. Das neue 33-Grad-System wurde in den USA bald so populär, daß 1813 ein weiterer Oberster Rat in New York gegründet wurde, der der Nördlichen Jurisdiktion. Der OR in Charleston, der später nach Washington, D. C. umzog, nannte sich dann Südliche Jurisdiktion.

Während der Periode der Französischen Revolution waren Sklaven­

aufstände in den französischen Kolonien ausgebrochen. Daher flüch­

teten französische Brüder aus Santo Domingo und Haiti nach

Charleston, die dem ehemals gemeinsamen 25-Grad-System angehört hatten. Einige von ihnen wurden in diesen Obersten Rat aufgenom­

men und nahmen ihn mit zurück nach Frankreich. Dort errichteten sie 1804 den ersten Obersten Rat in Europa und nannten ihn Schottischer

Alter Angenommener Ritus.

So schnell und umfangreich sich der AASR im 19. Jahrhundert in Nord­amerika entwickelte, so schwerfällig ging seine Ausbreitung in Europa

vonstatten. Ein Grund dafür war, daß Napoleon versucht hatte, die fran­

zösische Freimaurerei unter Führung der Hochgrade zu vereinen und sei­nen politischen Zwecken dienstbar zu machen. Erst nach Überwindung der Restaurationszeit begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts der erneu­

te Aufstieg des Schottischen Ritus im romanischen Sprachgebiet. Nach

Mitteleuropa stieß der AASR - bis auf die Schweiz 1873 und einen anscheinend kurzlebigen ungarischen Obersten Rat um die gleiche Zeit -sogar erst im 20. Jahrhundert vor: 1912 in die Niederlande, 1923 nach

Polen und in die Tschechoslowakei, 1925 nach Österreich.

Ein wesentlicher Grund war, daß bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Mitteleuropa nur von drei Staaten beherrscht war: Rußland, dem Habsburgerreich, also Österreich-Ungarn, und dem Deutschen Reich. Nur im ungarischen Teil der Habsburger Monarchie und im Deutschen Reich war die Freimaurerei erlaubt, nicht jedoch in Russland und Öster­

reich. Im Reich gab es eine Dominanz der Altpreussischen Großlogen mit ihren christlichen Hochgradsystemen, die auf eine lange Tradition

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zurückblicken konnten. Die kleineren humanitären Großlogen waren

dagegen noch von der inneren Ablehnung der Strikten Observanz

geprägt, die sie in der Reformzeit um 1800 zu einer Beschränkung auf die

drei blauen Grade veranlaßt hatte. Für einen Neuankömmling 1m

Hochgradbereich war das eine schwierige Ausgangslage.

So wie die Vereinigte Großloge von England sich als Muttergroßloge

aller Symbolischen Großlogen versteht, so sieht sich der Oberste Rat

von Charleston, heute die Südliche Jurisdiktion der USA, als Mutter­

Oberster- Rat für den weltweiten Schottischen Ritus. Und so, wie die

Alten Pflichten als Grundlage der blauen Grade angesehen werden, ver­

binden die Großen Konstitutionen von 1786 die Obersten Räte.

Der internationale Zusammenhalt bildete sich allerdings erst im Laufe

der Jahre heraus. Im September 1875 trafen sich auf Initiative des

Obersten Rates der Schweiz in Lausanne die Obersten Räte von England,

Belgien, Cuba, Frankreich, Ungarn, Italien, Peru und Portugal. Sie

beschlossen einen Konföderationsvertrag und legten einen neuen

Wortlaut der Großen Konstitutionen von 1786 fest, in dem sie auf den

Bezug zu Preußen und zu Friedrich II. als angeblichem Stifter verzichte­

ten. Weiter formulierten sie eine Deklaration der Prinzipien und einigten

sich auf einen Tuileur der 33 Grade, in dem die wesentlichen rituellen

Elemente festgelegt wurden. Diese Konvention von Lausanne wurde von

den europäischen Obersten Räten bis 1970 als verbindlich angesehen.

1877 hatte sich allerdings unter Führung der Südlichen Jurisdiktion in

Edinburg ein Kongreß der Vereinigten Obersten Räte getroffen, der

Irland, Schottland, Mittelamerika und Griechenland zu einer Liga als

Gegengründung zu Lausanne verband. In Kontinentaleuropa blieb

dies jedoch lange Jahre unbeachtet.

Die Vorbereitungen in Deutschland bis 1929

Einen ersten offiziellen Versuch zur Einführung des Ritus in Deutsch­

land machte der belgische Großkommandeur Goblet d'Alviella 1907,

als er im Auftrag der Internationalen Konferenz in Brüssel an die

Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth schrieb. Da der Deutsche

Großlogenbund diesen Vorstoß 1908 negativ beschied, war man auf der

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nächsten Internationalen Konferenz, 1912 in Washington, der Ansicht,

eine Einführung des Ritus in Deutschland sei einstweilen aussichtslos.

Vermutlich wußte man nicht, daß mit dem gleichen Namen eines

Obersten Rates des Schottischen Ritus Theodor Reuß zwischen 1904

und 1911 sein Unwesen in Deutschland trieb, was die Situation

sowohl für den Großlogenbund als auch für Goblet nicht erleichterte.

Aus diesem Kreis war es dann doch ein Br:., Adrianyi-Pontet aus

Nürnberg, der ein Verbindungsglied wurde, nachdem er der Großen

Landesloge beigetreten war. Der Oberste Rat von Italien hatte vor

1914 heimlich ein Kapitel in Wien errichtet, in das er aufgenommen

wurde. Für diesen Obersten Rat hat er dann in den 20er Jahren bei der

Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth gewirkt, indem er einige Brüder in

den Schottischen Ritus aufnahm. Er gründete allerdings mit ihnen kein

Atelier, sondern beließ es bei der persönlichen Graderteilung.

Bei der Internationalen Tagung von 1922 in Lausanne erklärte der

Oberste Rat der Niederlande, er würde die Frage Deutschlands weiter

im Auge behalten. Da die deutschen Großlogen aber alle brüderlichen

Beziehungen zum Ausland abgebrochen hatten, schien das zunächst

nicht sehr aussichtsreich. Andere Entwicklungen außerhalb der regu­

lären Logen offerierten aber scheinbar neue Möglichkeiten.

Mit dem Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne (FZAS) hatte sich in

Nürnberg 1907 eine Organisation gebildet, die sich als Reform­

freimaurerei verstand. Auf monistischer und pazifistischer Grundlage

stehend, wollte dieser Zusammenschluß nichts mit den „Altlogen"

genannten Freimaurern zu tun haben, die ihn wiederum nicht als regu­

lär anerkannten. Er entwickelte sich dennoch rasch zu einem mehrere

Tausend Mitglieder umfassenden Bund, der sich um Kontakte ins

benachbarte Ausland bemühte. Dazu wurden sogenannte Freimaure­

rische Friedensmanifestationen veranstaltet, die zu Begegnungsstätten

insbesondere mit französischen Freimaurern wurden. FZAS-Mit­glieder bekamen auf diese Weise auch Gelegenheit, in die Hochgrade

des französischen AASR aufgenommen zu werden.

Eine weitere Organisation, die außerhalb der regulären Großkörper­

schaften stand, aber ihrerseits - nach einer Phase der Unsicherheit -

nur reguläre Freimaurer aufnahm, war die Universelle Freimaurer-

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Liga.(UFL). Sie ging aus der Esperanto-Bewegung hervor und bemüh­te sich, eine Ebene der brüderlichen Begegnung für alle Freimaurer darzubieten. Auch sie veranstaltete Kongresse mit internationaler

Beteiligung. Führend in der frühen UFL waren die Brr. Lennhoff, Dop

und Uhlmann, die gleichzeitig wichtige Positionen in den Obersten Räten von Österreich, den Niederlanden und der Schweiz hatten.

Spätestens seit 1925 mischten sich die Aktivitäten insoweit, daß UFL­' FZAS- und Ritus-Brüder sich immer häufiger begegneten und dabei Verbindungen knüpften, die zu neuen Konstellationen führten. Die französischen Aufnahmen von Mitgliedern aus dem FZAS schufen in Deutschland ein Potential, aus dem 1929 Kapitel in München,

Stuttgart und Mannheim gebildet wurden, die dem Französischen Obersten Rat unterstanden. Der Verbindungsmann als Beauftragter des Obersten Rates war das FZAS-Mitglied Sigismundo Neuman aus Zürich. Zudem gab es in der Tschechoslowakei wohnende FZAS­Brüder, die er gleichfalls nach Paris vermittelte. Einer davon war Richard Epstein aus Prag. Der Tschechische Oberste Rat erhob gegen

Neumans Aktivitäten, die gegen das Sprengelrecht verstießen, 1931 massiven Einspruch bei Großkommandeur Raymond in Paris.

Der OR von Frankreich war aber nicht nur in Deutschland und der Tschechoslowakei aktiv, sondern gründete 1930 auch ein Kapitel und einen Areopag in Dänemark und beförderte Brüder in den 33. Grad. Für 1931 war geplant, mit diesen Brüdern einen schon 1927 von

Italien aus gegründeten irregulären Obersten Rat von Dänemark zu

regularisieren. Wegen der Schwierigkeiten in Deutschland und der Tschechoslowakei sah man in Paris davon dann allerdings ab. Die in der UFL aktiven Schottenbrüder wollten auch Deutschland für den Ritus erobern. Hatten schon 1926 Gespräche darüber stattgefun­den, gab die Gründung einer eigenen deutschen Landesgruppe der UFL endlich die personellen Grundlagen. Hier begegnete Lennhoff den Brüdern Bing, Müffelmann und Koner, die regulären Bauhütten angehörten. Sie gingen bald nicht nur in eine Wiener Loge, sondern traten dort auch dem AASR bei und bildeten mit weiteren regulären Berliner Brüdern 1929 ein Kapitel und einen Areopag in Berlin, die dem österreichischen Obersten Rat unterstanden.

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So war die paradoxe Lage entstanden, daß es in Deutschland „italie­

nische", ,,österreichische" und „französische" Ritusbrüder und unter­

schiedliche Kapitel des AASR gab. Drei davon bestanden aus nicht

anerkannten FZAS-Brüdern unter französischer Jurisdiktion.

Zumindest bei der ersten Gründung in Stuttgart durch Raymond und

S. Neumann waren aber die Brr:.Lennhoff, Bing, Müffelmann und

Adrianyi anwesend. Ein Kapitel gab es mit regulären Brüdern unter

österreichischer Jurisdiktion, dazu einen Areopag. Genau diese

Situation hatte man im April 1929 auf der Internationalen Konferenz

in Paris vermeiden wollen, als die Obersten Räte der Schweiz und der

Niederlande beauftragt wurden, in Deutschland einen Obersten Rat

zu errichten.

Die Gründung des Obersten Rates für Deutschland

Großkommandeur Junod aus der Schweiz hatte zunächst die Idee, die

Aktivitäten von Br. Adrianyi-Pontet zu nutzen, der in den 20er Jahren

in den Reihen der Großloge „Zur Sonne" in Bayreuth einige Brüder in

den Schottischen Ritus aufgenommen hatte, darunter Br. Bernhard

Beyer. Dies sollte nun eigentlich die Basis des neuen Obersten Rates

werden. Br. Adrianyi selbst gehörte der Großen Landesloge an, doch

als er dort um Genehmigung nachfragte, wurde sie verweigert.

Daraufhin nahm Br :.Junod Abstand von diesem Plan. Da er darauf

bestand, daß nur reguläre Freimaurer einen Obersten Rat bilden

könnten, blieb allein das Berliner Kapitel als Grundlage übrig. Es hatte

Anfang 1930 20 Mitglieder.

Am 10. Februar 1930 gründeten zehn dieser Brüder den Obersten Rat

für Deutschland in Berlin. Sie teilten die Gründung den Obersten

Räten der Niederlande und der Schweiz mit und baten um formelle

Einsetzung. Die feierliche Installation fand am Karfreitag, dem 18.

April 1930, im Tempel der Odd Fellows am Kurfürstendamm 1948/49

statt. Die Zeremonie wurde durch Großkommandeur Dop aus den

Niederlanden vollzogen. Auch der neue österreichische Großkomman­

deur, Br:. Barolin, war anwesend. Der Oberste Rat für Italien wurde

durch Br :.Adrianyi vertreten.

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Großkommandeur Br :.Ede Janos Bing (1930)

E. J. Bing war ungarischer Staatsbürger. Er wurde 1894 in Budapest geboren , studierte dort Jura und Politologie und wurde 1913 zum Dr. phil. promoviert. Im Ersten Weltkrieg war

er Artillerieoffizier. In den Nachkriegsunruhen

verließ er Ungarn. Er wurde Journalist für eine

amerikanische Nachrichtenagentur und bereiste in den folgenden Jahren Europa, hatte seinen Wohnsitz aber in Berlin. Seit 1934 lebte er in der Schweiz, dann ab 1939 in den USA, deren Staatsbürger er 1942 wurde. 1949 kehrte er in die Schweiz zurück, dann nach Österreich, um schließlich 1962 in New York zu sterben.

Ende 1918 wurde er in die Budapester Loge Vilag aufgenommen und

gehörte dann lange Jahre der Großloge von Ungarn im Exil an, die in Wien ihren Sitz nahm. Mitte der 20er Jahre wurde er in der UFL aktiv, traf dabei Müffelmann und Lennhoff und trat 1928 der Wiener Loge Labor bei. Im Oktober 1929 machte ihn Lennhoff zum ersten Berliner Br:. im 33. Grad. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er in Wien wie­der Kontakt zum dortigen Obersten Rat auf und half auch Br:. August

Pauls, für den Deutschen Obersten Rat Kontakte in den USA zu eta­blieren. Kurz vor seinem Tode ernannte ihn der Deutsche Oberste Rat

1960 zu seinem Ehrenmitglied. Seine Amtszeit als Großkommandeur umfaßte nur wenige Monate. Die erste Tätigkeit war der Beschluß einer Konstitution am 9. März 1930. Sie bezog sich auf die Regelungen des Konvents von Lausanne von 1875 und existierte nur in Maschinenschrift.

Die offizielle Anerkennung der Regularität erfolgte durch die Niederlande, die Schweiz und Österreich schon vor der feierlichen Installation. Die der Südlichen Jurisdiktion der USA blieb allerdings noch aus. Ein wichtiger Bereich war die Erweiterung der personellen Grundlagen des Obersten Rates. Großkommandeur Bing traf sich deshalb im April mit Großkommandeur Raymond in Paris und verabredete einen Weg,

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wie die deutschen Brüder des FZAS, die in Frankreich sowohl in regu­

läre Logen wie in die Hochgrade des AASR aufgenommen worden

waren, in die nun bestehende deutsche Jurisdiktion übernommen wer­

den könnten. Ende Mai schrieb er ihm aber sehr deutlich, daß sich der

OR an keiner Gründung einer neuen Großloge beteiligen würde. In die­

sem Sinne hätte er auch die Brr :. S. Neuman und Lennhoff informiert.

Inzwischen war durch die Brüder des FZAS ein Problem aufgetaucht,

das dringend nach einer Lösung verlangte. Viele Brüder wollten den

FZAS verlassen und suchten eine neue maurerische Heimat in den

symbolischen oder blauen Graden. Die deutschen Großlogen waren

aber nur bereit, sie im schon bestehenden Organisationsrahmen - nicht

durch Neugründung einer Großloge - und nur als Neuaufnahmen zu

akzeptieren. Die durch Frankreich vorgenommenen Regularisierungen

wollte man nicht anerkennen.

Obwohl Lennhoff als österreichischer Großkommandeur Anfang 1930

zurückgetreten war und auch in der Großloge von Wien keine führende

Rolle mehr spielte, nahm er im Juli 1930 aktiv an Verhandlungen teil, in

die auch Brüder der Grande Loge de France und die Brüder Müffelmann

und Koner vom Obersten Rat für Deutschland eingebunden waren.

Am 26. und 27. Juli 1930 taten sie genau das, was Bing gegenüber

Raymond abgelehnt hatte, und gründeten hinter seinem Rücken, aber

im Namen des Obersten Rates für Deutschland, dessen Leutnant­

Großkommandeur Müffelmann war, eine neue, die Symbolische

Großloge von Deutschland. Ihr Großmeister wurde Leo Müffelmann.

Als Bing davon erfuhr, erließ er am 22. August ein Rundschreiben, in

dem er jede Beteiligung des Obersten Rates bestritt und die

Neugründung als irregulär bezeichnete. In einer Sitzung des Obersten

Rates in Genf am 23. August wurde er veranlaßt, diesen Brief zu wider­

rufen. Seine Stellung war damit unhaltbar geworden. Als Konsequenz

trat er am 6. September 1930 vom Amt des Großkommandeurs, ein

paar Wochen später auch als aktives Mitglied des Obersten Rates

zurück. Anfang Dezember war er nicht mehr in der Liste der Mitglieder

des OR aufgeführt, genausowenig wie Müffelmann. Mit diesem verab-

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redeten Ausscheiden der beiden Kontrahenten sollte versucht werden,

den OR aus der sich abzeichnenden Auseinandersetzung mit den deut­

schen Großlogen herauszuhalten.

Großkommandeur Br.·. Gottlieb

Friedrich Reber (1929 - 1933)

G. F. Reber wurde 1880 in Deutschland geboren, verbrachte aber den Hauptteil

seines Lebens in der Schweiz. 1943 wurde er durch das Reich ausgebürgert. Er starb

1959 in Lausanne. Einen Namen hatte er

sich schon vor dem Ersten Weltkrieg als

Sammler und Händler moderner Kunst gemacht. Auf diesem Sektor

war er international so bedeutend, daß ihm zweimal eine Ehrendoktorwürde verliehen wurde.

Freimaurer wurde er 1924 in einer Münchener Loge der Großen National-Mutterloge zu den drei Weltkugeln, der er bis 1931 angehör­

te. Vermutlich durch seinen Wohnsitz in der Schweiz, erhielt er Kontakt

zu Sigismundo Neuman aus Zürich, der dem FZAS angehörte und in

den 20er Jahren im Auftrag der französischen Logen eine Möglichkeit

zur Regularisierung für die Brüder suchte, die sich vom FZAS abspal­

ten wollten. Schon früh wurde er in die Verhandlungen eingeschaltet und war zeitweilig als stellvertretender Großmeister der zu gründenden neuen Großloge vorgesehen. In den französischen Schottischen Ritus

wurde er 1929 aufgenommen, erhielt im Februar 1930 den 33. Grad

und wurde aktives Mitglied des Obersten Rates für Frankreich ..

Mit dem von Bing schon am 23. 8. in Genf erzwungenen Rücktritt Müffelmanns und dessen eigenem Rücktritt am 6. 9. mußten die Ämter im ORfD neu verteilt werden. Bings Nachfolger wurde Reber, der deswegen nach einem Gespräch mit Großmeister Habicht von den Drei Weltkugeln diese Großloge verlassen mußte. Nachfolger für Müffelmann wurde Fritz Bensch aus Berlin. Da Reber kaum in

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Deutschland anwesend war, fiel die Hauptarbeit auf den Leutnant­Großkommandeur Bensch. Da der neue Großkommandeur aus dem französischen Lager kam, galt es nun, die Vereinigung beider bisher getrennter Gruppen voranzutreiben. Dies umso mehr, als durch die

offenen Auseinandersetzungen um die neue Großloge die Regula­ritätspolitik der Berliner Gruppe gescheitert war. Wollte der OR über­haupt eine blaue Basis haben, konnte er nicht mehr auf Zulauf aus den regulären deutschen Großlogen rechnen, sondern mußte die von ihnen nicht anerkannte Symbolische Großloge als sein Mitgliederreservoir akzeptieren.

Folgerichtig vereinigte Reber im April 1931 die bisher der französischen Jurisdiktion unterstehenden 104 Brüder mit den Berlinern und erreichte

im Vorfeld dieser Entscheidung, daß Müffelmann wieder als aktives Mitglied in den ORfD aufgenommen wurde. Reber gelang es durch seine Verbindungen mit Frankreich auch, die Anerkennungen des Obersten Rates für Deutschland bis zum Ende seiner Amtszeit auf 21 zu vermeh­ren. Allerdings schaffte er es trotz eines Besuches bei Großkommandeur Cowles von der Südlichen Jurisdiktion der USA nicht, dorthin brüderli­che Beziehungen aufzunehmen. Der englischsprachige Bereich blieb

daher - anders als der französisch beeinflußte - verschlossen. Der innere Ausbau konnte durch die Übernahme der französischen Ateliers in Deutschland und durch Neugründungen auf 16 Ateliers gesteigert werden. Hatte man zunächst nur Kapitel als Grundlage gewählt, wurden seit April 1931 nach französischem Muster Perfektionslogen vorgeschaltet. Die höchsten Ateliers blieben in dieser Periode aber die Areopage mit ihrem Schweizer Ritual. Die Kapitel

hatten die österreichische Ritualfassung. Die Grade über dem 30. wur­den direkt vom Obersten Rat bearbeitet.

Insgesamt blieb die Mitgliederzahl mit 209 Brüdern bis Ende 1932 jedoch bescheiden. Etwa drei Viertel von ihnen gehörten nun der Symbolischen Großloge an. Diesem Sachverhalt wurde durch ein Konkordat zwischen OR und Symbolikern vom 28. November 1931 ent­sprochen. Rund 18 % der Schottenbrüder allerdings waren zur Großloge von Wien übergetreten, da sie nicht auf eine reguläre blaue Basis verzich­ten wollten. Ein Gründungsmitglied der Berliner Ateliers, August Pauls,

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hatte sich sogar im November 1930 entschlossen, den deutschen Zweig zu verlassen und sich dem Obersten Rat für Österreich unterstellt. Die Konstitution, die sich der OR im März 1930 gegeben hatte, war provisorisch gedacht gewesen. Daher beriet man seit September 1931 über eine endgültige Fassung und traf in einer Sitzung am 31. März 1933, als sich die Symbolische Großloge (SGL) schon aufgelöst hatte, den Beschluß zum Druck. Die fertigen Stücke wurden in der Folge noch versandt. Bis zum Frühsommer 1933 haben einzelne Ateliers sogar noch gearbeitet, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Von einer Einstellung der Arbeiten war ihnen nichts bekannt.

Die Angriffe auf Logenhäuser durch die Nationalsozialisten waren an­scheinend regional ganz unterschiedlich, so daß die persönliche Gefähr­dung von den Brüdern differenziert eingeschätzt wurde. Tatsächlich trafen sich die berliner humanitären Logen noch im April 1933, und ihre umgewandelten Vereine wurden erst im April 1935 verboten.

Im Juni 1933 war im New Age, dem Mitteilungsblatt der Südlichen Jurisdiktion der USA, zu lesen, daß der Oberste Rat für Deutschland sich aufgelöst habe. In einem Schreiben mit dem Briefkopf von Roul Koner und einer angeblichen Unterschrift von Reber wurde der Einstellungsbeschluß mit dem 31. 3. 1933 angegeben, was offensicht­lich rückdatiert war. Noch im Mai 1933 war Reber in Paris als deut­scher Großkommandeur aufgetreten. Danach allerdings hat er bis 1949 diesen Titel nicht mehr benutzt.

Die dunkle Zeit

Späteren Behauptungen zufolge soll am 14. Juni 1933 in Berlin eine Sitzung des OR in kleinem Kreis stattgefunden haben, bei der man sich darauf einigte, daß Koner und Müffelmann die kommissarische Leitung des Obersten Rates übernehmen sollten. Hierbei ergibt sich eine deutliche Parallele zum Vorgehen bei der Symbolischen Großloge. Inzwischen hatte Müffelmann erkannt, daß der Einstellungsbeschluß voreilig gewesen war, da die SGL zwei Logen außerhalb des Reichsgebiets hatte, in Saarbrücken und Jerusalem. Auf dieser

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Der Oberste Rat für Deutschland im Exil in Israel

Grundlage wollte Müffelmann nun eine Exilgroßloge aufbauen und

informierte Emanuel Propper in Palästina Ende Juni entsprechend. Ihn

hatte er über die UFL kennengelernt, mit ihm die erste SGL-Loge in

Palästina gegründet und ihn 1931 in den deutschen AASR geholt.

Offensichtlich dachte Müffelmann auch schon an einen Obersten Rat

im Exil. So jedenfalls äußerte er sich im September 1933 gegenüber dem

dänischen Br:. Gunnar Sjallung bei einem UFL-Treffen in Den Haag,

der zu den „französischen" 33ern gehörte. Ihm legte er eine Vollmacht

mit Datum vom 14. 6. 1933 vor und besprach die voraussichtliche

Verlegung des Exil-ORfD nach Dänemark. Müffelmann wurde kurz

danach verhaftet und kam auf diesen Plan nicht mehr zurück.

Stattdessen sollte dann Richard Epstein in Prag eine zentrale Rolle

spielen, der als FZAS- Mitglied in die französischen Hochgrade aufge­nommen worden war. Durch wen er den 33. Grad erhielt, ist unklar. Bis zum März 1932 hatte er vergeblich versucht, über S. Neuman oder

Reber den französischen OR dazu zu bewegen, ihn nach 33° zu beför­

dern und ein auf Mai 1930 rückdatiertes Patent zu erteilen. Jedenfalls

verschickte er am 24. Juni 1933 an verschiedene Oberste Räte

Rundbriefe mit der Meldung der Einstellung der Arbeit des ORfD. Er

bezeichnete sich selbst als Leiter der Geschäftsstelle des ORfD in Prag

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und teilte mit, daß der kommissarische Leiter des OR jetzt ein Dr. Paulus sei. Wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg, ist bis heute ungeklärt.

Über die Tätigkeit der Geschäftsstelle ist nicht viel bekannt. Spätestens im Sommer 1935 scheint sie die Tätigkeit eingestellt zu haben, nach­dem sich der Oberste Rat für die Tschechoslowakei seinerseits in Rundschreiben an die befreundeten Obersten Räte massiv über die Störung seines Sprengelrechts beschwert hatte.

Die Planungen für Palästina wurden zunächst durch die Verhaftungen von Koner, Müffelmann und Bensch zwischen dem 28. August und 5. September unterbrochen. Als Exponenten einer international und pazifistisch geprägten Freimaurerei schienen sie die geeigneten Opfer für einen Schauprozeß zu sein. Die Ermittlungen ergaben allerdings keine gerichtsverwertbaren Tatsachen. Die Entlassungen der verhafte­ten Brüder aus dem Konzentrationslager erfolgten daher zwischen dem 16. und 26. September 1933. Eine Intervention amerikanischer Brüder scheint den Vorgang beeinflußt zu haben.

Die Gestapo war allerdings augenscheinlich unzufrieden. So erließ sie durch die Staatspolizei Hamburg am 10. Januar 1934 ein Rundschreiben, in dem sie der Freimaurerei generell vorwarf, staats­und volksfeindlich zu sein, den Tatbestand der Geheimbündelei zu erfüllen und die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften zu beschimpfen und verächtlich zu machen. Diesem Rundschreiben fügte sie die deutsche Übersetzung einer französischen Ritualsammlung des AASR von 1886 bei. Darin waren ausführlich der 4., 18. und 30. Grad abgedruckt, zudem ein Auszug aus der Ansprache im 33. Grad. Dies Material wurde durch Fußnoten kommentiert, die die Strafbarkeit beweisen und ein Verbot vorbereiten sollten. Ein generelles Verbot aller freimaurerischen Organisationen erfolgte dann am 17. August 1935 durch den Reichsminister des Inneren. Diskriminierende Bestimmungen gegen Freimaurer als Beamte und Offiziere folgten.

Auf einer Palästinareise im Frühjahr 1934 installierte Müffelmann die Symbolische Großloge von Deutschland im Exil und setzte Propper als

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Großmeister pro tempore ein. Am 23. 4. 1934 entschied Müffelmann

mit Gustav Slekow - Mitglied des ORfD und nach Palästina aus­

gewandert - auch über die Zukunft des ORfD. Sie verlegten dessen

Sitz gleichfalls nach Jerusalem und setzten dort ein Kapitel und einen

Areopag ein, in die sie weitere jüdische Brüder aufnahmen.

Am 24. 4. erteilte Müffelmann allein Propper eine Generalvollmacht.

In ihr bezeichnete er sich selbst als kommissarischer Großkom­

mandeur. Propper setzte seinerseits Andor Fodor - einen Ungarn - als

designierten Großkommandeur ein, der um sich einen Obersten Rat

im Exil bildete. Auf der Internationalen Konferenz von 1935 in

Brüssel wurden die Obersten Räte der Schweiz und der Tschecho­

slowakei mit der Beobachtung der Entwicklung in Jerusalem beauf­

tragt. Mit dem Tod von Müffelmann im August 1934 endete die

Verbindung mit Deutschland für lange Zeit. Durch Beförderungen -

die letzte am 22. 8. 1939 - erhielten Propper und Fodor die nötige

Zahl von 9 Brüdern für ihren Exil-OR.

Nach der Neubildung des Deutschen Obersten Rates in Frankfurt/

Main stellte das Exilgremium im März 1948 seine Tätigkeit ein und

erklärte sich bereit, sein Archiv nach Deutschland zu überstellen. Im

Gegenzug wurde Br:.Fodor in den DOR aufgenommen und die noch

lebenden israelischen Schattenbrüder als Mitglieder im deutschen

AASR anerkannt. Erst diese Vorgänge ermöglichten die umfassende

internationale Anerkennung des DOR ab 1951.

Die Überlebenden sammeln sich

Während der dunklen Zeit war es die Hauptaufgabe von Leutnant­

Großkommandeur Fritz Bensch in Berlin gewesen, die Verbindungen

unter den Brüdern nicht ganz abreißen zu lassen. Zum Wehrdienst ein­

berufen, durfte er als Hochgradfreimaurer nicht Offizier, sondern nur

Feldwebel sein. Als er nach kurzer russischer Kriegsgefangenschaft im

Juni 1945 schwer krank entlassen wurde, begann er sofort mit der

Reorganisation. Viel Zeit blieb ihm nicht, denn er starb schon im

August 1946 an einem Nierenleiden.

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Alt-Großkommandeur Bing war in den USA, Großkommandeur Reber in Italien, beide für Bensch nicht zu erreichen. Koner lebte noch in Österreich, meldete sich aber erst 1946 wieder bei ihm. Adrianyi­Pontet und Bernhard Beyer, August Pauls und Adolf Bünger waren die wichtigsten Kontakte von Fritz Bensch beim Versuch des Neuaufbaus. Noch kurz vor seinem Tode nahm er am 27. August 1946 August Pauls wieder in den deutschen Ritus auf, ernannte ihn zum aktiven Mitglied des OR und bat ihn, der gerade erst von Magdeburg nach Frankfurt/Main umgezogen war, die Organisation in Westdeutschland und die Zulassung bei der amerikanischen Besatzungsbehörde zu übernehmen.

Raoul Koner andererseits bat er, bei seinem Ableben kommissarisch die Leitung des Ritus als Großkommandeur zu übernehmen, auch wenn jener immer noch in Braunau wohnte. Da der jedoch von dort nicht wegkonnte, legte er nach der ersten Ratssitzung im Laufe des Junis 1947 sein kommissarisches Amt nieder, das Pauls, der schon seit September 1946 die von Bensch übertragenen Aufgaben als Leutnant­Großkommandeur wahrnahm, nun übernahm.

Obwohl die Entscheidungen von Fritz Bensch nicht durch formelle Beschlüsse einer ordentlich gebildeten Ratsversammlung bestätigt werden konnten, waren sie nach Artikel 12 der ersten gedruckten Konstitution des Obersten Rates von 1933 wirksam. In diesem Artikel wurden die Notmaßnahmen beschrieben, die ein überleben des Obersten Rates ermöglichen sollten, ,, ... wenn die maurerische Arbeit des Obersten Rates unmöglich gemacht ... " würde. Daher erkannten die anderen überlebenden Brüder sowohl die kommissarische Stellung von Raoul Koner als auch die von August Pauls an.

Die erste Sitzung des nunmehr Deutscher Oberster Rat genannten OR leitete Pauls noch in Koners Auftrag als Leutnant-Großkommandeur. Sie fand am 1. Juni 1947 in Frankfurt/Main statt, das als zukünftiger Sitz bestimmt wurde. In ihr fand eine historische Erteilung des 33. Grades an mehrere Brüder statt, darunter an Theodor Vogel, um den OR auf seine reguläre Zahl zu bringen. Die Umbenennung erschien den damaligen Brüdern aus juristischen Gründen sinnvoll, da ein

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Deutschland zu dieser Zeit nicht existierte, sondern nur vier

Besatzungszonen und drei Gebiete unter fremder Verwaltung, das Saarland, die Ostgebiete unter polnischer und das nördliche Ostpreußen unter russischer Verwaltung.

Großkommandeur Br :.August Pauls (1947 - 1956)

August Pauls wurde 1873 bei Aachen ge­

boren. Er studierte in Bonn, Heidelberg und Berlin, wurde 1894 zum Dr. jur. pro­moviert und arbeitete als Rechtsanwalt,

zunächst in Aachen, dann in Magdeburg.

Im Ersten Weltkrieg war er Kriegsgerichts­

rat einer Division und erhielt das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Magdeburg verließ er 1945 kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee und ging nach Frankfurt/Main. Sein berufliches Wirken wurde durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes geehrt. Er starb am 13. 8. 1956 an den Folgen einer Operation.

Der Freimaurerei trat er 1901 in einer Loge der Großen National­Mutterloge zu den drei Weltkugeln in Aachen bei und erreichte dort

den 7. Grad. In den deutschen Schottischen Ritus trat er unter Pseudonym im November 1929 in Berlin ein, verließ ihn aber im Herbst 1930 wieder und unterstellte sich dem Obersten Rat für Öster­reich, von dem er im November 1932 den 33. Grad erhielt. Gleich­

zeitig gehörte er weiter den Drei Weltkugeln an. 1947 wurde er in

Frankfurt/Main Vorsitzender der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft, in

der er zusammen mit Theodor Vogel und Georg Geier die Gründung einer humanitären Einheits-Großloge vorbereitete.

Schon in der Weimarer Republik tat er sich als freimaurerischer Historiker hervor, und war auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein eifriger Schriftsteller in Blau und Rot. Von bleibendem Wert ist neben

seiner „Geschichte der Aachener Freimaurerei" seine Studie „Entsteh­ung, Ursprung und Bedeutung des Meistergrades".

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Auf der 2. Sitzung des DOR am 1. November 1947 wurde August Pauls zum Großkommandeur gewählt. Als wesentliche Aufgaben stell­ten sich ihm der innere Aufbau, die Genehmigung durch die Besatzungsbehörden, die Einigung mit dem Obersten Rat im Exil und die internationale Anerkennung.

Anders als bei der Gründung 1930 traf jetzt die Wiederbelebung des Schottischen Ritus auf großes Interesse der Bruderschaft. Schon 1948 konnte der DOR daher mit mehreren - wegen der Besatzungs­bestimmungen nur auf Länderebene organisierten - Großlogen Konkordate abschließen. Sicher half dabei, daß Pauls als Vorsitzender der 1947 gegründeten Frankfurter Arbeitsgemeinschaft große Bekanntheit erwarb. So wurde es ihm möglich, in seiner Amtszeit ins­gesamt 58 Ateliers wiederzueröffnen oder neu zu gründen.

Eine neue Konstitution war durch die Ereignisse notwendig geworden. Daher wurde die 2. Auflage mit Änderungen im Februar 1949 beschlossen und im Mai herausgegeben. Im Juni 1949 erschienen dann erstmals wieder die Amtlichen Mitteilungen, die seit 1952 unter dem Titel ELEUSIS mit fortlaufender Jahrgangszählung bis heute weiterge­führt werden. Im September gab es ein revidiertes Ritual für den 4. Grad. Nachdem aus der Schweiz die Rituale für 31 ° und 32 ° gekom­men waren, wurden Mitte 1950 die ersten beiden Konsistorien in Essen und Mannheim errichtet. Im August wurde mit der 1949 gegründeten Vereinigten Großloge ein Konkordat abgeschlossen, das die früheren Einzelkonkordate ersetzte. Das alles wirkte so, daß bis Februar 1950 schon etwa 350 Brüder beigetreten waren.

Der Kampf um die Anerkennung erwies sich jedoch als sehr schwierig, da die Südliche Jurisdiktion der USA als Mutter-Oberster-Rat weder die Gründung von 1930 noch die durch Müffelmann verursachte Exil­Gründung jemals anerkannt hatte. Pauls versuchte daher seit 1948 über die Obersten Räte der Schweiz und der Niederlande bei Großkommandeur Cowles eine Änderung zu erreichen. Eine kleine Hilfe war zwar die offiziel­le Einstellung der Tätigkeit des Exil-Obersten-Rates in Jerusalem, doch gab es im März 1950 bei der Konferenz der europäischen Großkommandeure in Brüssel trotz der Schweizer Fürsprache noch keinen Durchbruch.

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Um hier eine Verbesserung zu bewirken, brachte der OR für Öster­reich die Brüder Bing und Pauls im Januar 1951 zusammen. Br :.Bing kannte Br:. Cowles ja noch aus seiner eigenen Tätigkeit als Groß­kommandeur. Gleichzeitig wurde Großkommandeur Collet vom OR der Schweiz in den USA tätig. Bei ihm war nämlich im April 1949

B:.Reber nach seiner Rückkehr aus Italien erschienen und hatte sich als deutscher Alt-Großkommandeur vorgestellt. Auf diesen Besuch

kam Collet in einem Schriftwechsel mit Reber im Frühsommer 1951

zurück. Die Informationen daraus nutzte er gegenüber Cowles, der schließlich im Oktober seitens der Südlichen Jurisdiktion offizielle Beziehungen aufnahm.

Reber tat aber noch mehr. In einem Brief vom 31. März 1952 bestä­tigte er gegenüber Collet die rechtmäßige Verleihung des 33. Grades an Pauls durch Österreich im Jahre 1932 und seinen eigenen Verzicht

auf das Amt des Großkommandeurs. Als August Pauls am 13. Mai 1952 vor der Europäischen Konferenz der Großkommandeure den Standpunkt des DOR in der Anerkennungsfrage vortrug, wurde er

durch das persönliche Erscheinen von Reber überrascht, der ihn als rechtmäßigen Großkommandeur bezeichnete.

Die Frage der Regularität des DOR und damit der Anerkennung durch den Mutter-Obersten-Rat war damit zufriedenstellend gelöst. Interessanterweise gelang dies dem DOR also vier Jahre früher als sei­ner blauen Basis, denn die AFAM konnte erst im Dezember 1956 offi­zielle Beziehungen mit der Muttergroßloge in England aufnehmen.

Nun konnten endlich auch die amerikanischen Soldaten dem Schotti­

schen Ritus in Deutschland beitreten. Abkommen darüber schloß der

DOR im Sommer 1953 sowohl mit der Südlichen wie mit der Nörd­lichen Jurisdiktion der USA. Für die amerikanischen Brüder wurde im Mai 1954 in Frankfurt/Main ein eigenes Konsistorium Seneca ge­gründet.

Im Juli 1954 traten dänische Brüder des 33. Grades mit der Bitte an Br:.Pauls heran, dort einen Obersten Rat zu gründen. Es waren jene Brüder, die zwischen 1930 und 1935 von Frankreich aufgenommen,

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dazu angeregt und dann fallengelassen worden waren. Der DOR behandelte die Frage zwar freundlich, aber sehr zurückhaltend. Das

Problem war die blaue Basis eines solchen Obersten Rates, denn sie bestand zwar unter der Bezeichnung Großorient von Dänemark, war aber nicht anerkannt. Als diese Gruppierung 1960 im Dänischen

Freimaurerorden aufging, konnte auch die XVI. Konferenz der

Europäischen Großkommandeure das Thema in Istanbul als erledigt

abschließen. Ein eigener Oberster Rat für Dänemark war nun neben

dem Dänischen Höchsten Ordenskapitel nicht mehr möglich.

Erste Schwierigkeiten mit der Großloge AFAM wurden erkennbar, als die VGL eine Änderung des Konkordates mit dem DOR anstrebte, die dessen Außenbeziehungen der Kontrolle der VGL unterworfen hätten. Dies, obwohl Großmeister Theodor Vogel immer noch aktives

Mitglied des DOR war. Er hatte zwar seit Februar 1949 eine grund­

sätzliche Beurlaubung von den Ratssitzungen, war aber zwischen­

durch doch anwesend. So schlug er am 4. November 1951 dem DOR

z. B. vor, doch ein Konkordat mit dem in Deutschland einzuführendenYork Rite abzuschließen.

Im Februar 1953 besprach Theodor Vogel bei einem Besuch in den USA die Modalitäten einer deutschen Gründung mit Vertretern des

General-Groß-Kapitels der USA. Das erste deutsche Kapitel wurde dann am 17. Oktober 1953 in Frankfurt am Main gegründet, mit

Theodor Vogel als erstem Mitglied. Das Großkapitel folgte am 6. März 1955. Und am 26. September 1955 kündigte die VGL das Konkordat

mit dem DOR fristlos. Sie begründete das mit der dem Konkordat widersprechenden Doppelbesetzung von Ämtern. Dahinter stand aller­dings auch der Versuch, im Rahmen der Einigungsverhandlungen, die

zur Magna Charta führten, der neuen Großloge mit dem Titel

Vereinigte Großlogen von Deutschland mehr Autorität zu verschaffen.

Und deren erster Großmeister sollte und wollte Theodor Vogel werden.

So stand Pauls am Ende seines Lebens wieder vor dem gleichen per­sönlichen Problem mit Theodor Vogel, das schon 1949 die Frank­furter Arbeitsgemeinschaft zerstört hatte. Und doch konnte er - anders als damals - auf ein erfolgreiches Werk blicken. Der Schottische Ritus

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hatte in der Bundesrepublik Deutschland 62 aktive Ateliers mit rund

1000 deutschen und 600 amerikanischen Brüdern, eine gefestigte

innere Verfassung, ein reiches, geistiges Leben, ein hohes Ansehen und

gefestigte internationale Beziehungen.

Großkommandeur Br:.Georg Geier (1957 - 1960)

Georg Geier wurde 1891 im Kreis Schlüch­

tern geboren. Er war kaufmännischer

Angestellter, später selbständig als Leiter

einer Textilfirma. Im Ersten Weltkrieg

wurde er verwundet. Als Auszeichnungen

erhielt er das Verwundetenabzeichen, das

Eiserne Kreuz II. Klasse und den Türki­

schen Halbmond für den Einsatz an der Palästinafront. 1935 wurde er

auf Grund von französischen Kontakten verhaftet, nach zwei Mona­

ten Untersuchungshaft aber vom Gericht freigesprochen. Nach 1945

war er in der Frankfurter Handelskammer und als Handelsrichter

aktiv. 1952 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Am 1. September

1960 starb er mitten in der Amtsperiode an einem Magenleiden.

1926 wurde Georg Geier in eine FZAS-Loge in Offenbach aufgenom­

men und trat 1930 mit ihr zur Symbolischen Großloge über. Im

Oktober 1931 wurde er auch Mitglied im AASR. Nach 1945 schloß

er sich der Frankfurter Loge Lessing an und arbeitete mit August Pauls

zusammen in der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft. Im Juni 1947

wurde er in den DOR berufen.

Der Ausbau im Inneren ging unter ihm weiter, wenn auch jetzt mit ver­

minderter Kraft. Doch konnte er immerhin weitere 10 Ateliers einwei­

hen. Die Mitgliederzahl des Ritus betrug zum 31. 12. 1960 1098

Brüder. Auch die geistige Ausrichtung wurde weiter gefördert. Mit

einer Grundsatzerklärung, die seit 1957 in jeder Nummer der ELEU­

SIS abgedruckt wurde, bezog der AASR eine deutlich liberale Position.

Zudem wurde von einigen Brüdern des Obersten Rates seit Mai 1958

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der Plan verfolgt, ein Europagymnasium Gustav Stresemann zu grün­den, das Schüler in freimaurerischem Geiste erziehen sollte. Auch wurde die Gründung einer weiteren Zeitschrift beschlossen. Apollon sollte in deutscher, englischer und französischer Sprache erscheinen, konnte aber 1960 nur vier Nummern erreichen, um dann aus Kostengründen wieder eingestellt zu werden.

Die Verhältnisse wurden jetzt schwieriger, weil der sich schon unter Pauls andeutende Konflikt zwischen der Großloge, konkret Theodor Vogel, und dem DOR verschärfte, obwohl Vogel von der Gründung des DOR 1947 bis 1961 aktives Mitglied des DOR blieb und trotz seiner grundsätzlichen Beurlaubung immer wieder einmal an Rats-Sitzungen teilnahm. Gleichzeitig war er von 1949 bis 1953 und dann wieder 1957 Großmeister der VGL AFAM und 1958 bis 1959 erster Großmeister der neugegründeten Vereinigten Großlogen von Deutschland.

Im November 1957 teilte er als Großmeister der AFAM dem DOR mit, daß die Satzung der AFAM der des AASR übergeordnet sei, bean­spruchte also praktisch eine Oberaufsicht über den DOR. Der DOR beharrte dagegen auf seiner Souveränität und kündigte im Juni 1958 das Konkordat von 1950 fristgemäß. Theodor Vogel stellte sich nun auf den Standpunkt, es hätte nie gegolten. In Verhandlungen mit der Großloge gelang es dann schon im Juli 1958, zu einer gegenseitigen Übereinkunft zu kommen. Darin erkannten sich beide Organisationen gegenseitig als souveräne Obödienzen an und bestätigten die traditio­nelle Abgrenzung zwischen beiden, was die rituellen Arbeiten anging.

Großkommandeur

Br:.Erich Schalscha (1961 - 1969)

Mit der Wahl von Erich Schalscha verhärte­te sich die Situation erneut und entwickelte sich zu einer publizistischen Auseinander­setzung bisher nicht gekannten Ausmaßes. Die Kämpfe seiner Amtszeit sind auch ein Spiegel der unruhigen 60er Jahre der

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Bundesrepublik, in denen eine konservative Grundhaltung durch eine

liberale bis linke Tendenz abgelöst wurde. Kennzeichnend dafür bleibt,

daß es die einzige Periode in der Geschichte unseres Ritus ist, in der sich

der Ministerpräsident eines Bundeslandes in der Freimaurerischen

Akademie und ein Bundesjustizminister im DOR engagierten.

Erich Schalscha wurde 1893 in Breslau geboren. Sein Jurastudium

schloß er mit der Promotion ab und wurde dann Rechtsanwalt. Als Jude

mußte er im Januar 1936 Deutschland verlassen und ging nach England.

Erst 1948 ging er als Richter nach Frankfurt/Main zurück. 1953 wurde

er als Bundesrichter nach Karlsruhe berufen. Er starb 1981.

Freimaurer wurde er 1928 in einer Loge des Eklektischen Bundes in

Breslau. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schloß er sich einer

Loge in Wiesbaden an. 1951 trat er dem AASR bei und wurde 1960

in den DOR berufen.

Nach seiner Wahl zum Großkommandeur im Januar 1961 griffen drei

Mitglieder des DOR - darunter Theodor Vogel - diese Wahl intern an.

Gleichzeitig veröffentlichte Vogel zwei Druckschriften, die sowohl die

Regularität der Gründung des Obersten Rates im Jahre 1930 bestrit­

ten wie seine Lehre als irreligiös bezeichneten.

Zusätzlich bemängelte der Nachfolger Vogels im Amt des Großmeisters

der Vereinigten Großlogen die Grundsatzerklärung des DOR.

Insbesondere die Ablehnung der Bekenntnisschule und die Forderung,

auf Gewalt in der Auseinandersetzung der Staaten untereinander zu ver­

zichten, wurden als staatsgefährdend, östlich beeinflußt und das

Ansehen der Freimaurerei gefährdend bewertet. Gleichzeitig mit diesem

Angriff auf den AASR schlossen die VGLvD ein Abkommen mit dem

York Rite, dem konkurrierenden Hochgradsystem.

Im Herbst 1961 wurde Br. Schalscha aus dem Obersten Rat der

Schweiz über einen Versuch Theodor Vogels informiert, sich in

England ,, ... die Anerkennung für einen von ihm zu gründenden

Obersten Rat zu verschaffen ... ". Er hatte Anfang des Jahres den engli­

schen Großkommandeur besucht, doch blieb der Plan offenbar schon

im Ansatz stecken. Sichtbare Schritte zu seiner Verwirklichung sind

jedenfalls nicht festzustellen.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 83: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Im Mai 1961 traten Theodor Vogel und seine beiden Vertrauten

aus dem DOR aus, begannen aber gleichzeitig in der Großloge AFAM

eine weitere Kampagne gegen den AASR. Der DOR wehrte sich

seinerseits mit zwei Druckschriften, einer Reihe von offenen Briefen

und einer Versammlung der Atelierpräsidenten in Frankfurt/Main. Die

öffentlichen Auseinandersetzungen hatten nun ein Ausmaß erreicht,

das für alle Beteiligten schädlich zu werden drohte. Seit Oktober gab

es daher Verhandlungen zwischen dem DOR und der AFAM, um das

Verhältnis zu entkrampfen. Als Vorleistung erklärte der DOR, die

Grundsatzerklärung nicht mehr abzudrucken.

So konnte im Juni 1962 eine Gemeinsame Erklärung veröffentlicht

werden. Zwar erhoben die VGLvD und Altgroßmeister Vogel erneut

Einwände gegen den Inhalt, doch ließen sich die Stuhlmeister der

AFAM davon nicht beeindrucken und nahmen diese vorläufige

Regelung im September 1962 auf ihrem Stuhlmeistertag an. Das war

die Grundlage, auf der im Juni 1963 ein neues Konkordat zwischen der

AFAM und dem DOR geschlossen wurde, das bis heute Bestand hat.

Der Kampf von Theodor Vogel gegen den Schottischen Ritus schade­

te diesem nicht, sondern brachte sogar weiteren Zulauf. Hatte der

Ritus im Januar 1961 noch 1280 deutsche Brüder, war der Mitglieder­

bestand im November 1966 bei 1549 deutschen und rund 800 ameri­

kanischen Brüdern. Zehn neue Ateliers konnten in der Amtszeit von

Erich Schalscha gegründet werden.

Und es gab einen weiteren Erfolg: Nachdem die Große National­

Mutterloge zu den drei Weltkugeln 1963 den VGLvD beigetreten und

damit wieder allgemein akzeptiert war, schloß der DOR mit ihr im

April 1965 ein Besuchsabkommen.

Ein besonderer Erfolg von Br:. Schalscha war die seit 1963 betriebene Gründung des Obersten Rates von Israel. Zunächst wurden dort 1965

zwei Perfektionslogen gebildet und im Januar 1966 Br:. Grassiani als

ein weiterer Leutnant-Großkommandeur unseres OR ernannt. Im

November 1966 installierte Br:. Schalscha dann den Obersten Rat von

Israel mit Br:. Grassiani an der Spitze und wurde seinerseits zum

75 Jahre A.· .A. · .S. · .R. ·. 83

Page 84: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

84

Ehren-Großkommandeur dieses Obersten Rates ernannt, um die besonderen historischen Beziehungen beider Länder zu betonen.

Für Großkommandeur Schalscha gab es jedoch keine Atempause, da sich die internationalen Beziehungen komplizierten. Schon im Mai 1961 hatten die Vereinigten Großlogen die Beziehungen zur Grande Loge de France gelöst. Das bedeutete für den DOR, sein Verhältnis zum Supreme Conseil de France überprüfen zu müssen, da dessen blaue Basis nun plötzlich nicht mehr anerkannt war. Bevor es zu einer Entscheidung kam, griff der OR der Niederlande in die französischen Verhältnisse ein. Mit Zustimmung der Südlichen Jurisdiktion der USA gründete er im Mai 1965 einen neuen Obersten Rat in Frankreich, den Supreme Conseil pour la France.

Da es wegen des Widerstandes einiger europäischer Oberster Räte keine Einigung über die Anerkennung dieser Neugründung gab, platzte die im Juni 1967 stattfindende IX. Internationale Konferenz in Brüssel. Die Delegationen der Schweiz, der Türkei, Österreichs, Italiens, Spaniens im Exil und Deutschlands verließen die Tagung unter Protest. Kurz darauf -im November - brach die Nördliche Jurisdiktion der USA die Beziehungen zum DOR ab, die Südliche folgte im Dezember. Die Hauptbegründung griff auf den Vorwurf zurück, den Theodor Vogel schon 1961 erhoben hatte: Atheismus. Das Ritual des 18. Grades beweise, daß die Gottesauffassung des DOR von der amerikanischen Auffassung abwei­che. Gleichzeitig bestritt nun die Südliche Jurisdiktion, daß sich die euro­päischen Obersten Räte bei ihren Verfahren auf die Konvention von Lausanne stützen könnten, die 1875 geschlossen worden war.

Die Südliche Jurisdiktion erhöhte den Druck auf den DOR weiter, indem sie ihm die amerikanischen Brüder entzog. Für sie wurden eige­ne American Scottish Rite Bodies gebildet. So blieb dem DOR keine andere Wahl, als seine Beziehungen zu beiden französischen Obersten Räten einstweilen zu neutralisieren. In einem Gespräch mit der Nörd­lichen Jurisdiktion in Boston wurde im Juni 1968 angeboten, zukünf­tig in den Arbeiten die Drei Großen Lichter aufzulegen, das Ritual des 18. Grades zu überarbeiten und aus der Konstitution des DOR alleBezüge zur Konvention von Lausanne zu entfernen. Daraufhin stelltedie Nördliche Jurisdiktion im September die Beziehungen wieder her.

75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.

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Da die persönlichen Beziehungen zwischen Großkommandeur

Schalscha und Vertretern der Südlichen Jurisdiktion der USA seit der

Internationalen Konferenz in Brüssel gestört waren, trat er mit dem

Ablauf seiner Amtszeit nicht für eine Neuwahl an.

Großkommandeur

Br:. Udo Sonanini (1969 - 1972)

Udo Sonanini lebte von 1911 bis 2002. Er

war promoviert und arbeitete als Rechts­

anwalt und Justitiar der Schweizer Bot­

schaft in Bonn.

In die Freimaurerei wurde er 1949 in Bonn

aufgenommen. Dem Schottischen Ritus

trat er 1951 bei. In den DOR wurde er

1963 berufen. Nach einem Herzanfall 1970 mußte er seine Aktivität

stark einschränken und verzichtete daher auf die Kandidatur für eine

zweite Amtszeit.

Es ist dem ausgleichenden Talent von Udo Sonanini in den

Verhandlungen in Boston zu verdanken, daß die internationale

Position des DOR sich verbesserte. Der Wiederherstellung der

Beziehungen zur Nördlichen Jurisdiktion war geschafft, doch mit der

Südlichen gelang dies zunächst nicht.

Die Lösung der internationalen Probleme gelang Udo Sonanini zu­

nächst wenigstens insoweit, als er im Januar 1970 auf der X. Inter­

nationalen Konferenz in Baranquilla, Kolumbien, trotz der fortbeste­

henden Auseinandersetzungen mit der Südlichen Jurisdiktion gleich­

berechtigt teilnehmen konnte. Der Preis war allerdings die vorherige

de facto Anerkennung der American Bodies in Deutschland und die

Auflösung des Konsistoriums Seneca. In Baranquilla konnte zudem

die Südliche Jurisdiktion durchsetzen, daß die Konvention von

Lausanne nicht mehr als verbindlich angesehen wurde. Damit fielen

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 85

Page 86: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

86

auch die anderen Vereinbarungen, so daß nun wieder die amerikani­

sche Fassung der Großen Konstitutionen von 1786 mit dem mythi­

schen Gründer Friedrich II. von Preußen galt. Als Folge beschloß der

DOR im Mai 1970 die vierte Auflage seiner Konstitution, in der die

Bezüge zu Lausanne nicht mehr enthalten waren.

Erfreulich war, daß Großkommandeur Sonanini drei neue Ateliers ein­

richten konnte. Zudem gelang es ihm, im Dezember 1970 eine

Besuchsvereinbarung mit der Großen Landesloge der Freimaurer von

Deutschland (FO) abzuschließen, nachdem die komplizierte Frage der

Entsprechung der Grade geklärt worden war. Damit konnten

Schottenbrüder nun die wesentlichen christlichen Hochgradsysteme in

Deutschland besuchen. Nicht geregelt blieben aber die Beziehungen

zur Großen Loge Royal York zur Freundschaft und zum Royal Arch

bzw. zum York-Ritus.

Im 1986 formulierten Rückblick auf seine Amtszeit zog er als

Resümee: ,, ... die Erkenntnis der Naivität meines Traums und meiner

anfänglichen Bemühungen von und um eine eigenständige europäische

Maurerei; die ... Erkenntnis, daß die Macht- und Einflußstrukturen in

der internationalen Maurerei jeweils ... das Abbild der profanen poli­

tischen Situation darstelle. Die UGL England hält an der Fiktion eines

auch maurerischen Empire oder doch wenigstens Commonwealth fest.

Von den USA her bestimmt die Südliche Jurisdiction die Regularität

aller Obersten Räte der Welt und damit letztlich deren Existenz ... ".

Großkommandeur

Br :.Heinz Lott (1972 - 1978)

Heinz Lott wurde 1925 in Frankfurt/Main

geboren. Im Zweiten Weltkrieg leistete er

Dienst als Fallschirmjäger. Nach dem

Krieg begann er ein Bauingenieur-Studium

und schloß es als Diplomingenieur ab.

Von 1948 bis 1997 arbeitete er als

Architekt. Er starb 1999.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 87: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

1954 wurde er in Frankfurt/Main in die Loge Lessing aufgenommen.

Dem AASR trat er 1958 bei. In den DOR wurde er 1966 berufen. Nach

seiner Amtszeit als Großkommandeur war er in der Forschungsloge

Quatuor Coronati von 1983 bis 1989 deren Meister vom Stuhl.

Erst im November 1972 gelang die Wiederaufnahme der Beziehungen zur

Südlichen Jurisdiktion. Eine der Voraussetzungen war, daß auf der 23.

Konferenz der Europäischen Großkommandeure im Mai 1972 in Den

Haag die französische Frage dahingehend geregelt worden war, daß der

SC pour Ja France als Teilnehmer akzeptiert wurde. Da der DOR sich mit

einer förmlichen Anerkennung noch schwer tat, blieben die Beziehungen

zu beiden französischen Obersten Räten einstweilen neutralisiert.

Eine weitere Voraussetzung war die förmliche Anerkennung der

American Military Scottish Rite Bodies durch den DOR. Damit hatte

sich die Südliche Jurisdiktion auf der ganzen Linie durchgesetzt.

Zwei neue Ateliers konnte Heinz Lott einweihen, doch war auf Grund

der internationalen Schwierigkeiten die Mitgliederzahl unseres Ritus

1975 auf 1484 Brüder gesunken. So war seine wichtigste Arbeit die

innere Konsolidierung, die er mit großem Einsatz und vielen

Atelierbesuchen betrieb.

Großkommandeur

Br:.Kurt Hendrikson (1978 -1984)

Kurt Hendrikson wurde 1913 bei Wilna

geboren. Sein Studium der Wirtschafts­

wissenschaften in Warschau schloß er

1937 mit der Promotion ab. Seine Habili­

tation erfolgte 1943 in Berlin. Obwohl er

zahlreiche Untersuchungen zu wirtschafts­

wissenschaftlichen Themen veröffentlich­

te, ergriff er keine akademische Karriere, sondern wurde nach seinem

Kriegseinsatz bei „Fremde Heere Ost" Wirtschaftsprüfer. Von 1959

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 87

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88

bis 1978 war er hauptsächlich mit Projekten der Entwicklungshilfe in

Zusammenarbeit mit der Weltbank befaßt. Er starb 1991.

1950 wurde er in Hamburg aufgenommen und wechselte 1952 nach

Frankfurt/Main in die Loge Lessing. Dem Schottischen Ritus trat er

1953 bei und wurde 1959 in den DOR berufen.

Zusammen mit Herbert Kessler war er ein großer Förderer des geisti­

gen Lebens im AASR. Seine Tätigkeit als Großkommandeur begann er

mit einer kritischen Bestandsaufnahme durch zwei Kommissionen und

einer Umfrage unter den Ritusrnitgliedern. Daraus erwuchs eine erste

Schrift Wegweiser zur Freimaurerei. Um die geistige Aktivität und das

Ritualverständnis zu vertiefen, begann auf seine Anregung hin 1979

die Schriftenreihe, die bis 2004 auf insgesamt siebzehn Hefte ange­

wachsen ist

Da die ELEUSIS sich mittlerweile von einer Zeitschrift mit internen

Nachrichten zu einer reinen Publikation von Aufsätzen gewandelt

hatte, schuf er ein neues Medium, um alle Mitglieder des Ritus errei­

chen zu können, das Mitteilungsblatt. Es ersetzte 1981 den Atelier­

präsidentenbrief, der nur den Funktionsträgern zugänglich gewesen

war.

Eine Spätfolge der Auseinandersetzungen mit der Südlichen Juris­

diktion der USA war die Aufnahme brüderlicher Beziehungen zum SC

pour la France, die gleich nach seinem Amtsantritt erfolgte. Auch

wurde nun das Ritual des 18. Grades revidiert und im Oktober 1980

allen Kapiteln überstellt. Dadurch war die durch Udo Sonanini und

Heinz Lott eingeleitete Konsolidierung der Position des DOR im welt­

weiten Schottischen Ritus gesichert.

Ein Höhepunkt seiner ersten Amtszeit wurde daher die SO-Jahrfeier

des DOR in der Würzburger Residenz mit dreizehn ausländischen

Delegationen. Ein weiterer Erfolg war der Abschluß eines Konkordats

mit der Grossen Loge Royal York in Berlin, der das Besuchsrecht zwi­

schen dem Ritus und dem Inneren sowie Innersten Orient, den

Erkenntnisstufen der Royal York, regelte.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 89: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Die vielen Aktivitäten erzeugten auch eine neue Attraktivität des

Ritus, so daß er in seiner Amtszeit vier neue Ateliers eröffnen konnte.

Die Mitgliederzahl stieg von 1460 im Jahre 1979 auf 1621 für 1982.

Auch nachdem er das Amt des Großkommandeurs abgegeben hatte,

schrieb er weiter grundlegende Aufsätze und Bücher für die Brüder.

Von bleibendem Wert sind insbesondere Ein Schotten-Kodex (ELEU­

SIS 4/1987) und die noch kurz vor seinem Tode erschienene umfang­

reiche Freimaurerische Lebenskunst.

In einem Rückblick auf seine Amtszeit, den er gegen Ende seines Lebens

in einem langen Gespräch mit dem Verfasser gab, beschrieb er die seit

Würzburg erreichte Position des deutschen Schottischen Ritus. Er sah sie

in einer mittleren Stellung innerhalb der pluralistischen Weltfreimaurerei.

Zwischen den unterschiedlichen Freimaurereien der mitgliederstarken

anglo-amerikanischen Gruppe, dem schwedischen Ordenssystem in den

nordischen Ländern und dem romanisch beeinflußten Südeuropa und

Südamerika, stünden die zahlenmäßig kleinen deutschsprachigen

Obersten Räte. Ihre engere Zusammenarbeit hielt er für besonders wich­

tig, um die von ihm konstatierte geistige Stagnation aufzubrechen. Dem

sollten besonders die verschiedenen Veröffentlichungen dienen, auch

wenn er ihre Wirkung nicht überschätzte.

Großkommandeur

Br :.Herbert Kessler (1984 - 1993)

Herbert Kessler wurde 1918 in Mann­

heim geboren. Im Zweiten Weltkrieg zur

Artillerie eingezogen, verlor er als vorge­

schobener Beobachter in Frankreich einen

Unterschenkel. Sein Jurastudium schloß

er 1944 in München mit der Promotion

ab. Er arbeitete als Rechtsanwalt. Für

seine langjährigen Aktivitäten in der

Humboldt-Gesellschaft und der Sokratischen Gesellschaft erhielt er

1983 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Zudem wurde ihm 1987 in

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 89

Page 90: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

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Anerkennung seiner philosophischen Werke vom Land Baden­

Württemberg der Professorentitel ehrenhalber verliehen. Die

Russische Akademie der Wissenschaften in Moskau kooptierte ihn

1994 als ordentliches Mitglied. Er starb 2002

Aufgenommen in die Freimaurerei wurde er 1965 in Mannheim. Dem

Schottischen Ritus trat er 1969 bei und wurde 1974 in den DOR berufen.

Als langjähriger Chefredakteur der ELEUSIS und erster Herausgeber

der Schriftenreihe hat er das geistige Leben des Ritus fühlbar be­

stimmt. Aus seinem umfangreichen schriftstellerischen Werk sind

Bauformen der Esoterik und Philosophie als Lebenskunst wohl die für

Freimaurer wichtigsten bleibenden Bücher.

Die hohe Wertschätzung, die der DOR inzwischen international

besaß, zeigte sich 19 84 bei der 31. Konferenz der Europäischen Groß­

kommandeure in Schlangenbad und beim 1. Ordensfest in Nürnberg

im Jahre 1985. Aus beiden Anlässen konnten viele ausländische

Delegationen begrüßt werden, genauso wie 1992 zum 2. Ordensfest in

Moers.

Herbert Kessler war aber nicht nur ein erfolgreicher, ausgleichender

und vermittelnder Großkommandeur in der Vertretung nach außen.

Wichtiger noch war seine Wirkung nach innen. Neben den publizisti­

schen Verdiensten war er besonders um die philosophischen Inhalte

der Rituale bemüht. 1987 wurde das Ritual für den 5. bis 14. Grad

und 1989 das für den 32. Grad angenommen. Zeremoniale für die

Friedensarbeit und die Osteragape erschienen 1992. Auch um eine

Neustrukturierung der freimaurerischen Akademie bemühte er sich.

So war es nicht verwunderlich, daß der Ritus weiter wuchs. Groß­

kommandeur Kessler konnte 9 weitere Ateliers einrichten und die

Mitgliederzahl betrug Ende 1990 1766 Brüder.

Am Ende seiner Amtszeit mußte er allerdings erleben, daß durch die

Südliche Jurisdiktion der USA erneut Unruhe in Europa aufkam. Der

Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Paktes hatte eine völlig

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 91: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

neue Lage geschaffen, in der die Freimaurerei im Osten wieder mög­

lich schien. In Südosteuropa wurden daher von der Südlichen

Jurisdiktion über die American Scottish Rite Military Bodies beförder­

te Brüder als Oberste Räte eingesetzt, ohne dies in allen Fällen mit den

europäischen Obersten Räten abzustimmen.

Großkommandeur Br:.Gunter Münzberg (1993 -1997)

Mit der Wahl von Gunter Münzberg

wurde der Versuch gemacht, nach der lan­

gen Amtszeit von Herbert Kessler einen

deutlichen Generationswechsel vorzuneh­

men. Gunter Münzberg wurde 1941 im

Sudetenland geboren. In Stuttgart studierte

er Elektrotechnik und schloß das Studium

1967 als Diplomingenieur ab. Er war Abteilungsleiter bei AEG, dann

Geschäftsführer einer Maschinenfabrik. 1963 wurde er in eine Stutt­

garter Loge aufgenommen. Dem AASR trat er 1973 bei und wurde

1983 in den DOR berufen.

Ein Höhepunkt seiner Amtszeit war im Mai 1994 die 39. Konferenz

der Europäischen Großkommandeure in der alten und neuen

Hauptstadt Berlin. Mit der 6. Auflage der Konstitution nahm der

Oberste Rat als Konsequenz aus der Wiedervereinigung und der mit

ihr wiederhergestellten Souveränität des deutschen Staates den alten

Namen an.

Gunter Münzberg bemühte sich, Bewegung in die von ihm als zu ruhig

angesehene Ritustätigkeit zu bringen. Dazu sollten ihm Kontakte zu

den verschiedenen französischen Obödienzen, aber gleichzeitig ein

engerer Anschluß an die Südliche Jurisdiktion der USA dienen. Die

redaktionelle Linie der ELEUSIS veränderte sich durch das Aus­

wechseln des Redakteurs stark ins Politische. Zugleich bezog der

Großkommandeur deutlich Stellung gegen eine zu esoterische

Auffassung von der Freimaurerei. Der sich hier andeutende Richtungs-

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 91

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wechsel schuf schon bald nach Amtsantritt erhebliche Unruhe in der Bruderschaft. Dazu kam die reale Gefahr, durch die unkontrollierten französischen Aktivitäten des Großkommandeurs die Regularität des Obersten Rates zu gefährden. Im Juli 1997 sahen sich die drei Alt­Großkommandeure Sonanini, Lott und Kessler zur Erhaltung der inter­nationalen Anerkennung und des inneren Friedens im Ritus selbst zum Eingreifen veranlaßt. Sie führten durch einen gemeinsamen Antrag einen Beschluß des Obersten Rates herbei, die Amtszeit von Gunter Münzberg zu beenden. 1998 erlosch seine Mitgliedschaft im AASR.

In seinen vier Jahren konnte er vier neue Ateliers einweihen, doch ging die Gesamtmitgliederzahl leicht zurück und betrug Ende 1996 1726 Brüder.

Großkommandeur Br .·.Hubert Victor Kopp (1997 - 2002)

Hubert Victor Kopp wurde 1927 in Berlin geboren. In den letzten Kriegsmonaten wurde er noch eingezogen und verwun­det. Nach Kriegsende machte er sein Abitur und studierte Naturwissenschaften und Philosophie. Seit 1948 ist er im Verlagswesen tätig. Von 1958 bis 1998 war er Inhaber einer Werbeagentur und eines Zeitschriftenverlages in Hannover.

1959 trat er in Hannover der Freimaurerei bei. Aufgenommen in den Schottischen Ritus wurde er 1968, berufen in den DOR 1985 und als Bezirksinspekteur „Nord-West" aktives Mitglied im Obersten Rat 1990.

Hubert Kopp entwickelte und gründete 1974 die Zeitschrift „huma­nität" für die Großloge AFuAM, dessen Verleger und Herausgeber er bis 1979 war. Die Gründung der Freimaurerloge „Georg Am Hohen Ufer" 1987 und als dessen Gründungsmeister v. St. zeugt ebenso von seinen visionären Vorstellungen zeitgemäßer Maurerei, die er in sei-

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nem Buch „Im Zeichen des Logos - Alle Menschen werden Schwestern und Brüder - Geschichte und Wesen der Freimaurerei" niederschrieb.

Während seiner Amtszeit als Großkommandeur konnte Br.·. Kopp, dank seines zielstrebigen Wirkens, den Ritus wieder in ruhige Bahnen lenken. Zukunftsweisende Vorhaben und Beschlüsse wurden so initiiert: Neufassung des Mitgliedschaftsgesetzes, der Gerichtsordnung, Umzug der Kanzlei nach Berlin mit personeller Neubesetzung des Kanzleisekretärs, Atelierpräsidenten-Seminare, sowie die Aufarbeitung der Rituale.

Es gelang ihm mit Hilfe engagierter Brüder sogar erstmals, in den neuen Bundesländern das Licht in vier Ateliers einzubringen. Insgesamt ent­standen neun neue schottische Arbeitsstätten. Im Dezember 1999 hatte der Ritus wieder 1765 Mitglieder wie unter Br :.Herbert Kessler. Am Ende seiner Amtszeit konnte Großkommandeur Kopp seinem Nach­folger sogar 106 Ateliers mit 1815 Brüdern übergeben.

Das 3. Ordensfest in Ettlingen im September 2000 machte ganz deut­lich, dass es ihm auch gelungen war, die durch den Wechsel im Amt hervorgerufenen Irritationen im Ausland schnell zu beruhigen. Ausge­wählte Reisen zu befreundeten OR in Europa und Übersee begründe­ten eine neue Ära der Verständigung; so ist er Groß-Repräsentant für die Nördliche und Südliche Jurisdiktion in den USA, Slowenien und Iran im Exil der USA.

Großkommandeur Br.·. Friedrich

Wilhelm Schmidt ( seit 2002)

Friedrich Wilhelm Schmidt wurde 1933 in Neunkirchen/Saar geboren. Er machte eine Lehre als Vermessungstechnik.er und die Fachausbildung zum Ingenieur. 1961 begann eine Karriere in Hamburg als hauptamt­licher Gewerkschaftssekretär der Deutschen­Angestellten-Gewerkschaft, bei der er bis

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 93

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zum Ressortleiter und Bundesvorstandsmitglied aufstieg. EW. Schmidt

konnte dabei reiche internationale Edahrungen sammeln und engagierte

sich auch in Schwarzafrika in der Entwicklungshilfe. Er wirkte mit in zahl­

reichen Kommissionen und in bedeutenden Aufsichtsräten der Wirtschaft.

Nach zwei Jahrzehnten ehrenamtlicher Tätigkeit in der Selbstverwaltung

der Techniker Krankenkasse wurde er 1978 zu deren Hauptgeschäftsführer

gewählt und leitete diese sehr erfolgreich bis zu seinem Ruhestand 1996.

1967 trat Br:.Friedrich Wilhelm Schmidt in eine Hamburger Loge ein

und 1970 in den Schottischen Ritus. In den DOR wurde er 1987 beru­

fen, im Folgejahr als aktives Mitglied der Ratsversammlung.

Seine vielfältigen Aktivitäten im Distrikt Hamburg-Schleswig-Holstein

führten bald zu weiteren Aufgaben für die Großloge AFuAM aufgrund sei­

nes reichen, freimaurerischen Wissens, unermüdlichen Wirkens und viel­

schichtigen Könnens. So war er sechs Jahre Großredner, wurde Mitglied

des Senats der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) und

Großvertreter der französischen Grande Loge Nationale für Deutschland.

Aktiv war er u. a. am Aufbau der Freimaurerei in Litauen beteiligt. Zum

Zeitpunkt seiner Wahl zum Großkommandeur war er Stellvertretender

Großmeister der VGLvD. Als Träger des Großen Ehrenzeichens bleibt er

lebenslang beratendes Mitglied des Senats der VGLvD.

Als Großvertreter des A:.A:.S:.R:. der Niederlande und Frankreichs,

sowie in Fortsetzung der Vorarbeit seines Amtsvorgängers hat

Friedrich Wilhelm Schmidt die Bindungen zwischen dem ORD und

diesen, ferner zur Nördlichen und Südlichen Jurisdiktion des amerika­

nischen A:.A:.S:.R:., sowie zu den osteuropäischen Obersten Räten

nachhaltig gestärkt. Das Ordensfest in Berlin zum 75jährigen Bestehen

des A:.A:.S:.R:. in Deutschland wird dies durch die Teilnahme von

deren Repräsentanten deutlich machen.

In seiner bisherigen Amtszeit konnten fünf Ateliers neu installiert werden.

Mit seiner Wiederwahl für die Periode 2005 bis 2008 hat die

Ratsversammlung das Vertrauen ausgedrückt, mit ihm anstehende

Aufgaben, wie Ritualarbeit, Konstitution und „Aufbau Ost" fortzusetzen.

t----

75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.

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Die Freimaurerische Akademie

Br:.Werner Boppel, 33°

Nach § 81 des Gesetzes über Mitgliedschaft und

Organisation im Alten und Angenommenen Schotti­schen Ritus (A:.A:.S:.R:.) unterhält der ORD „Die Freimaurerische Akademie des AASR", die den Auftrag hat, ,,das freimaurerische Gedankengut gei­

stig zu durchdringen und durch Einsichten aus

Leben, Wissenschaft und Kunst zu vertiefen." Die

Akademie ist damit - neben der ELEUSIS - eine

wichtige inhaltliche Säule des ORD.

In den fast 50 Jahren ihres Bestehens und in -bis Ende 2004 - insge­

samt 97 Tagungen hat die Akademie versucht, diesem hohen Anspruch

gerecht zu werden. Eine Fülle von oft recht unterschiedlichen Themen

wurden unter der Verantwortung von bisher sieben Akademie - Präsiden­

ten eingehend erörtert, wobei immer darauf geachtet wurde, dass ein

gewisser freimaurerischer Bezug sichtbar wurde.

Das Ritual selbst war dabei nur zum Teil Gegenstand der Arbeit in der

Akademie. Es wurde vielmehr versucht, die den Ritualen zugrundelie­

genden geistesgeschichtlichen Fragen zu erörtern und dabei zu unter­

suchen, auf welch vielfältige Weise das freimaurerische Ritual mit der

Entwicklung der Wissenschaften und dem Selbstverständnis des

Menschen als vernunftbegabtes Wesen in Einklang zu bringen ist.

Die Arbeit der Akademie ist eingebettet in einen rituellen Ablauf. Sie

folgt einem Zeremoniell, das die eigenständige freimaurerische

Geisteshaltung vergegenwärtigen soll, die in den Zusammenkünften

befördert werden soll.

Die Tätigkeit der Akademie heißt "Arbeit", weil ihre Teilnehmer

davon überzeugt sind, dass jeder Mensch kraft seiner geistigen

Fähigkeiten in der Lage ist, zur Selbsterkenntnis und zu vernünftigem

Handeln zu gelangen. Die auf der Akademie gehaltenen Vorträge wer­

den in der ELEUSIS veröffentlicht.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 95

Page 96: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

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Die Anfänge der Akademie

Vom 31.8.1956 bis zum 3.9.1956 trafen sich 36 Brr:. vorwiegend aus Niedersachsen , aber auch aus Berlin und Hamburg zu einer Freizeitarbeit in Osterode a. Harz unter der Federführung des damaligen Bezirksinspekteurs für Niedersachsen, Br.·. Hörstmann . Die inhaltliche Leitung übernahm Br:.( Dr.) Paul Ehmke, der eine Fülle von inhaltlichen Fragen aufgeworfen und dazu Stellung genommen hatte. Er forderte, dass die freimaurerische Arbeit mehr in die Breite und in die Tiefe gehen sollte und dass es besonders wichtig sei, die eigenständige freimaurerische Geisteshaltung deutlich zu machen. Die sich vollziehenden Änderungen in der Gesellschaft müssten auch von der Freimaurerei angepackt werden. Besondere Vorträge befassten sich mit den Aufgaben der Freimaurerei heute und der Bedeutung der Rituale gerade in der heutigen Zeit. In die­ser Arbeit kam man schließlich zu dem Schluss, dass viele der zu erörtern­den Fragen nur im Rahmen einer Akademie, die der Ritus einrichten soll­te, eingehend diskutiert und einer Lösung zugeführt werden könnten. Vor diesem Hintergrund wurde nun am 2.9.1956 das Gründungsproto­koll zur Errichtung einer Freimaurerischen Akademie von 9 Brr :. unter­zeichnet. Das Gründungsprotokoll wurde von dem Bewusstsein getragen, ,,dass Freimaurerei zu allen geistigen Problemen der Zeit, der Weltan­schauung, Jugend, Arbeit, Wirtschaft, sozialen Lage, Gesellschaft, dem Frieden, der Völkerbeziehungen, aus eigenständiger Geisteshaltung nicht nur Stellung nehmen muss, sondern sie auch kundzutun und zu verbrei­ten hat." Hierfür sollen Grundlagen gebildet „und diese immer wieder auf ihren Wert und ihre Gültigkeit im fortschreitenden Geist" geprüft werden. Zum ersten Akademie - Präsidenten wurde Br:. (Dr.) Paul Ehmke gewählt.

Überlegungen zur Gründung einer Freimaurerischen Akademie gab es allerdings schon vorher, allerdings zunächst im Rahmen der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGL).Ritusbrüder waren dabei von Anfang an vertreten, die zum Teil auch zum engeren Kreis des Collegium Masonicum gehörten. Bereits 1949 wurde der Entwurf einer Satzung der Deutschen Freimaurer - Akademie mit Sitz in Frankfurt am Main vorge­legt. Danach sollte die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen in eine deutsche Freimaurer Akademie mit dem Sitz in Frankfurt am Main unter dem Schutze der Vereinigten Großloge von

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

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Deutschland umgewandelt werden. Die deutsche Freimaurer - Akademie

sollte eine wissenschaftliche Institution sein, insbesondere mit dem Ziel

einer unabhängigen Forschung auf allen Gebieten der Freimaurerei und

ihren Grenzgebieten. Die Idee wurde von der VGL zunächst nicht weiter­

verfolgt, insbesondere von den Ritusbrüdern im inneren Kreis des

Collegium Masonicum aber weiter diskutiert. Schließlich forderte der

damalige erste Großkommandeur nach dem Zweiten Weltkrieg, Br:.

August Pauls, im Jahre 1956 die Gründung einer Akademie und beauf­

tragte Br:. Geier damit. Es fand ein Gespräch der Brr:. Ehmke,

Horneffer, Müss und Selter in Northeim statt, bei der als Tagungsort der

Freizeitarbeit und im Grunde der ersten Tagung der Freimaurerischen

Akademie Osterode a. Harz festgelegt wurde. Wegen seines plötzlichen

Todes konnte Br :.Pauls selbst an dieser Tagung nicht mehr teilnehmen.

Die ersten Jahre unter Br :.Paul Ehmke

Die Arbeit der Akademie wurde wesentlich geprägt durch Br :.Paul

Ehmke, der die Akademie insgesamt 15 Jahre leitete. Schon die zweite

Tagung, eigentlich die erste der neugegründeten Akademie stand gleich

unter zwei Generalthemen: einmal „Die Angst und ihre Überwindung"

und zum anderen „Erziehung als freimaurerische Aufgabe". Dieser

letztere Vortrag von Br :.Krippendorf war im Übrigen der erste auf

einer Akademie gehaltene Vortrag, der auch in der Eleusis veröffent­

licht wurde. In dieser Tagung wurden auch die Möglichkeiten einer

freimaurerischen Musterschule erörtert.

Viele Themen unter der Verantwortung von Br :.Paul Ehmke behandel­

ten Ritualfragen, aber auch Grundfragen der menschlichen Existenz,

so z.B. auf der Herbsttagung 1961 in Mannheim das Thema; ,,Über

Schicksal und Bedeutung des Menschen". Es wurden neben freimau­

rerischen Themen auch Themen aus Wirtschaft, Politik und Presse

behandelt. In den Anfängen gab es nicht immer ein Generalthema, oft

wurden verschiedene Themen nebeneinander behandelt. Aus der Fülle

der behandelten Bereiche seien u.a. genannt religiöse und kulturelle

Fragen auf der Frühjahrstagung 1963 in Osterode, Probleme der

Kybernetik auf der Frühjahrstagung 1964 ebenfalls in Osterode, um

das wissenschaftliche Weltbild und die Zivilisation auf der 20. Tagung

in Hamburg, um „Krise und Grundlagenforschung aus biologischer

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 97

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98

Sicht" auf der 21. Tagung im Herbst 1966 in Freudenstadt, ,,Gedanken zur Weltbruderkette" auf der Herbsttagung 1960 in Bonn,

die „Eigenständige freimaurerische Geisteshaltung" im Herbst 1962 in Köln, ,,Erziehung und Bildung für morgen" auf der Herbsttagung 1963 in Würzburg, um „Grundbegriffe der Freimaurerei" auf der 16. Tagung 1964 wiederum in Osterode, um den „Weg zu einer sozialen Neuordnung der Gesellschaft" oder um „Materie und Geist" im Herbst 1965 in Augsburg, ,,Freimaurerei und das zweite Vatikanum" auf der 20. Tagung in Hamburg, ,,Die eigenständige Geisteshaltung der Freimaurerei" sowie um „Herkunft und Entwicklung der Rituale"

oder den „Stellenwert der Rituale" im Frühjahr 1967 in Köln, z.T. auch im Herbst in Starnberg, oder auch um Beiträge zum ,,Selbstverständnis der Jugend heute" im Herbst 1968 in Saarbrücken.

Schon früh wurde der Vorschlag gemacht, die Basis der Akademie zu verbreitern, insbesondere über Deutschland hinaus. So nahmen bereits auf der Frühjahrstagung 1958 in Osterode die Präsidenten der Obersten Räte von Belgien und Holland teil. Auch mit Österreich und

Luxemburg wurde ein engerer Kontakt hergestellt. Versucht wurde auch, die Brüder der Großen Landesloge (FO) stärker einzubinden, was aber eher zurückhaltend aufgenommen wurde. Im Herbst 1963 und u.a. auch auf der 17. Tagung im Herbst 1964 in Bamberg wurde die Gründung einer Europäischen Freimaurerakademie diskutiert, die

zweimal jährlich junge Leute (auch Nichtfreimaurer) zu je 8 - 14tägi­

gen Kursen einladen sollte, um allgemeine Kulturfragen zu erörtern. Dazu sollten Wissenschaftler aller Richtungen verpflichtet werden.

Der Vorschlag wurde aber nach eingehender Diskussion vor allem wegen fehlender finanzieller Mittel nicht weiterverfolgt.

In engem Zusammenhang mit der Arbeit in der Akademie standen in den ersten Jahren auch Überlegungen zur Schaffung eines „Europa - Gymna­siums Gustav Stresemann". Hierzu wurde ein eigener Verein gegründet, der in der Regel immer im Zusammenhang mit den Akademie - Tagungen seine Mitgliederversammlungen abhielt. Im Jahr 1965 wurde der Verein, der zuletzt immerhin 201 Mitglieder zählte, liquidiert, weil er die erforder­lichen Mittel zur Errichtung und zum Unterhalt eines Gymnasiums nicht beschaffen konnte. Es wurden dabei auch immer wieder Überlegungen

75 Jahre A.· .A. · .S.· .R.·.

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angestellt, den Verein auf eine breitere Basis zu stellen, auch unter

Einbeziehung der Blauen Logen. Aber auch dies führte nicht zum Erfolg.

Die Akademie unter Br :.Fritz Bolle.

Am 9./ 10.10.1970 wurde Br:.Fritz Bolle als Nachfolger von Br:.Paul

Ehmke zum zweiten Präsidenten gewählt. Er hat allerdings schon von

Herbst 1969 an in Vertretung für den erkrankten Br :.Paul Ehmke die

Tagungen geleitet. Unter der Führung von Br :.Bolle begann man , jede

Tagung unter ein bestimmtes Generalthema zu stellen. Das übergeordne­

te Generalthema „Menschenbild und Menschenbildung" wurde gleich

auf vier aufeinanderfolgenden Akademien ,beginnend auf der 29.Tagung

1970 in Mannheim bis zur 32. Tagung im Frühjahr 1972 in Würzburg

eingehend diskutiert. Ein weiterer übergeordneter Bereich war das

Generalthema „Symbolik und Symbole" , das ebenfalls auf vier Tagungen

erörtert wurde, beginnend auf der 34. Akademie - Tagung im Frühjahr

1973 in Braunschweig bis zur 37. Tagung im November 1974 in

Wiesbaden. Die 38. Tagung im April 1975 in Hof, gleichzeitig die letzte

Tagung, die Br :.Bolle selbst leitete, befasste sich mit der sehr wichtigen

Frage nach Ziel und Bedeutung des Schottischen Ritus und der Frage,

warum wir Schottenbrüder sind. Die 39. Tagung im Herbst 1975 wurde

in Vertretung für Br:. Fritz Bolle von Br:. Rüdiger Hachtmann geleitet und

befasste sich mit den Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung.

Die Akademie unter Br :.Herbert Kessler

Am 12.3. 1976 wurde der damalige Großredner und spätere Souveräne

Großkommandeur, Br:. (Prof. Dr.) Herbert Kessler mit der Leitung der

Akademie betraut. Br:.Rüdiger Hachtmann wurde Vizepräsident. Seine

erste Tagung im Frühjahr 1976 befasste sich in der Nachfolge des Themas

der 39. Tagung mit dem Thema Freimaurerei und Gesellschaftsordnung

und dabei vor allem mit den Minderheiten in unserer Gesellschaft. Die

beiden folgenden Tagungen im Herbst 1976 in Mannheim und im

Frühjahr 1977 in Bad Nauheim befassten sich mit dem Themenbereich Selbstverwirklichung heute, einmal in Gesellschaft und Wissenschaft und

zum anderen im Schottischen Ritus. Auf der 43. Tagung im Herbst 1977

in Celle wurde dann das Thema Grundlagen unserer Gesellschafts­

ordnung erneut aufgegriffen, wobei auch die Bedeutung der Werte eine

besondere Rolle spielte. Die erste Tagung im Jahr 1978 in Augsburg be-

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 99

Page 100: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

100

fasste sich mit der Humanität und die beiden folgenden in Mannheim und

Dortmund mit dem Thema „Freimaurerei und Ethik", behandelt auch

aus der Sicht der einzelnen Grade. Die Herbsttagung 1979 in Bad

Schlangenbad befasste sich erstmals mit dem Generalthema Polarität, das

dann auch auf der 49. Tagung im Herbst 1980 in Königstein/ Ts. und auf

der 50. Tagung im Frühjahr 1981 in Hannover fortgesetzt wurde. Im

Frühjahr 1980 gab es eine eingeschränkte Tagung nur für Ritusbrüder, in

der eine kritische Analyse des Schottischen Ritus vorgenommen wurde,

weil in diesem Jahr der A:.A:.S:.R:. den SO. Jahrestag seiner Einsetzung

feierte. Für die 51. Tagung im Herbst 1981 in Karlsruhe und die darauf

folgende Tagung in Darmstadt wurde als Generalthema „Humanität und

Toleranz in der täglichen Praxis" gewählt.

Im Herbst 1982 in Essen befasste man sich mit den Stiftergestalten der

Menschheitskultur, bevor man sich dann ab .198 3 dem neuen

Generalthema „Königliche Kunst" zuwandte.

Die Akademie unter Br:. Wolfgang Weber

Am 3.3.1984 wurde Br:.( Prof. Dr.) Wolfgang Weber zum Präsidenten der

Freimaurerischen Akademie gewählt. Er leitete insgesamt 16 Tagungen,

wobei allerdings die beiden ersten Tagungen noch unter dem General­

thema Königliche Kunst standen und z. T. noch von Br.·. Herbert Kessler

vorbereitet wurden. Im Präsidium waren Br:.Horst Döre, Br:.Alfried

Lehner und die Brr:. Hans Nicolaus und Ralf Hallemann vertreten.

Eingehend diskutiert wurden während der Amtszeit von Br.·. Wolfgang

Weber insgesamt vier Generalthemen. Die 58. und 59. Tagung in

Mannheim und Goslar, die beiden Tagungen 1986 in Augsburg und

Lübeck und auch die Frühjahrstagung 1987 in Stuttgart befassten sich

mit dem Thema „Die Zukunft des Menschen - Befürchtungen, Prog­nosen, Hoffnungen". Die 58. Tagung behandelte dabei vor allem

medizinisch - psychosomatische Aspekte, die 59. Tagung philoso­

phisch- ethische Fragen, die 60. Tagung sah ihren Schwerpunkt mehr

im Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Auf der 61. Tagung in

Lübeck wurde das Generalthema mit einem Vortrag über „Die

Zukunft der Arbeitswelt" fortgeführt. Außerdem wurde über den

Gehalt der Rituale gesprochen.

75 Jahre A. · .A. · .S.· .R. ·.

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Im Mittelpunkt der Herbsttagung 1987 in Hannover, der beiden Tagun­

gen 1988 in Münster und Bad Dürkheim und der Frühjahrstagung 1989

in Würzburg stand das Generalthema „Die Freimaurerischen Pflichten".

Es gab hierzu eine Fülle von historischen, philosophischen theoretisch

- analytischen, aber auch lebenspraktischen Vorträgen. Die 63. Tagung

in Bad Dürkheim wurde zusammen mit dem Forum Masonicum

durchgeführt.

Die folgenden Tagungen in Lüneburg, Konstanz, Hannover, Köln und

Hof waren dem Generalthema „Freimaurerei und Aufklärung" gewid­

met. Es wurden eine Fülle von historischen, philosophischen, aber

auch zeitkritischen Fragen erörtert, wobei auch die Fortsetzung der

Aufklärung und die geistigen Anstrengungen zu einer „Neuen

Aufklärung" eine Rolle spielten.

Im Jahre 1988 legte Br:.Wolfgang Weber Vorschläge zur Ergänzung

der Struktur der Freimaurerischen Akademie vor, die auch im ORD

beraten wurden. Es ging u.a. um eine Verbreiterung der Basis der

Akademie, eine Erhöhung der Wirksamkeit durch Schaffung eines

Kuratoriums aus hochrangigen Persönlichkeiten der Freimaurerei und

des öffentlichen Lebens. Er ließ eine eigene Medaille des Obersten

Rates prägen für besonders aktive Mitglieder der Akademie, insbeson­

dere aus dem Ausland. Vorgeschlagen wurde auch eine neue

Rechtsform, z.B. ein eingetragener Verein oder eine Stiftung , in die

Mitglieder berufen werden sollten. Nach eingehender Diskussion kam

man jedoch überein, es bei der bisherigen Struktur zu belassen.

Die Akademie unter Br:. Vox Vogeler

Als fünfter Akademiepräsident wurde Br:.Vox Vogeler 1992 gewählt.

Die 72.Tagung im Frühjahr 1992 in Wiesbaden wurde schon von

Br:. Vox Vogeler geleitet, obwohl er noch nicht offiziell gewählt war. Es

gab kein besonderes Generalthema. Es wurde über verschiedene Themen gesprochen, u.a. über Esoterik, Aufklärung oder die

Beschäftigung mit dem Tod im Leben. Die beiden folgenden Tagungen,

im Herbst 1992 in Weimar und im Frühjahr 1993 in Karlsruhe standen

unter dem Generalthema „ Was Menschen trennt - was Menschen ver­

bindet". In den folgenden Tagungen, im Herbst 1993 in Bad

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Page 102: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

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Lauterberg/Osterode a. Harz und später in Lüneburg, Fürth, Darmstadt und Köln standen vor allem zwei Generalthemen im Vordergrund „Erziehung und Bildung als Ethos der gesellschaftlichen Kultur" und ,,Ursachen kultureller Umbrüche". Dabei wurden auch Themen behan­delt wie „Die Freimaurerische Tugendlehre als Verhaltenskodex", Die Toleranzlehre als Ordnungsprinzip der Gesellschaft", ,,Bildung ohne Wegweisung", ,,Praxis der deutschen Bildungspolitik", ,,Freimaurerisches Handeln als Forderung des Sittengesetzes" oder „Methoden der Bewusstseinsbildung durch rituelle Arbeit".

Unter Vorsitz von Br:. Vox Vogeler wurde erstmals auch ein besonde­res Ritual für Öffnung und Schließung des Forums der Akademie und auch der Matinee zugrunde gelegt. Im Jahr 1994 wurde erstmals auch eine sehr detaillierte Geschäftsordnung vorgelegt, in der die Grundlagen der Akademie im Einzelnen dargestellt und die Aufgaben der Präsidiumsmitglieder beschrieben wurden.

Die Akademie unter Br.·. Alfred Schmidt

Mit Beginn des Jahres 1996 übernahm Br:. (Prof. Dr.) Alfred Schmidt die Leitung der Akademie Zum Vorstand gehörten die Brr:. (Dr.) Werner Boppel, Heinz Thoma und (Dr.) Roland Hanke. Von vorneherein zielte die Arbeit der Akademie unter der Leitung von Br :.Alfred Schmidt darauf ab, das aus dem 18. Jahrhundert stammende Grundvokabular der Freimaurerei angesichts des historischen Wandels auf seine heutige Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Nicht das Ritual als sol­ches war Gegenstand der Diskussion, sondern seine tragenden Begriffe. Ein modernes Verständnis von Freimaurerei soll das Verständnis von Moral und Natur zeitgemäß neu bestimmen. Vor diesem Hintergrund widmeten sich die ersten Tagungen einer Klärung der Grund­positionen der Aufklärung. Im Zentrum dieser Philosophie standen die Kategorien Toleranz, Sittengesetz, Fortschritt, Vervollkommnung und moralische Bestimmung des Menschengeschlechts. Die 80. Tagung im Frühjahr 1996 in Hannover stand unter dem Generalthema: ,,Die Entzauberung der Welt - vom Mythos zum Logos". Dieses Thema sollte auch eine Fortführung des im Frühjahr 1995 in Darmstadt erörterten Generalthemas „Konturen einer neuen

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 103: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Aufklärung" darstellen . Es wurde dargestellt, wie - ausgehend von

Kepler, Galilei, Bacon und Newton - die Wegbereiter des modernen

naturwissenschaftlichen Denkens mit zunehmender Naturbeherrschung

die Befreiung des Menschen aus der Befangenheit in mythologischen

Naturverklärungen leisten wollten.

Generalthema der Herbsttagung 1996 in Bayreuth war die Frage nach

dem Fortschritt. Die Referenten stellten die Philosophen der deutschen

und der französischen Aufklärung vor sowie die maßgeblichen

Vertreter europäischer Naturforschung und den Begriff des Fortschritts

in den Geschichtswissenschaften. Es wurde deutlich, dass die

Vorstellung eines materiellen geistigen und moralischen Fortschreitens

der Menschheit zu den Grundüberzeugungen der Aufklärung gehörte.

Um die Bedeutung der Religion im Selbstverständnis des modernen

Menschen ging es bei der 82. Tagung in Ettlingen mit dem Thema:

„Religiöses Bewusstsein heute". Religiöse Bezüge - so das Resümee

der Tagung - verweisen auf ein elementares religiöses Bedürfnis der

Menschen, und die große Spannweite der Sinnsuche und Sinngebung

lässt sich auf dieses Bedürfnis zurückführen. Religion erweist sich

damit als wesentlich mit der Natur des Menschen verbunden. Die

Tagung stellte auch die systematischen Zusammenhänge zwischen

Moralphilosophie und säkularisierter Religion heraus.

Diesen säkularen Formen widmete sich dann die 83. Tagung im Herbst

1997 in Frankfurt/M. mit dem Thema: ,,Sittliche Normen und ihre

Begründung." Dabei ging es auch um das Verhältnis von Rechtsnormen

und ethischen Normen und auch um die Gedanken einer materiellen

Wertethik, wie sie Max Scheler vor rund 100 Jahren entwickelt hatte.

Auf der Frühjahrstagung 1998 in Schleswig standen die „Geistigen

Wurzeln der Freimaurerei" im Mittelpunkt. Sie beschäftigte sich mit

der Besonderheit, dass Freimaurerei weder eine Religion noch eine

bestimmte Morallehre darstellt, dass sie aber gleichwohl die wesent­

lichen Impulse europäischer Religion einerseits sowie den bedeutend­

sten Lehren von einem moralisch Guten im philosophischen Sinn andererseits in sich aufgehoben weiß.

Auf der folgenden Tagung in Frankfurt ging es schließlich um die

„Geistigen Wurzeln des Schottischen Ritus". Anders als die Wurzeln

der „blauen Maurerei" zeigen die Ursprünge der „roten Maurerei"

einen stärker ausgeprägten naturphilosophischen Charakter.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 103

Page 104: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

104

Die 86. Tagung im Frühjahr 1999 in Berlin befasste sich - dem genius loci folgend - mit der Aufklärung in Preußen, auch mit den Berliner Aufklärern sowie mit Friedrich II. und Voltaire. Er wurde der Frage nachgegangen, was Aufklärung wirklich ist. Insgesamt gab die Tagung der Überzeugung neue Impulse, dass Aufklärung ein prinzipiell unabschließbarer Prozess ist. Die Herbsttagung 1999 in Frankfurt ging der Frage nach dem Verhältnis der Freimaurerei zur Natur nach mit dem Generalthema: „ Von der Physis zum Rohmaterial". Um zu zeigen, dass Natur nicht per se eine Gegenposition zur Moral impliziert, verfolgten die Referate den Weg vom mythischen Naturdenken zum wissenschaftlichen Naturbegriff. Dabei wurde sichtbar, dass Natur hin und wieder selbst normative Kraft für das Handeln gewinnen kann. Die 88. Akademietagung im Frühjahr 2000 in Bielefeld befasste sich mit den „Perspektiven der Freimaurerei im 21. Jahrhundert". Selbst wenn die Freimaurerei als Institution insgesamt von dem Säkularisierungsprozess keine Vorteile für sich hat ziehen können, ist die Freimaurerei gerade wegen ihrer Ritualistik von großer Bedeutung. Für den Herbst des Jahres 2000 in Frankfurt hat die Akademie anläss­lich des 100. Todestages Friedrich Nietzsches dessen radikale Kritik an der Moralistik zum Thema gewählt. Die Akademietagungen im Jahr 2001, die 90. Akademie in Augsburg mit dem Generalthema „Begriff und Theorie des Vorurteils" und die Herbst­tagung in Frankfurt mit dem Thema „Was ist Fundamentalismus?" be­fassten sich letztlich auch mit der Frage des nicht abgeschlossenen Prozesses der Aufklärung und der Humanisierung des Menschen sowie mit Religionsphilosophie . Vorurteil und Fundamentalismus entspringen letzt­lich der Neigung des Menschen nach festen, unveränderlichen Normen. Der Freimaurerei fällt auch die Aufgabe zu, verhärtete Denkformen aufzu­lösen und dadurch der niemals völlig aufzulösenden Tendenz zu Vorurteil und Fundamentalismus einen Teil ihrer zerstörerischen Kraft zu nehmen.

Die Akademie heute

Seit Anfang 2002 wird die Akademie von Br:. (Dr.) Werner Boppel gelei­tet. Dem Präsidium gehören weiter an die Brr. ( Dr. ) Klaus - Jürgen Grün, Reinhold Bendel und (Dr.) Roland Hanke, bzw. ab 2005

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 105: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Br.·. Heinrich Borger an. Die Akademie greift nun verstärkt, aktuelle und

auch gesellschaftspolitische Themen auf, ohne dabei aber den Bezug zur

Freimaurerei aus dem Auge zu verlieren. Die 92. Tagung im April 2002

in Magdeburg befasste sich mit dem Generalthema „ Toleranz - Utopie

und Wirklichkeit einer ethischen Forderung" Erörtert wurden im

Einzelnen der Begriff der Toleranz in seiner zeitgeschichtlichen

Entwicklung, die rechtliche und soziale Umsetzung der Forderung nach

Toleranz und die Ausdrucksformen der Toleranz in der Freimaurerei.

Die Herbsttagung in Düsseldorf stand unter dem Generalthema „Der

Mensch zwischen Materie und Geist". Deutlich gemacht wurde die

Komplexität und Bedeutungsvielfalt beider Begriffe, ihre Gegensätze,

aber auch ihre Gemeinsamkeiten, wobei auch die Erkenntnisse der

Hirnforschung eine Rolle spielten.

Die 94. Tagung im Frühjahr 2003 in Dresden hatte als Generalthema

,,Verfügbarkeit über Leben und Tod", ein hochaktuelles Thema gera­

de vor dem Hintergrund, dass Leben und Tod auch vor dem

Hintergrund der modernen Genforschung vielfach neu abgegrenzt

werden. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob und inwieweit

Moral und Ethik neu definiert werden müssen. Die Herbsttagung

2003 in Fürth befasste sich dann - sehr aktuell - mit dem Thema

,, Globalisierung - Chancen und Risiken". Globalisierung, für Wirt­

schaft und Finanzwelt heute eine Selbstverständlichkeit, hat auch auf

die Gesellschaft erhebliche Auswirkungen. Ganz wichtig ist auch,

welche Antworten die Freimaurerei als weltumspannender Bruder­

bund geben kann.

Auf der 96. Tagung im Frühjahr 2004 in Rostock und auf der Herbst­

tagung in Celle standen mit: ,,Der Islam in Geschichte und Gegenwart"

und: ,,Gibt es einen Kampf der Kulturen?" ebenfalls zwei sehr aktuelle

Themen im Vordergrund. Unabhängig von dem zunehmenden Funda­

mentalismus im Islam ist es für die Freimaurerei wichtig zu erkennen, welche Berührungspunkte es gibt, worin die Natur des Islam begründet

ist und wie die Fanatisierung seiner Anhänger zu erklären ist. Dabei

spielt auch die Frage eine Rolle, ob der Beginn des 21. Jahrhunderts

weniger von politischen oder wirtschaftlichen Auseinandersetzungen

bestimmt wird, sondern vom Kampf der Kulturen.

75 Jahre A. · .A. · .S. ·.R. ·. 105

Page 106: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

106

Arbeitskreis für die Schwestern

Die Tagungen der Freimaurerischen Akademie sind keine öffentlichen

Veranstaltungen, sondern für Brüder gedacht und auf der Grundlage

der freimaurerischen Ideale einer besonderen Zielsetzung verpflichtet.

Da die Tagungen von Anfang an ein breites Interesse fanden, stellte

sich die Frage, was die wachsende Zahl von Frauen unternehmen soll­

te, die ihre Männer zu diesen Tagungen begleiteten. Am Anfang waren

die Frauen auf sich selbst gestellt bzw. auf die Gastfreundschaft der

Schwestern der örtlichen Loge angewiesen. Auf der 15. Tagung im

Herbst 1963 in Würzburg gab es zum ersten Mal ein verbindliches

Programm für die Schwestern. Dies lag zunächst in den Händen der

jeweils gastgebenden Loge, die die Aufgabe der Programmgestaltung

für die anwesenden Schwestern übernommen hatte. Schon bald kam

aber der Wunsch auf, aus dem Kreis der Schwestern heraus zu bestim­

men, in welcher Form sie sich zusammenfinden wollten.

Erste Überlegungen hierzu gab es von Schw :. Ruthild Carola Brücker

schon 1968. Br :.Paul Ehmke war von dieser Idee begeistert und erteil­

te Schw :.Brücker den Auftrag, ein Konzept zu erstellen. Anlässlich der

27. Tagung im Herbst 1969 in Darmstadt hielt Schw:.Ruthild Brücker

zum ersten Mal ein Referat „ Über die Gestaltung eines Programms für

die Schwestern bei zukünftigen Akademietagungen". Nach eingehen­

der Aussprache , bei der es auch erhebliche Einwände gegen den

Vorschlag gab, wurde schließlich der Beschluss gefasst, es einmal zu

versuchen. Von der 28. Tagung in Hannover an gab es dann ein

„Programm für die Schwestern", als Beilage zur Einladung oder auf

der Rückseite der Einladung. Von der 40. Tagung an im Frühjahr

1976 gab es einen „Arbeitskreis für die Schwestern", mit einem - wie

es nun heißt: ,, Vortragsprogramm für die Damen".

Es wurden in den nunmehr fast 35 Jahren ihres Bestehens auch von den Frauen eine Fülle sehr anspruchsvoller Vorträge gehalten, ange­

fangen von einem Vortrag über "Tradition und Wandel der Frau in

unserer Gesellschaft", über „ Gedanken über die Erziehung" oder „

Wege zu einer menschenwürdigen Gesellschaft" bis hin zu Leitthemen

wie „Angst", ,,Zeit" oder „Begegnung mit fremden Kulturen".

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 107: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Die ELEUSIS

Br:.Hans-Udo Wolf, 33°

Die ELEUSIS ist seit 1952 ein Organ des

A:.A:.S:.R: .. Sie erscheint derzeit in einer

Auflage von 2300 Exemplaren. Von Beginn an

sollte die ELEUSIS als Forum einer lebendigen,

geistigen Auseinandersetzung unter den Brüdern des Ordens dienen. In

den Beiträgen und Aufsätzen repräsentiert sich das gesamte Spektrum

der im freimaurerischen Geist verbundenen Brüder. Wird die ELEUSIS

von allen Brüdern gelesen? Regen die Themen dazu an, eigene

Geistesarbeit zu initiieren? Das bleibt den engagierten, ehrenamtlich

wirkenden Redakteuren weitgehend verborgen. Mit Zuschriften zu den

Beiträgen hielten und halten sich die Leser sehr zurück. Nach der

Präambel auf Seite 2 der ELEUSIS und den Zielen des A:.A:.S:.R:.

der Konstitution, bedeutet aber die Stellungnahme zu den Themen

einen unverzichtbaren Bestandteil des brüderlichen Dialogs über das

eigene Atelier hinaus.

Vorgängerschrift der ELEUSIS

Im Jubiläumsjahr (75 Jahre des A:.A:.S:.R:. in Deutschland)

erscheinen wieder 6 Hefte des 60. Jahrganges. Das war nicht immer

so. Mit Datum vom 15. Mai 1931 erschien die Nr. 1 des 1. Jahrganges

im DIN-A4 Format als „Mitteilungen des Obersten Rates für Deutsch­

land". Die wichtigsten Beschlüsse und bedeutendsten Vorkommnisse

im Schottischen Ritus sollten den Brüdern bekannt gemacht werden.

„Veröffentlichungen jeder Art ziehen den sofortigen Ausschluss aus

dem Schottischen Ritus nach sich," so der warnende Hinweis unter

dem Doppeladler. Solche Arkandisziplin wurde bis in die 60er Jahre

von den Mitgliedern erwartet.

Die letzte Ausgabe der Mitteilungen erschien als 3. Jahrgang Nr. 5 am 15.

Dezember 1932. Damit ruhte das Blatt 16 Jahre lang bis am 15. Juni 1949

die Nr. 1 im 4. Jahrgang die Information für die Brüder wieder aufnahm.

Der SGK, Br :.August Pauls, eröffnete mit einem historischen Rück­

blick das Wiederaufleben des SR in Deutschland. In Folge der

75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·. 107

Page 108: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

108

Ausgaben stellten Brüder, die im Laufe der Jahre auch unter der Liste

der Redakteure zu finden sind, ihre Gedanken zur vertiefenden

Ritualarbeit zur Diskussion.

Die Seiten fortlaufend nummeriert, schloss die Ausgabe Nr. S des 6.

Jahrganges am 15. Dezember 1951 auf Seite 155 mit dem Hinweis „An

unsere Leser", dass ab 1952 „unsere Hochgradzeitschrift" im Oktav­

Format unter dem Titel „ELEUSIS" als Organ des Deutschen Obersten

Rates der Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen

Ritus erscheint. Für die Schriftleitung zeichneten Br :.August Pauls

(SGK) und Br:.Robert Bley (Gen:.Gr:.Kanzler) verantwortlich.

Die Vorgängerausgaben wurden im Jahr 2000 vom Br :.Falk

Reckelkamm als Reprint elektronisch erfasst. Sie können im

Sekretariat erworben werden. Nicht nur aus historischem Interesse

sind die Mitteilungen lesenswert. Die starken Persönlichkeiten der

ersten Jahre vermitteln die geistige Energie der Gründer und der

Nachkriegsbrüder, die ganz von vorn beginnen mussten.

Die Entwicklung der ELEUSIS

Mit der Ausgabe 6/1995 - SO Jahre ELEUSIS - haben Br:. Vox Vogeler

„Die ersten 25 Jahre" und Br:. Herbert Kessler, späterer SGK, ,,Die

zweiten 25 Jahre" der Zeitschrift ELEUSIS mit Anspruch und Wirkung

dargestellt. Diese Aufsätze sollen weder inhaltlich wiederholt noch

ergänzt werden. Sie zeigen uns einmal mehr, welche leitenden Interessen

mit der Herausgabe der Zeitschrift verknüpft waren und sind.

Die ausgewählten Beiträge sind oft auch ein Spiegelbild der

Intentionen der Redakteure, steht ihnen doch ein Vielfaches an Texten

aus den Arbeiten der Mitglieder zur Verfügung.

Als derzeitiger Redakteur mit der Erfahrung aus 6 Jahren Redaktions­

arbeit und dem jährlichen Lesepensum von ca. 180 Arbeiten plus

Vorträgen der Freimaurerischen Akademie und vieler eingereichter

Zeichnungen, fällt es mir schwer, mit hochtrabenden Worten die ELEU­

SIS zu bewerten. Dies mögen andere tun, denen das Lesen der ELEUSIS

auf ihrem eigenen freimaurerischen Weg Anstöße, Anregungen und

Vertiefungen ihrer geistigen und spirituellen Ausbildung geben.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 109: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Übergang von den

.Amtlichen Mitteilungen

zur ELEUSIS

ELEUSIS Organ des

Deutschen Obersten Rats der Freimaurer

des Allen und Angenommenen Schottischen Ritus

VII. Jahrgang Nr. 1 · Januar/Februar 1952

109

75 Jahre A.·.A:.S.·.R.·.

Page 110: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

110

Nach meiner Überzeugung, auch gewachsen in den ersten Jahrzehnten meiner Ritusmitgliedschaft, in der mir die Lektüre der ELEUSIS

Richtung und Impuls zu eigener Denkarbeit und Bewusstseinsbildung war, ersetzt die ELEUSIS nicht den erforderlichen Dialog mit dem gleichgesinnten Bruder.

Je näher die Thematik an die realen Bedingungen der Gesellschaft

rückt, desto wichtiger ist der Dialog zwischen den Brüdern. Wohl wis­send, dass jeder geschriebene Satz nur Theorie ist, hoffen wir auf die Aktivität des Einzelnen, die Gesellschaft durch die Tat zu verändern.

An Arbeiten mit Konzepten zur grundlegenden Veränderung der

Gesellschaft auf vier bis sechs Seiten dargestellt, mangelt es nicht,

ebenso an Aufsätzen, in denen die Floskeln „wir müssen" und „nur so geht es" in jedem Absatz auftauchen.

Es mag eine Zeiterscheinung sein, die Welten möglichst umgehend und grundlegend zu „reformieren", wobei wohl keiner so recht weiß, zu welcher Form die Lebenshaltungen zurückgeführt werden sollen. Mir scheinen da Rückbesinnungen auf vormaterialistische Zeiten und die Ausbildung spiritueller Eigenschaften vordringlicher.

Provokatorische Aufrufe zur Störung herrschender Machtstrukturen lese ich aus einigen Beiträgen heraus ebenso wie Forderungen nach kollektiven Einflussnahmen auf die sozio-politischen Verhältnisse

durch die Amtsträger der Großlogen und der Ratsversammlung.

Beide Ansätze sind m. E. nicht freimaurerisch, weil sie zu Ideologien und Dogmatisierungen führen, die dem Verständnis von „sowohl als

auch" zuwider laufen.

Gestalt und Umfang der ELEUSIS?

Auffällig in den Ausgaben seit 1952 bis heute ist der geringe Anteil an grafischen Darstellungen. Von einigen Porträts der amtierenden Großkommandeure und Fotos abgesehen, erfolgt die Kommunikation nur über die Schrift. Es ist sicher auch eine Kostenfrage.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 111: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Der Jahresseitenumfang von 200 Seiten im Jahr 1952 steigerte sich bis

1965 auf 323 Seiten in vier bis fünf Heften pro Jahr. Neu ab diesem

Jahr war ein Inhaltsverzeichnis auf der Kartonumschlagseite (schlecht

lesbar) und das regelmäßige Erscheinen von 6 Heften. Der

Seitenumfang erreichte 1981 die max. Höhe von 504 Seiten.

Die Verbreitung der ELEUSIS auch an Nichtmitglieder des Ordens

wurde durch einen Beschluss 1963 gestoppt und so konnten wieder

Kundmachungen, Arbeitstermine und sonstige Informationen einge­

fügt werden. Eine der lnternas zum Stand 1965: 78 Ateliers und 2

ruhende in Breslau.

Möglicherweise im Widerstreit mit Auffassungen aus den symboli­

schen Logen oder der gebotenen Arkantreue wechselte das Angebot

für oder nicht nur für Ritusbrüder. In 5/93 wird von der Herbstsitzung

des DOR berichtet, dass „zukünftig die ELEUSIS wieder eine

Zeitschrift für Ritusbrüder sein wird und den Brüdern Meistern der

Blauen Logen nicht mehr zugänglich sein soll". Vorher stand im

Impressum: ,,Brr :.Johannismeister können die ELEUSIS abonnieren."

Nach heutiger Auffassung scheint die ELEUSIS geeignet zu sein, allen

Brüdern Freimaurern als Brevier geistiger Arbeit zu dienen. Per Anzeigen

wird in freimaurerischen Publikationen um Abonnenten geworben.

Die Redaktion hat dieses konzeptionell bei der Auswahl der Beiträge

zu berücksichtigen. Dieses lässt sich leicht bewältigen, weil gradbeglei­

tende Hefte mit ritualbezogenen Erläuterungen und Lehrgespräche zu

den einzelnen Graden den beförderten Brüdern überreicht werden.

Diese Hefte sind als Schriftenreihe bekannt.

Ein abschließender Blick auf die Entwicklung der Jahresseitentabelle

gibt Kenntnis von einer Reduzierung auf ca. 320 Seiten in 5 Ausgaben

pro Jahr, die bis Ende 1993 eingehalten wurde.

Mit der Ausgabe 1/1994 begann eine umwälzende Erscheinungsweise,

die noch heute die ELEUSIS kennzeichnet. Format und Layout, zwei­

spaltig mit Vorspann und Zwischenüberschriften kommt dem zeitge-

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 111

Page 112: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

112

mäßen Leseverhalten der Leser entgegen. Dies verdanken wir der Kreativität und dem verlegerischen Know How unseres Brs:.Hubert V. Kopp, der als SGK nicht nur in dieser Weise richtungsweisendeImpulse gab. Seit 1/1994 erscheint die ELEUSIS wieder in 6 Ausgabenim Umfang von ca. 290 Jahresseiten.

Inhaltliche Festlegungen

Konzeptionell erfolgte mit der Übernahme der Schriftleitung durch den jetzigen Redakteur im Laufe des Jahres 1998 wieder die Ausweitung des Leserkreises auf die Johannismeister und ausgewählte Profane (Bibliotheken).

Die Vorträge der Freimaurerischen Akademie, ausgewählte Beförde­rungsarbeiten und Zeichnungen aus den Ateliers machen die ELEUSIS zu einer Zeitschrift zur Kultur aus freimaurerischer Geisteshaltung. Die Themen folgen damit der Präambel, die der Konstitution vorangestellt ist.

Bereits im Heft 3/1957 hatte die Schriftleitung Handlungsmaximen des DOR auf die Umschlagseite genommen, die bis 1963 abgedruckt wurden. Darauf entfielen sie bis 1/1971, bis die Präambel der Konstitution dafür eingesetzt wurde, allerdings nur bis Ende 1975.

Erst wieder mit der neuen Gestalt der ELEUSIS 1994 erschien sie wie­der, wurde aber ab 5/1994 in dem Absatz von der „Umsetzung" vom Redakteur verändert, wo es heißt: ,, ... und zur Mitgestaltung der Gesellschaft" mit der Satzendung: ,, ... zum Wohle unseres Vaterlandes und seiner Bürger" versehen. Diese Formulierung führte in der Bruderschaft zu heftigen Reaktionen, insbesondere in den Grenzgebieten im Westen Deutschlands.

Die Präambel wurde Ende 1998 herausgenommen und ab 4/2003 erschien sie zur Zufriedenheit der Leser in der vorherigen Fassung von 1994, wie sie auch heute von der Ratsversammlung akzeptiert wird.

Dieses Beispiel zeigt, wie sorgfältig mit Setzungen und Programmen umgegangen werden muss. Ein früheres Beispiel von 1987, wo der

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 113: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

hoch geachtete SGK Br:.Kurt Hendrikson unter „Ein Schottenkodex"

Thesen über „Normen der eigenständigen Geisteshaltung" veröffent­

lichte, führte ebenso zu heftigen Diskussionen, die bis in die Blauen

Logen reichten. Zwei Jahre danach haben verschiedene Autoren in der

ELEUSIS ausgleichend Stellung zum „Schottenkodex" bezogen.

Die Frage nach dem Niveau der ELEUSIS ist ambivalent zu beantwor­

ten. Erwarten einige Brüder Beiträge rein philosophischer Qualität

und Güte, so bevorzugen andere Brüder lebensnahe populäre Themen

zur Anwendung in eigenen Lebensstrategien.

Im Laufe der fast 4o Jahre Freimaurerische Akademie - die erste fand

im Mai 1957 statt- haben deren Präsidenten versucht, ihrem Selbstver­

ständnis vom Freimaurertum entsprechend, die Generalthemen durch

Referenten von außen (Universitäten) und innen (Brüder) dem gleichen

Anspruch gerecht zu werden. (s. auch Beitrag von Br:. W. Boppel)

Die ELEUSIS hatte zeitweise nur einzelne Vorträge aufgenommen, eine

Zeit lang mit je eigenen Redaktionen Akademie- und Atelierausgaben

herausgegeben. Der heutige Leser kann davon ausgehen, die Vorträge,

wenn auch erforderlich redigiert, in der ELEUSIS zu finden.

Auswahl der Beiträge

Soweit die Vorträge der Akademie ein oder zwei Hefte pro Jahr bean­

spruchen, liegen für die restlichen Hefte aus der Vielzahl der eingereich­

ten Beförderungsarbeiten und Zeichnungen aus den Ateliers, weit mehr

als es die zur Verfügung stehenden Seiten zulassen, gute Arbeiten vor.

Dennoch gelingt es nur sehr selten, Themenhefte zu konzipieren. Auch

haben die mehrfach in den zurückliegenden Jahren empfohlenen

Ansätze, mit Jahresthemen in den Ateliers zu operieren, fehlgeschla­

gen, von einigen Atelierverbünden abgesehen.

Somit gilt es, verschiedene Tendenzen zu erkennen und auf mehreren

Ebenen anzusetzen, da die Beiträge auch den Entwicklungsgang des

Bruders von Grad zu Grad ausweisen.

75 Jahre A.·.A.· .S.·.R.·. 113

Page 114: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

114

Die heutige Erscheinungs­form der ELEUS/S

Die .Asymptotische Annäherung des Menschen an die VervoIIkomn,_

nung als Erfüllung seines Mandats" hat der A. u. EG!( Br:.Kurt

Hendrikson sein Bucl, .Freimaurerische Lebenskunst" untertite/t und

bringt damit auch <lie Intention des Redakteu,s der ELEUsrs au/ den

Punkt.

Aus- und abgewogen in zeitgemäßem Denken für eine freimaurerische

Geisteshaltung, Entwicklung des Menschengeistes und die Teilhabe

am Geistesstrom in Vergangenheit und Gegenwart kann dem ernsthaft

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 115: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Suchenden auf der Grundlage des Sozial-Ethischen der Symbolischen

Loge vertiefend und dabei geistig freiwerdend zu den Wurzeln des

Glaubens zurückfinden.

Dies ist humanitär und konfessionsfrei zu verstehen, aber weit vor den

rationalistischen Materialismus zurückgehend, um „die im Menschen

angelegte Fähigkeit der spirituellen Hinwendung zu einem höheren

Sein" (Br :.H. Kopp) zu entwickeln.

Die Redakteure der ELEUSIS

Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes ist allemal der Herausgeber

und das ist der jeweils amtierende SGK. Mit Beginn der ELEUSIS-Reihe

versah der SGK Br :.August Pauls noch selbst die Schriftleitung zusam­

men mit GK Br:. Robert Bley. Aber mit dem Veröffentlichen von

Arbeiten aus dem Bruderkreis übernahmen dann auch andere Brr:. der

Ratsversammlung die zeitintensive Arbeit. Sie wird von allen in „ehren­

amtlicher" Weise unter Opferung von Tag- und Nachtstunden ausgefüllt.

Mehr als es heute unter Zuhilfenahme aller elektronischen Komponenten

der modernen Kommunikationstechnik, wie Scanner, PC, Internet arbeits­

vereinfachend möglich ist, muss das Engagement der früheren Brr :. hoch

gelobt werden. Bis der Text für den Umbruch reif war, waren viele Stun­

den des Redigierens, Schreibens und mehrfachen Korrekturlesens not­

wendig gewesen. So waren es auch immer zwei und mehr Brr:., die, wie

bereits erwähnt, bis zu 500 Jahresseiten fertig stellten. Auch war es sicher

eine Kostenfrage, Schreibkräfte für die Texterfassung zu unterhalten.

Bis 1992 ist es auffällig, dass dennoch die Redakteure über längere

Zeiträume diese Arbeit leisteten als danach. Zu den Redakteuren mit

den längsten Dienstzeiten zählen: (Dr.) Br:.Adolph Seeger (12 Jahre),

Br:.Fritz Hajek (12 Jahre) und Br:.Fritz Bolle (14 Jahre).

So, wie Letzterer am 08.04.1982 74-jährig in den E:.0:. einging und

ihm unmittelbar damit die „Schrift-Werkzeuge" aus der Hand genom­

men wurden, haben 6 weitere Redakteure hochbetagt, 73- bis 83-jäh­

rig, bis zu ihrem Tode die Redaktionstätigkeit ausgeführt. Achtungs­

voll würdigen wir die 20 Redakteure durch Nennung ihrer Namen:

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 115

Page 116: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

116

Br:.(Dr.) August Pauls,

Br :.Robert Bley,

Br:. (Dr.) Kurt Krippendorf,

Br:. (Dr.) Emil Selter,

Br:. (Dr.) Adolph Seeger,

Br :.Fritz Hajek,

Br:. (Dr.) Helmut Eichardt,

Br :.Fritz Bolle,

Br.·. Günther Bergemann,

Br:. Wolfgang Brachvogel,

Br:. (Dr.) Herbert Kessler,

Br:. Wolfgang Voges,

Br:. (Dr.) Hans-J. Nicolaus,

Br:. Alfried Lehner,

Br:. Gerhard Adam,

Br:. Thomas Richert,

Br:. Lothar Schneider,

Br:. Vox G. Vogeler,

Br:. Rüdiger Oppers,

Br:. Ulrich Wolfgang.

Gleichwohl sind die Brr :. in die Reminiszenz eingeschlossen, die mit im

Impressum genannt, aber im Stillen wichtige Zuarbeit leisteten. Es

sind die Verlagssekretäre und helfenden Brr :. , die für den Versand, die

Abrechnung, den zusätzlichen Verkauf und insbesondere für die

Adressenpflege ihren zeitlichen und fachlichen Anteil einbrachten.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R. ·.

Page 117: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Die Schriftenreihe des Schottischen Ritus in Deutschland

Br:. Thomas Richert, 33°

Im Zusammenwirken von Großkomman­deur Br:.Kurt Hendrikson und Br:.Herbert Kessler entstand der Wunsch, die geistige

Arbeit innerhalb des Ritus und zugleich sein Wrrken in die blauen Logen zu intensivieren. Das hing auch damit zusammen, daß sich der Charakter der ELEUSIS zeitweilig wandelte, von einer internen Zeitschrift für Schottenbrüder zu einer Zeitschrift auch für Freimaurermeister.

Damit mußten die eher verwaltungsmäßigen Nachrichten eme eigene Veröffentlichung erhalten, das Mitteilungsblatt.

Für all das, was der Arkandisziplin unterlag, sollten darüber hinaus

eigene Veröffentlichungsreihen entstehen, aber auch Einzelpubli­

kationen für bestimmte Zwecke. Die äußere Gestaltung entsprach der

der alten ELEUSIS, also im Format DIN A 5 und mit rotem Einband.

Aus einer seit 1979 tagenden Kommission heraus wurde 1980 der

Wegweiser zur Freimaurerei geschaffen, der inzwischen mit einem

neuen Vorwort in dritter Auflage erschienen ist. An ihm waren die

Brr :. Hans-Heinz Altmann, Alain Bernheim, Fritz Bolle, Kurt

Hendrikson, Johann Müss, Thomas Richert und Gustav Vogeler betei­

ligt. Gedacht ist er immer noch als Schrift zur Unterstützung der sym­

bolischen Logen bei ihrer Information von Suchenden.

Von Br :.Johann Müss verfaßte Annalen erschienen 1980. In ihnen

wurden in chronologischer Aufzählung die wesentlichen Daten unse­

rer Geschichte von 1907 bis 1979 erfaßt. Den im Jahre 2000 gedruckten

Folgeband, Annalen II, schrieb Br:. Wolfgang Weber. Darin wird die

Periode von 1979 bis 1999 in gleicher Weise dargestellt.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 117

Page 118: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

118

Abweichend von der üblichen Gestaltung gab es zwei Veröffentlichun­

gen mit grünem Umschlag, 1987 von Br:. Thomas Richert das Biblio­

theksverzeichnis und 1992 das ELEUSIS-Register der Jahrgänge 1952

- 1990 von Br:.Fritz Münchau.

Eine eigene Reihe, Der Schottische Ritus in Geschichte und Gegenwart,

war den geistigen und historischen Aspekten des Schottentums gewid­

met, erlebte aber nur zwei Ausgaben, die Br :.Herbert Kessler betreute.

Heft I, Ideengut und Vorgehen der Freimaurerei insbesondere der

Freimaurer des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus gegen

Ende des 20. Jahrhunderts, enthielt Aufsätze von Br :.Ernst Ackermann

aus der Schweiz, Br:. Michel Garder aus Frankreich, Br:. Reuven

Trostler aus Israel und Br :.Kurt Hendrikson sowie Bemerkungen von

Br :.Herbert Kessler und Br:. Raoul Mattei. Hiermit wurde der

Versuch gemacht, die besondere freimaurerische Haltung des moder­

nen Schottischen Ritus zu bestimmen. Dieses Heft erschien 1985.

Heft II, Historische Beiträge zur Geschichte des A:.A:.S:.R:. sowie

zur Entstehung des Deutschen Obersten Rates, wurde 1986 gedruckt

und enthielt geschichtliche Beiträge von Br:. Wolfgang Brachvogel,

Br:. Thomas Richert und Br:. Henning Wolter.

Die umfangreichste und bis heute fortgesetzte Reihe hat den Serientitel

Der Schottische Ritus, ein Gang durch die Grade des A:.A:.S:.R: ..

Als Herausgeber fungierte bis 1987 Br:. Herbert Kessler, von 1988 bis

1990 Br:. Wolfgang Brachvogel, 1991 nochmals Br :.Herbert Kessler

und seitdem Br:. Thomas Richerr.

Heft 1, Was ist und was will der Schottische Ritus?, von Br :.Herbert

Kessler, 1979, war der Versuch, Brüdern der symbolischen Logen den

Schottischen Ritus nahezubringen.

Heft 2, Die Rituale der Perfektionsloge, von Br:. Thomas Richert,

1982, gab eine Einführung in die Ritualistik der Perfektionsloge

auf der Grundlage der historischen Rituale des 18. und 19. Jahr­

hunderts.

75 Jahre A. · .A. · .S. · .R. ·.

Page 119: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

In Heft 3, Der Alte und Angenommene Schottische Ritus innerhalb

der deutschen Freimaurerei, 1983, gab Br :.Herbert Kessler eine

Standortbestimmung des Ritus im Verhältnis zu den deutschen Groß­

logen und ihren Hochgradsystemen. Diese Schrift war wiederum für

Freimaurermeister gedacht.

Heft 4, Der Areopag und seine Philosophischen Grade, 1983, von

Br:. Thomas Richert, erläuterte die Grade 19 bis 30 auf der Grundlage

der historischen Rituale.

Heft 5 aus dem Jahre 1984 widmete sich erneut der Perfektionsloge.

Br:. Rüdiger Hachtmann schrieb über Zeitgemäße Vollkommenheits­

lehre und der belgische Großkommandeur Br:. Maurice Verbist über

Königliche Kunst.

Mit Heft 6 setzte Br:. Thomas Richert 1986 die Beschreibung der

historischen Rituale für die Grade 31 und 32 in Das Konsistorium fort.

Heft 7 versammelte 1987 in Das Kapitel Artikel von den Brrn:.Hans

Joachim Altmeyer, Theodore Pontzen, Ulrich Ehmke, Fritz Bolle, August

Pauls und Thomas Richert zur Interpretation der Grade 15 bis 18.

Mit Heft 8 wurden 1988 für Brüder aller Grade Stiftergestalten vorgestellt,

die einen Bezug zu unserer Ritualistik haben. Die Aufsätze stammten von den

Brrn:.Hubert Schleicher, Friedo Zölzer, Detlef-Ingo Lauf, Shlomo Lewin,

Reinhold Huscher, Gerd Wolandt, Otto Böcher und Rüdiger Hachtmann.

1990 erschien außerhalb dieser Reihe und mit weißem Einband Der

3 3. und letzte Grad von Br.·. Herbert Kessler und Br.·. Thomas Richert.

Br:. Vox Vogeler hatte sich seit einiger Zeit schon darum bemüht,

einen Roten Faden für die Schottischen Hochgrade zu formulieren.

Das Ergebnis war ein Breviarium Masonicum, Ein Ritualring für

Schottische Meister, 1991 als Heft 9 herausgegeben.

1993 schrieb Br:.Herbert Kessler Unterwegs zum Heiligen Reich,

Gedanken zum 3r. und 32. Grad, veröffentlicht als Heft 10.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 119

Page 120: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

120

Heft 11 behandelte hauptsächlich den 18. Grad. Der Ritter vom

Rosenkreuz erschien 1995 und enthielt Aufsätze von den Brrn:.

Gerhard Baumann, Ernst Bienz, Ingomar Conrad, Falk Reckelkamm,

Thomas Richert und Leon Zeldis.

Das 1996 gedruckte Heft 12 widmete sich unter dem Titel Auf dem

Weg zur Vollkommenheit erneut den Perfektionsgraden und vereinte

Aufsätze von den Brrn:.Herbert Kessler, Günter Lensch, Thomas

Richert und Alfred Schmidt.

Heft 13, Alles entwickelt sich von selbst, hatte den 30. Grad zum

Thema. Es erschien 1997 mit Beiträgen von den Brrn:.Eberhard

Barth, Otto Kornmeier, Rüdiger Oppers, Alfred Schmidt, Friedrich

Wilhelm Schmidt, Henning Wolter und Ernst Wuppermann.

Mit dem neuen Jahrtausend fiel die Entscheidung, die Zählung der

Hefte aufzugeben. Auch war das Erscheinungsbild der Reihe zu

modernisieren, der besseren Lesbarkeit wegen andere Typen zu benut­

zen und farbige Bilder beizugeben. In dieser Gestalt legten wir textlich

etwas verändert Das Kapitel im Jahre 2003 neu auf.

Eine Neuauflage des Heftes über den 4. Grad ist Anfang 2005 erschie­

nen. Sobald die Ritualrevision für die Grade 5 bis 14 abgeschlossen

ist, soll auch dazu eine Erläuterung in der Schriftenreihe folgen.

Schließlich ist noch an eine Handreichung für Atelierpräsidenten

gedacht.

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 121: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Aktive Mitglieder der Ratsversammlung Das Beamtenkollegium

Souv :. Ltn. ·. Groß�l<ommandeur Br:. Ernst Jahn, 33°

Gen.·. Groß-Zeremoni��ci�ier Br:.Klaus Hastedt, 33°

So Br:.Friedrich Wilhelm Schmidt, 33°

Gen:.Groß-Kapitän der Wachen Br:.Peter Schuma, 33°

Gen:. Groß-Kanzler Br:.Hans Dieter Klisch, 33°

Br:.Heinrich Borger, 33°

121

Page 122: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Aktive Mitglieder der Ratsversammlung Die Bezirks-Inspekteure

Bezirks-Inspekteur „Ost" Br:.Harald Meyer, 33°

Bezirks-Inspekteur „Nord" Br:.Ingo Nehlsen, 33°

Bezirks-Inspekteur „West" Bezirks-Inspekteur „Mitte"

Bezirks-Inspekteur „Nord-West" Br:.Michael Rother, 33°

Br:.Dr. Juan Brackins-Romero, 33° Br:.Hans Dieter Gamm, 33°

Bezirks-Inspekteur „Süd" Br:.Norbert Mann, 33°

122

Bezirks-Inspekteur „Süd-Ost" Br:.Ernst Jahn, 33°

Beauftragter für die neuen Bundesländer

Br:.Günter Hellmich, 33°

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 123: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Aktive Mitglieder der Ratsversammlung

Br:.Heinz Cyss

Br:.Dr. Gerhard Müller

Br:. Helmut Weppler (i.d.E.O. 03. Juni 2005)

Br:. Dr. Rolf Höhler Br:.Peter Krämer Br:.Gerhard Löbel

Br:. Günter Sandmann Br:.Franz-Gustav Schild Br:.Prof. Dr. Alfred Schmidt

Mitglieder mit besonderem Auftrag

Redaktion ELEUSIS Schriftenreihe

Br:.Hans-Udo Wolf

75 Jahre A. ·.A.·.S.·.R. ·.

Freimaurerische Akademie

Br:.Dr. Werner Boppel

123

Page 124: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

Der Schottische Ritus als Zukunftsprojekt der Freimaurerei

Von der Johannismaurerei zur Perfektionsloge

Br:. (Prof. Dr. phil.)Alfred Schmidt, 33°

Nicht nur weltanschauliche und politische Gegner sind, obgleich in abwe­gigster Weise, bemüht gewesen, herauszufinden, was es mit der Frei­maurerei auf sich hat. Auch wir selbst sind dieser Frage immer wieder nachgegangen und tun es noch immer. Wohl kann man über die Geschichte und das gegenwärtige Selbstverständnis des Bundes Interes­sierten eine knappe Auskunft erteilen. Mit einer abschlußhaften, allseits befriedigenden Definition dessen, was Freimaurerei ist, können wir nicht dienen. Die Arbeit des I\l. Grades unseres Ritus, ein Grad des Übergangs, lädt in lehrreicher Weise dazu ein, sich erneut über Einheit und Differenz

der beiden freimaurerischen Systeme zu verständigen, in denen sich die dialektische Wahrheit spiegelt, auf jeder Erkenntnisstufe die ganze Freimaurerei und doch jeweils nur einen ihrer Aspekte zu enthalten.

Eine neue Qualität geistiger Erfahrung

Der wesentliche Lehrgehalt der Freimaurerei, so wird oft gesagt, ist ent­halten in den drei symbolischen Graden des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters. Da diese Ansicht durchaus zutrifft, bedarf der höhere, weiterführende Anspruch des Schottischen Ritus näherer Rechtfertigung. Eine solche kündigt sich an in den einleitenden Betrachtungen des Bruders Experten bei der Aufnahme von Johannismeistern in den I\l. Grad. Betont wird hier beides: die neue Qualität geistiger Erfahrung, die den Aufzunehmenden erwartet, und die „Einheit und Verbundenheit" des Ritus mit der humanitären Großloge. Es handelt sich also beim Über­gang zur roten Maurerei nicht um einen Bruch, nicht um völlig neue Inhalte, sondern darum, ein tieferes Verständnis des vom Adepten bereits Angeeigneten zu erreichen. Der Ritus folgt denn auch methodisch wie in

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 125

Page 125: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

126

seinen Zielen der „universellen, unzerstörbaren Idee unseres Bundes".

Sein System ist so unvollendet wie die Welt. Es gehört zu seinem antidog­

matischen Grundzug, daß er keine Definition der Freimaurerei gelten

läßt, die „eindeutig und endgültig" wäre. Bedeutsam für neue Brüder

dürfte die geschichts- und sozialphilosophische Dimension sein, die das

Schottische Lehrgebäude über die blaue Maurerei hinausführt, die insge­

samt stärker an den Stadien des individuellen Lebensweges orientiert ist.

Demgegenüber rekapituliert die rituelle Abfolge der Schottengrade die

epochalen Stufen der Entwicklung des menschlichen Geistes. ,, Wir

erfahren durch ihn", so die einleitende Betrachtung, ,,die geistesge­

schichtliche Entwicklung der Menschheit und die des individuellen

Lebens als einen ganzheitlichen Prozeß, der jeweils in Abhängigkeit

von den zeitlichen und gesellschaftlichen Bedingungen eine angemes­

sene Antwort fordert auf die immerwährende Frage nach dem Sinn des

Lebens." Die Maurerei, soviel geht hieraus hervor, verfolgt zwar ein

ewiges Ziel, ist aber dabei wie alles Menschliche gebunden an die end­

lichen Bedingungen von Raum und Zeit.

Die Suche nach dem Verlorenen Wort

Aus der moralischen Aufgabe, für den Fortschritt und das Glück des

Individuums wie des sozialen Ganzen zu arbeiten, ergibt sich für das

Selbstverständnis des Ritus, daß er die Pflichten, die neuen Brüder

schon in der Johannisloge auferlegt werden, nicht etwa als „ablegba­

re und überwundene Stufen" betrachtet, sondern als „notwendige

Ergänzung" seines eigenen Weges.

Geistige Arbeit ist im Schottischen Ritus kein Selbstzweck. Sie soll auch

und vor allem seiner blauen Basis zugute kommen. Seine Mitglieder

befinden sich nicht in der Chefetage des Bundes, sondern bilden dessen

Vorhut. Die neu aufgenommen Brüder, heißt es in unserem Ritual,

bekunden durch Ablegen der maurerischen Bekleidung ihre

„Bereitschaft", sich „unbelastet durch bereits erworbene Kenntnisse" zu

öffnen für „neue Wege und Einsichten". Dadurch erst, heißt es hier wei­

ter, wird sich der „bleibende Wert" jener älteren Kenntnisse erweisen.

Die blaue Maurerei ist im Ritus „aufgehoben" im Hegelschen Sinn; die

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

Page 126: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

neue Stufe relativiert und bewahrt das Vorangehende. Das zeigt sich

daran, daß die Legende des IV. Grades die des m. fortsetzt, die den

Johannismeistem nur in ihrem abschließenden, eschatologischen Teil

bekannt ist. Wichtig an dessen erweiterter Version, wie sie im Ritual des

IV. Grades vorliegt, ist der Umstand, daß hier das im m. Grad lediglich

ersetzte, nicht aber wiedergefundene Verlorene Wort wieder auftaucht: als

das Unaussprechliche. Das besagt: Unsere Sehnsucht nach Sinn und Halt,

unserer metaphysisches Streben nach absolutem Wissen finden kein Ende.

Gibt es die absolute Wahrheit?

Der Freimaurer lebt mit dem Bewußtsein, daß Wahrheit kein fertiges

Ding ist, keine Münze, die eingestrichen werden kann, wie Lessing

sagt; sie ist auch in den Wissenschaften ein beschwerlicher, prinzipiell

unabschließbarer Prozeß. Jede erreichte Einsicht wird früher oder spä­

ter herabgesetzt zum Teilaspekt eines noch umfassenderen Wissens.

Soweit es um die Wirklichkeit des Numinosen geht, entzieht sie sich

jeder sinnlichen Wahrnehmung und begrifflichen Fixierung. Sie wird

erahnt, erlebt und läßt uns verstummen. Wahrheit, betont das Ritual,

ist ein „hehrer Begriff" der Philosophie, den wir nicht jeder

,,beschränkten menschlichen Vorstellung" gleichsetzen sollten.

Bezogen auf die empirische Welt ist Wahrheit seit Aristoteles die

Eigenschaft sachgemäßer Urteile. Die Sache aber, daran erinnert

Schopenhauer, wird nur zu oft, wenn es um Metaphysisches geht,

durch Vorurteile, ideologischen Wahn und Aberglaube, aber auch

handfeste Interessen verfälscht. Sachdienlich dagegen, sagt Schopen­

hauer, sind Religionen, die - inspiriert von der Erfahrung des Todes - in

mythisch-allegorischer Rede nach dem Einen und Ewigen tasten und

uns so von einer trostlosen, rein physischen zu einer moralischen

Weltansicht hinüberführen.

Es gibt die absolute Wahrheit; erkennbar jedoch ist sie nur auf den

relativen Stufen fortschreitenden Wissens. Der Ritus, das sei nicht

gering veranschlagt, weckt das Interesse des Neophyten an philosophi­

schen, ja letzten Fragen, aber er hütet sich vor dogmatischen Ant­

worten. Die vier allegorischen Reisen knüpfen sachlich an eine dem

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 127

Page 127: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

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Neuaufgenommenen bisher unbekannte Version der Hiramslegende an. Hiram, der Märtyrer treuer Pflichterfüllung bis in den Tod, er­scheint hier in einer eindrucksvollen Episode seines Lebens. Wir werden darüber belehrt, wie entscheidend es ist, die „Autorität der Persönlichkeit" von bloß „institutioneller Macht" zu unterscheiden; wir erfahren, daß die „ wahre Macht" des bedeutenden Individuums, seine Fähigkeit, Menschen zu führen, auf seiner Freiheit beruht. Ferner, daß -vorauf schon Platon hinweist - ein gedeihliches Gemeinwesen Gerechtig­keit voraussetzt; die letzte Reise schließlich erinnert an die Pflichten des ein­zelnen gegenüber sich selbst, seinen Mitmenschen und den überindivi­duellen Ordnungen, in denen er steht. Die gesellschaftlichen Bezüge des N. Grades drücken sich aus im Schritt „ vom Symbolismus zum Aktivis­mus"; darin, daß auf die Notwendigkeit praktischer Umsetzung der rituel­len „Erfahrungen und Erkenntnisse" hingewiesen wird.

Die Perfektionsloge

Der neue Bruder wird Mitglied einer „Perfektionsloge". Der Ausdruck enthält die Erwartung, daß der in den Ritus Berufene an seiner mau­rerischen wie allgemein-menschlichen Vervollkommnung arbeitet. Vollkommenheit im strengsten Wortsinn bleibt der Transzendenz vor­behalten; Menschen können nur danach streben, stufenweise aufzu­steigen. Unser Bund folgt hierin dem aufklärerischen Gedanken der materiellen wie moralischen Perfektibilität des Menschengeschlechts. Daß es darauf ankomme, alle menschlichen Fähigkeiten harmonisch zu entfalten, wird von vielen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts vertreten, von Condorcet, Leibniz, Wolff, Kant und Shaftesbury. Br :.Herbert Kessler hat unter dem Titel Vollkommenheit die heutige philosophische Problematik dieses Begriffs eingehend erörtert. Sein Fazit lautet: ,, Was vom Menschen geschaffen wird, die Kultur schlechthin, kann der Mensch auch verändern, zum Guten wie zum Schlechten. Ein unübersehbares Arbeits- und Wirkungsfeld, in dem der menschlichen Freiheit die Vervollkommnung aufgetragen ist."

1----

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·.

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Freimaurerei und Postmoderne

Br:. (Dr.) Frank Schley,33°

In der Präambel des Schottischen Ritus wird gefordert, sich mit den Erkenntnissen der Natur- und Sozialwissenschaften auseinan­derzusetzen und diese zum Nutzen der Gesellschaft einzusetzen. ,, [ ... ]; Auswertung gewonnener Einsichten aus Leben, Wissen­schaft und Kunst für Gegenwart und Zukunft; Umsetzung der Erfahrungen und Erkenntnisse in die Tat zur Selbstgestaltung des Einzelnen und zur Mitgestaltung der Gesellschaft; [ •.. ]"

Eine Anpassung an den Zeitgeist ist nicht die Aufgabe der Freimaurerei, wohl

aber die Spiegelung des Zeitgeistes an den grundlegenden Idealen unseres

Bundes, denn wenn die Freimaurerei auch in der Zukunft einen Platz in der

Gesellschaft als ethisch-moralischer Bund einnehmen will, so kann und darf

sie die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht unreflektiert hinnehmen. Es ist

weiterhin nicht die Aufgabe des Bundes, die Ideen einer menschlicheren

Gesellschaft nur zu reflektieren, sondern jeder Bruder ist aufgefordert, diese

Ideen aktiv in die Gesellschaft zu tragen und im jeweils persönlichen Ent­

scheidungsbereich umzusetzen. Somit sind die Brüder unseres Ordens auch

aufgefordert, sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen aktiv

auseinanderzusetzen und ihre Position unter Beachtung der Ziele unseres

Ordens in der Gesellschaft jederzeit neu zu bestimmen.

Ein Paradigmenwechsel

Die heutige Gesellschaftsphilosophie spricht von emem not1gen

Paradigmenwechsel und stellt gegen das Modell der Modeme die

Theorie der Postmoderne.

Die Gesellschaftsphilosophie versteht unter der „Modeme" die Epoche

beginnend mit der Neuzeit mit „ihrem Grundzug, die Vielfältigkeit des

Lebens [ ... ] auf eine einzig geltende Leitvorstellung (Idee, Paradigma) von Vernünftigkeit (Denken) und Wirklichkeit (Sein) zurückzuführen.

[ ... ] Die Postmoderne tritt ein für die Destruktion dieser uniformen

Rationalität, für die unaufhebbare Vielfalt der Denkansätze, Hand­

lungsorientierungen, Lebensformen und kulturellen Welten. Die Grund­

überzeugung ist, daß die Wirklichkeit nicht homogen, nicht einheitlich,

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sondern divers strukturiert ist" /1/. Lyotard /2/ verweist nachdrücklich

darauf, ,,daß allen postmodernen Gesellschaftsentwürfen keine

Metaerzählungen zugrunde liegen". Das bedeutet nach Kron /3/, ,,in der

Postmoderne gibt es keine sozialen Tatbestände sui generis (Durkheim),

keine unabdingbaren normativen Muster oder Wertsysteme (Parsons)

und keine kommunikativ erarbeitete Moral (Habermas)" .

Die blaue Freimaurerei, wie sie sich 1717 konstituiert hat, und auch

der Orden des Schottischen Ritus sind Systeme, die ihre Wurzeln in

den mythischen Erzählungen haben. Auch die rituellen Arbeiten stüt­

zen sich darauf ab, auch die Denkansätze der Aufklärung. Sie sind

somit unbestritten Modelle der Modeme.

Genannt seien hierbei für die blauen Logen die Hiramslegende (eine

der Voraussetzungen für die Regularität einer Loge) und die sonstigen

rituellen Bezüge auf die Berichte des Alten und Neuen Testamentes als

der dominierenden Wurzel der abendländischen Moralvorstellungen.

Dieser Bezug auf große sinngebende Erzählungen wird im Schottischen

Ritus, der seinen Ritualen die geistig-moralische Entwicklung der

Menschheit oder zumindest die Entwicklung der Freimaurerei zugrunde­

legt, konsequent weiterentwickelt. Zu nennen sei hier der Bezug auf den

Templerorden, aber in besonderem Maße das Symbol der Krypta, wel­

ches auf die Gemeinsamkeiten menschlicher Moralvorstellungen in allen

Metaerzählungen und damit auf allgemeine übergeordnete Werte, die

allen Menschen aufgrund ihrer Vernunft a priori innewohnen, hinweist.

Allerdings hat der Schottische Ritus bisher darauf verzichtet, die jewei­

lige transzendente Begründung dieser offenbarten Moralsysteme als

eine verbindliche Forderung oder die alleinige Voraussetzung für mora­

lisches Handeln anzusehen; vielmehr beruft sich unser Bund nur auf die

Gemeinsamkeiten der moralischen Vorstellungen, die die menschliche

Vernunft über Zeiten und kulturelle Grenzen hinweg erahnt hat, und

verweist auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Ursache.

Die Philosophie der Aufklärung

entwarf moralische Systeme, die nicht eine transzendente Begründung

haben, sondern auf die Vernunft des Menschen zurückgeführt werden.

Eine Entwicklung, die Lessing in der „Erziehung des Menschen­

geschlechtes" zu der Feststellung bewegte, daß in den offenbarten Lehren

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des Neuen Testamentes (oder der Religionen) ,, ... Wahrheiten vorgespie­

gelt werden, die wir als Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie

die Vernunft aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und

mit ihnen verbinden lernt"/4/. Die wohl bedeutendste Formulierung eines

in der Vernunft begründeten Wertekodexes ist die des Kantischen kate­

gorischen Imperativ und seiner de- ontologischen Morallehre. Die Moral

des einzelnen Menschen sollte aus Einsicht in die Notwendigkeit morali­

schen Verhaltens entstehen, aus einer Selbstverpflichtung jedes einzelnen

zu einem guten Leben, ohne daß es hierzu diesseitiger oder jenseitiger

Belohnung oder Bestrafung bedarf.

Das Prinzip der Selbstverpflichtung zu moralischem Verhalten inner­

halb eines allgemeingültigen Wertesystems aufgrund eines gesellschaft­

lichen Konsenses - der Gesinnungsethik - ist eines der Prinzipien, auf

denen die Arbeit unseres Bundes beruht.

Die Postmoderne macht nun diese Gesinnungsethik verantwortlich für

die in den letzten Jahrhunderten aufgetretenen Greueltaten bis hin zum

Holocaust und fordert als Konsequenz das Modell der Verantwor­

tungsethik ein. Nicht allgemein anerkannte moralische Grundsätze sol­

len das Maß für eine Handlung sein, sondern nur die Verantwortbarkeit

des Ergebnisses einer Handlung. Die Verantwortungsethik macht aller­

dings keine verbindliche Aussage, gegenüber wem das Ergebnis vertre­

ten werden muß. Gegenüber der Schöpfung und dem Schöpfer, der

Menschheit, der Nation oder einer Gemeinschaft Gleichgesinnter?

Gleichermaßen wird keine Aussage gemacht, welche Maßstäbe ange­

legt werden sollen, um zu entscheiden, ob das Ergebnis zu verantwor­

ten ist. Würde es hierzu verbindliche Aussagen geben, so wären ihre

Begründungen gleichermaßen zu hinterfragen wie die Begründung

allgemeingültiger Handlungsanweisungen.

Eine neue Interpretation der Rituale

Auch hier hat unser Bund schon früh in den Ritualen eine Antwort

gegeben, zum einen mit den Symbolen des Winkels und des Zirkels

und ihrer Anordnung in den unterschiedlichen Graden, aus dem

Wissen, daß der Notwendigkeit des Rechts als Ausdruck der

Gerechtigkeit die Menschenliebe entgegenstehen müsse, um eine

humane Gesellschaft zu bauen.

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Eine reine Gesinnungsethik kann daher genau wie eine reine Verantwor­tungsethik nicht das alleinige Ziel sein, denn die Abwägung der Auswirk­ungen des Handelns in einer gegeben Situation muß sich an einem Katalog von Werten orientieren. Werte, die zwar nicht absolut zu befolgen sind, son­dern die verantwortlich in eine der Situation angemessene Hierarchie gestellt

werden müssen und deren Auswirkungen untereinander abgewogen wer­den müssen. Der Schottische Ritus verweist im 30. Grad nachdrücklich dar­auf, daß die Anwendung erkannter und anerkannter Prinzipien ohne das Regulativ sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht der Errichtung des Tempelbaus dienen kann. ,,So ermahne ich Euch ... , daß Verstand und

Gemüt unablässig und untrennbar zusammenwirken müssen. Sonst durch­

mißt die Wissenschaft kalt und seelenlos den Raum, oder das ungebändigte

Gefühl verliert sich in den ziellosen Bahnen des Kreises" (TA30)

Die Ablehnung der Anerkennung allgemeingültigei; übergeordneter und auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhender Werte durch die Postmo­derne ergibt sich aus der Hypothese, daß sich die Individualität ausschließ­lich gesellschaftslos darstellt; die Gesellschaft zerstöre das Individuelle und

mit diesem werde der „moralische Impuls" des Menschen gleichermaßen zerstört. Die Individualität eines Menschen definiert sich vielmehr durch

den persönlichen Bereich, den er der Gesellschaft entzieht (Exklu­sionsbereich). In demjenigen persönlichen Bereich, in dem der Mensch an der Kommunikation an Teilsystemen partizipiert „wird nur auf Teil-, i. e.

Rollenaspekte, auf partikuläre Identitäten zurückgegriffen, die die Gesamt­

persönlichkeit des Menschen ausdrücklich ausblenden" /5/. Das Idealbild der Postmoderne ist der sich selbst inszenierende Mensch, der sich ohne Rücksicht auf Konventionen und die Rechte anderer individualistisch dar­

stellt und sich so bewußt von den Normen der Gesellschaft abhebt. Dieses Verhalten wird als die höchste Form der Selbstbestimmung angesehen.

Von der Individualethik zur Sozialethik

übersehen wird, daß Individualismus, wenn er sich als uniformer Gegensatz zu bestehenden Konventionen manifestiert, keine glaubhafte Manifestation von Selbstbestimmung ist, sondern durch den Zwang zur Nonkonformität letztlich eine durch die abgelehnten Normen oktroyier­te Fremdbestimmung ist und daß eine auf auffällige Äußerlichkeiten reduzierte Individualität kein Nachweis von Persönlichkeit ist.

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Eine konsequente Ausblendung der Person aus der Gesellschaft und

eine nur auf Rollenaspekte reduzierte Teilnahme löst letztlich die

Gemeinschaft auf und führt zu einer Entsolidarisierung der Menschen;

Solidarität wird nur noch als Forderung an die Gesellschaft gesehen,

der Anspruch der Gesellschaft auf Solidarität wird negiert. Unser

Bund verweist jedoch - zu Recht - in vielen Graden darauf, daß die

Gemeinschaft die unabdingbare Basis jeder Gesellschaft ist. Und der

von uns als Ziel unseres Bundes angesehene Tempel der Humanität ist

ein Sinnbild einer idealen Gemeinschaft, in der sich jeder einzelne

ungeschmälert mit allen seinen Fähigkeiten einbringt.

Die Freimaurerei will ihre Adepten dazu anleiten, eine geschlossene

Persönlichkeit hervorbringen, welche in allen Lebensbereichen eine

berechenbare Haltung zeigt; kein Chamäleon, welches seine

Gesinnung den jeweiligen Umständen anpaßt. Sie gibt den Menschen

nicht vor, wie sie sein sollten, sondern leitet sie dazu an, das in ihnen

vorhandene Potential zu erkennen und zu entwickeln und so sich

selbst zu einer in sich ruhenden Person zu entwickeln.

Als Voraussetzung für das Gesellschaftsmodell der Postmoderne wird

eine uneingeschränkte Toleranz eingefordert. ,,Im Idealfall ist in einer

pluralen und pluralistischen Welt der Postmoderne jede Lebensform

prinzipiell erlaubt oder, besser gesagt, es sind keinerlei allgemeine

Prinzipien evident[ ... ], die irgendeine Lebensform unzulässig machen

würden" /6/. Hieraus folgt, daß die Toleranz gegenüber jedweder

Lebensform eingefordert wird, da es keine allgemeinverbindlichen

Ablehnungsgründe gibt, bis hin zur Toleranz gegenüber Intoleranz

und Gewalt, da auch diese Verhaltensformen in den denkbaren

Katalog der geschützten Individualität fallen.

Das Prinzip der Toleranz

Die Freimaurerei war von Anbeginn ein konsequenter Verfechter der Toleranz, allerdings einer Toleranz, die sich in ihrer Gewährung selbst

Grenzen setzen muß und die gegenüber solchen Systemen verweigert

werden muß, die ihrerseits die Toleranz nicht als Prinzip beinhalten,

weil sich sonst die Tugend der Toleranz auflöst und zu einem mora­

lischen Relativismus führt, bei dem letztlich keinerlei Werte mehr

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existieren. Die Vorstellung postmoderner Toleranz ist es, die „Funda­

mentalität der Differenz muß absolut gesehen werden" /71; eine nicht

absolut gewährte Toleranz wird von den Vertretern der Postmoderne

als traditionelles Herrschaftsinstrument diffamiert.

Unser Bund muß zu diesen Tendenzen Stellung beziehen, wir müssen

uns mit dem Gedankengut der Postmoderne auseinandersetzen, denn

aus den Widersprüchen zu unseren Ideen einer idealen Gesellschaft,

zu denen unbestritten ein für alle Menschen verbindliches Wertesystem

gehört, ergibt sich, wie jeder einzelne von uns in der Gesellschaft zu

dem gesellschaftlichen Modell der Postmoderne Stellung bezieht. Wir

sollten uns nicht nur in unsere Tempel wie in einen Elfenbeinturm ein­

schließen und über den Bau einer menschlicheren Gesellschaft in schö­

nen Worten reden und von anderen die Taten für den Erhalt einer

Gesellschaft, in der wir existieren können, überlassen. Vertrauen wir

bei dem Erhalt des bisher Erreichten der Weiterentwicklung der

Gesellschaft nicht auf andere, sondern vertrauen wir auf uns.

Die Freimaurerei in allen ihren Erscheinungsformen ist von ihrem

Selbstverständnis her ein System, welches der Zukunft der Menschheit

verpflichtet ist, dargestellt durch das Symbol des Baus am Tempel der

Humanität. An diesem Bau zu arbeiten hat jeder Bruder bei seiner

Aufnahme gelobt und mit seinem Eintritt in den Schottischen Ritus

bekräftigt er dies mit der Verpflichtung zur Tat noch einmal ausdrücklich.

„Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe" sind die Statuten und

Regeln unseres Ordens, von denen wir überzeugt sind, daß sie die ver­

bindlichen Grundpfeiler einer humaneren Menschheit sind. Wir müs­

sen also untersuchen, ob diese Regeln im Hinblick auf die Ablehnung

allgemeinverbindlicher Grundsätze auch weiterhin Bestand haben.

Die Vernunft

Die Vernunft ist diejenige Eigenschaft, die der Mensch exklusiv für sich

reklamiert; er ist überzeugt, daß diese Eigenschaft eigentlich das

Menschsein definiert. Die Negation dieser Eigenschaft als dasjenige

Werkzeug, welches das Zusammenleben der Menschen regelt, hieße zu

unterstellen, daß die Menschheit außerstande ist, sich aus sich heraus zu

organisieren; dies wäre zugleich die Aufgabe der Annahme der Freiheit des

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Page 134: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

menschlichen Handelns. Daß der Mensch nicht immer vernünftig handelt,

das heißt, sich nicht der Vernunft bedient, wird hiervon nicht berührt. Die

Vernunft des Menschen kann also nicht in Frage gestellt werden.

Freiheit und Gerechtigkeit

Freiheit und Gerechtigkeit stehen einander entgegen; die Gerechtigkeit

begrenzt die persönliche Freiheit, so wie die persönliche Freiheit das

Ausmaß der denkbaren Gerechtigkeit begrenzt. Die Abwägung der

Balance zwischen diesen beiden Antagonismen ist stets neu vorzuneh­

men. Sie unterliegt dem Wandel der jeweiligen gesellschaftlichen und

kulturellen Randbedingungen. Denn die jeweilige Gerechtigkeit einer

Zeit und einer Gesellschaft ist keine unveränderlich zementierte Norm,

wenngleich die Gerechtigkeit und die Freiheit absolute Ideen bleiben:

„Nur wenn die gesellschaftlichen Normen des Staates und das ethische

Bewußtsein des Einzelnen übereinstimmen, kann das Gesetz der

Gerechtigkeit und dem Frieden dienen. Deshalb bedingt der ständige

Wandel der gesellschaftlichen Strukturen auch den Wandel der Normen

und Gesetze. Das Recht wandelt sich mit der Gesellschaft, aber Idee und

Gebot der Gerechtigkeit bleiben". (TA 31) Das hier angesprochene ethi­

sche Bewußtsein, welches auch die Würde der eigenen Person in der

Gesellschaft reflektiert, berücksichtigt wertend das Ausmaß der persön­

lichen Freiheit, welches von der Gesellschaft gewährt wird.

Der Versuch, eine absolute Gerechtigkeit zu etablieren, d. h. jeder

noch so kleinen gesellschaftlichen Gruppe gerecht zu werden, kann zu

einer nicht mehr akzeptierten Einschränkung der Freiheit der jeweils

anderen Mitglieder der Gesellschaft führen. Die Forderung der

Postmoderne einer tolerierten, absoluten Freiheit des einzelnen auch

auf Kosten der Freiheit der anderen hebt die Gerechtigkeit auf und

schränkt damit das in einer Gesellschaft mögliche Optimum der

Freiheit aller Mitglieder der Gesellschaft ein.

Die Liebe

Die Werkzeuge, um die Gerechtigkeit und die Freiheit miteinander in

Einklang zu bringen und die der Zeit und den gesellschaftlichen

Randbedingungen angemessene Ausgewogenheit zu gewährleisten, sind

die Vernunft und die Empathie, die wir in unseren Ritualen als die

allumfassende Liebe bezeichnen. Die Vernunft, um die Regeln und das

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Recht zu definieren und die Empathie, um dem Wunsch des einzelnen

nach Persönlichkeit und Selbstbestimmung gerecht zu werden. Vernunft

und Empathie sind die invarianten Voraussetzung, Gerechtigkeit und

Freiheit die von ihnen justierten Grundwerte einer Gesellschaft. Dieses

Parallelogramm der Werte ist in der Lage, alle anderen von unserem

Bund geforderten Tugenden zu begründen - Toleranz, Achtung des

anderen, Rechtschaffenheit, Moralität, Beständigkeit etc. Sie ergeben

sich zwangsläufig aus diesen Regeln. Vernunft, Liebe, Gerechtigkeit und

Freiheit sind also auch weiterhin eine verläßliche Basis für die Schaffung

eines humanen Zusammenlebens der Menschen innerhalb emer

Gesellschaft, aber auch von Gesellschaften untereinander.

Die Negation verbindlicher Grundregeln durch die Postmoderne und

die Forderung nach absoluter Freiheit bedroht nicht allein den Tempel

der Humanität, sondern sie stellt das Fundament, auf dem dieser

gebaut werden soll, gleichermaßen in Frage.

Die Freimaurerei, und insbesondere der Schottische Ritus, muß sich

durch jeden einzelnen, aber auch als Institution, wenn sie den sich selbst

gegebenen Auftrag, den Bau des Tempels der Humanität ernst nimmt,

gegen diesen Trend stellen. Bleiben wir Verfechter der ursprünglichen

Ideen der Aufklärung, daß nur die Vernunft und eine sinnvoll limitierte

Toleranz, das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gerechtigkeit und die

Brüderlichkeit aller eine humane Gesellschaftsordnung gewährleisten

können. Wir können und müssen den Vorstellungen der Postmoderne

den Sinnspruch unseres Ordens entgegenhalten: ordo ab chao.

Literatur: /1/ Alois Haldei; Philosophisches Wörterbuch, Herder Verlag, Freiburg, 2000, /2/ Jean­Frarn;;ois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Ein Bericht, Edition Passagen, Wien, 1994; 13/ Thomas Kron, Postmoderne Gesellschaft - als Gesellschaft, Beitrag zur Konferenz "Postmoderne Perspektiven", Erlangen, November 1999; /4/ Gotthold Ephraim Lessing, Freimaurergespäche und anderes, Bibliothek des 18. Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag München, 1981; /5/ Arnim Nassehi, Inklusion, Exklusion - Integration, in Heitmeyer „ Was hält die Gesellschaft zusammen", Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, Band 2, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1997; /6/ Zygmunt Baumann, Modeme und Ambivalenz, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1992; /7/ Hartwig Schmidt, Postmoderne Aussichten, Berliner Initial, Heft 4, 1991

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Für eine Einheit von Kultur und sozialer Organisation

Br:. Theodor Kowalski, 32°

Nachdem sich der Wirbel um die Eröffnung der PINAKOTHEK

DER MODERNE gelegt hatte, machte ich mich auf den Weg, mir

einen eigenen Eindruck von diesem Museum zu verschaffen. Ich

bekenne freimütig, dass ich nicht als besonders kunstbeflissen

gelten kann und ein umfassendes Urteil zu dem Ensemble und zu

den einzelnen Exponaten strebe ich hier nicht an. Gleichwohl sind

mir bei dem Rundgang Einsichten und Perspektiven erwachsen,

die ich gerade an dieser Stelle zusammenfassen und wiedergeben

möchte.

Zunächst muss ich herausstellen, wie sehr mich die Schlichtheit und

kühne Großzügigkeit der Architektur des neuen Museums, die

dabei jedoch weder pompös noch großspurig wirkt, beeindruckt

hat. Schon der örtliche Zusammenhang mit der Technischen

Universität, dem Leibniz-Rechenzentrum, der Alten und Neuen

Pinakothek weist über das Zufällige hinausgehende Bezüge auf.

Dann aber bei Betreten des Museums wird man von der Weit­

läufigkeit, von Aufgeschlossenheit und lichter Klarheit überwältigt

und man bemerkt, wie innerlich eine positive Gemütshaltung ent­

steht.

Und dann nähert man sich den Bildern, die als der Modeme zugerech­

net gelten. Bilder, die aus der ersten Hälfte des zwanzigsten

Jahrhunderts, aus der Zeit zwischen den - vor allem europäischen -

Weltkriegen, aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise, aus den blasphe­

misch so genannten „Goldenen Zwanziger Jahren" und später stam­

men. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass ihr Gegenstand und ihre

Darstellung sich von der Wirklichkeit entfernt, sich von den

Realitätstraditionen der Renaissance und der Aufklärung absetzen,

positiv ausgedrückt; abstrakt werden.

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Manche Bilder sind für den unvorbereiteten Betrachter völlig undeut­

bar, viele wecken jedoch Assoziationen von bedrückender Gefängnis­

stimmung, von Gewalt, Zerstörung, Wahnsinn, von Trübsinn, von

Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit. Wohl gibt es einige Werke, die

durch ihre farbliche Gestaltung, durch Formen, Kontraste und

Strukturen positiv ansprechen. Doch die meisten spiegeln die Trost­

losigkeit jener Zeit, den geistigen Zerfall zwischen Wirtschaftskrise

und mechanistischen Allmachtsphantasien, die seelische Orien­

tierungslosigkeit und eine alles durchdringende Disharmonie wider.

Picasso selbst hat dazu angemerkt: ,,Alle Wege stehen der Scharla­

tanerie offen. Das Volk findet in der Kunst weder Trost noch

Erhebung. Ich habe die Kritiker mit zahllosen Schmerzen zufriedenge­

stellt, die mir einfielen und die sie um so mehr bewunderten, je weni­

ger sie ihnen verständlich waren."

Ob man nun die Modeme als Fortentwicklung aus Jugendstil, Impres­

sionismus und Expressionismus erklären mag oder sie einfach als

Spiegel ihrer Zeit begreifen will, ich sehe diese Werke aus einer Zeit

epochaler wirtschaftlicher, politischer und zu vorderst menschlicher

Katastrophen als Ausdrucksformen einzelner Menschen. Sie entfalten

keine Wendewirkung, sie künden als Epitaphe der Resignation vom

Chaos und den Verirrungen dieser Zeit.

Mitten in diesem Chaos entsteht ein neuer Ansatz: das Bauhaus.

Walter Gropius spricht über „Kunst und Technik- eine neue Einheit"

und weist auf den ästhetischen Wert hin, der aus der künstlerischen

Formgebung erwächst, wenn sie auf die Funktion des Kunstgegen­

standes bezogen wird und sie zu ihrer Bestimmungsgröße macht. Die

Schlichtheit, Einfachheit und Klarheit des Bauhausstils stehen in einem

extremen Kontrast zur undurchdringlichen Komplexität abstrakter

Kunstwerke. Dass in einer Zeit höchster Chaotisierung eine Neu­

orientierung praktisch möglich ist und zu einer tragenden Entwick­

lung wird, ist für mich die herausragende Erkenntnis meines Besuchs

der PINAKOTHEK DER MODERNE.

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Der Schottische Ritus im Zenit der Modeme

Die Einsetzung des Obersten Rates für Deutschland der Freimaurer

des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus in Berlin fällt 1930

genau in den Zenit der Modeme, seine Devise „ORDO AB CHAO"

erscheint wie auf diesen Zeitpunkt gemünzt. Doch hat der Schottische

Ritus zu dieser Zeit schon eine weit mehr als hundertjährige

Entwicklung hinter sich. Mit Blick auf die freimaurerische Geschichte

mit ihren vielen Systemen und Lehrarten könnte man auf eine auf die

Freimaurerei rückbezügliche Interpretation der Losung kommen, der

geistigen Rückbesinnung. Diese Interpretation geht jedoch nach mei­

nem Verständnis vom und meinen Erfahrungen im Schottischen Ritus

an den eigentlichen Zielsetzungen vorbei. Schon ein Blick in die

Präambel unserer Konstitution weist als Aufgabe des Schottischen

Ritus neben dem vertieften Durchdringen freimaurerischen

Gedankengutes auf die Auswertung gewonnener Einsichten aus

Leben, Wissenschaft und Kunst für Gegenwart und Zukunft hin. Es

ergibt sich damit eine vor allem extrovertierte Orientierung, im frei­

maurerischen Sinne Einsichten und Verbesserungsmöglichkeiten auf­

zuzeigen. Im Chaos eine Orientierung zu erarbeiten, Bedingungen und

Bezüge aufzuspüren und eine stabile Ordnung zu erreichen - einen

Kosmos zu gestalten - steht in der Tradition der alten

Kathedralenbaumeister, die stabile, epochenübergreifend ästhetische

Konstruktionen aus unzähligen, planmäßig behauenen Steinen schu­

fen. Das Motto ORDO AB CHAO war 1930 hochaktuell und wird in

diesem Sinne immer hochaktuell bleiben.

So auch heute! Sicherlich ist unsere jetzige geschichtliche Situation

mit der von 1930 nicht zulässig zu vergleichen. Der Weltkriegs­

bedrohung sind wir durch Beendigung des Kalten Krieges ent­

kommen, die Wirtschaftskrisen schlagen große Wellen, scheinen

aber nicht mehr so bedrohlich wie zu jener Zeit. Individuelle

Freiheiten und die Absicherung gegen existentielle Not sind heute

weiter verbreitet als je zuvor und die Bevölkerungskatastrophe

findet jenseits der Wahrnehmungsfähigkeit der westlichen Zivili­

sationen statt.

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Zur Lage am Ende der Postmoderne

Aber es gibt eine Reihe von Erscheinungen, die trotz intensiver Behandlung in der Öffentlichkeit nur Ratlosigkeit beim Einzelnen hinterlassen. Es besteht ein Chaos neuer Art.

Ich meine die Globalisierung und ihre vielfältigen Auswirkungen auf den Einzelnen; die unge­

heuerliche Informationsflut, über die wir verfügen können - nicht abstrakt wir

gemeinsam, sondern konkret jeder Einzelne - und die damit tatsächlich verbundene geringere Informiertheit des Einzelnen, die Schwächung des Bewusstseins und den unzügelbaren Einfluss der Medien. Ich meine aber

auch den öffentlichen Umgang mit-einander, die Entsolidarisierung durch

die überbordenden Sozialsysteme, die Erstickung der Eigeninitiative und die

Überreglementierung, die Korruption und die Unfähigkeit unseres Gemeinwesens, die

gestiegene Lebenserwartung in erhöhte Produktivität des Sozialsystems umzusetzen, ja nicht einmal die Arbeitslosigkeit ist in ihrer Dynamik zwischen den Strategen des shareholder-value und den Arbeitsplatzapologeten in den Griff zu bekommen. Und dann meine ich noch die Diskrepanzen im Meinen, Wollen und Handeln.

Zwar sind wir im Alten Europa stolz auf unseren traditionellen Wertekanon, unsere Erfahrungen in der Austragung von Konflikten sind unübertroffen ebenso wie wir Meister in ihrer Moderation sind. Großherzig schlüpfen wir dann gerne in die Rolle des Retters und Helfers, aber wie oh erdrückt die vermeintlich helfende Hand die Würde des Empfängers und verschlechtert seine Situation oder es wer­den gar große Hoffnungen und Erwartungen geweckt, die dann nicht erfüllt werden können. Die allfälligen Enttäuschungen gehen im Getöse neuer Ankündigungen unter.

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Ein chaotisches Weltbild

Auf all diesen Feldern stellt man eine mangelnde Reichweite eigener

Möglichkeiten fest, die Komplexität des Problems kann kaum - schon

gar nicht vom Einzelnen - erfasst werden. Alle Phänomene tangieren

jeden Einzelnen als Steuerzahler, als Bürger, Gemeindemitglied oder

Mitarbeiter. Wenn die Probleme auch allenthalben bekannt sind und

einer Lösung harren, so bleibt doch entscheidend, wie jeder Einzelne

sich zu ihnen stellt und sie angeht: Ob er allgegenwärtiger, intentiona­

ler und wohlfeiler Propaganda folgt oder ob er rational analysierend

Alternativen erwägt und eigene Lösungen, wenigstens für seinen

Lebensraum, findet. Ich jedenfalls mag die Quintessenz nicht ziehen,

dass die Welt schlecht sei und wir uns damit abfinden müssen, ja dass

wir unsere ethischen Erwartungen und Standards einfach absenken

müssen, damit wir die chaotischen Verhältnisse in Seelenruhe ertragen

können!

Die Chaostheorie lehrt uns, dass in einem chaotisch unübersehbaren

System kleine Ursachen auf Grund unbekannter Zusammenhänge dra­

matische Auswirkungen hervorstechen lassen und eine zeitweise

Teilordnung etablieren können. Dies geschieht zufällig, d. h. ihre

gemeinsame Ursache bleibt unerkennbar, wenn im Kleinen inmitten

der unendlich vielen Ursache - Wirkung- Beziehungen und aufgrund

von Rückkoppelungsprozessen eine wahrnehmbare, übergeordnete

Entwicklung mit spontan-organisierenden Wirkungen entsteht.

Deswegen ergibt sich sehr wohl eine Aussicht auf Besserung der oben

angesprochenen chaotischen Komplexitäten in unserem sozio-ökono­

mischen System, wenn die Beteiligten Impulse setzen und durch akti­

ve Interaktion, vielleicht aus einem gemeinsamen ideellen Hintergrund

heraus, eine solche spontan-organisierende Wirkung initialisiert wird.

Dabei geht es wahrlich nicht um die Akkumulation weiterer

Potentiale, sondern es geht um deren Einsatz, um die aktive

Einflussnahme!

Wir stehen in einem großen und traditionsreichen kulturellem Umfeld,

mit dem wir in jedem persönlichen und gemeinschaftlichen Bezug

uns wechselseitig austauschen und beeinflussen, in dem wir unseren

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kulturellen Anspruch beitragen, behaupten und einfordern können.

Diesen kulturellen Anspruch gilt es nicht nur im künstlerischen

Schaffen und in Sonntagsreden, sondern besonders im täglichen

Leben, im großen gemeinschaftlichen Kontext, in der sozialen

Organisation, unserem alltäglichen wirtschaftlichen und politischen

Wirken, umzusetzen.

Es geht um unsere persönliche Interaktion mit dem Nächsten, mit der

gesellschaftlichen Umgebung und der intentionalen Pflege unserer

Beziehungen, um das Kultivieren unserer gemeinschaftlichen Existenz.

Ob bewusst oder unbewusst, durch unsere aktive Teilnahme ge­

stalten wir unsere unmittelbare Umgebung mit und müssen die

damit · verbundene Verantwortung übernehmen. Deswegen liegt

die Forderung nach zielbewusster Gestaltung unseres Umgangs nahe -

ja, sie bietet sogar die entscheidende Chance zur Verbesserung der

Verhältnisse.

Gegenseitige Beeinflussung und die jeweilige Rückäußerung ver­

langen von uns, dass wir versuchen, den Mitmenschen einzu­

nehmen, zu beeindrucken und zu überzeugen, um Unterstützung

für uns zu erreichen und gleichzeitig, den Mitmenschen weder zu

irritieren, noch ihn zu verschrecken oder zu verstocken, um

Aggressionen zu vermeiden. Um diese Kultur geht es zuerst, sie ist

der Kern jeder sozialen Organisation. Die Kultur des Umgangs

miteinander ist die entscheidende Grundlage unseres allgemeinen

kulturellen Niveaus und ihre Bestimmungsgröße. Ohne die Kultur

des Umgangs miteinander gibt es keinen weitergehenden kulturellen

Anspruch - eine soziale Organisation, die sich von einer anerkann­

ten Kultur des Umgangs entfernt, verliert ihre kulturelle Dimension

und damit ihre menschliche Würde und Legitimation. Das

Bewusstsein einer Einheit von Kultur und sozialer Organisation tut

also Not!

Besinnung auf die persönliche Interaktion - Kultur im Kleinen

Ich will im Folgenden einige Möglichkeiten aufzeigen, Impulse im

Umgang miteinander auf unsere chaotische Umwelt auszuüben.

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Dabei handelt es sich vor allem um Verhaltensweisen, die jeder

Einzelne leisten kann, und um Ansprüche, die zu vorderst gegen sich

selbst einzuhalten und umzusetzen wären. Hier äußert sich die

eigene Kultur des Umgangs und hier beginnt jede Form der sozialen

Organisation.

So banal es klingt, zuerst sei auf die schlichte Höflichkeit, auf den

natürlichen, aufrichtigen und aufgeschlossenen Umgang miteinander

verwiesen. Dazu gehören Respekt und Zurückhaltung, aber auch die

klare Stellungnahme - allerdings: der Ton macht die Musik. Wie leicht

wird diesen Aussagen zugestimmt und bei nächster Gelegenheit doch

wieder geschwafelt und dem Anderen nach dem Munde geredet. Und

Sensationen und Sensatiönchen werden schnell kommuniziert und

kolportiert, aber nicht durchdacht. Die Freimaurerei bietet das weite

Spektrum vom Arbeitsabend bis zum Konvent, sich diesbezüglich zu

vervollkommnen.

Einfluss ausüben

Dann geht es um die Vermittlung eigener Ideen, Ansichten und

Perzeptionen. Oftmals wird dazu einfach eine Beschreibung oder

gar nur ein Stichwort abgeliefert, und der Initiator wundert sich

über die geringe Resonanz. Dem Empfänger fehlt einfach der

Kontext, um derlei Mitteilungen richtig aufnehmen zu können. Viel

besser ist es meiner Ansicht nach, auf die Initiierung von

Denkprozessen hinzuarbeiten. Dies erreicht man weniger durch

schlaue Statements, vorschnelle Urteile, Meinungsspiegelungen oder

irgendeine Form der Resignation. Viel weiter helfen offene, poin­

tierte oder schlicht neugierige Fragen. Damit kann man ein weites

Netz aufspannen, das aus der Faktenlage zum Sachverhalt,

Bedingungen und Strukturen sowie Zielsetzungen besteht, mit dem

im Dialog aber konstruktiv umgegangen werden kann. Dieser

Vorschlag ist unmittelbar daran zu verifizieren, wie gut sich zum

Beispiel Experten oder alte Freunde verständigen können, aber eine

Einhelligkeit einer Talkrunde oder in einem Journalistentreffen

undenkbar erscheint.

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Eine Besonderheit der Freimaurerei ist, solche Denkprozesse über Gleichnisse anzustoßen. Die Rituale bieten hier einen reichen Fundus, wie die Symbole schier unerschöpfliche Interpretationsmöglichkeiten bieten. Die redeartlichen Anleihen und Anklänge1 an freimaurerisches Sprach- und Brauchtum sind ja gerade Ausdruck dafür, wie klar bestimmte Ideen damit vermittelt werden können. Ich meine damit kei­nesfalls, dass man die in freimaurerischen Ritualen auffindbaren Gleich­nisse verabsolutieren sollte, sondern möchte nur auf die besondere Kraft dieser Methodik hinweisen, die es dem Gegenüber insbesondere erlaubt, einen eigenen Zugang zur Sachproblematik zu gewinnen, ihn also nicht einfach zu vereinnahmen oder zu überrumpeln versucht. Gleichwohl bieten gerade die Rituale des Schottischen Ritus einen besonders reichen Schatz solcher Gleichnisse und Symbole, die sich aus der Tradierung und Sublimation antiker Mythen, philosophischer Schulen, historischer Lehren oder einfach originärer humanitärer Geisteshaltung ergeben und zeitlose Pfeiler ethischer und sozialer Bildung sind.

Eine Abwandlung des Gleichnisses ist das Gedankenspiel, (vor-) wissen-schaftlich das Gedankenexperiment, die Kontingenz- und Parameter­analyse. Das Gespräch dreht sich dann um die Frage: ,, Was wäre, wenn ... " - bestimmte Bedingungen so oder anders gesetzt wären. Diese Frage lässt sich immer mit Gewinn einbringen, und man kann dabei seine Einschätzungen, Präferenzstrukturen und Ergebnisbeurteilungen austau­schen - das Verständnis kann wachsen, Rechthaberei und mangelnde Kenntnis blieben weniger unentdeckt. Es braucht nicht immer gleich der Kategorische Imperativ2 oder das Allgemeine Sittengesetz3 herbeizitiert zu werden, sondern die Methode des Gedankenspiels wirkt schon im all­täglichen Diskurs, wenn man z. B. aktuelle Tendenzen oder Prozesse mit kritischen Ansprüchen konfrontiert.

Eine weitere Möglichkeit zur positiven Impulssetzung ist der heute bemerkenswerterweise oftmals verpönte Verweis auf anerkannte

1 Z. B. etwas ausloten, den Ham mer schwingen, einen Maßstab anlegen. 2 Richte Dein Verhalten so ein, dass es zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte 3 Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das tu' auch keinem andern an - Liebe Deinen Nächsten

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Autoritäten, auf deren Bekenntnis, Meinung, Expertise oder Rat. Man

braucht ja mit diesen Autoritäten keinesfalls einer Meinung zu sein,

aber ihre Stellungnahme ist zunächst einmal wohlbegründet und unter

vielerlei Blickwinkel geprüft. Autoritäten derart zu bemühen, erleich­

tert das gegenseitige Verständnis und bedeutet immer auch Klärung

des Gesprächsgegenstandes, wie es auch Voraussetzung für kongeniales

Verhalten ist.

Vorbildlichkeit

Mit ähnlichen Schwierigkeiten hat das gleichfalls einsetzbare Vorbild

zu kämpfen. Der Generation der Postmoderne ist die Affinität zu jeg­

lichem Vorbild über Ausbildung und Sozialisation schlicht nicht ver­

mittelt, spitzer formuliert, wohl vorenthalten worden. Trotzdem sind

die Suche nach Vorbildern und die Fähigkeit, solche Persönlichkeiten

zu identifizieren, jedem Menschen gegeben. Nur manche Menschen

kultivieren diese Anlagen mehr als andere. Auch hier geht es mir

nicht darum, bestimmte Vorbilder herauszustellen - es gibt sie als

Freimaurer, Gelehrte, Philosophen, Feldherrn, Heilige und einfache

Menschen. Ich möchte nur darauf hinweisen, wie positiv ein

Gespräch geführt werden kann, wenn man auf bestimmte Vorbilder

zurückgreifen, ihr Verhalten über Analogien auf die aktuelle

Situation übertragen kann, oder eben die Unmöglichkeit dessen

erkennt. Wenn man mit Vorbildern operiert, möchte man über die

Nachahmung auch immer ihren Erfolg erreichen. Es kann sehr

fruchtbar sein, Nachahmungs- und Erfolgsmöglichkeiten in einem

sich gegenseitig ausbalancierenden Dialog zu diskutieren. Wie würde

das Vorbild heute agieren, und was wäre die Folge? So entstehen

Visionen ...

Die persönliche Interaktion in der Öffentlichkeit - Kultur im Großen

Jetzt ist es mir gelungen: ich habe das Unwort der Epoche, das

Vorbild, und das super-hipe-Wort des anbrechenden Kommunika­

tionszeitalters in einem Absatz genannt. Heute braucht keiner mehr

den Mund aufzumachen, wenn er nicht auch eine Vision zu verkün-

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den hat. Auch die Freimaurerei hat eine Vision: "Wenn alle Menschen

Brüder sind und die Humanität ihren Sieg feiert! ... " Aber wie soll

man heute einen Mann verstehen, der zu einer Angelegenheit nur ein

paar beschreibende, erzählende und lobende Sätze findet. Man ver­

steht ihn jedoch gleich ganz genau, wenn er verkündet, im übrigen sei

er der Meinung, Karthago müsse zerstört werden, jeder deutsche

Arbeiter sollte einen Volkswagen bekommen, oder „populate the

internet! ". Das sind großspurige Visionen - es gibt auch banale,

lächerliche usw.

Die Visionitis konterkariert sich selbst. Natürlich soll man seme

Mitmenschen begeistern, Ziele und Wünsche kommunizieren, aber

sie mit einer geschlossenen Vision zu konfrontieren bedeutet, sie zu

Sklaven oder Außenseitern zu machen, man vereinnahmt sie oder

macht sie zu Gegnern. Zwar schafft dieses Verhalten im allgegen­

wärtigen Chaos sogar belastbare Strukturen, aber es schafft vor

allem Spannungen. Deswegen erfordert eine geschlossene Vision im

Umgang miteinander eine besonders sensible Behandlung. Sonst

sind, trotz anfänglicher Begeisterung, spätere Probleme vorpro­

grammiert.

Rationale Annäherung an Problemstellungen

Und dann möchte ich noch eine Anleihe bei der allgemeinen Wissen­

schaftstheorie machen. Es gibt so etwas wie ein allgemeines

Problemlösungsverhalten. Man betreibt dabei eine ordentliche

Problembeschreibung, unternimmt eine geeignete Faktensuche und

Sachfeststellung, kombiniert einschlägige Gesetzmäßigkeiten mit

Zielvorstellungen und verfügbaren Mitteln und leitet daraus eine

Problemlösung her.

Diese vernunftgemäße Annäherung an Problemstellungen wird heute

oftmals versäumt. Viele öffentliche, private und dienstliche Gespräche,

Diskussionen und Verhandlungen wären fruchtbarer, wenn wenigstens

ein Abglanz dieser Vorstellung berücksichtigt würde. Ich meine, man

sollte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wo immer möglich, soll­

ten schärfere Einschränkungen eingeführt werden, um realistische

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Lösungsmöglichkeiten überhaupt sichtbar werden zu lassen. Ich meine

damit, dass man das Notwendige vom Wünschenswerten unterschei­

det, die Zielsetzung von der Utopie, den Bezug zur realen Welt und die

Einordnung in Raum und Zeit nicht verliert. In diesem Zusam­

menhang darf die heute grassierende Regelungswut nicht unbemerkt

bleiben. Ich denke dabei an Steuergesetze und Ordnungen aller Art. Es

ist unübersehbar, dass allenthalben über das notwendig zu Regelnde

hinausgegangen wird und Ausnahme- und Sonderregelungen über­

hand nehmen. Dies führt zu lntransparenz und verstärkt das Chaos,

anstatt es zu lichten.

Unsere Lage ist prekär, aber nicht hoffnungslos

Ausgehend von einem Beispiel, wie im Chaos eine neue

Orientierung auftaucht, habe ich einige aktuelle epochale und

globale Phänomene angesprochen, die viele durchaus in einer

chaotischen Situation befindlich sehen würden. Diesem Beitrag

bleibt es erspart, den Königsweg aufzuzeigen. Vielmehr appelliere

ich an einen kultivierten Umgang miteinander, um die aus dem

Chaos erwachsende Ungewissheit, Unbestimmtheit und praktische

Unsicherheit im interaktiven Miteinander abzubauen. Hinter

diesem Appell steht die Einsicht in die extreme Komplexität unse­

rer Wohlstandsgesellschaft und ihre ungeheuer fragilen sozialen,

technologischen, wissenschaftlichen und eben kulturellen Voraus­

setzungen. Als Beispiel denke man an die Chipproduktion und die

extrem komplexen Voraussetzungen für ihre nachhaltige Ver­

fügbarkeit einerseits, und die Folgen einer Aussetzung oder eines

Ausfalls dieser Technologie andererseits. Hier liegt eine große

Verantwortung, die aber nur im sozialen Konnex getragen und auf­

gelöst werden kann.

Fernab in Afrika hat Albert Schweitzer um 1923, in der oben ange­

sprochenen, sonst vom Chaos bestimmten Zeit, in seiner Schrift

„Kultur und Ethik" seine Schlussfolgerung aus seinen Erfahrungen

und der Ethikdiskussion vergangener Zeiten in der Formel

„Ehrfurcht vor dem Leben" zusammengefasst. Darin spiegelt sich die

Bewunderung für die Natur, in der alles Lebendige nach Verbesserung

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strebt und die damit verbundene, durchaus religiös fundierte

Hoffnung auf eine gute Entwicklung.

In diesem Sinne das Streben nach Verbesserung umzusetzen, indem

Führungsverantwortung übernommen und initiativ auf eine

Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses und auf eine bewusste

soziale Interaktion entsprechend unserem hohen Anspruch hingear­

beitet wird, kann als Herausforderung für die sich besonders engagie­

renden Brüder des Schottischen Ritus und als großartige Zukunfts­

perspektive der Freimaurerei gesehen werden.

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Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als unverrückbares Fundament der gesellschaftlichen Ordnung

Br:. (Prof. Dr.) Werner Maiwald, 32°

Braucht uns die Zukunft? Genauer gefragt, braucht die Zukunft den

Menschen, wie er ist, dessen Gedeihen und Wohl zu fördern wir uns

beim Beitritt zu unserem Bund verpflichtet haben? Da erklärt uns

mancher Bioethiker, daß es möglich sei, mangelhaftes, unglückliches,

(unwertes?) Leben zu verhindern und vielleicht durch Klonen einen

neuen Menschen zu schaffen, gesund, umweltresistent, erbbiologisch

rein. Auch ohne das heute noch meist abgelehnte Klonen von

Menschen: Täglich wird nicht nur in der Werbung ein Bild vom

Menschen gezeichnet: gesund, stark, schön. Das wird als das Normale

dargestellt, wird zur Norm.

Damit wird zumindest indirekt vermittelt: Das nicht dieser Norm

Entsprechende hat geringeren oder keinen Wert, ist auszusondern,

abzusondern, dem wird Zuwendung und Fürsorge, vielleicht gar das

Lebensrecht entzogen, kann die Selbstbestimmung verweigert werden,

ist vielleicht nur noch Organspender für das Wertvolle.

Oder: Am 21. Januar 2000 erklärte der damalige US-Präsident die

Nanotechnologie und die Verbindung von Gen- und Computer­

technologie zu den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts: »Diese

nationale Initiative wird uns die Möglichkeit verschaffen, Materie auf

der atomaren und subatomaren Ebene zu verändern. Machen Sie sich

die Möglichkeiten klar: Materialien, die zehnmal so stark sein werden

wie Stahl und nur einen Bruchteil ihres Gewichts haben. Wir werden

alle Informationen der Library of Congress auf den Umfang eines Zuckerwürfels reduzieren können. Wir werden Krebszellen entdecken

können, wenn sie erst ein paar Zellen groß sein werden. Vielleicht

brauchen wir dafür zwanzig oder sogar noch mehr Jahre - deshalb

wird die amerikanische Regierung diese Initiative begründen und

bezahlen."

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Die Manipulierung der genetischen Substanz des Menschen hat begonnen

Amerikanische Wissenschaftler prophezeien in einem Memorandum an die Mitglieder des US-Kongresses den Anbruch einer wissenschaft­lichen, ökonomischen und sozialen Revolution ersten Ranges. Wächst hier die Freiheit, die wir wollen? Es gibt auch warnende Stimmen: Gentechnologie und Nanotechnologie machen den Menschen zu einer gefährdeten Art. Ein technischer Komplex greift nach der genetischen Identität des Menschen. Man

träumt davon, intelligente Maschinen zu entwickeln, die alles besser können als der Mensch. In diesem Fall wird alle Arbeit wahrscheinlich von riesigen, hochorganisierten Maschinensystemen erledigt, so daß man auf die menschliche Arbeit verzichten kann. Ein neuer Garten

Eden? Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Man könnte den Maschinen erlauben, ihre Entscheidungen selbst und ohne menschliche Kontrolle zu treffen, oder der Mensch könnte die Kontrolle über die Maschinen behalten. Falls man den Maschinen erlaubt, ihre Entscheidungen selbst

zu treffen, lassen sich die Ergebnisse nicht abschätzen, denn wir können unmöglich voraussehen, wie solche Maschinen sich verhalten werden.

Technik ist immer Überlistung der Natur, die mit ihren eigenen Waffen geschlagen wird. Hegel schreibt, daß der Mensch zwischen sich und den Gegenstand das Werkzeug schiebt und so die Dinge überlistet.

„Mechane" heißt griechisch: das Werkzeug. Es heißt aber auch List und Tücke. Entsteht in der kommenden Zeit eine Technologie, die den

Menschen verdrängt? Sollte man nicht auf die List und Tücke der

neuen Technologien achten?

Durch die Verschmelzung mit der Robotertechnik sollen die Menschen nahezu Unsterblichkeit erlangen. ,, ... wenn ich mit einem Körper aus Silizium 200 Jahre werden kann, werde ich ihn nehmen". „Ich bin nicht weniger Mensch, wenn ich künstliche Teile im Körper trage." Schon heute gibt es solche Teile, vom Zahnersatz bis zum Herzschrittmacher. Wo aber ist die Grenze? Müssen wir uns vielleicht vor einer Art Unsterblichkeit schützen, die schlimmer ist als der Tod? Mit Hilfe der Gentechnik entsteht die Möglichkeit, die Menschheit in

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nicht mehr als gleich geltende Arten aufzuspalten. Damit ist die Gleichheit gefährdet, auf der die Demokratie beruht. Es könnte sich eine "genetische Kastengesellschaft" herausbilden.

Die Illusion von der absoluten Machbarkeit

Es wird uns versprochen: Wir werden die Welt vollkommen neu gestalten können. Schöpfungsprozesse geraten in den Einflußbereich des Menschen. Man könnte einwenden, das seien Utopien. Aber selbst einzelne Individuen oder kleine Gruppen könnten diese Technologien mißbrau­chen. Dazu benötigen sie keine Großanlagen, sondern nur Wissen. Erfahrungen zeigen doch, daß größte Gefahren drohen, wenn Menschen neue Technologien gegen Menschen einsetzen.

Ist es realistisch, auf allzu gefährliche Technologien zu verzichten, bei der Suche nach bestimmten Formen des Wissens Grenzen zu setzen? Aber es sind doch Fragen zu stellen: Brauchen wir das? Welche Folgen hat das? Es scheint mir ein Auftrag für einen Freimaurer, so ein Nachdenken anzuregen.

Technologie wächst von Natur aus exponentiell. Milliarden Jahre dauerte es, bis sich die ersten Zellen formten, Säugetiere brauchten nur einige Millionen Jahre, der Homo sapiens war in hunderttausend Jahren fit. Dann wurde die weitere kulturelle Entwicklung von den Lebewesen übernommen, die Technik erfunden hatten. Steinwerk­zeuge, Feuer, das Rad, das war in ca. zehntausend Jahren getan. Seither �at sich das Tempo immer mehr beschleunigt. Zur heutigen technologischen Entwicklung kann man kontroverse Meinungen lesen. Z. B. bei Friedrich Dürrenmatt finde ich unter der Überschrift "Elektronische Hirne": ,,Noch sind sie unsere Knechte, noch führen sie aus, was wir ihnen vorschreiben, dumm, stur, emsig. Aber schon sind die Resultate, die sie liefern, nicht -mehr zu kontrol-. lieren, nur durch ihresgleichen. Doch bald werden sie weiterrechnen ohne uns, Formeln finden, die (von Menschen vielleicht) nicht mehr zu interpretieren sind. Bis sie endlich Gott erkennen, ohne ihn zu verste­hen, schuld- und erbarmungslos, straf- und rostfrei. Gefallene Engel." Und an anderer Stelle: ,,Eine Welt, die sich auf Wissenschaft gründet, hätte nicht unbedingt etwas mit Vernunft zu tun, sondern möglicher-

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weise mit Wahnsinn. Schon Plato entwarf eine schreckliche Welt. Das gleiche gilt für Huxley, Wells und Orwell. Auch die heutigen Science­Fiction-Schreiber, von denen die wichtigsten ernst zu nehmen sind, set­zen im Gegensatz zu den Marxisten keine naive Utopie an die Stelle der Zukunft, sondern mögliche Modelle aufgrund der Evolution".

Die Kunst unseres Geschlechts: Humanität

Ich lese aber auch Gegenpositionen wie: Warum sollen wir eine Zukunft annehmen, die uns nicht braucht? Die menschliche Gesellschaft ist zu vielfältig, komplex und widersprüchlich, um mit der biologischen Evolution verglichen werden zu können. Daß heute eine Clique von Forschern und Institutionen, die diese Forschung finanzieren, die gesam­te Evolution für sich beanspruchen, kann nur als Anmaßung totalitärer Natur verurteilt werden. Neoliberalismus, Genetik und Streben nach Weltherrschaft bilden ein einheitliches Wertesystem, dessen Feind der

Mensch als soziales Wesen und frei bestimmtes Subjekt ist.

Leben, Freiheit und Unversehrtheit sind die höchsten Güter des Menschen. Wir dürfen nicht dazu schweigen, wenn Unschuldige auch in unseren Tagen unfrei gehalten, geschunden und ermordet werden. Droht auch nur einem Menschen Beeinträchtigung oder Verlust dieser Güter, verstößt dies gegen die Idee der Humanität, von der Herder schreibt: "Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein; denn eine Agilität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, wer­den wir Plagegeister der Menschen.

Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleich-

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sam die Kunst unseres Geschlechts. Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und nie­dere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück." Sowohl diese Befürchtung als auch diese Mahnung sind hochaktuell. Als Freimaurer sollten wir sie annehmen.

Die moralische Identität des Menschen

vor ihrer Manipulierung schützen

Der technische Komplex greih auch nach der moralischen Identität des Menschen. Es ist einfacher, Streß als genetisch veranlagt zu erklären und

mit Pharma-Drogen zu behandeln, als die dafür verantwortlichen sozialen Bedingungen zu verändern. Zumal es so auch mehr finanziellen Gewinn bringt. Nicht die Umwelt entgiften, sondern das Leben giftresistent

machen, den Menschen überlebensfähig gestalten. Ist das die Aufgabe? Wird das Leben auf der Erde für eine Ewigkeit von einem technologischen Abwehrsystem abhängen, vielleicht von wenigen monopolisiert?

Schon heute wird die menschliche Freiheit beeinträchtigt: Es gibt doch

schon trotz Datenschutz die Möglichkeit mit diversen Chipkarten, Internet usw. den Aufenthaltsort eines Menschen, seine Gewohnheiten, Tätigkeiten und Krankheiten zu erfahren. Freiheit ist eine Funktion des menschlichen Willens, sie ist nicht abhängig von technologischen Zwängen. Sie ergibt sich eher aus der Ökonomie, der politischen Organisation der Gesellschaft und den sozialen Gewohnheiten. Aber der technologische Fortschritt geht zunehmend schneller voran als politische Entscheidungsprozesse. Die Technologie setzt sich an die Stelle der Politik.

In einer Zeit des beschleunigten technologischen Fortschritts kommt alles auf die Zirkulation von wahren Informationen an. Aber handeln wir uns in Politik und Ökonomie mit dem Tausch von Informationen tatsächlich mehr Wissen ein? Kernproblem ist nicht der Mangel an Freiheit, der durch Nano- und Gentechnologie u. ä. beseitigt werden muß, sondern die Abwesenheit von Wahrheit. Es werden Theorien entwickelt, mit denen sich dieser galoppierende Irrsinn als Erweiterung der Demokratie verkaufen läßt. In der Werbung der Parteien geht es nicht anders zu als bei der Diesel-Jeans-Werbung.

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Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse

Haben wir eine Ethik, die das technische Handeln zu ihrem Objekt

hat, oder macht die Technik das Ethische zu ihrem Gegenstand und

definiert sie neu? Wer bedient sich wessen? Haben wir bitte keine

Illusionen, denn:

Für die Technik ist das Gebot „Du sollst nicht töten" irrational. Die

technisch geschaffene Realität speist sich aus der Lizenz zur Brechung

strikter moralischer Regeln. Der Versuch, konkretes Leben zu verlän­

gern oder zu vereinfachen, kann technisch konkrete Tötungshand­

lungen erforderlich machen. Der erste Hauptsatz eines technikkonfor­

men Verhaltens könnte etwa lauten: Eine moralische Verweigerung

des technischen Zugriffs auf das Substrat menschlichen Daseins zum

Zwecke der Klonierung ist unmoralisch. Man leiste sich keine

Sentimentalitäten, gegenüber tierischem Leben nicht, gegenüber den

Embryonen nicht und nicht gegenüber Verhungernden oder anderen

,,unvermeidlichen" Quoten. Das Individuum ist längst überlistet.

Unsere Welt ist eine Arena subtiler Beeinflussung. Unsere Psyche ist

Angriffsziel von Experten in Sachen Marketing. Wir sind ständig pro­

fessionellen Manipulatoren ausgesetzt. Dabei werden Techniken der

psychologischen Kriegführung eingesetzt. ,, Wie schafft es die Werbung

in Modemagazinen, daß wir uns nie schlank und schön genug fühlen,

und weshalb sehen wir uns gerade deswegen gezwungen, die dann

angepriesenen Produkte zu kaufen? Wie kommt es, daß wir glauben,

über die Wirkung von Werbung und Marketing Bescheid zu wissen

und ihnen doch immer wieder zum Opfer fallen? Warum ist es so

schwer, die einfachste, instinktiv in uns vorhandene Fähigkeit wieder­

herzustellen, zu erkennen, was wir wirklich wollen?", schreibt

Douglas Rushkoff.

In diese Zukunft sind wir als Freimaurer, auch die Brüder des Alten und

Angenommenen Schottischen Ritus, gestellt. Hier haben wir zu bestehen.

Und es gilt wie im 18. Jahrhundert der kategorische Imperativ: ,,Handle

nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß

sie ein allgemeines Gesetz werde ... Autonomie - Freiheit also - ist der

Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur."

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Freimaurer werden gebraucht

In der ELEUSIS schrieb ein Bruder: ,,Keine Frage, daß wir der „herr­

lichen Unverbindlichkeit der Freimaurerei", wie sie sich heute dar­

stellt, entschieden und endgültig eine Absage erteilen müssen. Das

„Schönreden", ,,Sich-selbst-Erheben" und „Beweihräuchern" hat uns

keinen Schritt weiter, aber in die falsche Richtung gebracht." Ihm

kann ich nur zustimmen, denn so kann die Freimaurerei angesichts der

oben aufgeworfenen Fragen nicht bestehen.

Wenn Freimaurer im 21. Jahrhundert noch von dieser pluralistischen

Gesellschaft bemerkt werden wollen, müssen wir im täglichen Wirken,

jeder an seinem Platz, Fragen stellen, Alternativen und neue Konturen

zeigen, und so zu einer gesellschaftspolitischen Kraft werden. Wir soll­

ten uns auf unser geistiges Fundament besinnen: Freiheit für alle

Menschen, Toleranz als Billigung und Mißbilligung der Gegensätze,

Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit als Substanz und Methode des

täglichen Lebens. Ich verstehe das als Verpflichtung zur Mensch­

lichkeit, weil alle Menschen einen gemeinsamen Ursprung haben. Mit

Voltaire haben wir die Gleichwertigkeit alles Menschlichen heute

angesichts der Bedrohungen neu zu verstehen.

Wer Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch heute für alle

Menschen will, wer Sittlichkeit, Ethik und Moral wieder als Not­

wendigkeit des gesellschaftlichen Lebens begreift, der darf nicht bei

Proklamationen humaner Werte stehen bleiben.

Logen sind Sammelbecken ungeduldiger, streitbarer Menschen,

,,Schulen edler Menschlichkeit", ,,Baustellen für geistige Bauleute",

,,Baustellen zur Erkenntnis vom Wesen und Sein des Menschen".

Wesentlich für uns als Freimaurer ist, daß der Mensch vor allem

„Mensch" wird, daß unsere Welt „in Ordnung" ist, wesentlich ist die

Liebe von Mensch zu Mensch.

In den kommenden Jahrzehnten werden Freimaurer gebraucht, die

starke Persönlichkeiten sind, die Widerstand leisten von Angesicht zu

Angesicht, von Mensch zu Mensch, die nicht zurückweichen vor der

Auseinandersetzung mit Unmenschlichkeit oder vor der Größe der

bedrängenden Konflikte.

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Vertiefung und Festigung freimaurerischer Geisteshaltung

Im Schottischen Ritus vertiefen wir unsere freimaurerischen Positionen,

um Nein zu sagen zu Aggressionen, Nein zu sagen zu Ideologien, wel­

che die Menschenwürde mit Füßen treten, unter welchem Mantel und

mit welcher Begründung auch immer, Nein zu sagen zu Fanatismus, zu

religiös-politischem Wahn, zu angemaßter Unfehlbarkeit.

Lassen wir die Gründe nicht gelten, die Erich Fried nennt: ,, Weil das

alles nicht hilft, sie tun ja doch, was sie wollen! Weil ich mir nicht noch­

mals die Finger verbrennen will! Weil man nur lachen wird: Auf dich

haben sie gewartet! Und warum immer ich? Keiner wird es mir danken!

Weil da niemand mehr durchsieht, sondern höchstens noch mehr

kaputtgeht! Weil jedes Schlechte vielleicht auch sein Gutes hat! Weil es

Sache des Standpunktes ist, und überhaupt, wem soll man glauben?

Weil auch bei den andern nur mit Wasser gekocht wird! Weil ich das lie­

ber Berufeneren überlasse! Weil man nie weiß, wie einem das schaden

kann! Weil sich die Mühe nicht lohnt, weil sie alle das gar nicht wert

sind!" Und er endet: ,,Das sind Todesursachen zu schreiben auf unsere

Gräber, die nicht mehr gegraben werden, wenn das die Ursachen sind."

Vor 75 Jahren sind die Freimaurer des Alten und Angenommenen

Schottischen Ritus angetreten für freie Entfaltung jedes einzelnen

Menschen als Voraussetzung für die freie Entwicklung unserer

Gesellschaft und tätige Solidarität und verständnisvolle Toleranz für

die Individuen neben uns. Es bleibt noch viel zu tun.

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Die Stellung des Schottischen Ritus

zur blauen Maurerei: Entweder - Oder und Sowohl als Auch?

Br:. (Dr.)Werner Walter Güttler, 33°

Viele Legenden, aber nur wenige Fakten sind uns überliefert vom Ur­

sprung der heutigen Freimaurerei. Da ist das Datum vom Johannisfest

des Jahres 1717. Vier Werklogen in London schlossen sich zur ersten,

nicht operativen Großloge der Welt zusammen und knapp zehn Jahre

später verfaßte der Reverend Anderson die alten Pflichten. Das sind

Fakten. Aber was besagen sie? Es bestanden also vorher schon

Bauhütten, sie schlossen sich nun nur zusammen und lösten sich von

den bisherigen zunftbedingten Pflichten der operativen Maurerei.

Deren ethische Sentenzen ließ Anderson weiterhin gelten. Gleichzeitig

erhielt er jedoch auch die alten Legenden am Leben, die er gewissen­

haft in seiner den alten Pflichten beigefügten Maurergeschichte

wiederholt.

Da zeigt sich schon unser Problem: Was sollen wir von seiner Aussage

halten, daß bereits Adam ein Freimaurer war, Noah die beim Turmbau

zu Babel korrumpierten Bräuche läuterte und über die Sintflut rettete und

der erste Meister Hiram durch sein Lebensopfer sie vor dem Mißbrauch

durch rebellische Gesellen bewahrte? Geschichte ist das nicht,

Geschichten sind sie sehr wohl. Nicht einmal auf die Bibel können wir sie

ohne Zwang zurückführen. Der Hiram in den Büchern der Chronik und

der Könige wird zwar als ein Meister in Stein und Erz gelobt, doch von

seinem Opfer gegenüber den Gesellen erfahren wir nichts. Ohne Zweifel

bleiben die ethischen Grundsätze, nach denen sich er und bereits Noah

richteten; Adam erscheint da schon viel problematischer.

Selbstverständlich behielten sie die Gültigkeit, die sie für das christli­

che Abendland durch das Kompendium der Bergpredigt bis heute

noch als geltend beanspruchen. Schließlich hatten die alten Bauhütten

Dome und Kirchen als Häuser für die Verehrung Gottes zu errichten.

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Das entfiel jedoch für die neue Maurerei. Nicht einmal die ausschließ­

liche Gültigkeit christlicher Religion war für sie Bedingung, denn nur

jene Religion einzuhalten wurde gefordert, in der alle Menschen über­

einstimmen, auch wenn hundert Jahre später, im Streit zwischen den

Ancients und den Modems, die Bibel als eines der drei großen Lichter

wieder unabdingbar wurde.

Was blieb als Faktum außer Anderson noch aus jener Gründerzeit

übrig? Die Rituale? Man war gewohnt, sie getreu zu zelebrieren, aber

man schrieb sie nicht auf. Wir wüßten kaum etwas von ihnen, hätte es

nicht die Verräterschriften, z. B. die von Prichard, gegeben, auf welchen

allein unsere heutigen Gebräuche fußen, auch die ganz strengen, auf

die sich Schröder berief, als sich nach dem Wilhelmsbader Konvent

unsere Maurerei versuchte auf die Ursprünge zu besinnen und den

überbordenden Wust der strikten Observanz verwarf.

Wie kam es überhaupt zu solchen Ausuferungen der Bräuche? Waren

sie nur von ehrgeizigen Mystifizierern frei erfunden, um absolutisti­

sche Machtansprüche über die beginnende Demokratisierung hinüber­

zuretten? Oder wollten diese einen Anspruch auf ein höheres Geheim­

nis besser begründen, durch Alchemie, Tempelrittertum und Rosen­

kreuzerei gegenüber den simplen Traditionen der Bauhütten? Ja und

nein! Schon Anderson deutete solche Bezüge an, ordnete sie jedoch

den Maurerbräuchen zu und nicht über. Eines ist heute gewiß:

Geschichtlich sind solche Herkünfte nicht haltbar. Sie sind und bleiben

Legenden, wann sie auch immer Eingang in die Maurerei fanden. Sind

sie jedoch so verwerflich, daß wir sie puristisch negieren müssen?

Was sind Legenden?

Wenn sie gut und gehaltvoll sind, sind sie zumindest Dichtung. Damit sam­meln sie in eingängigen Bildern Aussagen mit Wahrheitsgehalt. Wir dürfen

da nur nicht Wahrheit mit Wirklichkeit gleichsetzen. Goethes Faust, ein

gutes freimaurerisches Drama, hat mit dem geschichtlichen Faust nur noch

das volkstümliche Greuelmärchen des Teufelspaktes und den Namen

gemeinsam. Schon der Vorname Heinrich stimmt nicht, der wirkliche hieß

Johann. Dennoch enthalten die Worte und Gedanken Goethes Wahrheit.

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Er verwirklichte sie, mangels nachweisbarer Wirklichkeit. Noch deutlicher

wird dies bei Mozarts Zauberflöte. Dort ist alles offensichtliche Legende.

Fort damit? Dann bitte auch mit unserer Hiramslegende! Nicht nur das

Voll< speist man mit Märchen ab, sagt Lessings Nathan dem Saladin. Der

hat gut reden, denn auch er ist Dichtung, ist Legende. Was tun? Spricht

Zeus ... ach ja! Auch der ist nur Legende ...

Können wir uns retten vor Legenden? Vor allem: Müssen wir das denn?

Was bleibt uns dann selbst in unserer abgespeckten Maurerlegende? Unser

edles Menschentum? Ist das nicht, angesichts von Internet, Fernsehen und

wirtschaftlicher Effektivität auch nur Legende, Wunschbild innerhalb

unseres Elfenbeinturmes? Doch wohl nicht! Unsere Tradition ist ganz

konkret. Sinnhaft durch Begreifen, Einsehen, Verstehen von Werkzeugen,

Worten und Erlebnissen, denn für das menschliche Gehirn hat nur das

einen Sinn, was irgendeinen seiner Sinne anrührt. Es wirkt, denn das ist

Kunst. Kunst kommt nicht von Können, sondern von Künden, wenn man

auch können muß, um Künden zu können.

Also ist all unser Tun dichterische Legende. Das ist unsere Besonder­

heit. Die ethischen Forderungen gelten für alle Menschen, wir haben

lediglich eine besondere Form, sie als Leitbild aufzuzeigen. Genügt

dafür die vertraute blaue Maurerei?

Zurück zum Ursprung, ja!

War dieser allein jene Großloge der vier alten Londoner Hütten? Gab

es neben denen nichts anderes mehr? Wie war es denn mit jenem

Sinclair, der zweihundert Jahre vorher die Rosslyn-Chapel bauen ließ,

in welcher z. B. bereits bildhaft der Totschlag jener unwürdigen

Gesellen zu sehen ist, wenn auch ohne Hirams Namensnennung? Wie

ist es dann mit Bruce, der flüchtige Templer bei sich aufnahm und mit

ihrer Hilfe das schottische Königtum gegen England behauptete? Wie

ist es außerdem mit seinem Stewart, einem portugiesischen Templer,

Ahnherr der Stuarts, auf die sich schließlich mütterlicherseits dieser

Georg berief, unter dem sich jene erste Londoner Loge formierte? Und

der eben genannte Sinclair konnte sich authentisch berufen auf den

Templerbailli Saint-Clair aus St. Omer. Geschichte? In der Wurzel

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schon, aber sonst verborgen unter blühenden Legenden. Wir müssen

sie nicht glauben, aber schön finden dürfen wir sie, so wie wir die

Wechselreden unserer Rituale schön finden, obwohl auch sie Legende

sind. Es geht um Anwendbarkeit.

Newton z. B.: Er entdeckte seine Gravitationstheorie so nebenbei. Sein

Herz gab er der Alchemie bis hin zur Quecksilbervergiftung durch den

geheimnisvollen Mercurius. Und sein Kollege bei der Royal Society,

Ashmole? Er war schon lange vor der Londoner Gründung

Freimaurer, genau wie sein Freund Robert Moray, der bereits 1641 in

Edinburg aufgenommen wurde. Beide brachten Gedanken der

Rosenkreuzer mit der Alchemie ein in die von ihnen gegründete Royal

Society und damit auch in die Freimaurerei. Nicht daß sie selbst

Rosenkreuzer waren, sie begeisterten sich nur für die Ideen.

Die Rosenkreuzer als solche hat es nie gegeben. Sie waren eine Fiktion

des protestantischen Predigers Johann Valentin Andreae, ähnlich wie

Roger Bacons Dichtung über die Utopia oder der philosophische

Gottesstaat des Erasmus von Rotterdam (der war übrigens angenom­

mener Maurer der Bauhütte von Utrecht). Legenden, Dichtungen all

das, wenn auch mit solchen ethischen Forderungen, daß es reizen

mußte, entweder nach diesen geheimnisvollen Bruderschaften zu

suchen, oder unabhängig davon ihre Ideen selbst zu verwirklichen.

Andere Mitglieder der Royal Society nahmen das auf in ihre neue

Aufklärung, wie Hobbes, Locke, Hume, und schließlich unser

Reverend Anderson. So gelangten sie unbenannt schon in die einfache

Maurerei. In der schottischen Maurerei werden sie gezielt genannt,

das stimmt. Sie sind dort aber lediglich Leitbilder, keine

Identifikationen, wie einst in der strikten Observanz. Nun gut, dann

lassen wir sie dort.

Brauchen wir Hochgrade?

Schon das Wort Hochgrade stimmt nicht. Die gibt es bei den Drei

Weltkugeln oder der Großen Landesloge immer noch, weil es sie

bereits bei der strikten Observanz gab. Dort sind sie hierarchisch ein­

gegliedert, im Grunde genommen aber genauso nur vertiefende Grade

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wie bei den Schotten. Entscheidend ist, daß sie dort rein christlich bestimmt sind, nicht humanitär, wie in Andersons Alten Pflichten, der AFuAM und eben auch im Alten und Angenommenen Schottischen Ritus. Hier sind sie Vertiefungsgrade, nicht mehr als die erwünschten, nicht verwirklichten des Meisters der blauen Grade, aber dessen Erweiterung und Vertiefung.

Sie setzen den Meistergrad voraus, weshalb der Ritus mit der AFuAM die Konkordanz schloß, dieser den Weg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister als Aufgabe zu überlassen. Der Weg bleibt weiterhin bildhaft, sinnhaft, weiterhin gestützt auf philosophische Einsichten und kündende Legenden, uralte Gleichnisse für das geistige Wachstum menschlicher Erkenntnisse. Hirams Vorbild wirkt fort, aber nicht nur im Bedenken sei­ner Haltung, sondern als stärkere Aufforderung zum Handeln. Und aus den Visionen eines Bacon, eines Hume, eines Andreae, eines Ashmole wurden die Anstöße für edleres Menschentum übernommen, nicht rosen­kreutzerische Beschwörungen von Elementargeistern und auch nicht alchemistische Goldmacherei, wohl aber das Gleichnis, Unedles zum Edlen zu sublimieren, geistiges Gold, der Wandlung des rauhen Steins zum glatten Kubus, parallel, immer verbunden mit den Anforderungen der wirklichen Welt. Mit den alten Legenden verknüpft, bewahrten sich allerdings die alten Namen und Titel, nicht als Rechtsanspruch, sondern als Mahnbild und Aufgabe. Deshalb bleiben die Handlungsorte immer noch Werkstätten, Ateliers, in denen maurerisch in die Breite und die Tiefe gearbeitet werden soll, nicht in die Höhe.

Industrialisierung der Kultur

In einem neuen Umbruch gesellschaftlicher Verknüpfungen werden wir zur Zeit wieder durch eine andere technische Revolution hineingelenkt. Sie führt allerdings auf der eingeschlagenen Bahn des Fortschritts weiter. Aber es ist nicht mehr eine Vervollkommnung mechanischer Hilfen, son­dern mehr eine Eliminierung reiner Handfertigkeiten, wenn auch diese nur noch Bedienungen, nicht mehr Gestaltungen waren. Deren stupide Knechtung wird wirklich überwunden durch neue elektronische Hilfen, indem solche Tätigkeiten, weitgehend losgelöst aus menschlicher Unberechenbarkeit, Robotern übertragen werden.

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Was wird nun aber aus jenen bisher industriell Geknechteten, die längst

weiter nichts gelernt haben, lernen sollten? Welche Tätigkeiten können

ihnen stattdessen jetzt übertragen werden, zu denen sie noch

Fähigkeiten besitzen? Sind damit nicht nur ihre Arbeitsaufgaben, son­

dern auch sie selbst überflüssig geworden? Sie leben doch noch, wenn

auch weitgehend als uneinsetzbare Arbeitslose! Was also sollen sie ler­

nen, falls sie überhaupt noch lernen können? Die alten handwerklichen

Fähigkeiten, die bis zur Industrialisierung die Kulturgrundlage bilde­

ten, sind bis auf wenige vergessen, weil sie nicht mehr benötigt wurden.

Die Erfindung des Computers machte sogar das Durchdenken logischer

Anweisungsfähigkeiten weitgehend ersetzbar, wofür wir sogar dankbar

sind, weil das Arbeits- und Zeitgewinn bedeutet. Seine meisten Anwen­

der haben allerdings die immer als mühselig erlebte Fähigkeit verloren,

algebraische und arithmetische Rechenwege zu beherrschen, die junge

Menschen zudem gar nicht mehr erlernen. Geschieht hier vor unseren

Augen, was damals die Spätantike zum Zusammenbruch brachte?

Was sagte damals ein Papst zur Zeit Ludwig des Frommen? ,,Ein Volk,

das nicht schreiben und lesen kann, läßt sich besser regieren." Damals

war jedoch noch ein Teil der alten Kulturbasis lebendig. Heute ist der

Effekt umfassender durch die inzwischen sich weltweit ausbreitende

elektronische Vernetzung. Gewiß sublimiert sie im „Globalen Dorf" die

unterschiedlichen Defizite in der menschlichen Gesamtmenge. Der wach­

sende Defekt wird sich erst dann schrecklich erweisen, wenn es zu einem

großen „GAU" kommen sollte. Dann bleibt nichts mehr übrig von den

Denkresultaten des evolutionär ererbten menschlichen Gehirnes.

Noch ist es nicht soweit. Doch schon die gedachte Möglichkeit sollte

uns wachrütteln. Die Zahl der Unzufriedenen, Fortschritt­

Enttäuschten wächst stetig. Vielleicht übersehen wir dabei noch zu

gerne die Resignierenden. Die Aufbegehrenden mehren sich jedoch.

Sie wollen handeln. Ich frage nur, was steht ihnen dafür noch zur

Verfügung, wenn sie nichts lernten, wenn sie medienbedingter, einsei­

tiger Sinneskonsum zum „Schlucken von Sensationszerstreuungen"

verführte? Was bleibt da noch der breiten Masse? Wenn ihr ererbter

Hang zum Aufhauen gelähmt ist, will sie nur noch stören, und wenn

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sie darin gehemmt wird, drängt es sie nur noch, zu zerstören. Die

wachsende Zahl der Fanatiker ist schon bereit dazu und verwirklicht

dieses auch, wie wir es zur Zeit erleben. Noch ist der Rest groß genug,

der sich die ererbten Fähigkeiten bewahrte, ähnlich wie damals in der

Spätantike. Wir können nur wünschen, daß diese Wenigen nicht müde

werden. Ich will nicht alle Möglichkeiten aufzählen, diesen Weg zu

unterstützen, immerhin doch einen, der sich diese Potenz bewahrte.

Symbole und Rituale für den sinnvollen Gegenwartsbezug

Auch vor diesem Hintergrund müssen wir die Durchführung freimaureri­

scher Bräuche sehen und dann untersuchen, ob sie in solcher Umwelt

noch einen Sinn haben kann, oder ob sie sich wirklich den technischen

Gegebenheiten der gegenwärtigen Gesellschaft kompromißlos angleichen

sollte. Das Grundanliegen mit seinen drei Prinzipien Toleranz, Fraternität,

Humanität stellt schon eine Reaktion dar auf die ersten Ansätze der

Entwicklung, hin zur Massengesellschaft des technischen Zeitalters.

Auch der Begriff der Aufklärung, über den engeren materialistischen

Bezug der damals beginnenden Erfahrungswissenschaft hinaus, wirkte

auf die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen und richtete seine ethische

Entwicklung darauf aus. Dabei hilft ihm immer noch jenes sinnbezogene

Erbe ihrer Symbole und Rituale. Hierdurch besitzt die Freimaurerei die

wesentliche, geistige Substanz, alle ihre Traditionen in einen neuen sinn­

vollen Gegenwartsbezug zu stellen. Die Welt der sinnhaften, sprachlich

formulierbaren Begriffe, die in der technisierten Kollektivgesellschaft für

deren abhängige Mitglieder beziehungslos geworden sind, weil sie nicht

mehr erlebnismäßig unterbaut werden, haben in den Logen einen für sich

bestehenden Sinnzusammenhang behalten.

Das Gleichgewicht zwischen Erfahrungs- und Erlebniswelt macht es

weiterhin möglich, die alten ethischen Bedeutungen ungebrochen aufrecht zu erhalten, wenn sie im rechten Maß zu den Erkenntniswerten der moder­

nen Wissenschaft in eine polare Spannung gebracht werden. Als solche stel­

len sie ein praktikables und philosophisches Weltbild dar, welches einer

religiösen Begründung nicht bedarf, diese aber auch nicht unmöglich

macht, sondern ausschließlich der persönlichen Entscheidung überläßt.

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Hiermit ist der Freimaurerei ein Arbeitspotential zu eigen, welches es

ohne jede Einschränkung erlaubt, sich sachlich mit der modernen

Gesellschaft auseinander zu setzen und sich ohne Zwang ihren nivel­

lierenden Kräften gegenüber zu behaupten. Hierfür muß sie nicht, ja,

sie darf es nicht einmal, auf ihren Symbolbestand im Sinne einer

Angleichung verzichten. Es ist allerdings zu fragen, ob jene Reste der

alten Standesgesellschaft noch aktuell sind, die damals in der

Entwicklungszeit in Frankreich oder Deutschland, die ursprüngliche,

englische Form überschichteten.

Die Loslösung von dem Handwerkertum der Bauhütten hatte die

Arbeitssymbolik zu einer philosophischen gemacht, die der realen

Werkbetätigung nicht mehr bedurfte. Geblieben sind nur jene gesell­

schaftlichen Bezüge, die ein Elixier demokratischen Ideengutes kulti­

vieren. Gleichberechtigung und Gleichverantwortung bilden hiervon

den Kernpunkt. Sprachlich bewußt geformte Kommunikation wurde

zum Mittel des Gedankenaustausches, um Selbstverantwortung und

Selbstverpflichtung so zu schulen, dass mit deren Einsatz jeder

Einzelne die Aufgabe zu erfüllen bekam, selbständig und allein auf

seine allgemeine Umwelt aufklärend und erziehend zu wirken.

Dieses Anliegen hat seine Wichtigkeit nicht eingebüßt. Es ist sogar

heute sicher die seltenste Möglichkeit, bewußt der ausufernden

Vermassung zu begegnen, hoffentlich sogar der elektronischen

Nivellierung in der nächsten Zukunft. Als eine wichtige Frage bleibt

jedoch das Faktum bestehen, ob der einzelne Freimaurer es weiterhin

vermag, ohne äußeren Anstoß, aus sich selbst heraus, diese Kraft in

die Tat umzusetzen, auch wenn ihm immer mehr von der Masse „mas­

sivster" Widerstand entgegengesetzt wird, oder ob er, dies scheuend,

lieber den unausweichlichen Konflikten aus dem Weg geht und uner­

kannt in seinem Elfenbeinturm verharrt.

Ein bedeutendes Problem der Freimaurerei heute.

Da es für jeden Menschen gegenwärtig schwierig ist, noch mit all die­

sen Problemen fertig zu werden und gegen die herrschenden

Tendenzen stark zu sein, wird aus seiner Haltung heraus auch der ein-

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Page 164: 75 Jahre - Alter und Angenommener Schottischer Ritus in Deutschland

zeine Freimaurer selten zu dem Erfolg kommen, die erwünschte posi­

tive Wirkung auf seinen Mitmenschen so zu erzielen, wie dieses noch

vor einem halben Jahrhundert möglich war. Diese in 90% der Fälle

vorprogrammierte Frustration verleitet ihn verständlicherweise schnell

zur Resignation.

Gegen diese anzugehen, gehört also in erster Linie zu den Aufgaben,

die sich der Freimaurer heute stellen muß. Es gehört zum wichtigsten

Anliegen seiner Institution, ihm dafür eine gute Hilfe zu geben.

Hierüber muß nachgedacht werden, und nicht um irgendwelche An­

gleichungen an den sogenannten Zeitgeist, denn dies würde die Frei­

maurerei als solche überflüssig machen.

Der richtige Rahmen hierfür wäre immer noch am besten die „blaue"

Maurerei der ersten drei Grade, weil sie am meisten das demokratische

Prinzip gewährleistet. Da dies aber ohne einen gewissen Zwang nicht

mehr zu gehen scheint, ist hier das Ordensprinzip aufgerufen. Würde die­

ses jedoch in jener Strenge eingesetzt, die, statt der Pflicht, absoluten

Gehorsam fordert im Sinne der alten Ritterorden, rückte sie gefährlich in

die Nähe der Direktivstrukturen modern gemanagter Wirtschafts­

systeme. Der einzelne, gewohnt an die dort üblichen Weisungen, vergißt

dann zu gerne jenes Prinzip der Eigenverantwortung, welches allein die

genannte Negativentwicklung im Bann halten kann.

Eine Konstitution im A:.A:.S:.R:.

Hier ist, auf Grund der gegebenen Gesetze seines Aufbaues, der schot­

tische Ritus gut geeignet, das rechte Maß einzuhalten zwischen Weisung

und Selbstverantwortung, da er allein von allen Ordensinstitutionen

auf dem humanitären Prinzip aufbaut.

Nun ist aber jedes Ordensprinzip der Gefahr ausgeliefert, den einfache­ren Weg der Befehlserteilung einzuschlagen, weil dieser schneller zu

einem Erfolg zu führen scheint. Wie bei jeder Führungsform ist dieses

auch hier der einfachere Weg, sichere Funktionen zu verwirklichen. Aber,

wie es schon bei den alten Ritterorden war, kann ein einsam gegebener

Befehl auf einen Weg führen, der nicht wieder gut zu machen ist. Das

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wäre jedoch bei dem heutigen Stand der Aufgaben für die Freimaurerei gefährlich und würde ihr die Möglichkeiten nehmen, effektiv zu werden. Der Schottische Ritus besitzt jedoch das System von Anhörung und Weisung, welches er aus eigenem Überlebensinteresse nicht verlassen wird, um jene positiven Kräfte am Leben zu erhalten, die schon in den ersten drei Graden möglich sind, aber dennoch des Nachdrucks bedür­fen, die der Ritus ausüben kann. Das bedeutet, daß der Ritusbruder nie vergessen soll, weshalb er immer gemahnt wird, daß sein Wirken in der Johannisloge stets den Vorrang haben muß, um deren Grundanliegen wachzuhalten, auch bei den Brüdern, die nicht den Schritt in die Erkenntnisgrade vollziehen wollen.

Zum anderen darf er dabei auch nicht vergessen, daß sich die verspro­chene und gewünschte Erkenntnis nicht von selbst einstellt, sondern auch im Ritus erst erarbeitet werden muß. Hierüber sollte jeder Verantwortliche auf allen Erkenntnisstufen ernsthaft nachdenken. Keinesfalls sollte aus diesem Stand der Dinge abgeleitet werden, die beiden Komponenten der blauen und roten Freimaurerei wieder zu einer gemeinsamen Institution zu vereinigen. Möglichkeiten, Fähig­keiten, Bestrebungen sollten nicht unter Zwang gestellt werden. Ein ehrgeiziger Marsch durch die Grade ist keinesfalls wünschenswert, auch wenn nur Wißbegier und etwa Eitelkeit zu ihm anreizt. Wenn erweiterte Erkenntnis Sinn und Zweck bleiben soll, muß auch die Freiheit der Absicht erhalten bleiben. Das sollten wir auch aus dieser Darlegung der langen Entwicklung lernen.

Außerdem ist gerade heute wichtig, daß nicht auch noch die Freimaurerei dem gegenwärtigen Hang zum Fundamentalismus verfällt. Dann erübrigt sich ihr Erhalt, wie sich das inzwischen viele ähnlich bemühte Institutionen gleichfalls fragen müssen. Ich hoffe, daß dieser von mir vor­gelegte Text etwas zu einer Bewußtseinsbildung beitragen kann. Versuchen wir also diesen Weg in nächster Zukunft einzuschlagen!

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Über die Religion in einem globalen Veränderungsprozess

Br :.Kambam Ritapal, 33°

Kiesel in der Hand

Es gibt die Relativitätstheorie, kontrollierte und unkontrollierte Kern­

spaltung, auch Kernfusion, Quantenmechanik, Nanotechnologie und Organtransplantation, wir kennen den genetischen Code und haben schon Lebewesen geklont und die Planeten in unsere Reichweite gebracht, wir können noch mehr, wir sind immens stolz auf die Wissensgesellschaft, in der wir leben. Wir glauben, das Wissen zu

haben, obwohl der Weg von Information über Meinung, Manipula­tion und Überzeugung bis zum Wissen immer noch sehr weit ist.

Seriöse Wissenschaftler zitieren noch heute den Satz des britischen Physikers, des Begründers der klassischen Physik, Isaac Newton, der lautet: ,,In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am

Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, während sich der

weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt."

Nur wenige Kinder haben einzelne dieser Kiesel in der Hand. Was ist mit den Milliarden von den anderen, in aller Welt verstreuten, mehr oder weniger begabten Kindern? Viel früher als die heutige Wissenschaft kannte der Mensch „Glaube", ,,Liebe" und „Hoffnung", aber auch Furcht, Ungewissheit sowie Glück, und diese sind keine wissenschaft­lichen Begriffe im heutigen Sinne. Emotionen sind jedoch Fakten, gehö­ren doch zur Wirklichkeit.

Alle Menschen, ohne Ausnahme, schwimmen in dem weiten Ozean des

Unbekannten, und man hat zu allen Zeiten versucht, die Wirklichkeit

zu erfassen, den Sinn für sein Dasein zu ergründen und seinem Tun eine Richtung zu geben.

Die Frage nach Gott, der innere Kern des Religiösen, wurde in der Menschheitsgeschichte von Sehern, Gelehrten und Propheten beant­wortet. Bei der Wissenschaft beruht das Wissen ebenfalls auf dem

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Wirken einzelner genialer Forscherpersönlichkeiten, die mit ihren küh­

nen Gedanken immer neue Horizonte der Erkenntnis erschlossen und

so die Geschicke der gesamten Menschheit beeinflusst haben. Die

Wissenschaft ist kein Feind der Religion, sondern in ihr sieht man viel­

mehr den Weg, die Geheimnisse des Universums kennen- und verste­

hen zu lernen. In der Wissenschaft gelten nur die wiederholt nachprüf­

baren Fakten, und es gibt weltweit akzeptierte Regeln und keinen

alleinigen Anspruch auf die Wahrheit. Der Anspruch der Religionen

ist weitreichender, Glaube ist die gestellte Anforderung, und die

Einmaligkeit eines religiösen Bekenntnisses wird fast überall unterstri­

chen durch den Anspruch auf den alleinigen Besitz der Wahrheit.

Sofern dieser Anspruch in voneinander räumlich getrennten Völkern

praktiziert wird, stört oder tangiert es die anderen nicht. Problematisch

wird es, wenn Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen räum­

lich zusammenrücken und sozial sowie existentiell interdependent sind,

wie dies heute durch Migration und Globalisierung immer mehr der

Fall ist. Auch ohne die Globalisierung im modernen Sinne sind die ein­

zelnen Regionen nicht unbeeinflusst von den Kulturen der anderen

geblieben. Ein etwaiges regionales Konzept der religiösen Einheit

würde die Menschen ausschließen, die zu den Minderheiten gehören

oder deren Identitäten nicht auf Religion gründen.

In der Wissenschaft haben wir den sachlichen Wettbewerb der Ideen,

während bei Glaubensbekenntnissen, aufgrund inhärenter Abgrenzungs­

tendenzen und zum Teil absoluten Wahrheitsanspruchs, eine andersgear­

tete, emotional motivierte Rivalisierung vorkommt. In der Wissenschaft

ist die jeweils bestätigte sachliche Richtigkeit maßgebend, solange keine

andere Erkenntnis vorliegt, aber für das friedliche Nebeneinander der

Glaubensbekenntnisse sind Toleranz und Respekt füreinander unentbehr­

lich. Mit der Globalisierung wachsen für die Wissenschaft und Technik

die Aussichten, für die Menschen bedeutet dies aber vermehrte Spannung.

Revitalisierung von Religion

Die menschliche Fähigkeit, mit extremer Ungewissheit zurechtzukom­

men, ist begrenzt. Religionen haben es ermöglicht, das chaotische

Potential in Krisensituationen im gewissen Sinne in Vorstellungen von

Ordnung umwandeln zu können. Wenn Krisen eingetreten sind, ver-

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mittelten sie Zuversicht auf ihre Bewältigung. Dies gilt sowohl für die existentiellen Situationen des Einzelnen als auch der Gemeinschaft.

Nur wenige mögen im Angesicht des Trends zur Modernisierung und Säkularisierung an das völlige Verschwinden der Religionen als Macht geglaubt haben, nämlich Macht im Sinne einer politischen Kraft, eines Potentials sozialer Identitätsbildung sowie als formendes Prinzip reli­giöser Subjekte. Ähnlich klein dürfte die Zahl derer gewesen sein, die sich die weltweite Revitalisierung von Religion als eine Macht vorzu­stellen vermochten.

Was die Rolle der Religion im öffentlichen Leben angeht, so ist es in den außereuropäischen Ländern anders als im weithin säkularisierten Europa. Aufgrund der Migration und Globalisierung beginnt sich die religiöse Szene in Europa als Einwanderungsland zu verändern. Der christlich-europäische Kulturkreis erlebte im Laufe des 20. Jahrhundert eine historisch einzigartige Migration. Hiermit ergab sich eine Begegnung mit Kulturen, die nicht in gleicher Weise wie Europa säkularisiert sind. Es war notwendig, Probleme der Religionsfreiheit zu erörtern. Es ist mehr denn je wichtiger geworden, religiösen Fragen und Problemen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher, denn neben Jahrhunderte alten Problemen zeichnen sich neue Spannungsfelder ab. Insbesondere zu beleuchten war das Spannungsfeld von staatlicher Regulierung, gesell­schaftlichem Wandel und individueller Werteorientierung. Die Suche nach Modalitäten des Zusammenlebens der Angehörigen verschiedener Weltanschauungen im vereinten Europa hat eine hohe Priorität erlangt.

Die These des Politologen Samuel Huntington in „Kampf der Kulturen" hat in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks durchaus inter­essante Hinweise auf eine Revitalisierung der Religionen gegeben. Dies ist allerdings vorwiegend unter außenpolitischen Gesichtspunkten geschehen: Die gegenwärtige globale Konfliktebene ist besetzt durch die Auseinandersetzung zwischen den Kulturen in ihrer jeweiligen geogra­phisch-politischen Ausdehnung. Wie allgemein bekannt, brauchen Menschen irgendwelche „Andersartigen" zu ihrer Selbstdefinition, und Religion dient hier als Abgrenzungskriterium. Für eine differenziertere Analyse der Situation genügt die Etikettierung „christlich", ,,muslimisch",

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„konfuzianisch", ,,hinduistisch", etc. nicht. Globale Konfliktszenarien sind eine Variante, aber nicht minder wichtig sind die auf den Nägeln brennen­den unmittelbaren Probleme im Bereich der Wissenschaft und Technik sowie bei der friedlichen Koexistenz in multireligiösen Gemeinschaften. Die dringende praktische Notwendigkeit für das Verstehen der ver­schiedenen Kulturen und für die Entwicklung eines interkulturellen Gesprächs auf gleichberechtigter Basis zeigt sich beispielsweise bereits in der Bioethik. Hier geht es um einen kulturübergreifenden, globalen Konsens im Umgang mit den immer brisanter werdenden Fortschritten der biomedizinischen Forschung und Praxis.

Zwei Seiten einer Medaille

In einem Gegenszenario zu Huntingtons „Kampf der Kulturen" schlägt der amerikanische Soziologe Martin Riesebrodt vor, nicht den schein­baren Widerspruch zwischen Säkularisierung und globaler Revita­lisierung von Religion wegzuinterpretieren, sondern die Gründe für den gleichzeitigen Vollzug beider Prozesse zu untersuchen. Dabei dürfe eine kritische Prüfung unserer sozialwissenschaftlichen Grundannah­men hinsichtlich der Religion hilfreich sein.

Im Zusammenhang einer soziologischen Theorie der Religion sollten alle impliziten und expliziten Werturteile über religiöse Praktiken und Glaubensinhalte vermieden werden. Religionen in evolutionistische Schemata einzuordnen oder sie in höhere oder niedere, gute oder schädliche, legitime oder illegitime Religionen zu unterscheiden, wäre nicht sinnvoll.

Es wird argumentiert, dass Prozesse der Säkularisierung und der glo­balen Revitalisierung von Religion in Bezug zueinander stehen. Säkularisierung wird als Konsequenz zunehmender menschlicher Kontrolle und „ Weltbeherrschung" angesehen. Ein wesentlicher Aspekt sei der Erkenntniszuwachs bei den Naturwissenschaften und die Möglichkeiten in der Medizin, welche die menschliche Kontrolle über Bereiche der Lebensrisiken und -bedrohung ausgeweitet hat. Die Ersetzung früherer Formen der Herrschaft durch Demokratie, aber auch die Ausweitung bürokratischer Apparate, habe zu einer so

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genannten „Demokratisierung des Charisma" geführt. Auch die

Expansion des Wohlfahrtstaates, der größere existentielle Risiken neu­

tralisiert hat, spiele dabei eine Rolle. Derartige Prozesse haben die

Relevanz der Religion eingeschränkt und diese in gewisser Weise auf

den privaten Bereich konzentriert.

Die andere Seite der Medaille sei eine neue Dimension der Ungewissheit

und Machtlosigkeit, die sich teils gleichzeitig und teils zeitversetzt einge­

stellt hat. Neben wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften

gibt es auch neue Risiken wie Klimaveränderungen oder Verseuchung

von Wasser und Luft. Zu berücksichtigen ist auch der ambivalente

Charakter neuer Verfahren wie Atomtechnik und Gentechnologie mit

einhergehenden Existenz- und Zukunftsängsten. Neuer Raum ist ent­

standen für die Mobilisierung von Massen durch „charismatische

Führer". Zu den Aufzählungen gehören auch die Destabilisierung der

Familienstrukturen, die Irrationalität und Unberechenbarkeit des

Marktes, Unterminierung sozialer Identitäten u.a.m. So seien religiöse

Formen der Prävention und Bewältigung von Krisen verstärkt in

Erscheinung getreten. In dieser Betrachtungsweise stellen Säkulari­

sierung und Revitalisierung von Religion keinen Widerspruch dar, son­

dern die zwei Seiten eines globalen Veränderungsprozesses. Auch der

Fundamentalismus sei keine „Rückkehr ins Mittelalter", sondern eine

Form des Widerstandes gegen Aspekte der Modeme.

Gerechtigkeit und Freiheit

Bekanntlich sind Gerechtigkeit und Freiheit die tragenden Säulen jeder

menschenwürdigen Gesellschaft. In „Morals and Dogma" kann man

nachlesen, dass die Gerechtigkeit das grundlegende Gesetz des ethischen

Universums ist. In der heutigen Wirklichkeit haben wir mit Regelungen

für das menschliche Zusammenleben in Frieden und Freiheit zu tun,

wobei das geschriebene Recht nicht eine Verkörperung einer höheren,

unsichtbaren Gerechtigkeit, sondern das neue Rechtsdenken ohne sol­

che metaphysische Fundierung „selbstreferentiell" ist. Obwohl es bei

der Gerechtigkeit darum geht, jedem das ihm Angemessene zuzuweisen,

kommen bei Multireligiösität kulturelle und soziale Hintergründe ins

Spiel, mit möglichen Folgen für Politik und Gesetzgebung.

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Problematisch ist es, wenn gewisse Vorstellungen von dem, was recht

und gerecht ist, als Gesetz Gottes gelten sollen. So kämpft jeder für

seine „gerechte" Sache mit dem absoluten Wahrheitsanspruch, der

natürlich einen Kompromiss ohne Verrat nicht dulden kann. Etwas

anderes wären Bemühungen, durch Nachdenken und Beobachtung zu

erfahren, was das Gesetz Gottes wirklich ist.

Gott: Mehr als eine persönliche Angelegenheit

Religionen sind auch eine Macht und üben Einfluss auf der Erde aus. Die

religiösen Kräfte zählen zu den stärksten. Aus der heutigen Sicht ist die

Grundfrage nach Gott nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern

sie ist eine die gesellschaftliche und politische Zukunft entscheidende.

Das erforderliche Neue ist, dass der Mensch mit „Wahrheiten" auskom­

men muss, dass die Eine Wahrheit für Menschen ein unermesslich hohes

Ziel ist. Ich denke, dass der Mensch intellektuell und emotional dazu

fähig ist, diese „ Wahrheiten" als einen Teil der Einen zu begreifen, denn

es handelt sich um diese eine Welt und es geht nur diese eine Menschheit

an. Die Beziehung zwischen den Religionen könnte sich zu einer Form

gemeinsamer Erforschung der Wahrheit entwickeln. Es ist das Streben

nach Wahrheit durch die schöpferische Zusammenarbeit, erreicht durch

wechselseitige Kritik und Erweiterung des Horizontes, also Ergebnisse

einer gegenseitigen Wertschätzung aller Denksysteme und Kultur­

ordnungen. Der Weg zum Anderen wird frei, wenn das eigene Weltbild

nicht der einzige Maßstab ist. Gelehrte könnten darin einig sein, dass

keine Religion in ihrer derzeitigen Form endgültig ist und ihre eigene

Dynamik die Suche nach neuen Ausdrucksformen veranlassen kann.

Bei dieser Betrachtung stimmt die Entwicklung Europas in der zweiten

Hälfte des 20. Jahrhunderts beispielhaft optimistisch. Das vereinte

Europa ist primär ein Projekt des Friedens und der Versöhnung. Im Schatten dieser Entwicklung wuchs parallel eine andere Situation auf­

grund der bereits erwähnten einzigartigen Migration in das magnetisch

wirkende Europa. Dies ruft wieder, wie damals, weitsichtige Menschen

auf den Plan. Die Aufgabenstellung ist diesmal noch etwas komplexer.

Religiöser Frieden kann die Menschheit ein Stück weiterbringen. Der

Frieden beginnt aber bekanntlich im Kopf. Religiöser Diskurs fernab von

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den Menschen wirkt nur rein theoretisch. Die schlichte existentielle Situation müsste die Einsicht in die Notwendigkeit einer entsprechenden gei­stigen Grundlage fördern. Ein gemeinsames ethisches und religiöses Ideal übt seinen Einfluss auf die ganze zivilisierte Welt aus, und jedes Volk sucht dieses in seiner eigenen Religion und findet es auch dort. ,,Nicht soll der Christ ein Hindu, Buddhist oder Vedantist werden und umgekehrt, sondern jede Religion sollte den Geist der anderen in sich aufnehmen und doch ihre Eigenart bewahren; und der Bekenner jeder Religion sollte lediglich danach streben, seinen Glauben mehr als bisher in die Tat umzusetzen ... " -- so ein Vedanta-Lehrer aus dem 19. Jahrhundert (Sri Vivekananda).

Der freimaurerische Satz über „die Religion, in der alle Menschen übereinstimmen" geht ebenfalls aus der Erkenntnis hervor, dass die eine Wahrheit auf verschiedenen Wegen angestrebt werden kann. Wir wissen auch, dass die Wahrheiten der Maurerei in den Religionen der Welt enthalten sind. In den maurerischen Instruktionen kommen die Hindus, die Buddhisten, Perser, Sabäer, Skandinavier, die Hermetiker im alten Ägypten, Juden, Christen und Moslems vor, aber es wird kei­ner religiösen Lehre der Vorzug gegeben.

In einer Zeit, in der Fundamentalismus und Populismus Ressentiments schüren, gewinnen solche Instanzen an Bedeutung, die aufklärend wirken und Orientierung geben können. Während die Grenzen der Länder der Welt durchlässiger werden, ist es nur natürlich, über Formen der Integration nachzudenken, das Gefühl der Verantwortung in einer offenen Gesellschaft zu vermitteln und das Vertrauen in die Demokratie zu stär­ken. Gerade in der Freimaurerei lernen wir den Vorzug des Offenseins für die Erkenntnisse anderer und des Verzichts auf Dogmen zu schätzen.

-'., Man muss den Menschendie Wunder zeigen,

die sie selbst vollbringen können 'f;

Max Tau

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114

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Autoren

Werner Boppel, 33°, Dr., Minist. Beamter,

PL „Voltaire" Nr. 17 im Or:.Bonn;

Werner Walter Güttler, 33°, Dr. phil.,

PL „Ernst Horneffer" Nr. 61 im Or:.Göttingen;

Hubert Kopp, 33°, Verleger,

PL „Paulus Ehmke" Nr. 86 im Or:.Hannover;

Theodor Kowalski, Dipl. Informatiker, Offizier,

PL „Olympos" Nr. 84 im Or :. München;

Werner Maiwald, .32°, Prof. Dr. habil.,

PL „Carl zu den drei Palmen" Nr. 109 im Or:. Leipzig;

Thomas Richert, Studiendirektor,

PL „Fortschritt" Nr. 8 im Or :. Berlin.

Kambam Ritapal, 32°, Chefredakteur,

PL „Apollo" Nr. 43 im Or :. Stuttgart;

Werner Scheel, 18°, Prof. Kunstmaler,

PL „Schopenhauer zur Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :. Frankfurt;

Gerd Scherm, 32°, Künstler,

PL „Adrianyi" Nr. 24 im Or:.Nürnberg;

Frank Schley, 33°, Dr. rer. nat., PL „Schopenhauer zur

Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :. Frankfurt am Main.

Alfred Schmidt, 33°, Prof. Dr. phil., PL „Schopenhauer zur

Wahrheitsliebe" Nr. 20 im Or :.Frankfurt am Main;

Friedrich Wilhelm Schmidt, 33°, Geschäftsführer a. D.,

PL „Tor zur Welt" Nr. 66 im Or :.Hamburg;

Wolfgang Weber, 33°, Prof. Dr.-lng. Dr. h. c.,

PL „Fidus Achates" Nr. 9 im Or :. Essen

Hans-Udo Wolf,, 33°, Oberstudiendirektor i. R.,

PL „Gutenberg" Nr.32 im Or :.Mainz

Anfragen zu den Grafiken:

Gerd Scherm: Telefon 09803-94162 oder [email protected]

Werner Scheel: Telefon O 172-7211026

75 Jahre A.·.A.·.S.·.R.·. 175

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