Spiegel: Großer Bahnhof

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8/8/2019 Spiegel: Großer Bahnhof

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Medien

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Manuel Andrack ist wieder da.Nicht der Mensch, aber der Ty-pus. Andrack war mal Stichwort-

geber von Harald Schmidt und zeichnetesich dadurch aus, dass er sich an seinenChef anbiederte und bei dessen Witzenin sich hineingluckste.

Der neue Andrack heißt Boris Palmer.Im Hauptberuf ist er Grünen-Politiker

und Oberbürgermeister von Tübingen.Doch seine wahre Bestimmung entdeckter gerade als Heiner Geißlers Schlich-tungslehrling. Wann immer der Ex-Gene-ralsekretär der CDU eine Pointe landet,muss Palmer zeigen, dass er die als Ersterverstanden hat. Einmal brachte er Geißlersogar Schokolade mit und überreichte sieihm als „Schlichterstückchen“.

So viel Devotheit hat seine Gründe.Was Harald Schmidt mal für die LateNight in Deutschland war, ist Geißler fürdas neue Wutbürger-Fernsehen: ein unum-strittener Meister im Nischenprogramm.

Vergangenen Freitag ging die Schlich-tung in die fünfte Runde, und die Reso-nanz ist für Phoenix-Verhältnisse gerade-zu atemraubend: Jedes Mal schalten rund

1,3 Millionen Zuschauer rein. Im Durch-schnitt bleiben sie mehr als eine Stundedabei.

Für das Format ist das eine Riesenleis-tung. Denn auch wenn die „FrankfurterAllgemeine Sonntagszeitung“ die Media-tion als „Selbstinszenierung der Zivilge-

sellschaft“ lobt, ist das ja erst einmalnichts, was die Leute massenhaft anlockt.Auch die von der „taz“ diagnostizierte„Dialog- und Demokratieorgie“ ist imFernsehen noch lange nicht sexy. Es mussschon ein bisschen Show dabei sein. UndGeißler liefert die.

Er macht Minister, Bahn-Vorstände undaufsässige Aktivisten gleichermaßen ge-fügig, behält stets das letzte Wort undfährt allen in die Parade: „Sie sind jetztnicht dran.“ – „Ich empfehle, bei derWahrheit zu bleiben.“ – „Lassen Sie sichnicht von Menschen irritieren, die denKopf schütteln oder in der Nase bohren.“

Geißler kann Klartext. Das hat erschon früher bewiesen, als er noch Hel-

mut Kohls Mann fürs Grobe war und dieSozis abwatschte. Er mag es nicht, wenneiner in Fachkauderwelsch abdriftet.„Das versteht doch kein Mensch“, blafftder Politpensionär dann. „Das machtmich ganz wirr.“

Was er auch hasst, sind Redner, dieimmer wieder auf ihre Vorredner verwei-sen. „Wir machen hier kein historischesSeminar.“

Geißler ist ein großer Vereinfacher –und darin Überzeugungstäter. „Theoreti-sieren ist relativ einfach. Aber es gehörtIntelligenz dazu, komplizierte Dinge ineinfacher Sprache zu erklären“, sagt erzu seiner neuen Fernsehrolle, ohne einenZweifel daran zu lassen, dass er selbst dasnatürlich kann.

Ist gerade wieder so ein ermüdenderFachvortrag über Gleise, Weichen, Steigun-gen vorbei, presst er das Gesagte so langezusammen, bis ihm eine Pointierung ge-lingt. Bei der Einfahrt in den alten Kopf-bahnhof, sagt er dann, „rumpelt man überviele Weichen, und wenn jemand auf der

Toilette ist, dann haut’s den runter.“ Oderer fängt einen herumeiernden Redner ab:„Habe ich Sie richtig verstanden, dassalle Alternativen verfassungswidrig sind?Warum sitzen wir dann noch hier?“

Einmal verstieg er sich gar zu der Be-hauptung, sein chronisch in Sitzungenklingelndes Handy habe einst schon Kohlim Kabinett gestört. Zwar gab es damalsin Deutschland noch gar keine Mobil-telefone. Aber Hauptsache, die Pointesitzt. „Das war komplett erfunden“, gibtGeißler nach der Sitzung zu und setztnach: „Da kann ich doch nichts dafür,wenn das einer glaubt.“

Er selbst darf das Ganze natürlich nichtals Show sehen. „Das hier ist eine auf-klärerische Aktion“, sagt er also. Und esgehe nicht um Unterhaltung, sondern umdie Sache. Aber da gibt er sich naiver, alser ist. Nur sehr humorlose Menschen se-hen in Aufklärung und Unterhaltung ei-nen Widerspruch.

Der Mann war schließlich mal Wahl-kämpfer und weiß, dass in Fernsehen undDemokratie vor allem die Quote zählt.Und die kriegt man nicht mit Langeweile.Immer wieder mahnt er live: „Sonst schal-ten die Leute ab.“ Als er bei der zweiten

Sitzung die Top-Quote der ersten Sendungverkündet – die zweitbeste in der Geschich-te von Phoenix –, grinst Geißler breit.

Von niemandem lässt sich der Polit-Ve-teran die Show stehlen. Als der baden-württembergische Ministerpräsident Ste-fan Mappus zu Gast war, vergaß er glatt,ihn vorzustellen. „Es ist mir völlig uner-klärlich, wie ich ihn überspringen konn-te“, sagt Geißler und verzeiht sich gleichselbst: „Aber es ist okay.“

Für den 80-Jährigen sind alle Akteureum ihn herum Kinder, irgendwie. „Dashaben Sie prima gemacht“, sagt er etwazu einem Vortrag des Bahn-Vorstands Vol-

ker Kefer. Oder er maßregelt seinen FanPalmer: „Man redet nur, wenn man dranist. Alles andere macht nämlich keinenguten Eindruck.“ Ein wenig erinnert erda an Günther Jauch, wenn der bei „Werwird Millionär?“ seine Kandidaten aufihre Kinderstube abklopft.

Geißler funktioniert im Fernsehen tat-sächlich ein bisschen wie Schmidt undJauch. Er ist der Star, im Zweifel selbstder Klügste und jederzeit bereit, mit Lobund Tadel zuzuschlagen. „Nondum om-nium dierum solem occidisse“, doziert erin Latein. Auf Deutsch klingt das nur halbso erhaben: Noch sei nicht aller TageAbend. Aber wer weiß das schon. Grin-send liefert Geißler gern selbst die Über-setzung. M B, S K

T V - E V E N T S

GroßerBahnhof 

Die Stuttgart-21-Schlichtunggerät beim Spartensender Phoenix

zum Quotenrenner. Das liegtvor allem am Unterhaltungstalentdes Moderators Heiner Geißler.

Schlichter Geißler: „Da kann ich doch nichts dafür, wenn das einer glaubt“   F   R   A   N   Z   I   S   K   A   K   A   U   F   M   A   N   N

   /   A   C   T   I   O   N

   P   R   E   S   S

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