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 SEITE 30 ·  MITTWOCH, 8. DEZEMBER 2010  ·  NR. 286 FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton Z wei Ausgaben machten „Faust“ und „Woyzeck“ zu literarischen Ereig nissendes zwan zigs tenJahr- hunderts: Goethes Stück erschien 1906 sorgfältig kommentiert in der legendä- ren Reihe „Meisterwerke der deutschen Bühne“und erleb tebis 1950zehn Aufla- gen. Büchners spät zusammengepussel- tes Fragment wurde überhaupt erst mit derInsel-Ed itionvon1920 allg emeinbe- kannt. Der Name des Philologen, der dem Publikum diese und viele weitere wunderbare Buchschätze übergab, ist heute nur noch Spezialisten bekannt: Georg Witkowski. Zwischen 1889 bis 1933 lehrte er an der Universität Leip- zig, zunächst als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor und erst im letzt enJahr vordem Ruhes tandals Ordi - narius. Als die Nazis dem Gelehrten jü- discher Herkunft 1933 das Recht entzo- gen, seine über die Emeritierung hinaus fortgeführten Lehrveranstaltungen wei- ter abzuhalten, floh er in die Niederlan- de. Er starb drei Wochen nach Kriegs- ausbruch. Übersein umfangrei cheswissenschaft- lichesWerkhinaushat Witkow skiLebens- erinnerungen hinterlassen. Das Typo - skript erschien 2003 im Leipzig er Lehm- stedt Verlag. Wider Erwarten war dieses Buch ein riesiger Erfolg, der jetzt Anlass zu einer korrigierten Neuausga be gibt. Der jähe Bruch in diesem Leben für die Literatur ist zugleich der Auslöser für Witko wskis Erinnerungen : Ende  April 1933 fordert ihn das Ministerium für Volksbildung auf, seine Lehrtätig- keit ruhenzulassen, da er „das nationale Empfind en der Hörer erhebl ich ver- letzt habe.Witko wskiistempört, erver- weis t auf seinen freiwill igen Kriegs- dienst, auf erhaltene Auszeichnungen, auf die im Vorjahr vom Reichspräsiden- ten verliehene Goethe-Medaille. Doch gegen perfide Denunziationen ist nichts auszu richte n. Witko wski darf nicht mehr lehren, nicht mehr in der Biblio- thek arbeiten, nicht mehr publizieren, muss sich als „jüdischer Leichenfledde- rer“ beschimpfen lassen. Am 30. Okto- ber 1937 wird er für zwei Wochen von derGestapoinhaftie rt,verhört,gedemü- tigt. Aus dem Gefängnis schreibt er mit unglaublicher Noblesse an seine Töch- ter, ohne Wut, ohne Bitterkeit, allein, um sie zu beruhigen. In diesen zwei Wo- chen ordnet er seine Memoiren und schreibt sie nach der Entlassung nieder.  An e rfüllenden Erlebnissen und Be- gegnungen ist diese Vita reich. Wit- kowski versteht aber auch, sie darzustel- len, durch „eingestre ute Minia turpor- träts“ zubelebenund dabe i vonprägnan- ten Details auszugehen, ohne die – Goe- the zufolge – ein Leben „ohnedem wei- ter nichts“ ist. So ersteht vor den Augen des Lesers eine Berliner Kindheit in der Generation vor Walter Benjamin. Den Prospekt bildet der große Börsenkrach von 1873, durch den die wohlhabende Bankiersfamilie hautnah das Phänomen der Fallhöhe erlebt. Es folgen das Studi- um in Leipzig und München sowie Dis- sertationspläne über Friedrich Nicolais Rezensionsfabrik „Allgemeine deutsche Bibli othek“. Doch Witko wski wende t sich lieber dem Barock zu, promoviert über den ersten deutschen Tasso- und  Ariost-Übersetzer Diederich von dem  Werder bei Michael Bernays, dem er ei- nes der schönsten Porträts des Buches widme t. Zur Dispu tation wurden da- mals noch Thesen gedruckt und ausge- hängt, der „Doctorandus“ fuhr – ange- tan mit Fra ck,Degenund Dreis pitz –bei allenProfes sorenvorund ludsie persön- lich zur Zeremonie, die dann höchst ri- tualisiert ablief. Für Witkowski gehört das ebenso zu den vergangenen seligen Zeiten wie die erste Teilnahme an einer Goethe-Ver- sammlung in Weimar. Auch Schilderun- gen wie Witkowskis Brautschau auf ei- nem Orientalistenkongress, nachdem er sich kurz zuvor in einem Londoner Eta- blis sementmitder „geb efreu dige n Weib- lich keit“ vertraut gemac ht hat, sind nichtf rei vonwilhelminischem Professo- rentum. Doch muss man es deshalb nicht Arno Schmidt gleichtun, der Wit- kowski inseinen Radioessays „in gelehr- tem Falsett“ parodiert. Denn dafür hat er für die deutsche Literatur seit Martin Opitz zu viel geleistet, wissenschaftlich wie institutionell.  Vor allem betont Witkowski stärker als viele German isten seine r Gener ation das künstlerische gegenüber einem bloß hist orischen Interesse an Liter atur . Dazu gehören nicht zuletzt schöne Aus- gaben für weitere Leserkreise, die er als Mitbegründer der „Gesellschaft der Bi- bliophilen“ und der „Zeitschrift für Bü- cherfreunde“ veranstaltete. In der Öf- fentlichkeit war er als begabter Redner sowie als Theaterkritiker präsent, auch inder „Fran kfurter Zeitung“. Und Frank  Wedekinds „Büchse der Pandora“ sowie  Arthur Schnitzlers „Reigen“ verteidigte er sogar vor Gericht.  Witkowski, bei dem Georg Bondi und Eric h Käs tnerpromov ierte n,warein gro- ßer Mittler zwischen Wissenschaft und  Welt. Die Liste seiner Verdiens te ist lang, doch in seinen Erinnerungen „Von Menschen und Büchern“ kehrt er sie nir- gendsheraus. Stets bleibt er so vornehm und bescheiden wie in jenem stoischen Brief aus dem Gefängnis, den erst das ausge zeichn ete Nach wort von Bernd  Weinkauf zugänglich macht. Bereits der Briefbeginn verrät da den geübten Erzähler, der er auch in seinen Me- moiren ist: „Ihr seid wissbegie rig und ich habe Zeit genug, Euch noch vor dem Mittagessen über meine Erlebnisse zu berichten.“  ALEXANDER KOŠENINA Der Mag netis mus ist eine seltsame Kraft .Wir Mens chenhabenkeinOrgan für ihn.Obschon überallvon Magnetfel - dern umgeben, benötigen wir Hilfsmit- tel zu seiner Wahrnehmung. Magneti- sche Erfahrungen setzen Instrumente voraus. Deshalb ist der Magnetismus nich t all eineineAngelegenheit desEnt- deckens. Er ist auch eine Sache des Er- findens und somit von kulturellen Zu- sammenhängen. In seiner buchstäblich anziehenden Studie über den „Magnetismus“ hat der Philosoph und Medientheoretiker Nils Röller von der Zürcher Hochschule der Künste diese Kontexte hergestellt. In zehn Schritten von der europäischen  Antikeund dem Chinader Chunqiu-Pe- riode (ab 770 vor Christus) bis hin zur Geg enwa rt der modernen Speic her- technik beschreibt er das Dreiecksver- hältnis zwischen Mensch, Natur und Gerät als eine Historie der Orientie- rung in Raum, Zeit und Psyche. Diese Orien tierun gsmög lich keit en verä n- dern sich durch die Verfeinerung von Instrumenten,die zu gesteigerterWahr- nehmbarkeit und damit neuen Verfah- ren der Ausnutzung magnetischer Phä- nomene führt.  Als Beispiel für seine These dient Röllervor allem die Gegenüberstel lung Griechenlands und Chinas: Wird bei Platon die Fernwirkung des Magneten noch mit atomistisch-pneum atischen Theorien erklärt, weil es an Instrumen- ten mangelt, die zwischen Mensch und Magnet vermitteln, werden im Reich derMittevermutli chbereitsim zwei ten vorchristli chen Jahrhundert die Polari- tät und die r ichtungweisen de Kraft des Magnetsteins entdeckt. Mit Hilfe be- weglicher magnetischer Löffel auf be- sonders präparierten Platten entstehen so frühe künstliche Wahrnehmungssys- teme für astronomische Vorgänge. Sie können als Vorläufer des Kompasses gel ten,deranfangsalsvoneinemStroh- halmgetr agen e undim Was serschwim- mende Nadel funktioniert und im 14. Jahrhundert in Italien erstmals in sei- ner modernen Form auftaucht. Das Gerät leistet einen wichtigen Beitrag zur Entdeckung Amerikas, und Generationen von Seefahrern vertrau- en sich einer Kraft an, die sie nicht er- klär enkönnenund diesieobendrei n zu- weilen täuscht. Die Geschichte der ma- gnetischen Orientierung ist daher stets auch eine Geschichte der Irritation – der Irreführung durch eine Nadel, de- renseltsa meAbweichung envon derun- terstellten Nord-Süd-Richtung die Na- turforschung noch lange beschäftigt. Röll erkonfron tiertseineLese r aufih- rem Weg in die an magnetischen Rät- seln zunehmend arme Gegenwartsw elt mit zahlreichen Erklärungen für die  Wirkmächtigkeit seines Objekts. Mal sind sie schlüssig, mal spekulativ, mal skurril. Stets wird deutlich: Die Ge- schi chte des Magn etismus ist kein e „Whig History“, die zielstrebig von der Entdeckung des Magnetsteins zur Ent- wicklung des Mobiltelefons schreitet. Tatsä chlich mäandert sie durch eine Landschaft philosophischer, religiöser und politischer Gegebenheiten. Als der englische Arzt William Gilbert (1544 bis 1603) die Kluft zwischen der see- männ isch enErfahrungund derwissen- schaftlic hen Wahrnehmun g des Magne- tismus zu schließen versucht, dienen ihm kugelförmig geschliffene Magnet- stei neals Model lefür seineExperi men- te. Er nennt sie „terrella“, also „Erd- chen“. Auch die Erde selbst ist für Gil- bert ein riesiger Magnet, der von seiner bipolaren Kraft in Drehbewegung ge- halten wird. Damit gerät der Magnetis- mus auch zur religiösen Streitsache. Im 18. Jahrhundert sind es dann sei - ne angeblichenHeilwirkungen, die irri- tieren, oder die romantische Vorstel- lung , seine Anziehung s- und Abst o- ßungs kräfte seien nicht nur in der Lage, Räume zu überwinden, sondern auch die Gesetze der Zeit. Auf einmal wer den Menschen zu Speic hern von ätherischen Botschaften, die nur unter den Bedingungen des Magnetisierens erfahrbar sein sollen. Mediumismus und Magnetismus reic hen sich die Hand. In esoterischen Kreisen und Fanta- sy-Filmen wirken solche Vorstellung en bis heute nach . Im Piratenst reif en „Fluch der Karibik“ ist es ein von den  Wünschen seines Besitzers gelenkter Kompass, der den Kurs der Handlung mitbe stimmt.Und gewissist eskein Zu- fall, dass das nostalgische Instrument der Seefahrer seit langem Lieblingsme- tapher der Ratgeberliteratur ist. Auch auf dem Weg zu Erfolg in Beruf, Part- nerschaft und Liebe wirken schließlich unsichtbareMächte.  PETER RAWERT D as ist keine „Europäische Rechts- gesc hicht e“,wie siesich zuZeiten, als die juristischen Grundlagenfä- cher noch geblüht haben und der Rechts- stoff noch nicht durch „Bologna-Refor- men“ zersch nipsel t war , passa bel ver- kauft undin eine moderne Juristenausbil- dung fugenlos eingepasst hätte – neben der „Römischen“ oder der „Deutschen Rechtsgeschichte“. Es ist auch kein Lehr- buch, schon gar keines für den Rechtsun- terricht. Nein, es ist etwas ganz Anderes undviel Komp lizie rteres.Es willdie Exis- tenz Europas belegen und seine Gestalt beschreiben und erarbeitet beides an den Ersch einung sforme n des europä isch en Rechts; es ist „L’Europa del diritto“ nach dem sinnfälligen italienischen Buchtitel oder, freier und näher an der Sache: Es ist „dieeuropäis cheRechtserf ahrung “.Euro- pa ist der Gegenstand, das Recht ist die Brille, durch die man schaut. Das Buch ist erschienen in der von Jacq ues Le Goff hera usge gebe nen und von fünf europäischen Verlag en beschick- ten Reihe „Europa bauen“ und passt sich in deren Ziele ein. Der Reihe kommt es auf „Europa“ an und nicht auf das Recht. Sie hat nicht eine Universalgesc hichte im Sinn, sondern nähert sich ihrem Gegen- stand „Europa“ eher mit Exempeln, die den Gegenstand nicht nur konturieren, sondern die auch nachweisen wollen,dass es ihn gibt. Diese Exempel müssen also, wenn das Unternehmen gelingen soll, Eu- ropazumAusdruckbring en.Diebisherge- wählten Zugänge zeigen, dass die Exem- pel großzügig ausgewählt sind; sie reichen von Frauen und Revolutionen über das Meer und die Familie bis zur Stadt, dem Hunger und dem Überfluss. Nun also das Rechtals Zug ang,alsBausteinundals Zeu- ge für Europa, vorgestellt von Paolo Gros- si, einem inter natio nal aner kannt en Rechtshistoriker.  Wer ein solches Buch schreibt, bewegt sich auf schmalen Grat. Er muss davon durchdrungen sein, dass gerade das Recht Europ a kons titui ert und kennz eich net, under mussdafüreinleuc htend e Beis piele finden. Er steht damit vor zwei Herausfor- derungen: Er muss etwa 1500 Jahre (Mit- tela lter , Moder ne, Post moderne nach Grossis Einteilung) auf weniger als 300 Seiten verständlich machen, und er muss Gesc hich teund Rech t inein Ve rhäl tniszu- einander setzenkönnen, in dem das Rec ht geradezu einemBestimmungsfaktorEuro- pas wird. Beiden Herausforderungen wird Grossi gerecht; der ersten mit Hilfe seiner glänzenden Rhetorik, der zweiten mit Hil- fe seines Rechtsbegriffs. Die Rhetorik ist trotzderKnapphei t desRaumsohne Hast, sie setzt kleine scharfe Lichter, die den Punkt hervorheben, gestattet sich gleich- wohl auch ausführliche Zitate zur Vertie- fungund Abrundun g und lädt am Endezu ausgedehntenAusflügen in die Fachlit era- tur ein. Der Rechtsbegriff ist weit und an- schl ussfä hig;er weis t kaumeine mensc hli- che Erfahrung ab, die auch eine Rechtser- fahrung sein könnte, hat einen fundierten Respekt vor der juristischen Praxis und führt ohne Anstrengung zu benachbarten Gebieten wie Ökonomie, Naturwissen- schaften oder Landwirtschaft. „Recht“, wie es hier verstanden wird, ist ein weites Feld; es grenzt sowohl an den Alltag der Mensc henals auch andieVernunft derIn- stitu tione n; die Begri fflich keit regt die  Vorstellung skraft an, statt sie zu fessel n. Mir gefällt das Buch schon deshalb au- ßerordentlich,weil es zweimeiner Vor-U r- teile auf den Feldern von „Europa“ und „Recht“ bedient. Sie lauten: Es gibt eine europäische Leitkultur, und das Recht ist nicht die schwächste Kraft, die diese An- nahme mit Leben füllt. Auch wenn das Buch schon wegen der Schmalheit seines Forma ts nur hast ige Blicke auf ander e  Weltkulturen werfen kann, wenn al so die Grenzen Europas nicht systematisch ge- genandere Rechtskultur en abgeste ckt wer- den, so verdichten sich doch die Anzei- chen,dass europäischeEntwicklungen an- ders verlaufen sind als andere und dass das Recht daran entscheidend beteiligt war: Es gibtin Europa einen nur selten ra- dikal unterbrochenen Strom an konsisten- ter Entwicklungder rechtlichenGrundsät- ze, nach denen man lebt; es bildet sich auf breiter und lange vorbereiteter Grundlage ein „juristischer Humanismus“ heraus, der gegenüber Verrücktheiten der Mächti- gen helfen kann; schon früh findet man Konstituti onalisierung en,in denen diever- bindlichen Prinzipien festgehalten sind und die nicht nur in Abschriften aus reli- giösen Texten bestehen, sonderndas welt- liche Miteinander weltlich beurteilen und einrichten; ganze Etappen werden durch einen Juristenstand geprägt und getragen, derKontakthältzu PhilosophieundTheo- logieundzu ande renWissenschaftenvom Menschenund der Gesellsch aft; dasdurch- gearbeitete Normensystem, das dieser Ju- ristenstand aufbaut, ordnet und zur Verfü- gung hält, macht Abstürze und abrupte  Änderungen eher unwahrschei nlich und erhöht die Chance, dass sich das Recht ge- gen Staat und Gesellschaft notfalls be- haupten und durchsetzen kann. Freilich: In diesem Buch hätte ich gern noch weitergelesen und mehr gelernt – al- lerdings nicht nur über Pachtverträge und Schenkunge n, überLandwirtschafts-,Han- dels- und Industriebetriebe oder über Tes- tamente und Arbeitsverhältnisse, sondern auch über Verbrechen und Strafen, Steu- ern und Abgaben, Kriegs- und Frondiens- te, Überwach en und Foltern, also über denje nig en Te il der „Phy siolo gie des Rechts“, den man herkömmlich den „öf- fentlichen“ nennt und neben den „bürger- lich en“ stell t. Gerad e das öffentl iche Recht, einschließlich des Strafrechts, ist es doch, das auf „Europa“ ein helles Licht wirft und auch auf den Alltag der Men- schen unter dem Recht. Dieser Bereich kommt in dieser europäischen Geschich- te nur ganz am Rande vor, und diese Un- terbelichtu ng ist substa ntiell . Sie er- streckt sich nicht nur auf Praxen, Theo- rien, Systeme und Epoche n, sondern auch auf Weisen des Denkens und Erle- bens – also auch auf das, worauf Grossi mit Recht Wert legt. Gewiss haben wir die randvolle und tiefgründige Geschich- te des öffentlichen Rechts in Deutschland von Michael Stolleis, aber die verfolgt doch andere Ziele in einem anderen For- mat; dort lernt man etwas anderes, als man bei Grossi gern gelernt hätte. Die Konzentration auf das bürgerliche Recht verkü rzt dem Autor (und seinem Leser) auch den Zugriff auf die emphati- schen Teiledes Denkens und Redens über Recht, wie sie vor allem das Strafrecht kennzeichnen: die Ängste und Hoffnun- gender Mensc hen,die scha rfenAuseina n- derse tzung en um die Wicht igke it und Richtigkeit der Gesetze, um Abtreibung, Landesverrat, Willensfreiheit und Todes- strafe. Die revolutionäre Kraft naturrecht- licher Konzepte bleibt ebenso blass wie dieHerkunftdes Sozi alv ertra gsaus derer- kenntnistheoretisc h radikal begründeten Unmöglichkei t, weiterhinvon einem über- zeitlichen Recht zu sprechen und sich hin- ter ihm zu verstecken. Gewiss verdankt sich diese Verkürzung des Blicks auf das Recht in Europa einem tieferen Grund: der fatalen Trennung zwi- schen bürg erli chem und öffent lich em Recht in den Forschungen der europäi- schen Rechtsgeschichte, und gewiss darf man nicht erwarten, ein so hochkonzen- trierter Essay könne sie einfach überwin- den.Alsowartenwir gedu ldigauf„Das öf- fentliche Recht in der europäischen Ge- schichte“.  WINFRIED HASSEMER Georg Wit- kowski: „Von Menschen und Büchern“. Erinnerungen 1863 bis 1933. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2010. 526 S., geb., 24,90 €. Nils Röller:  „Magnet ismus. Eine Geschichte der Orientierung. Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 245 S., Abb., br., 29,90 €. Paolo Grossi:  „Das Recht in der europäische n Geschichte“. Aus dem Italienischen von Gerhard Kuck. Verlag C.H. Beck, München 2010. 270 S., geb., 29,95 €. A usg ehand eltwar erlängst,aberjetzt wurde der Fried ensv ertrag zwi- schen dem Bücherschreiber und der Bü- cherverkäuferin vor laufender Kamera gleichsam ratifiziert. Es war ein herzer- wärmendes Ereignis am späten Montag- nach mitta g. Jona than Fra nzen und Oprah Winfrey umarmten sich am An- fang der Sendung und wieder am Ende,  ja sie hatten sich, wie aus dem Verlags- haus Farrar, Straus & Giroux zu verneh- menwar,auchschonhinterden Kulissen in den Armen gelegen. Vor der vollen  Viertelstunde, die Oprah Franzen und seinem Bestseller „Freedom“ widmete, musste allerdings erst eine Revolution zurRettung vonAmerikas Schulenausge- rufen und der Fernsehnation die Familie Cascio vorgeführt werden, bei der sich MichaelJackson jahrzehntelangvom Be- rühmtsein erholte. Dann aber kam Jona- than Franzen, dessen blendender Laune auch der Umstand nichts anhaben konn- te, dass Amerikas Talkdi va noch einmal den Zwist aufwärmte, der vor neun Jah- ren zwischen ihr und dem Starautor aus- gebr oche n war , als sie ihn anlä ssli ch „The Corrections“ einlud, er daraufhin nicht ganz Nettes über sie und ihre Sen- dung verbreitete und sie ihn umgehend wieder auslud. So war es doch gewesen? Selbst Oprah und Franzen wollten sich  jetzt nicht mehr recht erinnern können. Der Autor sagte, er begreife heute, dass damals ihre Gefühle verletzt worden sei- en. Überrascht habe ihn das ungeheure Medienecho, was wiederum dazu führte, dass er seither dem Fernsehen mit mehr Respekt begegnet. Ein Snob, wie Oprah listig fragt, will er aber nicht gewesen sein. Er versteht sich als ausgesprochen egalitärer Midwesterner. Fazit? Er sagt: „Ich bin froh, hier zu sein.“ Sie sagt: „Ich binfroh,Siehierzu habe n.“Applau s.Da- vor und danach hat Franzen noch Gele- genheit, von seinen zwanzig Minuten im  Weißen Haus mit Barack Obama zu er- zähl en.„Siesind meinHeld“,versi chert e der Schriftsteller dem Präsidenten, und dagegen hatte Oprah als bekennender Obama-Fa n nichts einzuwenden.  Von Grund auf domestiziert für die Talkshow ist Franzen aber noch immer nich t.Währenddiebeidengemütli chbei- einandersitzen und über dies und das, den Schaffensprozess und die künstleri- sche Inspiration plaudern und dazu in verkaufsf ördernderPermanenz der Buch- titel im Hinte rgrun d leuc htet, kommt Franzen auf das reiche Land Amerika zu sprechen,dessen Bevölkerunggeradeun- geheuer unzufrieden ist mit sich und der  Welt. Das deute wohl darauf hin, dass materieller Erfolg nicht zum Glück füh- re, vermutet der Verfasser von „Fre e- dom“. Dagegen hat Oprah nichts einzu- wenden. Bis sie nach der Werbung das Publ ikummiteinemsehr mate riel lenGe- schenk zur Raserei bringt. Jede Besuche- rin bekommt einen Kindle! Dank der Freigiebigkeit der Firma Amazon! Auf demKindl e näml ichsolle n all e dienächs- te, die 65. Empf ehlun g von Oprah ’s Book Club lesen, ein Doppelpack: „Ge- schichte zweier Städte“ und „Große Er- wartungen“ von Charles Dickens. Einperfektes Weihnach tsgeschenk,er- klärt Oprah. WoraufFranzen gern bestä- tigt:„A tota l pageturner“ ,also zweiWer- ke,die manin einem R utschlesen möch- te.BevorFran zensAusflu g indie Popku l- tur zu Ende geht, flicht die Talkmasterin nochein,dass„Freed om“natürl icheben- so unter dem Christbaum nicht fehlen sollte. Ein einziger Albtraum für Kultur- pessimisten. Franzen und Dickens, traut ver eintbei und von Oprah . Und dasalles hätte dem starrköpfigen Autorschon vor Jahr und Tag mit „The Corrections“ wi- derfahren können. JORDAN MEJIAS Geg en die V errü ck th eiten der Mäc hti ge n Literatur Neue Sachbücher Sel ig e Zei ten , brü chi ge W elt  Immer de r N ade l nac h NilsRöller beob achte t magnetische Phänomene  Liebesfest : Jonathan  Fr anzen bei Oprah Es gibt eine europäische Leit- kultur, und das Recht ist nicht die schwächste Kraft, die diese  Annahme mit Leben füllt: Das neue Buch des renommierten Rechtshistorikers Paolo Grossi beschreibt die Jahrhunderte währende Ausbildung eines  juristischen Humanismus. Ein großer Mittler zwischen  Wissenschaft und Welt: Die Memoiren des Germanisten Georg Witkowski bieten mehr als nur Reminiszenzen aus einem Gelehrtenleben. Das Recht ist auf Seiten der Schäfer: Der Europäische Gerichtshof stellte unlängst klar, dass EU-Prämien auch für solche Natur-  schutzflächen ge zahlt wer den müssen, a uf denen Lämmer weiden. Foto Voller Ernst

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  • SEITE 30 MIT T WOC H, 8. DEZEMBER 2010 NR. 286 FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNGFeuilleton

    Zwei Ausgaben machten Faustund Woyzeck zu literarischenEreignissen des zwanzigsten Jahr-

    hunderts: Goethes Stck erschien 1906sorgfltig kommentiert in der legend-ren Reihe Meisterwerke der deutschenBhne und erlebte bis 1950 zehn Aufla-gen. Bchners spt zusammengepussel-tes Fragment wurde berhaupt erst mitder Insel-Edition von 1920 allgemein be-kannt. Der Name des Philologen, derdem Publikum diese und viele weiterewunderbare Buchschtze bergab, istheute nur noch Spezialisten bekannt:Georg Witkowski. Zwischen 1889 bis1933 lehrte er an der Universitt Leip-zig, zunchst als Privatdozent, dann alsauerordentlicher Professor und erst imletzten Jahr vor dem Ruhestand als Ordi-narius. Als die Nazis dem Gelehrten j-discher Herkunft 1933 das Recht entzo-gen, seine ber die Emeritierung hinausfortgefhrten Lehrveranstaltungen wei-ter abzuhalten, floh er in die Niederlan-de. Er starb drei Wochen nach Kriegs-ausbruch.

    ber sein umfangreiches wissenschaft-liches Werk hinaus hat Witkowski Lebens-erinnerungen hinterlassen. Das Typo-skript erschien 2003 im Leipziger Lehm-stedt Verlag. Wider Erwarten war diesesBuch ein riesiger Erfolg, der jetzt Anlasszu einer korrigierten Neuausgabe gibt.

    Der jhe Bruch in diesem Leben frdie Literatur ist zugleich der Auslserfr Witkowskis Erinnerungen: EndeApril 1933 fordert ihn das Ministeriumfr Volksbildung auf, seine Lehrttig-keit ruhenzulassen, da er das nationaleEmpfinden der Hrer erheblich ver-letzt habe. Witkowski ist emprt, er ver-weist auf seinen freiwilligen Kriegs-dienst, auf erhaltene Auszeichnungen,auf die im Vorjahr vom Reichsprsiden-ten verliehene Goethe-Medaille. Dochgegen perfide Denunziationen ist nichtsauszurichten. Witkowski darf nichtmehr lehren, nicht mehr in der Biblio-thek arbeiten, nicht mehr publizieren,muss sich als jdischer Leichenfledde-rer beschimpfen lassen. Am 30. Okto-ber 1937 wird er fr zwei Wochen vonder Gestapo inhaftiert, verhrt, gedem-tigt. Aus dem Gefngnis schreibt er mitunglaublicher Noblesse an seine Tch-ter, ohne Wut, ohne Bitterkeit, allein,um sie zu beruhigen. In diesen zwei Wo-chen ordnet er seine Memoiren undschreibt sie nach der Entlassung nieder.

    An erfllenden Erlebnissen und Be-gegnungen ist diese Vita reich. Wit-kowski versteht aber auch, sie darzustel-len, durch eingestreute Miniaturpor-trts zu beleben und dabei von prgnan-ten Details auszugehen, ohne die Goe-the zufolge ein Leben ohnedem wei-ter nichts ist. So ersteht vor den Augendes Lesers eine Berliner Kindheit in derGeneration vor Walter Benjamin. DenProspekt bildet der groe Brsenkrach

    von 1873, durch den die wohlhabendeBankiersfamilie hautnah das Phnomender Fallhhe erlebt. Es folgen das Studi-um in Leipzig und Mnchen sowie Dis-sertationsplne ber Friedrich NicolaisRezensionsfabrik Allgemeine deutscheBibliothek. Doch Witkowski wendetsich lieber dem Barock zu, promoviertber den ersten deutschen Tasso- undAriost-bersetzer Diederich von demWerder bei Michael Bernays, dem er ei-nes der schnsten Portrts des Bucheswidmet. Zur Disputation wurden da-mals noch Thesen gedruckt und ausge-hngt, der Doctorandus fuhr ange-tan mit Frack, Degen und Dreispitz beiallen Professoren vor und lud sie persn-lich zur Zeremonie, die dann hchst ri-tualisiert ablief.

    Fr Witkowski gehrt das ebenso zuden vergangenen seligen Zeiten wie dieerste Teilnahme an einer Goethe-Ver-sammlung in Weimar. Auch Schilderun-gen wie Witkowskis Brautschau auf ei-nem Orientalistenkongress, nachdem ersich kurz zuvor in einem Londoner Eta-blissement mit der gebefreudigen Weib-lichkeit vertraut gemacht hat, sindnicht frei von wilhelminischem Professo-rentum. Doch muss man es deshalbnicht Arno Schmidt gleichtun, der Wit-kowski in seinen Radioessays in gelehr-tem Falsett parodiert. Denn dafr hater fr die deutsche Literatur seit MartinOpitz zu viel geleistet, wissenschaftlichwie institutionell.

    Vor allem betont Witkowski strker alsviele Germanisten seiner Generationdas knstlerische gegenber einem blohistorischen Interesse an Literatur.Dazu gehren nicht zuletzt schne Aus-gaben fr weitere Leserkreise, die er alsMitbegrnder der Gesellschaft der Bi-bliophilen und der Zeitschrift fr B-cherfreunde veranstaltete. In der f-fentlichkeit war er als begabter Rednersowie als Theaterkritiker prsent, auchin der Frankfurter Zeitung. Und FrankWedekinds Bchse der Pandora sowieArthur Schnitzlers Reigen verteidigteer sogar vor Gericht.

    Witkowski, bei dem Georg Bondi undErich Kstner promovierten, war ein gro-er Mittler zwischen Wissenschaft undWelt. Die Liste seiner Verdienste istlang, doch in seinen Erinnerungen VonMenschen und Bchern kehrt er sie nir-gends heraus. Stets bleibt er so vornehmund bescheiden wie in jenem stoischenBrief aus dem Gefngnis, den erst dasausgezeichnete Nachwort von BerndWeinkauf zugnglich macht. Bereitsder Briefbeginn verrt da den gebtenErzhler, der er auch in seinen Me-moiren ist: Ihr seid wissbegierig undich habe Zeit genug, Euch noch vor demMittagessen ber meine Erlebnisse zuberichten. ALEXANDER KOENINA

    Der Magnetismus ist eine seltsameKraft. Wir Menschen haben kein Organfr ihn. Obschon berall von Magnetfel-dern umgeben, bentigen wir Hilfsmit-tel zu seiner Wahrnehmung. Magneti-sche Erfahrungen setzen Instrumentevoraus. Deshalb ist der Magnetismusnicht allein eine Angelegenheit des Ent-deckens. Er ist auch eine Sache des Er-findens und somit von kulturellen Zu-sammenhngen.

    In seiner buchstblich anziehendenStudie ber den Magnetismus hat derPhilosoph und Medientheoretiker NilsRller von der Zrcher Hochschule derKnste diese Kontexte hergestellt. Inzehn Schritten von der europischenAntike und dem China der Chunqiu-Pe-riode (ab 770 vor Christus) bis hin zurGegenwart der modernen Speicher-technik beschreibt er das Dreiecksver-hltnis zwischen Mensch, Natur undGert als eine Historie der Orientie-rung in Raum, Zeit und Psyche. DieseOrientierungsmglichkeiten vern-dern sich durch die Verfeinerung vonInstrumenten, die zu gesteigerter Wahr-nehmbarkeit und damit neuen Verfah-ren der Ausnutzung magnetischer Ph-nomene fhrt.

    Als Beispiel fr seine These dientRller vor allem die GegenberstellungGriechenlands und Chinas: Wird beiPlaton die Fernwirkung des Magnetennoch mit atomistisch-pneumatischenTheorien erklrt, weil es an Instrumen-ten mangelt, die zwischen Mensch und

    Magnet vermitteln, werden im Reichder Mitte vermutlich bereits im zweitenvorchristlichen Jahrhundert die Polari-tt und die richtungweisende Kraft desMagnetsteins entdeckt. Mit Hilfe be-weglicher magnetischer Lffel auf be-sonders prparierten Platten entstehenso frhe knstliche Wahrnehmungssys-teme fr astronomische Vorgnge. Sieknnen als Vorlufer des Kompassesgelten, der anfangs als von einem Stroh-halm getragene und im Wasser schwim-mende Nadel funktioniert und im 14.Jahrhundert in Italien erstmals in sei-ner modernen Form auftaucht.

    Das Gert leistet einen wichtigenBeitrag zur Entdeckung Amerikas, undGenerationen von Seefahrern vertrau-en sich einer Kraft an, die sie nicht er-klren knnen und die sie obendrein zu-weilen tuscht. Die Geschichte der ma-gnetischen Orientierung ist daher stetsauch eine Geschichte der Irritation der Irrefhrung durch eine Nadel, de-ren seltsame Abweichungen von der un-terstellten Nord-Sd-Richtung die Na-turforschung noch lange beschftigt.

    Rller konfrontiert seine Leser auf ih-rem Weg in die an magnetischen Rt-seln zunehmend arme Gegenwartsweltmit zahlreichen Erklrungen fr dieWirkmchtigkeit seines Objekts. Malsind sie schlssig, mal spekulativ, malskurril. Stets wird deutlich: Die Ge-schichte des Magnetismus ist keineWhig History, die zielstrebig von derEntdeckung des Magnetsteins zur Ent-wicklung des Mobiltelefons schreitet.Tatschlich mandert sie durch eineLandschaft philosophischer, religiserund politischer Gegebenheiten. Als derenglische Arzt William Gilbert (1544bis 1603) die Kluft zwischen der see-mnnischen Erfahrung und der wissen-schaftlichen Wahrnehmung des Magne-tismus zu schlieen versucht, dienenihm kugelfrmig geschliffene Magnet-steine als Modelle fr seine Experimen-te. Er nennt sie terrella, also Erd-chen. Auch die Erde selbst ist fr Gil-bert ein riesiger Magnet, der von seinerbipolaren Kraft in Drehbewegung ge-halten wird. Damit gert der Magnetis-mus auch zur religisen Streitsache.

    Im 18. Jahrhundert sind es dann sei-ne angeblichen Heilwirkungen, die irri-tieren, oder die romantische Vorstel-lung, seine Anziehungs- und Absto-ungskrfte seien nicht nur in derLage, Rume zu berwinden, sondernauch die Gesetze der Zeit. Auf einmalwerden Menschen zu Speichern vontherischen Botschaften, die nur unterden Bedingungen des Magnetisierenserfahrbar sein sollen. Mediumismusund Magnetismus reichen sich dieHand.

    In esoterischen Kreisen und Fanta-sy-Filmen wirken solche Vorstellungenbis heute nach. Im PiratenstreifenFluch der Karibik ist es ein von denWnschen seines Besitzers gelenkterKompass, der den Kurs der Handlungmitbestimmt. Und gewiss ist es kein Zu-fall, dass das nostalgische Instrumentder Seefahrer seit langem Lieblingsme-tapher der Ratgeberliteratur ist. Auchauf dem Weg zu Erfolg in Beruf, Part-nerschaft und Liebe wirken schlielichunsichtbare Mchte. PETER RAWERT

    Das ist keine Europische Rechts-geschichte, wie sie sich zu Zeiten,als die juristischen Grundlagenf-

    cher noch geblht haben und der Rechts-stoff noch nicht durch Bologna-Refor-men zerschnipselt war, passabel ver-kauft und in eine moderne Juristenausbil-dung fugenlos eingepasst htte nebender Rmischen oder der DeutschenRechtsgeschichte. Es ist auch kein Lehr-buch, schon gar keines fr den Rechtsun-terricht. Nein, es ist etwas ganz Anderesund viel Komplizierteres. Es will die Exis-tenz Europas belegen und seine Gestaltbeschreiben und erarbeitet beides an denErscheinungsformen des europischenRechts; es ist LEuropa del diritto nachdem sinnflligen italienischen Buchtiteloder, freier und nher an der Sache: Es istdie europische Rechtserfahrung. Euro-pa ist der Gegenstand, das Recht ist dieBrille, durch die man schaut.

    Das Buch ist erschienen in der vonJacques Le Goff herausgegebenen undvon fnf europischen Verlagen beschick-ten Reihe Europa bauen und passt sichin deren Ziele ein. Der Reihe kommt esauf Europa an und nicht auf das Recht.Sie hat nicht eine Universalgeschichte imSinn, sondern nhert sich ihrem Gegen-stand Europa eher mit Exempeln, dieden Gegenstand nicht nur konturieren,sondern die auch nachweisen wollen, dasses ihn gibt. Diese Exempel mssen also,wenn das Unternehmen gelingen soll, Eu-ropa zum Ausdruck bringen. Die bisher ge-whlten Zugnge zeigen, dass die Exem-pel grozgig ausgewhlt sind; sie reichenvon Frauen und Revolutionen ber dasMeer und die Familie bis zur Stadt, demHunger und dem berfluss. Nun also dasRecht als Zugang, als Baustein und als Zeu-ge fr Europa, vorgestellt von Paolo Gros-si, einem international anerkanntenRechtshistoriker.

    Wer ein solches Buch schreibt, bewegtsich auf schmalen Grat. Er muss davondurchdrungen sein, dass gerade das RechtEuropa konstituiert und kennzeichnet,und er muss dafr einleuchtende Beispielefinden. Er steht damit vor zwei Herausfor-derungen: Er muss etwa 1500 Jahre (Mit-telalter, Moderne, Postmoderne nachGrossis Einteilung) auf weniger als 300Seiten verstndlich machen, und er muss

    Geschichte und Recht in ein Verhltnis zu-einander setzen knnen, in dem das Rechtgerade zu einem Bestimmungsfaktor Euro-pas wird. Beiden Herausforderungen wirdGrossi gerecht; der ersten mit Hilfe seinerglnzenden Rhetorik, der zweiten mit Hil-fe seines Rechtsbegriffs. Die Rhetorik isttrotz der Knappheit des Raums ohne Hast,sie setzt kleine scharfe Lichter, die denPunkt hervorheben, gestattet sich gleich-wohl auch ausfhrliche Zitate zur Vertie-fung und Abrundung und ldt am Ende zuausgedehnten Ausflgen in die Fachlitera-tur ein. Der Rechtsbegriff ist weit und an-schlussfhig; er weist kaum eine menschli-che Erfahrung ab, die auch eine Rechtser-fahrung sein knnte, hat einen fundiertenRespekt vor der juristischen Praxis undfhrt ohne Anstrengung zu benachbartenGebieten wie konomie, Naturwissen-schaften oder Landwirtschaft. Recht,wie es hier verstanden wird, ist ein weitesFeld; es grenzt sowohl an den Alltag derMenschen als auch an die Vernunft der In-stitutionen; die Begrifflichkeit regt dieVorstellungskraft an, statt sie zu fesseln.

    Mir gefllt das Buch schon deshalb au-erordentlich, weil es zwei meiner Vor-Ur-

    teile auf den Feldern von Europa undRecht bedient. Sie lauten: Es gibt eineeuropische Leitkultur, und das Recht istnicht die schwchste Kraft, die diese An-nahme mit Leben fllt. Auch wenn dasBuch schon wegen der Schmalheit seinesFormats nur hastige Blicke auf andereWeltkulturen werfen kann, wenn also dieGrenzen Europas nicht systematisch ge-gen andere Rechtskulturen abgesteckt wer-den, so verdichten sich doch die Anzei-chen, dass europische Entwicklungen an-ders verlaufen sind als andere und dassdas Recht daran entscheidend beteiligtwar: Es gibt in Europa einen nur selten ra-dikal unterbrochenen Strom an konsisten-ter Entwicklung der rechtlichen Grundst-ze, nach denen man lebt; es bildet sich aufbreiter und lange vorbereiteter Grundlageein juristischer Humanismus heraus,der gegenber Verrcktheiten der Mchti-gen helfen kann; schon frh findet manKonstitutionalisierungen, in denen die ver-bindlichen Prinzipien festgehalten sindund die nicht nur in Abschriften aus reli-gisen Texten bestehen, sondern das welt-liche Miteinander weltlich beurteilen undeinrichten; ganze Etappen werden durch

    einen Juristenstand geprgt und getragen,der Kontakt hlt zu Philosophie und Theo-logie und zu anderen Wissenschaften vomMenschen und der Gesellschaft; das durch-gearbeitete Normensystem, das dieser Ju-ristenstand aufbaut, ordnet und zur Verf-gung hlt, macht Abstrze und abruptenderungen eher unwahrscheinlich underhht die Chance, dass sich das Recht ge-gen Staat und Gesellschaft notfalls be-haupten und durchsetzen kann.

    Freilich: In diesem Buch htte ich gernnoch weitergelesen und mehr gelernt al-lerdings nicht nur ber Pachtvertrge undSchenkungen, ber Landwirtschafts-, Han-dels- und Industriebetriebe oder ber Tes-tamente und Arbeitsverhltnisse, sondernauch ber Verbrechen und Strafen, Steu-ern und Abgaben, Kriegs- und Frondiens-te, berwachen und Foltern, also berdenjenigen Teil der Physiologie desRechts, den man herkmmlich den f-fentlichen nennt und neben den brger-lichen stellt. Gerade das ffentlicheRecht, einschlielich des Strafrechts, istes doch, das auf Europa ein helles Lichtwirft und auch auf den Alltag der Men-schen unter dem Recht. Dieser Bereichkommt in dieser europischen Geschich-te nur ganz am Rande vor, und diese Un-terbelichtung ist substantiell. Sie er-streckt sich nicht nur auf Praxen, Theo-rien, Systeme und Epochen, sondernauch auf Weisen des Denkens und Erle-bens also auch auf das, worauf Grossimit Recht Wert legt. Gewiss haben wirdie randvolle und tiefgrndige Geschich-te des ffentlichen Rechts in Deutschlandvon Michael Stolleis, aber die verfolgtdoch andere Ziele in einem anderen For-mat; dort lernt man etwas anderes, alsman bei Grossi gern gelernt htte.

    Die Konzentration auf das brgerlicheRecht verkrzt dem Autor (und seinemLeser) auch den Zugriff auf die emphati-schen Teile des Denkens und Redens berRecht, wie sie vor allem das Strafrechtkennzeichnen: die ngste und Hoffnun-gen der Menschen, die scharfen Auseinan-dersetzungen um die Wichtigkeit undRichtigkeit der Gesetze, um Abtreibung,Landesverrat, Willensfreiheit und Todes-strafe. Die revolutionre Kraft naturrecht-licher Konzepte bleibt ebenso blass wiedie Herkunft des Sozialvertrags aus der er-kenntnistheoretisch radikal begrndetenUnmglichkeit, weiterhin von einem ber-zeitlichen Recht zu sprechen und sich hin-ter ihm zu verstecken.

    Gewiss verdankt sich diese Verkrzungdes Blicks auf das Recht in Europa einemtieferen Grund: der fatalen Trennung zwi-schen brgerlichem und ffentlichemRecht in den Forschungen der europi-schen Rechtsgeschichte, und gewiss darfman nicht erwarten, ein so hochkonzen-trierter Essay knne sie einfach berwin-den. Also warten wir geduldig auf Das f-fentliche Recht in der europischen Ge-schichte. WINFRIED HASSEMER

    Georg Wit-kowski: VonMenschen undBchern.Erinnerungen1863 bis 1933.

    Lehmstedt Verlag,Leipzig 2010. 526 S.,geb., 24,90 .

    Nils Rller:Magnetismus.EineGeschichte derOrientierung.

    Wilhelm Fink Verlag,Mnchen 2010.245 S., Abb., br.,29,90 .

    Paolo Grossi:Das Recht inder europischenGeschichte.

    Aus dem Italienischenvon Gerhard Kuck.Verlag C.H. Beck,Mnchen 2010. 270 S.,geb., 29,95 .

    A usgehandelt war er lngst, aber jetztwurde der Friedensvertrag zwi-schen dem Bcherschreiber und der B-cherverkuferin vor laufender Kameragleichsam ratifiziert. Es war ein herzer-wrmendes Ereignis am spten Montag-nachmittag. Jonathan Franzen undOprah Winfrey umarmten sich am An-fang der Sendung und wieder am Ende,ja sie hatten sich, wie aus dem Verlags-haus Farrar, Straus & Giroux zu verneh-men war, auch schon hinter den Kulissenin den Armen gelegen. Vor der vollenViertelstunde, die Oprah Franzen undseinem Bestseller Freedom widmete,musste allerdings erst eine Revolutionzur Rettung von Amerikas Schulen ausge-rufen und der Fernsehnation die FamilieCascio vorgefhrt werden, bei der sichMichael Jackson jahrzehntelang vom Be-rhmtsein erholte. Dann aber kam Jona-than Franzen, dessen blendender Launeauch der Umstand nichts anhaben konn-te, dass Amerikas Talkdiva noch einmalden Zwist aufwrmte, der vor neun Jah-ren zwischen ihr und dem Starautor aus-gebrochen war, als sie ihn anlsslichThe Corrections einlud, er daraufhinnicht ganz Nettes ber sie und ihre Sen-dung verbreitete und sie ihn umgehendwieder auslud. So war es doch gewesen?Selbst Oprah und Franzen wollten sichjetzt nicht mehr recht erinnern knnen.Der Autor sagte, er begreife heute, dassdamals ihre Gefhle verletzt worden sei-en. berrascht habe ihn das ungeheureMedienecho, was wiederum dazu fhrte,dass er seither dem Fernsehen mit mehr

    Respekt begegnet. Ein Snob, wie Oprahlistig fragt, will er aber nicht gewesensein. Er versteht sich als ausgesprochenegalitrer Midwesterner. Fazit? Er sagt:Ich bin froh, hier zu sein. Sie sagt: Ichbin froh, Sie hier zu haben. Applaus. Da-vor und danach hat Franzen noch Gele-genheit, von seinen zwanzig Minuten imWeien Haus mit Barack Obama zu er-zhlen. Sie sind mein Held, versicherteder Schriftsteller dem Prsidenten, unddagegen hatte Oprah als bekennenderObama-Fan nichts einzuwenden.

    Von Grund auf domestiziert fr dieTalkshow ist Franzen aber noch immernicht. Whrend die beiden gemtlich bei-einandersitzen und ber dies und das,den Schaffensprozess und die knstleri-sche Inspiration plaudern und dazu inverkaufsfrdernder Permanenz der Buch-titel im Hintergrund leuchtet, kommtFranzen auf das reiche Land Amerika zusprechen, dessen Bevlkerung gerade un-geheuer unzufrieden ist mit sich und derWelt. Das deute wohl darauf hin, dassmaterieller Erfolg nicht zum Glck fh-re, vermutet der Verfasser von Free-dom. Dagegen hat Oprah nichts einzu-wenden. Bis sie nach der Werbung dasPublikum mit einem sehr materiellen Ge-schenk zur Raserei bringt. Jede Besuche-rin bekommt einen Kindle! Dank derFreigiebigkeit der Firma Amazon! Aufdem Kindle nmlich sollen alle die nchs-te, die 65. Empfehlung von OprahsBook Club lesen, ein Doppelpack: Ge-schichte zweier Stdte und Groe Er-wartungen von Charles Dickens.

    Ein perfektes Weihnachtsgeschenk, er-klrt Oprah. Worauf Franzen gern best-tigt: A total page turner, also zwei Wer-ke, die man in einem Rutsch lesen mch-te. Bevor Franzens Ausflug in die Popkul-tur zu Ende geht, flicht die Talkmasterinnoch ein, dass Freedom natrlich eben-so unter dem Christbaum nicht fehlensollte. Ein einziger Albtraum fr Kultur-pessimisten. Franzen und Dickens, trautvereint bei und von Oprah. Und das alleshtte dem starrkpfigen Autor schon vorJahr und Tag mit The Corrections wi-derfahren knnen. JORDAN MEJIAS

    Gegen die Verrcktheiten der Mchtigen

    Literatur Neue Sachbcher

    Selige Zeiten, brchige Welt Immer derNadel nachNils Rller beobachtetmagnetische Phnomene

    Liebesfest: JonathanFranzen bei Oprah

    Es gibt eine europische Leit-kultur, und das Recht ist nichtdie schwchste Kraft, die dieseAnnahme mit Leben fllt: Dasneue Buch des renommiertenRechtshistorikers Paolo Grossibeschreibt die Jahrhundertewhrende Ausbildung einesjuristischen Humanismus.

    Ein groer Mittler zwischenWissenschaft und Welt: DieMemoiren des GermanistenGeorg Witkowski bietenmehr als nur Reminiszenzenaus einem Gelehrtenleben.

    Das Recht ist auf Seiten der Schfer: Der Europische Gerichtshof stellte unlngst klar, dass EU-Prmien auch fr solche Natur-schutzflchen gezahlt werden mssen, auf denen Lmmer weiden. Foto Voller Ernst