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1. Kapitel 4 15 20 5 10 Das Verhältnis zwischen Anna und ihrer Mutter hat sich in letzter Zeit etwas abgekühlt. Nicht weil irgendwas passiert wäre. Im Großen und Ganzen hat ihre Mutter allen Grund, mit Anna zufrieden zu sein: Sie findet Britney Spears „tus- sig“ und Deutschland sucht den Superstar „voll scheiße“. Sie weiß, dass man in der Schule fit sein muss, um einen vernünftigen Beruf zu finden. Sie hat einen Notenschnitt von Zwei und will Architektin werden. Anna wiederum schwärmt von ihrer Mutter: Sie sei so klug, so verständnis- voll und selbstständig und habe trotz ihrer anstrengenden Arbeit als Betreuerin psychisch Kranker immer Zeit für sie. 1. Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf? Im letzten Kurs haben Sie sich mit Erziehung und Entwicklung im Kindesalter beschäftigt. Jetzt wird die gesamte Lebensspanne in den Blick genommen. Es geht um Erziehung und Entwicklung im Lebenslauf. Sicherlich haben Sie sich schon Gedanken über Ihre nächste Zukunft gemacht, vor allem darüber, was Sie nach dem Abitur machen wollen. Kann man überhaupt weiter in die fernere Zukunft planen? Was passiert mit Menschen in Verlaufe ihres Lebens? Was können Sie beeinflussen, was nicht? Welche Aufgaben erwarten einen? Sie haben sicherlich schon mit älteren Menschen gesprochen, die über ihre Erfahrungen mit den Plänen und Entscheidungen, die sie im Leben getroffen haben, aber auch über die äußeren Umstände, die Einfluss auf ihren Lebenslauf hatten, nachgedacht haben. Und Sie kennen sicherlich auch Beispiele für gelungene und für gescheiterte Lebensläufe. Was hat das alles mit Erziehung zu tun? Ist Erziehung nicht irgendwann zu Ende? Wieso sind die späteren Lebensphasen überhaupt ein Thema für die Pädagogik? Sie werden in diesem Kurs solchen Fragen nachgehen. Manche Themen werden Sie aus eigener Erfah- rung sehr gut nachvollziehen können, z. B. wenn es um das Jugendalter geht. Sie werden aber auch in unbekannte Bereiche der Pädagogik vorstoßen. Sie können die folgenden Aufgaben arbeitsteilig angehen. 1. Beschreiben Sie, welche Personen und äußeren Bedin- gungen auf die Lebenssituation von Anna jeweils Einfluss haben. Achten Sie dabei auch auf die Versuche erzieheri- scher Einwirkungen. 2. Untersuchen Sie, welche Veränderungen sich zwischen 2004 und 2011 ergeben haben. 3. Arbeiten Sie heraus, wie Anna sich zu den Personen und äußeren Bedingungen verhält, die auf sie Einfluss neh- men. Weisen Sie insbesondere nach, inwiefern sie selbst durch eigene Entscheidungen an den Veränderungen beteiligt war und welche Aufgaben sie dabei bewältigen musste. 4. Gehen Sie bei der Erschließung der beiden Texte zu An- nika ähnlich vor. Arbeiten Sie vor allem heraus, inwiefern Annika an ihrer Entwicklung durch eigene Entscheidun- gen beteiligt war. Aufgaben In den nächsten Texten ( M 1 bis M 4 ) lernen Sie Anna und Annika jeweils an zwei Stellen ihres Lebensweges kennen. Anna ist im ersten Text aus dem Jahre 2004 13 Jahre alt. In einem Artikel für eine Zeitschrift erzählt ein Journalist, wie Anna lebt, welche Probleme sie beschäftigen und welche Pläne sie hat. Im zweiten Text aus dem Jahre 2011 treffen Sie die inzwischen zwanzigjährige Anna wieder. Auch dies- mal erzählt der Journalist von ihrer Lebenssituation, ihren Ansichten, ihren Plänen – und wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen ist. Danach erzählt Annika kurz vor ihrem Abitur im Jahre 2007 von ihren Plänen. Fünf Jahre später berichtet sie, was aus ihnen geworden ist. 2004: Anna ist 13 Für Anna war es an der Zeit, auf Distanz zu ihrer Mutter zu gehen. Aber nur ein bisschen. Zuhause: eine Vierzimmerwohnung in Düsseldorf Schule: Luisen-Gymnasium, Düsseldorf Eltern: IT-Kaufmann, Sozialarbeiterin Geschwister: keine Taschengeld: 56 Euro im Monat, zum Teil aufs Konto Berufswunsch: Architektin Lieblingsessen: Feldsalat Lieblingsstar: Avril Lavigne Größter Wunsch: eigene WG mit einer Freundin Sommerferien: drei Wochen Segeln mit der evangelischen Jugend M 1

1. Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf?

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Das Verhältnis zwischen Anna und ihrer Mutter hat sich in letzter Zeit etwas abgekühlt. Nicht weil irgendwas passiert wäre. Im Großen und Ganzen hat ihre Mutter allen Grund, mit Anna zufrieden zu sein: Sie fi ndet Britney Spears „tus-sig“ und Deutschland sucht den Superstar „voll scheiße“. Sie weiß, dass man in der Schule fi t sein muss, um einen vernünftigen Beruf zu fi nden. Sie hat einen Notenschnitt von Zwei und will Architektin werden. Anna wiederum schwärmt von ihrer Mutter: Sie sei so klug, so verständnis-voll und selbstständig und habe trotz ihrer anstrengenden Arbeit als Betreuerin psychisch Kranker immer Zeit für sie.

1. Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf?

Im letzten Kurs haben Sie sich mit Erziehung und Entwicklung im Kindesalter beschäftigt. Jetzt wird die gesamte Lebensspanne in den Blick genommen. Es geht um Erziehung und Entwicklung im Lebenslauf. Sicherlich haben Sie sich schon Gedanken über Ihre nächste Zukunft gemacht, vor allem darüber, was Sie nach dem Abitur machen wollen. Kann man überhaupt weiter in die fernere Zukunft planen? Was passiert mit Menschen in Verlaufe ihres Lebens? Was können Sie beeinfl ussen, was nicht? Welche Aufgaben erwarten einen? Sie haben sicherlich schon mit älteren Menschen gesprochen, die über ihre Erfahrungen mit den Plänen und Entscheidungen, die sie im Leben getroffen haben, aber auch über die äußeren Umstände, die Einfl uss auf ihren Lebenslauf hatten, nachgedacht haben. Und Sie kennen sicherlich auch Beispiele für gelungene und für gescheiterte Lebensläufe.

Was hat das alles mit Erziehung zu tun? Ist Erziehung nicht irgendwann zu Ende? Wieso sind die späteren Lebensphasen überhaupt ein Thema für die Pädagogik? Sie werden in diesem Kurs solchen Fragen nachgehen. Manche Themen werden Sie aus eigener Erfah-rung sehr gut nachvollziehen können, z. B. wenn es um das Jugendalter geht. Sie werden aber auch in unbekannte Bereiche der Pädagogik vorstoßen.

Sie können die folgenden Aufgaben arbeitsteilig angehen.

1. Beschreiben Sie, welche Personen und äußeren Bedin-

gungen auf die Lebenssituation von Anna jeweils Einfl uss

haben. Achten Sie dabei auch auf die Versuche erzieheri-

scher Einwirkungen.

2. Untersuchen Sie, welche Veränderungen sich zwischen

2004 und 2011 ergeben haben.

3. Arbeiten Sie heraus, wie Anna sich zu den Personen und

äußeren Bedingungen verhält, die auf sie Einfl uss neh-

men. Weisen Sie insbesondere nach, inwiefern sie selbst

durch eigene Entscheidungen an den Veränderungen

beteiligt war und welche Aufgaben sie dabei bewältigen

musste.

4. Gehen Sie bei der Erschließung der beiden Texte zu An-

nika ähnlich vor. Arbeiten Sie vor allem heraus, inwiefern

Annika an ihrer Entwicklung durch eigene Entscheidun-

gen beteiligt war.

AufgabenIn den nächsten Texten ( M 1 bis M 4 ) lernen Sie Anna und Annika jeweils an zwei Stellen ihres Lebensweges kennen.

Anna ist im ersten Text aus dem Jahre 2004 13 Jahre alt. In einem Artikel für eine Zeitschrift erzählt ein Journalist, wie Anna lebt, welche Probleme sie beschäftigen und welche Pläne sie hat. Im zweiten Text aus dem Jahre 2011 treffen Sie die inzwischen zwanzigjährige Anna wieder. Auch dies-mal erzählt der Journalist von ihrer Lebenssituation, ihren Ansichten, ihren Plänen – und wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen ist.

Danach erzählt Annika kurz vor ihrem Abitur im Jahre 2007 von ihren Plänen. Fünf Jahre später berichtet sie, was aus ihnen geworden ist.

2004: Anna ist 13

Für Anna war es an der Zeit, auf Distanz zu ihrer Mutter zu gehen. Aber nur ein bisschen.

Zuhause: eine Vierzimmerwohnung in DüsseldorfSchule: Luisen-Gymnasium, DüsseldorfEltern: IT-Kaufmann, SozialarbeiterinGeschwister: keineTaschengeld: 56 Euro im Monat, zum Teil aufs KontoBerufswunsch: ArchitektinLieblingsessen: FeldsalatLieblingsstar: Avril LavigneGrößter Wunsch: eigene WG mit einer FreundinSommerferien: drei Wochen Segeln mit der evangelischen Jugend

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„Irgendwie bin ich schon immer an ihr gehangen.“ Als sich ihre Eltern vor acht Jahren erst stritten und dann trennten, „war ich natürlich parteiisch“. Inzwischen leben Vater und Mutter wieder zusammen, was Anna uneingeschränkt freuen würde, wären da nicht diese nervigen Drei-ecksbeziehungen: „Sobald es Streit gibt, geht es zwei gegen einen. Aber meine Mutter hält dann auch oft zu mir.“Trotz ihrer innigen Beziehung sucht Anna zusehends Dis-tanz zu der Mutter. Die Tochter zeigt sich neuerdings nur wenig begeistert, wenn ihre Mutter einfach so ins Zimmer kommt, um die Blumen zu gießen. Und dann auch noch wissen will, mit wem sie gerade telefoniert. Oder wenn sie sich in die blaue Hängematte setzt, um zu plaudern, ob-wohl Anna ihre Ruhe haben will. Und die Kuschelnummer am Abend, vor einem Jahr noch selbstverständlich, muss Anna nun auch nicht mehr haben. Die Abgrenzung bedeutet natürlich Stress: Zum Beispiel hat Anna monatelang überlegt, wie sie es ihrer Mutter schonend beibringt, dass sie morgens lieber allein in die Schule fährt. Ihre Freundinnen sitzen ja auch ohne Auf-sicht in der Straßenbahn. Gott sei Dank hat die Mutter das geschluckt. Überzeugungsarbeit war auch nötig, um der Mutter die Erlaubnis abzuringen, hin und wieder bei einer Freundin zu übernachten. Kein Wunder, dass Anna ihre Mutter manchmal als überängstlich empfi ndet. Bis zu einem gewissen Grad hat sie aber Verständnis, vor allem wenn die Mutter argumentiert, sie wisse aus ihrer tägli-chen Arbeit, „wie viel Wahnsinn es da draußen in der Welt gibt“. Deshalb akzeptiert Anna auch, dass sie abends um acht zu Hause sein muss. „Meine Freundinnen dürfen ja auch nicht länger“, sagt sie. Noch.Es gibt andere Situationen, in denen Anna sehr wohl bo-ckig reagiert: Wenn sie nach der dritten Aufforderung ihrer Mutter, doch endlich ihr Zimmer aufzuräumen, nur ein nöliges „Jaaa“ von sich gibt, bedeutet das womöglich Haus-arrest. Aber wenn die Mutter mal genervt und deshalb kurz angebunden ist, „dann ist das natürlich was ganz anderes“, beklagt sich Anna. Pubertätszicke halt, denkt sich ihre Mut-ter in solchen Fällen, „erst lacht sie, dann schmollt sie und alles ist dramatisch“. Besonders dramatisch nimmt Anna alles, was mit ihren Freundinnen zusammenhängt, mit Lena, Chrissi, Jenny, Maria, Alicia, Nicki, Steffi . „Neulich war Anna völlig aufge-löst, nur weil Lena und Maria gestritten hatten“, erzählt die Mutter kopfschüttelnd. Aber was heißt hier „nur“? Die Freundinnen rücken immer mehr in den Mittelpunkt von Annas Leben. Mit ihnen liest sie vor der Schule Yam, weil Bravo peinlich ist, und geht sie nach der Schule ins „Woyton“, ein Café in der Düsseldorfer Innenstadt, oder zu „McDonald’s“. Danach Kino, Schwim-men oder Bummeln, bei Esprit oder H & M. Wobei H & M

langsam nervt „mit seinem Siebziger-Look, ich will ja nicht rumlaufen wie vor dreißig Jahren“, sagt Anna und ihre Freundinnen sehen das natürlich genauso. Annas Outfi t be-steht aus Jeans, T-Shirt und schwarzen Turnschuhen. Noch vor kurzem hat sie kaum über Klamotten nachgedacht. Jetzt glaubt sie, dass sie auf der Straße alle anstarren, so-bald sie eines dieser T-Shirts trägt, die ihre Mutter für sie gekauft hat. Auch Schminken ist jetzt ein Thema: aber bitte nur Lidschatten. Lippenstift fi ndet Anna problematisch, Puder peinlich. Puder nimmt, wer „ein Pickelproblem hat“. Anna und ihre Freundinnen würden sich nie pudern. Noch ein Thema, das immer wichtiger wird und das Anna nur mit ihren Freundinnen besprechen kann: Jungs. Sie und ihre Freundinnen seien oft verknallt, erzählt Anna. Aber immer in die Jungs, die schon vergeben sind oder nichts von ihnen wissen wollen. Anna hat zwar noch nie einen Korb gekriegt. Eine Freundin ist aber mal zu einem Jungen gegangen, den Anna ganz toll fand. Sie fragte ihn, ob er auch in Anna verknallt sei. Er hat nein gesagt. Wie sehr Anna dieses Thema beschäftigt, zeigt schon ein Blick auf das Holzregal in ihrem Zimmer. Es ist gefüllt mit Lektüre aus der Reihe Freche Mädchen, freche Bücher. „Die lesen wir alle“, sagt Anna. Die einzelnen Bände tragen die Titel Liebe, Grips & Gänseblümchen, Küsse, Chaos, Ferien-camp oder Schule, Frust & große Liebe. Im selben Regal stapeln sich Spiele wie Sagaland, Inkognito und Skill – Der Kugelspaß für Kinder. Die will Anna demnächst in den Kel-ler verfrachten. Klar wäre sie lieber älter. 15 vielleicht. Da sind dann die Jungs auch besser. Momentan kann Anna mit den gleichalt-rigen Jungs wenig anfangen. Bis vor kurzem hat man noch alles gemeinsam gemacht, bedauert sie. Aber jetzt hört man von denen nur noch doofe Sprüche. Und warum müs-sen die eigentlich ihre Hosen immer unterm Arsch tragen?

2011: Anna ist 20

Anna: „Ich habe nie Haschisch und Alkohol kombiniert“Auch ansonsten hat Anna oft befolgt, was ihr die Mutter sagte. Aber richtig erwachsen wurde sie erst, als sie ohne ihre Hilfe auskommen musste.

Zuhause: lebt mit ihrer Mutter in Düsseldorf Ausbildung/Beruf: Abitur/will Eventmanagement studieren Liebe: seit fünf Monaten mit Robin zusammen Einkommen: 100 Euro Taschengeld Lieblingsessen: Artischocken, Dorade Lieblingsstar: Left Boy Größter Wunsch: immer noch eigene WG mit bester FreundinNächster Urlaub: zwei Wochen Spanien mit dem Freund

Wenn es eine Konstante gibt im Leben von Anna, dann sind es diese Fragen: „Anna, räumst du dein Zimmer auf?“ – „Hast du dich für die Geschenke bedankt?“ – „Was ist mit deinem Praktikumsplatz, willst du da nicht mal anrufen?“ Mit 13 hofft Anna noch, ihre Mutter würde bald damit auf-hören, mit 16 rebelliert sie dagegen, heute sagt sie: Lieber

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etwas Genörgel als gar keinen Rückhalt. Sie hat am eigenen Leib erlebt, wie tief man fallen kann. Sommer 2008. Anna ist 17 und macht mit ihren Eltern Urlaub an der türkischen Riviera. Sie liegt mit ihrer Mutter am Strand, der Vater streift allein umher. Zu Hau-se erfährt sie dann, dass sich ihre Eltern trennen wollen: Der Vater hat eine neue Freundin, kaum älter als seine Tochter. Anna steht noch unter Schock, da stirbt ihr innig geliebter Großvater. Und wenig später trennt sie sich von ihrem Freund, der seit Wochen nur noch kifft. Der Albtraum scheint kein Ende zu nehmen. Aber Anna hat ja ihre Mutter, die zwar manchmal nörgelt, aber immer Rat weiß. Mit ihr spricht Anna über alles, etwa wenn sie Stress mit ihrem Freund hat. Freundinnen seien da schlechte Ratgeber, „zu loyal, die sagen sofort: ach, der Arsch“. Ihre Mutter dagegen hat stets auch die Perspekti-ve des Freundes im Blick. Sie ist Sozialarbeiterin, betreut psychisch Kranke, die Probleme anderer sind ihr Alltag, so leicht erschüttert sie nichts. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Alcopops: Als Anna 14 wird, geht die Mutter mit ihr zur Tankstelle und kauft ein paar Flaschen. Kichernd sitzen beide dann zu Hause in der Küche und testen, wie viel Anna verträgt. Drogen? Die Mutter warnt Anna nur, Haschisch mit Alkohol zu kom-binieren, das führe geradewegs in die Psychose. „Hab ich auch nie gemacht“, sagt die Tochter heute. Mit 16 hat Anna eine Zeit lang „einen reicheren Freundeskreis“. Ein Freund holt sie oft im goldenen Porsche seiner Eltern ab, dann fährt er mit ihr die Düsseldorfer Einkaufsstraßen entlang. Die Begeisterung der Mutter, eher rot-grün sozialisiert, hält sich in Grenzen. Trotzdem redet sie Anna die Freunde nicht schlecht, das rechnet ihr die Tochter hoch an. Selten erlebt sie ihre Mutter ratlos, am ehesten bei den Wutanfällen des Vaters. Doch in diesen Situationen rücken die beiden noch näher zusammen.Umso härter trifft es Anna, dass sie nach der Trennung der Eltern mit ihren Problemen auf einmal allein dasteht. Ihre Mutter ist mit sich beschäftigt – die Freundin ihres Man-nes, sie ahnte ja nichts. Ständig ist sie gereizt, jedes Paar Schuhe, das nicht aufgeräumt ist, bedeutet Streit zwischen Mutter und Tochter. Anna kämpft auch mit dem Vater: Er weigert sich, Unterhalt zu zahlen. Überall Krisenherde, überall Spannungen. Annas Körper hält diesen Zustand nicht lang aus. Sie schläft zwanzig Stunden am Tag und fühlt sich die übrigen vier schlapp. Schließlich landet sie in einer Spezialklinik am Starnberger See, Diagnose: Burn-out. Sommer 2011. Anna sitzt im „Rosie’s“, einem Bistro in der Düsseldorfer Innenstadt. Die reichen Freunde hat sie längst hinter sich gelassen, manche halten sie trotzdem noch „für eine Schickimicki-Ziege“, erzählt sie genervt. Anna ist 1,82 Meter groß, schlank, hat lange braune Haare. Sie trägt

einen kurzen, weißen Rock, graues Top, braune Lederjacke. Wie es in ihr aussieht, wissen nur ihre Mutter und ein paar Freunde. Sie war während ihrer dreimonatigen Therapie mit Abstand die Jüngste, in ihrer Gesprächsgruppe befan-den sich ein BMW-Manager und ein Rentner, der sein Trau-ma aus dem Zweiten Weltkrieg verarbeitete. Seitdem hat sie recht genaue Vorstellungen davon, was im Leben zählt. Sie hat das schlimme Jahr 2008 überstanden, und das ohne die Hilfe der Mutter; in Therapie zu gehen war ihre eigene Idee, auch die Klinik suchte sie selbst aus. Diese Zeit war „eine enorme Bereicherung für mich“, sagt sie. Vor zwei Monaten starb Annas Vater an Lungenkrebs. Da fi el auch der Mutter auf, wie erwachsen ihre Tochter geworden war: Wie selbstverständlich beteiligte sie sich an der Organisa-tion des Begräbnisses. In derselben Zeit legte sie ihre letz-te Abiturprüfung ab. Ihre Mutter, stolz, überraschte sie mit einer spontanen Party. Und ermahnte sie am Ende, auch allen für die Geschenke zu danken. „Sie kann einfach nicht anders“, sagt Anna belustigt. Es sei schon gut, „dass Anna demnächst in einer anderen Stadt studiert“, sagt ihre Mutter, „dann bin ich endlich diese Mutterrolle los“. Dafür hat Anna begonnen, sich über ihre Mutter Gedanken zu machen. Zu Hause gibt es jetzt einen Hund, es wird also nicht ganz ruhig werden, wenn sie auszieht. Mit dem neuen Freund der Mutter versteht sie sich auch gut. Trotzdem wäre es Anna lieber, wenn ihre Mutter nicht mehr heiratet.

2007: Annika vor dem Abitur

Annika Reeb: „Erst mal nach Australien“ Ich rechne mit einem Abi-Schnitt zwischen 2,3 und 2,4. Damit dürfte ich die Hürde zu meinem gewählten Stu-dienfach wohl schaffen. Mein Favorit ist derzeit der Stu-diengang Baugestaltung Holz an der Fachhochschule in Salzburg. Auf einer Studienmesse in München bin ich auf das Fach aufmerksam geworden. Ein Architektur-Studium hat mich schon vorher interessiert, aber die schlechten Aussichten, eine Stelle zu bekommen, haben mich davon abgehalten.Der Studiengang in Salzburg ist eine Kombination aus Design und Architektur mit Schwerpunkt Holz, die Berater der Fachhochschule halten die Berufsaussichten der Absol-venten für gut. Das hat sich gut angehört, deshalb habe ich mich gründlich über das Studium informiert.Meine Alternative ist eine Ausbildung zur Fluglotsin. Dann sind Englischkenntnisse wichtig. Die trainiere ich dem-nächst intensiv. Denn nach dem mündlichen Abi gehe ich erst mal für ein halbes Jahr als Au-pair in eine Familie nach Australien.Die Zeit down-under nutze ich auch, eine endgültige Ent-scheidung zu treffen. Ich bin mir sicher, dass entweder das eine oder das andere klappen wird. Beides liegt mir wohl auch. Es ist aber schon sehr schwierig, sich für einen Beruf entscheiden zu müssen, von dem man nicht weiß, was ei-nen tatsächlich erwartet. Die Eindrücke, die einem andere vermitteln, sind nun mal sehr subjektiv.

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2012: Annika fünf Jahre später

Annika Reeb: „Im vierten Semester sind wir zu dritt.“ Als ich nach dem Abitur in den Flieger nach Australien stieg, um dort als Au-pair zu arbeiten, wollte ich nach ei-nem halben Jahr zurück sein. Doch daraus wurden zehn Monate, weil ich in Australien im Internet erfahren habe, dass mein Wunschstudiengang Baugestaltung an der Fach-hochschule Salzburg neu ausgerichtet würde. Damit war mein Favorit gestorben. Meine Alternative, Fluglotsin, interessierte mich nicht mehr und immer noch in Australien fand ich den Studiengang Wandmalerei, Architekturoberfl äche und Steinpolychro-mie auf der Internetseite der Kunstakademie Stuttgart. Ich wollte etwas Kreatives machen. Eigentlich Architektur, doch davon wurde mir abgeraten, weil es schon viel zu viele Architekten gibt. Vor dem Studium musste ich ein zweijähriges Praktikum machen. Ich habe bei einem Steinrestaurateur in Ochsen-furt am Main gearbeitet. Wir haben die Bausubstanz alter Fachwerkhäuser untersucht oder die von Schlössern und Burgen. Nun bin ich im vierten Semester. In dem sind wir zu dritt, im Fachbereich insgesamt neun. Überfüllte Hörsä-le kenne ich nur vom Hörensagen. Die Berufsaussichten seien zwar besser als in Architektur, hieß es in der Studienberatung. Doch wie ich von Absol-venten höre, hangeln sie sich von Projekt zu Projekt. Mir ist klar, auf was ich mich einlasse. Aber das Studium macht mir Spaß, die Inhalte sind interessant. Ich bin zufrieden mit meiner Wahl. Aber nicht mit dem ständigen Umziehen. Von Ellwangen nach Australien, zurück, dann an den Main, von dort nach Stuttgart. Das geht nun schon fünf Jahre so und wird sich nach dem Studium fortsetzen, wenn ich mal hier, mal dort arbeite. Ich wünsche mir einen festen Platz, an dem ich für längere Zeit bleiben kann.

Die 80-jährige Ruth Klüger blickt zurück

Ruth Klüger wurde 1931 in Wien als Tochter eines jüdischen Arztes geboren. 1942 wurde sie mit ihrer Mutter in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt deportiert. 1947 emigrierte sie in die USA, studierte und machte als Germanistikpro-fessorin Karriere. In den Fünfziger-jahren war sie kurze Zeit mit ei-nem Professor für Geschichtswis-senschaft verheiratet. Aus dieser Verbindung ging ein Sohn hervor.

Abb. 1.3: Ruth Klüger (* 1931)

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Ruth Klüger hat in zwei Büchern ihre Erinnerungen verarbei-tet: „weiter leben“ (1992) und „unterwegs verloren“ (2008). Im folgenden Gespräch aus dem Jahre 2012 blickt sie auf ihr Leben zurück.

[…] Ihr Leben war schon oft bedroht. Sie haben einen sehr schweren Unfall überlebt und drei Konzentrations-lager, eines davon war Auschwitz. Alles Glück?In Auschwitz wurden an einem Tag Frauen und Mädchen über 15 ausgesucht, sie sollten in ein Arbeitslager kommen. Bei der Selektion habe ich mich für 15 ausgegeben, obwohl ich erst zwölf war. Das schien keine so große Entscheidung zu sein. Sie hatten es vorher schon einmal versucht und wurden zurückgeschickt. Hatten Sie nicht große Angst?Meine Mutter hat mich dazu überredet, es noch mal zu versuchen. Ich wollte eigentlich nicht. Man wusste ja nicht, wohin man geschickt würde. Wir waren umgeben von Leu-ten, die sagten, bis jetzt ist alles immer noch schlimmer geworden, warum sollen wir uns da melden? Nur wenn man zurückschaut, schüttelt man den Kopf und denkt: Wie bin ich da überhaupt rausgekommen? Denn die, die geblie-ben sind damals, sind alle vergast worden. Es war Ihnen aber in dieser Situation nicht klar, dass es um Leben und Tod ging? Nicht einmal das. Meiner Mutter, die in ihrer paranoiden Art eher zum Zweifel und auch zur Verzweifl ung neigte, war das schon eher klar. Also war Paranoia nützlicher als guter Glaube?Ich zitiere in meinem Buch weiter leben den polnischen Schriftsteller Tadeusz Borowski, der auch in Auschwitz-Bir-kenau war. Er sagt, die Hoffnung macht feige. „Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.“ Das ist ein toller Satz, so richtig. In Auschwitz war es genauso: Die Leute, die gedacht haben, es wird schon irgendwie wieder, sind umgekommen. Ihre Mutter hat Sie damals also gerettet. Und doch hatten Sie immer ein schwieriges Verhältnis zu ihr. Warum?Eltern waren anders zu ihren Kindern als heute. Man hat Kinder viel mehr geohrfeigt und das gar nicht ernst ge-nommen. Es gibt ganze Generationen von grausam erzo-

1. Sammeln Sie weitere Informationen zum Leben von Ruth

Klüger.

2. Arbeiten Sie heraus, welche Entscheidungen Ruth Klüger

selbst getroffen hat, die ihren Lebensweg beeinfl usst

haben, und mit welchen von außen gesetzten Bedingun-

gen sie sich dabei auseinandersetzen musste. Beachten

Sie dabei auch die Genderperspektive (also die Tatsache,

dass sie eine Frau ist).

3. Arbeiten Sie heraus, wie sie im Rückblick bestimmte

Personen, die in ihrem Leben von Bedeutung waren, und

Entscheidungen, die sie getroffen hat, bewertet.

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genen Kindern, die selbst grausam werden. Meine Mutter war vereinnahmend und stachlig. Als ich klein war, hat sie mich gezwungen, kratzige Wollunterwäsche zu tragen. Und es gab überhaupt keinen Grund dafür. Besonders wenn man bedenkt, dass die Mütter selbst solche Unterwäsche nicht getragen haben, sondern sich das Feinste, das sie sich leisten konnten, ausgesucht haben. Diese kleinen Grausamkeiten zwischen den Generationen – meiner Mut-ter ist es in ihrer Kindheit auch nicht so gut gegangen, ihre eigene Mutter war hoch neurotisch.Nach dem Krieg und dem Notabitur studierte Ruth Klüger ein Jahr in Regensburg und emigrierte, 16 Jahre alt, mit ihrer Mutter nach New York. Sind Sie Ihrer Mutter ähnlich? Dem Aussehen nach nicht, da ähnele ich meinem Vater. Meine Mutter hatte grüne Augen, und ich habe braune. Sie hatte eine Großzügigkeit, die mochte ich gern. Darin würde ich sie gern nachmachen. Sie hat meine Pfl egeschwester unter Umständen adoptiert, die schwieriger nicht hätten sein können: im Konzentrationslager. Aber sonst habe ich mich dagegen entschieden, so zu werden wie sie. Kann man das: sich dagegen entscheiden? Prägt einen die Mutter nicht sehr?Ich hatte gar nicht so viel mit ihr zu tun. Als ich klein war, in Wien, war sie kaum da. Ich durfte als Jüdin ja nicht ein-mal in die Schule gehen, saß immer allein in der düsteren Wohnung und habe Balladen von Schiller auswendig ge-lernt. Ich hätte mir gewünscht damals, dass sie mehr für mich da gewesen wäre. Aber Sie waren zusammen in den Lagern, aufeinander angewiesen sogar. In Theresienstadt und Auschwitz war ich nicht mit ihr zu-sammen, sondern mit den anderen Kindern. Als wir nach unserer Flucht für zwei Jahre in Straubing waren, hat sie die Woche über in Regensburg gearbeitet. In New York haben wir von 1947 an kurze Zeit zusammengelebt, bis ich geheiratet habe. Da habe ich meine Mutter verlassen und mich ziemlich schuldig gefühlt. War es nicht normal, von zu Hause wegzugehen, wenn man erwachsen war? Diese Generation hatte das Gefühl: Eine Tochter bleibt bei der Mutter. Aber um meine Mutter konnte man sich nicht kümmern. Sie hat in Amerika auch gleich wieder geheira-tet. Erst als sie alt war und hier in Kalifornien lebte, wurde es leicht mit ihr. Warum?Da konnte ich etwas für sie tun. Sie ließ es zu. Auch wenn sie immer noch versucht hat, mich zu ärgern. Und Sie haben sich immer noch ärgern lassen?Na ja, schon. Wenn ich reinkam und sie sprach mich mit „Sie“ an, zum Beispiel weil sie nicht gut fand, was ich an-hatte. Sie ist 97 Jahre alt geworden. Es war ein verfl ixtes Verhältnis. Mir ist erst kürzlich aufgefallen, dass es die Mutter-Tochter-Beziehung in der Literatur und Mythologie bis vor Kurzem überhaupt nicht gegeben hat. Die Literatur ist voller Mütter, aber es sind immer Mütter von Söhnen. Dabei ist das eine so wichtige Beziehung zwischen Müt-tern und Töchtern. Haben Sie Ihre Mutter geliebt?

Ja, sicher. Wenn man jetzt wüsste, wie man Liebe defi niert. Wenn es um große Anhänglichkeit geht, ja. Aber nicht, wenn es um Vertrauen geht. Ist Ihnen das passiert, dass Liebe und Vertrauen eins ge-worden sind?Bei verschiedenen Freundinnen. Aber nicht mit meiner Mutter. Und sonst in der Familie?Meine Familie wurde zerschlagen durch den Krieg. Es gab Verwandte in New York, aber sie waren früher emigriert und schon so amerikanisch. So sehr konnte ich mich nicht anpassen. Ich wusste gar nicht, wie ich mich in den ame-rikanischen Teenager der Vierzigerjahre hätte verwandeln können. Was wurde vom Teenager der Vierzigerjahre erwartet? Alles steuerte darauf hin, dass die Mädchen heiraten und die Buben Geld verdienen. Die Frauen haben im Krieg noch stark mitgearbeitet, aber das wurde nach dem Krieg alles zurückgenommen. Die Idee war dann, dass Mädchen ab-hängig sind. Und ich wollte was werden. Ich wollte unab-hängig sein.Und doch haben Sie jung geheiratet und Kinder bekom-men. Aber ich wollte einen Beruf haben, auch als verheiratete Frau und Mutter. Ich habe immer gearbeitet und verdient, vor den Kindern habe ich Anglistik studiert und im Büro gearbeitet, dann lange als Bibliothekarin. Sie haben sich als „Krückstock“ für die Karriere Ihres Man-nes empfunden. Warum? Ich habe seine Dissertation getippt und gearbeitet und in die gemeinsame Kasse gezahlt. Mein Beruf hat ihn nicht interessiert. Er war Historiker, ich die faculty wife, sein Anhängsel. Er ist ursprünglich Berliner gewesen und auch emigriert.Was haben Sie sich von der Ehe versprochen? Wenn Sie mich jetzt fragen, was der größte Fehler war, den ich je gemacht habe, so würde mir zuerst einfallen: meine Ehe. Das war wirklich blödsinnig, mit 21 Jahren einen zu hei-raten, bei dem ich völlig unsicher war, ob das klappen könn-te. Ich habe eigentlich von Anfang an gewusst, dass es nicht klappen würde. Und gleichzeitig sind aus dieser schlechten Ehe diese beiden Kinder hervorgegangen, die ich innig lie-be. Und wer wünscht sich seine Kinder ungeboren? In den 50er-Jahren heiratete sie den Historiker Tom Angress, zog mit ihm nach Connecticut und bekam ihren ersten Sohn, Percy. Sie meinen: Es war ein Fehler und auch wieder keiner?Ich meine: Das Richtige kann aus dem Falschen kommen. Auch aus schlechten Erfahrungen können sich Dinge er-geben, die nicht rückgängig gemacht werden wollen. Wie Kinder, die man liebt. Das ist übrigens auch eine Liebe, die nicht unbedingt mit Vertrauen zu tun hat. Kinder lügen einen ja an. Und man selbst hat die eigenen Eltern angelo-gen. Eltern und Kinder verschweigen sich gegenseitig viel. Haben Sie um Ihre Ehe gekämpft?Es hat Versuche gegeben, es zwischen uns ins Reine zu bringen, aber es hat nicht funktioniert. Er war kein Mann, mit dem man reden konnte – ich spreche in der Vergan-genheit von ihm, weil er letztes Jahr gestorben ist.

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Sie waren knapp zehn Jahre verheiratet und erst Anfang 30, als Sie sich scheiden ließen. Hatten Sie den Wunsch, dass es mit einem anderen Mann klappt?Ich hab schon noch ein paarmal gedacht, das könnte es sein, aber es ging nie wieder tief, auch wenn ich mir wo-chenlang eingebildet habe, es sei wichtig. Um mich herum gab es noch keine selbstbewussten alleinstehenden Frau-en, da hat jeder erwartet, dass ich mir wieder einen Ehe-mann angeln werde. Doch mir war das nicht mehr wichtig genug. Ich wollte Literaturwissenschaftlerin werden, promovieren und mich, so gut ich konnte, um die Kinder kümmern. Ich glaube, ich war von Anfang an nicht für eine Ehe gemacht. […]Es war also keine Enttäuschung über die Liebe, die Sie von den Männern entfernt hat?Nein, überhaupt nicht. Das hat die Geschichte so arran-giert. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass das Leben ganz anders hätte verlaufen können. Dass man nicht durch drei Konzentrationslager gegangen wäre. Ich spiele gern das Spiel, mich zu fragen: Was wäre, wenn … Wenn ich zum Beispiel auf den Kindertransport nach England gekommen wäre. Das wäre ein ganz anderes Leben geworden. Ich wäre immer noch Jüdin, Emigrantin, aber ich hätte die KZs nicht erlebt und wäre viel früher in eine englische Gesell-schaft hineingewachsen. Mir wäre das lieber gewesen. Aber meine Mutter wollte das nicht. Ihre Mutter hat damals nicht zugelassen, dass Sie mit einem der letzten Kindertransporte nach England fuhren. Haben Sie ihr das verübelt? Das war ihr gutes Recht, sie hatte Angst, mich nie wieder-zusehen. Ihr älterer Sohn wollte mit 14 Jahren bei seinem Vater le-ben. Mal küchenpsychologisch gefragt: Kann es sein, dass Sie ihn haben fortgehen lassen, eben weil Ihre Mutter Sie damals nicht gehen ließ?Nein, so geht das nicht auf. Ich habe eher gedacht: Wer nicht mit mir leben will, muss nicht mit mir leben. Und habe gesagt: „Jederzeit kannst du zu mir zurückkommen.“ Zwei Jahre später kam er dann ja auch. Sie schreiben, er hat Ihnen das Herz gebrochen damals. Ja, und er ist mir dadurch entfremdet. Er hat mir später gesagt, ich hätte um ihn kämpfen sollen. […]Sie waren von 1980 bis 1986 Germanistikprofessorin an der Universität Princeton, eine Frau unter lauter Männern. Eine schwierige Zeit?Das war der größte Fehler, den ich in meiner berufl ichen Laufbahn gemacht habe. Es war interessant und natürlich sehr gut fürs Image. Aber dort habe ich gelernt, was es bedeutet, wenn man eine Renommierfrau ist. Die Männer wollten bewundert werden, das war die geeignete Rolle für eine gebildete Frau. Was ich geschrieben oder gedacht habe, war bedeutungslos. […]Sind Sie milder geworden mit den Jahren? Versöhnlicher?Nein, eigentlich nicht. Mir wird manchmal vorgeworfen, dass gerade in meinem zweiten Erinnerungsbuch, unter-wegs verloren, alle möglichen Ressentiments stecken, und ich sage dann freudig: „Das ist total richtig. Ich bin dafür, Ressentiments zu hegen.“ Ich halte das für eine angemes-sene Weise, mit Ungerechtigkeiten umzugehen, gegen die

man nichts machen kann. Ich will mich nicht aussöh-nen, zum Beispiel mit den Kriegsverbrechen. Nichts ist wiedergutzumachen. Was geschehen ist, ist gesche-hen.

Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebens-lauf? Sie lernen im Folgenden zwei Antworten auf diese Frage kennen, in deren Mit-telpunkt der Begriff der „Bildung“ steht. Die Autoren ken-nen Sie bereits aus den vorangegangenen Kursen. Jürgen Henningsen geht dem Zusammenhang von Autobiografi e und Bildung nach, Volker Ladenthin defi niert den Begriff der „Bildung“ so, dass er als der zentrale Grundbegriff der Pädagogik fungiert. Mit Hilfe dieser Überlegungen können Sie nicht nur die bereits bearbeiteten Texte klarer verstehen, sondern auch ein Vorverständnis vom Thema dieses Kurses erarbeiten. Insbesondere der Begriff der Bildung eröffnet die päda-gogische Perspektive auf den Lebenslauf und hilft Ihnen dabei, Fragen und Erwartungen zu formulieren.

Autobiografie und Bildung (Jürgen Henningsen)

1. Das erste Beispiel entnehme ich der Autobiografi e The Education of Henry Adams. Adams (1838–1918), Historiker und Geschichtsphilosoph in Harvard, war der Enkel des sechsten amerikanischen Präsidenten John Quincy Adams, der Urenkel des zweiten amerikanischen Präsidenten John Adams. […] Adams berichtet und deutet in einem Atem-zuge. Fast verfl üchtigen sich die Fakten in der intellektu-ellen Höhenluft dieses fanatisch vom konkreten Detail ins Allgemeine strebenden Buches – der Autor spricht von sich

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Um die Positionen der beiden Autoren richtig zu verstehen,

sollten Sie sich zunächst über Ihr Vorverständnis von Bildung

klar werden.

1. Skizzieren Sie Ihr eigenes Verständnis von „Bildung“ und

vergleichen Sie Ihr Verständnis mit dem Ihrer Mitschü-

lerinnen und Mitschüler. Sammeln Sie in diesem Zusam-

menhang auch Beispiele dafür, wie heute der Bildungsbe-

griff in der Öffentlichkeit gebraucht wird.

2. Achten Sie bei der Arbeit an den folgenden Texten genau

darauf, ob bzw. wie sich das Bildungsverständnis der

beiden Autoren von dem heute üblichen Gebrauch des

Begriffs unterscheidet.

Aufgaben

Abb. 1.4

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nur in der dritten Person. Wir wenden uns einem Ereignis dieses Lebens zu, das mit naturwissenschaftlicher Exakt-heit konstatiert wird: „Am 3. Dezember 1841 – Adams war damals knapp vier Jahre alt – erkrankte er an Scharlach. Einige Tage war er so gut wie tot und lebte nur durch die sorgfältige Pfl ege sei-ner Familie wieder auf.“Was ist an diesem Faktum pädagogisch bemerkenswert? Gar nichts. Dass Kinder Kinderkrankheiten haben, weiß jeder. Jeder Lehrer fi ndet in den Schulgesundheitsbögen seiner Kinder deren Kinderkrankheiten exakt aufgezeich-net. Diese Eintragungen sind für den Pädagogen nur inter-essant, wenn er nach Gründen sucht, weshalb dieses oder jenes Kind schwächlich aussieht, nicht recht „mitkommt“ oder zurückgestellt werden soll.Aber eine Autobiografi e ist kein Schulgesundheitsbogen. Wenn ein Autor im Rückblick auf sein Leben berichtet, er habe als Kind Scharlach gehabt, misst er diesem Ereignis eine andere Bedeutung bei als die Schulärztin, die solche Angaben in den Gesundheitsbogen einträgt. Henry Adams geht es um „The Education of Henry Adams“ – um die Fra-ge, wie er der wurde, der er ist und als den er sich sieht, um die Frage, wie durch „Education“ aus Henry Adams Henry Adams wurde.Autobiografi e ist Selbstvergewisserung und Gestaltung eines Bildungsschicksals. Was war bildend? Geht nicht, so fragt Adams selbst an dieser Stelle, die erste Bildung (edu-cation) vom Schmerzgefühl aus? Tatsächlich sei ein solches Schmerzgefühl (discomfort) unter den ersten Erinnerun-gen des Kindes.„Sobald es transportfähig war, wurde es in Leintücher ge-hüllt und von dem kleinen Haus in der Hancock Avenue in ein größeres in der benachbarten Mount Vernon Street getragen. Es war mitten im Winter, am 10. Januar 1842, und nie vergaß das Kind den heftigen Schmerz, den es unter den Tüchern durch den Luftmangel verspürte, noch auch den Lärm des Möbelrückens.“Immer noch haben wir ein alltägliches, in keiner Hinsicht pädagogisch bemerkenswertes Geschehen vor uns – was kann eine erziehungswissenschaftliche Refl exion damit anfangen? Ein Autor schreibt in seiner Autobiografi e, dass er als Kind Scharlach hatte und Schmerzen verspürte, die er nicht vergessen konnte. Macht ihn diese Allerweltstat-sache interessant? Bereitet er ein Alibi vor, um zu erklären, weshalb er nicht wie sein Großvater und sein Urgroßvater Präsident der USA wurde?Adams selbst problematisiert dieses simple Faktum und zeichnet uns vor, wonach wir zu fragen haben, indem er unvermittelt fortfährt:„[…] und besonders Scharlach beeinfl usst ernstlich die kör-perliche und charakterliche Entwicklung von Knaben, mö-gen sie sich auch ihr Leben lang den Kopf über die Frage zerbrechen, ob diese Krankheit sie tüchtig oder untüchtig für den Erfolg gemacht hat.“ Damit ist das Problem zunächst einmal abstrakt und allge-mein gestellt: Eine Kinderkrankheit prägt das von ihr befal-lene Individuum körperlich und charakterlich […].Substanz gewinnt diese allgemeine Überlegung, indem sie dann vom Autor auf das eigene Leben bezogen wird. Der

Autor blickt von einem vorweggenommenen Endstadium seines Lebens aus zurück und vergewissert sich des Erlit-tenen unter dem Blickwinkel, was es zur eigenen Bildung beigetragen hat, so eine Integration des Lebenslaufs als Bildungsschicksals herstel-lend. Von der Nennung kör-perlich-leiblicher Symptome steigt der Gedankengang auf zu einer umfassenden Deutung der ganzen geis-tigen Eigengestalt, wobei diese ein scharfes Profi l erhält, indem Adams stili-sierend […] die Dominanz bestimmter charakterlicher Züge und Verhaltensweisen betont – eben jener Züge und Verhaltensweisen, zu denen die Krankheit in einer Beziehung steht, die in der hinterherkommenden Selbst-vergewisserung, deren letzten integrierenden Schritt die Autobiografi e darstellt, deutlich wird – eine Beziehung, die aber auch schon, wie Adams selbst sagt, im bisherigen Le-ben eine „immer größere Bedeutung“ angenommen hatte:„Doch nahm, vom Gesichtspunkt der Erziehung, dieses Fie-ber in Henry Adams’ Augen immer größere Bedeutung an, je länger er lebte. Zunächst war die Beeinträchtigung eine körperliche. Er blieb im Wachstum um sechs bis acht Zenti-meter hinter seinen Brüdern zurück, sein Knochenbau war entsprechend schwächer, sein Gewicht geringer. Sein Cha-rakter und seine geistigen Fortschritte schienen an dieser Schwächlichkeit teilzuhaben. Bei Kämpfen zog er den kür-zeren, und seine Nerven waren zarter, als die Nerven der Knaben sein sollten. Er übertrieb diese Schwächen, als er älter wurde. Die Gewohnheit, zu zweifeln, seinem eigenen Urteil zu misstrauen und das Urteil der Welt völlig zu ver-werfen; die Neigung, jede Frage als eine offene anzusehen; die Unschlüssigkeit, zu handeln, außer wenn es zwischen zwei Übeln zu wählen galt; die Scheu der Verantwortung; das Wohlgefallen an Linie, Form, Qualität; der Schauder vor der Langeweile; die Leidenschaft für einen kleinen Freun-deskreis und die Abneigung für die große Gesellschaft: All das sind wohlbekannte Wesenszüge Neuenglands, die durchaus nicht bloß einzelnen Personen eigentümlich sind; aber in Henry Adams’ Fall schienen sie durch das Fieber gesteigert zu sein, und er konnte sich nie darüber schlüs-sig werden, ob diese Veränderung seines Charakters im ganzen für seine Sache krankhaft oder gesund, gut oder schlecht gewesen.“ Wir brauchen die Kenntnis der ganzen umfangreichen Au-tobiografi e, die Kenntnis des ganzen komplizierten Henry Adams, um ermessen zu können, wie genau das kurze Zitat den Mann charakterisiert. Für unseren Zweck möge die Versicherung genügen, dass es treffend und typisch ist.2. Endlich kann jetzt die erziehungswissenschaftlich rele-vante Frage voll entfaltet werden. Ein Mann steht vor uns, dem die Mit- und Nachwelt zu bestätigen nicht umhin kann, dass er Großes geleistet hat – ein Mann, der von seinen Freunden geliebt und geschätzt wurde als der, der er geworden war. Wie ist er dieser Mensch geworden? Wie

Abb. 1.5

Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf?

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hat sich dies Ausgeprägt-Eigentümliche an ihm, diese un-verwechselbare leiblich-seelisch-geistige Form, die wir als „Charakter“ oder „Bildung“ bezeichnen können, gebildet?Der Erziehungswissenschaftler stellt die Frage, wie diese Gestalt entstand, wie der sich uns darstellende Charakter sich bildete […]. (Wichtig ist dabei, dass die Gestalt einer Bildung nicht beschrieben werden kann, ohne dass man die Selbstdeutung des Individuums dabei mithört: Bildung ist eine Refl exionstatsache. Die autobiografi sche Aussage ist deshalb ein bevorzugtes, durch nichts zu ersetzendes Material für die Frage nach dem Bildungsschicksal.)Nun sagt uns der Mann, dessen Bildungsschicksal wir nachspüren, dass sein ganzes Leben unverständlich bliebe, wenn man die Kinderkrankheit Scharlach daraus weg-streichen wollte. Dass er es selbst sagt, ist wesentlich für die Frage nach seiner Bildung. Denn nicht das ist bildend, was einem Individuum irgendwie zustößt (und von außen registriert werden könnte); bildend ist, was dieses Indivi-duum zu einem Bestandteil seiner selbst macht, indem es darüber nachdenkt, mit sich und anderen darüber spricht, sich des Widerfahrenen inne-wird und sich daran erinnert, was es in sich hineinverwan-delt, zu einem Eigenen macht, integriert: wie man sieht, haben wir eine ganze Reihe von Metaphern für diesen so schwer defi nierbaren Vorgang der Bildung. Der eine hat Scharlach und kommt darüber hinweg, ohne dass dies Folgen für seine Bildung hätte: so, als hätte er einen Regenmantel angezogen und wieder ausgezogen; der andere wird jenes ihm Widerfahrene zeit-lebens nicht wieder los, es wird Bestandteil seiner Bildung, es wird zu einem Zeichen, an dem dieses Individuum von sich selbst und seinen Freunden erkannt wird. Ganz zwei-fellos hat so Henry Adams seine Kinderkrankheit zu einem Teil seiner selbst, zu einem Stück seiner Bildung gemacht. Er fragt, wie wir sahen, „ob diese Veränderung seines Cha-rakters im ganzen für seine Sache krankhaft oder gesund, gut oder schlecht gewesen“ sei. Er lässt diese Frage offen – und auch in dieser „Neigung, jede Frage als eine offene anzusehen“, sieht er, wie es oben hieß, einen dominanten Zug seines Charakters. Es sei noch einmal betont, dass nicht die Krankheit als solche, als factum brutum, sondern die Art und Weise ihrer sprachlich-geistigen Verarbeitung für besagte „Veränderung des Charakters“ ursächlich ist. Aber ob diese Veränderung nun „krankhaft oder gesund, gut oder schlecht gewesen“ – wer wollte das beurteilen? Das ist entweder eine private Geschmacksfrage oder eine Frage für das Jüngste Gericht, an die wir mit den Mitteln erziehungswissenschaftlicher Refl exion nicht herankönnen.Wir können aber etwas anderes festhalten und als bewie-sen und nachprüfbar ansehen: Das sich in dem Buch The Education of Henry Adams seines Bildungsschicksals ver-gewissernde Individuum ist geprägt und weiß sich geprägt durch ein Ereignis, durch eine erlittene Krankheit, die wir

für gewöhnlich auf der Minusseite der menschlichen Ent-wicklung einordnen, die wir, träfe sie uns selbst oder un-sere Kinder, als Unglück oder Widrigkeit ansehen würden. Eine Ratte, einmal von Krankheit befallen, kümmert, bleibt zurück, wird in der Regel lebensuntauglicher als ihre Art-genossen. Ein Mensch leidet, aber dieses Leiden muss sich nicht notwendig nur negativ auswirken. Es kann angeeig-net, in das Ganze des individuellen Seins integriert werden, zum Bestandteil der Bildung werden. […]Von den verschiedenen Aspekten, unter denen ein Lebens-lauf dargestellt werden kann, kommt dem der „Bildung“ eine Vorzugsstellung zu: Lebenslauf ist Bildungsschicksal. So kann z. B. Henry Adams seine berühmte Autobiografi e unter den Titel The Education of Henry Adams stellen: „Bildung“ ist seiner Auffassung nach nicht eine Ausstat-tung, die dem Jüngling irgendwann in Familie, Schule und College vermittelt worden wäre, sondern Anruf und unent-rinnbares Schicksal durch ein langes Leben des Lernens und Umlernens hindurch. […]Noch deutlicher wird die Vorzugsstellung des Bildungsas-pekts für den Lebenslauf, wenn die Kategorien der Bildung nicht nur in der rückschauenden Betrachtung auf das gelebte Leben angewandt werden, um es auf „Bildung“ hin durchsichtig zu machen und darstellen zu können, sondern wenn diese Kategorien der Bildung schon im Le-ben selbst gestaltend gegenwärtig waren. Der Lebenslauf wird dann nicht nur in der Rückschau als Bildungsschicksal gesehen und deutend dargestellt, sondern schon als Bil-dungsschicksal gelebt. Das bekannteste Beispiel solchen Selbstverständnisses ist wohl Wilhelm von Humboldt, dem seine berufl iche Tätigkeit, seine Freunde, seine Liebe ganz bewusst Material der Bildung wurden: „Jedes Schicksal ist mir ein Stoff, an dem meine Seele sich übt.“ […]Die Autobiografi e beschreibt nicht einen Lebenslauf, wie ein naturhafter Vorgang beschrieben wird. Sie ist selbst Bestandteil dieses Lebenslaufs, sie ist seine notwendige Integration. Unter dem Zwang der Kategorie „Bildung“ leben wir alle autobiografi sch; wir leben, pointiert gesagt, nicht einen Lebenslauf, sondern eine Autobiografi e. Unse-rem Leben würde etwas fehlen, wenn es nicht sprachlich refl ektiert wäre, und zwar im Hinblick auf die Selbstverge-wisserung in der Bildung. Bildung ist, so könnten wir gera-dezu defi nieren, die das gelebte Leben erst ermöglichende Selbstvergewisserung in der Sprache, deren notwendige Konsequenz die Autobiografi e ist – ob diese tatsächlich geschrieben und publiziert wird oder nicht, ist dabei ver-hältnismäßig belanglos.

Abb. 1.6

1. Geben Sie genau wieder, wie Henningsen die Begriffe

„Autobiografi e“ und „Bildung“ versteht und aufeinander

bezieht.

2. Erläutern Sie sein Verständnis dieser Begriffe mithilfe der

oben angeführten Texte.

Aufgaben

1. Kapitel

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Ist jeder Mensch bildsam?Bildungsvorstellungen korrelieren direkt mit einem Bild vom Menschen und einem Verständnis von Gesellschaft. Bildung umschreibt die Zielvorstellung von dem, was ei-nem Menschen zukommen soll, damit er als Mensch unter Menschen denken, sprechen und handeln, also leben kann. Daher ist Bildung ein Menschenrecht für alle Menschen. Die Idee der „Bildung“ erhebt einen politisch-sozialen An-spruch, indem sie eine Gesellschaft einfordert, die allen Menschen Freiheit tatsächlich gewährt (,Freiheit‘ meint die Möglichkeit, zu tun, was man soll) und so Bildung für jeden ermöglicht („Bildungsgerechtigkeit“). […]

Ist Bildung nicht etwas fürs Bildungsbürgertum?Bildung ist weder identisch mit oder affi n zu bestimmten Inhalten, Themen, Medien, Kulturen oder Traditionen, son-dern bezeichnet das erkennende und wertende sowie erst noch zu gestaltende sinnvolle Verhältnis zu allen geistigen wie materialen Produkten des Menschen, zu allen Medien, zu allen Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten (Kom-petenzen), zu allen Kulturen, Überlieferungen und gegen-wärtigen politischen, sozialen, technischen, künstlerischen, pädagogischen, religiösen oder ethischen Aufgaben. Da Bildung ein erkennendes, wertendes und sinngebendes Verhältnis bezeichnet, kann alles Erkennbare, zu Bewer-tende und Sinnoffene zum Gegenstand von Bildungspro-zessen werden. Bildung stellt daher die gleiche Aufgabe für jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht, sozialem Stand, kultureller oder ethnischer Identität.

Meint Bildung nicht die Aneignung von Hochkultur, also Theater, Literatur, klassischer Musik?Eine Einschränkung des Begriffs Bildung auf Kultur, gar auf geisteswissenschaftliche Bereiche und dort wieder auf bestimmte Medien („Buch“) widerspricht dem universalen Konzept des Begriffs. Bildung ist daher die über allen Kul-turen und kulturellen Objektivationen stehende ubiquitäre Aufgabe des Menschen, sich so viel Welt wie nützlich und nötig sinnvoll anzueignen, um sein Handeln gültig zu ge-stalten. Ausbildung oder Allgemeinbildung sind daher kei-ne Oppositionen von Bildung, sondern bildungstheoretisch zu prüfende Teilaspekte. […]

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Bildung: die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf (Volker Ladenthin)

Welches Problem löst „Bildung“?Der Idee der Bildung liegt die (ebenso unbeweisbare wie unwiderlegbare) Voraussetzung zugrunde, dass Denken, Sprechen und Handeln des Menschen prinzipiell frei sind und/oder faktisch frei sein sollten. Bildung bezieht sich daher auf jenen Bereich des Menschen, der von der Natur nicht festgelegt ist und von der Gesellschaft nicht geformt werden kann oder soll. Gegenbegriffe der Bildung sind der Begriff der Entwick-lung, unter den die naturhaften Prozesse der Mensch-werdung des Menschen gefasst sind, und der Begriff der Sozialisation, der die indirekten, nicht intentional und nicht explizit gestalteten Beeinfl ussungen des Menschen durch die zufällige Umgebung und Kultur meint.Wenn der Mensch von Natur aus nur daraufhin festgelegt ist, dass er nicht völlig festgelegt ist (und sich zu allen Festlegungen ins Verhältnis setzen kann), fragt es sich, wie seine „Festlegung“ (Gestaltung, Formung, Bildung) erfolgen „soll“ bzw. sein „Verhältnis“ zu den Festlegungen gestaltet werden soll. Die Theorie des Ziels und Verfahrens dieser „Festlegung“ nennt man „Bildungstheorie“. Das Nachdenken über und Gestalten von Bildung gehört zur „Pädagogik“ und gibt ihr die ideelle Identität.

Was meint „Bildung“?„Bildung“ ist somit die zentrale Kategorie pädagogischen Denkens, Sprechens und Handelns, aus der alle weiteren pädagogischen Konzepte abgeleitet oder auf die alle wei-teren pädagogischen Konzepte bezogen werden.Der Terminus entstand in einer besonderen kulturellen Situation im Übergang vom europäischen Mittelalter zur Neuzeit – gleichwohl lässt sich das Problem, zu dessen Lö-sung er beitragen will, kultur- und zeitübergreifend heraus-arbeiten: Bildung ist die Antwort auf die Bildsamkeit des Menschen, d. h. seine Unbestimmtheit. Jeder Mensch muss sich erst zu dem gestalten (formen, „bilden“), der er sein muss, sein will und sein soll. Ohne diese Selbsttätigkeit wäre der Mensch nicht einmal lebensfähig, und er würde seine sittlichen Möglichkeiten unterbieten; er wäre verant-wortungslos. Er würde nicht als Mensch handeln, sondern sich als fremdgesteuertes Naturwesen oder identitätsloses Partikel einer Masse verhalten. Da er dies aber weiß, kann er nicht anders, als sich handelnd zu seinem Verhalten in Bezug zu setzen, selbst da, wo er seine Aufgabe nicht angeht. Auch das Nicht-tätig-Werden ist für den Menschen ein Handeln – weil er dies weiß. […]Bildung ist an die Idee der Bildsamkeit des Menschen ge-bunden, d. h. die anthropologisch einzige Bestimmung des Menschen, sich in Auseinandersetzung mit Natur und Ge-schichte anderen Menschen und sich selbst selbsttätig und selbstständig lernend bestimmen zu können und daher zu müssen. […]

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Abb. 1.7

Was ist die pädagogische Perspektive auf den Lebenslauf?

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Im nächsten Text erzählt ein Vater vom Leben und den Plänen seines zwanzigjährigen Sohnes, erinnert sich an seine eigene Entwicklung und denkt über seine pädagogi-sche Aufgabe als Vater nach. Der Autor, Harald Martenstein (geb. 1953), ist Journalist und Schriftsteller.

Von nun an auf getrennten Wegen (Harald Martenstein)

Mein Sohn ist 20. Jetzt, während ich diesen Text schreibe, erntet er in Australien Paprika. Oder hat die Mangoernte schon angefangen? Wir haben zurzeit nicht so oft Kontakt. Am Anfang schickte er oft Mails, inzwischen arbeitet er mitten im Outback auf einer Farm und kommt oft tagelang nicht an einen Computer. Die Erntehelfer wohnen in billi-gen Hotels oder Baracken, sie stehen vom Sonnenaufgang bis zum Abend auf den Feldern.Es ist ein „Work and Travel“-Programm: Junge Leute aus Übersee helfen in der australischen Landwirtschaft aus oder in der Tourismusbranche, immer nur für ein paar Wo-chen, als Saisonkräfte. Wenn er genug verdient hat, fährt mein Sohn an den Strand, dort feiert und surft er ein paar Tage lang, vielleicht auch ein paar Wochen, je nachdem, wie lange das Geld reicht. Dann sucht er sich einen neuen Job.Nach der Schule, zum Beispiel dem Abitur, beginnt eines der letzten Kapitel der Elternschaft. Was soll aus dem Kind werden? Soll es studieren? Und was?Als Vater ist man während der Ausbildung immer noch Finanzier, die Möglichkeiten der Einfl ussnahme sind trotz-dem begrenzt. Mein Sohn war nie überdurchschnittlich rebellisch, die Pubertät verlief ohne größere Zwischenfälle, trotzdem wird er diese Entscheidungen selber treffen und sich nicht reinreden lassen. Meine Ratschläge hört er sich an, aber mehr auch nicht.

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Ich fi nde, dass er Talent zum Schreiben hat, bitte schön, ich kann das beurteilen. Ehrlich gesagt: Mir gefi ele der Gedan-ke, dass mein Sohn in meine Fußstapfen tritt. Aber er will nicht.Er will Sport studieren und Sportmanager werden.Ich bin sehr oft mit ihm zum Sport gegangen, er hat vie-le Sportarten ausprobiert, war in etlichen Vereinen, das Studienfach kommt nicht von ungefähr und ist trotzdem etwas völlig Unerwartetes, mir Fremdes.So ist das eben: Die Kinder nehmen ihren eigenen Weg. Mein eigener Vater hat mir geraten, Jura zu studieren. Da-mit wäre ich nicht glücklich geworden. Aber das konnte mein Vater nicht wissen, nur ich selbst konnte es wissen.Was ist das Ziel von Erziehung? Das Ziel kann, glaube ich, nur heißen, dass die Kinder irgendwann selbstständig sind und in der Lage, für sich zu entscheiden. Loszulassen ist schwierig, eine Alternative dazu gibt es aber nicht.Wenn mein Sohn tatsächlich den Berufsweg einschlagen würde, der ihm von mir, seinem Vater, vorgeschlagen wird – im ersten Augenblick würde mich das wohl freuen, aber im zweiten Moment käme es mir gespenstisch vor. Das Erziehungsziel „selbstständiges Denken“ hätten wir, seine Mutter und ich, dann wohl verfehlt.Früher folgten die Kinder meist den Eltern. Das Kind des Metzgers übernahm den Laden, das Kind des Arztes wurde Arzt. In meiner Schulzeit kannte ich einige Gleichaltrige, die schon mit 13 wussten, dass sie später mal den Betrieb der Eltern übernehmen.Solche Dynastien werden seltener, darin liegt zweifellos ein Gewinn an individueller Freiheit. Auch wenn es für die Eltern nicht immer schön ist.Die Gesellschaft, sagt man, soll durchlässig sein. Nicht die Herkunft und die Elternhäuser sollen über die Lebensläufe entscheiden, sondern das Talent und die Neigung.Abstrakt fi ndet das fast jeder gut. Wenn es einen konkret betrifft, fi ndet man es oft nicht mehr gut.Schwierig wird es fast immer, wenn die Kinder von Akade-mikern sich gegen ein Studium entscheiden. Ich kenne ein paar Fälle. Da wird ein Arztsohn zum Beispiel Tischler. Ein sozialer Abstieg, reden wir doch bitte nicht drum herum. Weniger Geld, geringerer Status.Aber der Junge will das. Kann man da von „Abstieg“ reden? Wenn es für ihn das Richtige ist?Nach außen sind die Eltern solidarisch, sie sind total ein-verstanden, geben sich keine Blöße. Nur einmal habe ich den Vater sagen hören: „Er erbt ja eine ganze Menge. Er muss später mal nicht nur von seiner Werkstatt leben.“ Da war eine Prise unelterlicher Neid spürbar auf die Freiheit des Sohnes, von der er frech Gebrauch macht.Heimlich denke ich: Zum Glück studiert mein Sohn wenigs-tens.Man will das Beste für das Kind. Das war immer so, seit es geboren wurde. Und das ist auch völlig richtig. Will man etwa Eltern, denen das Wohl ihres Kindes gleichgültig ist? Aber irgendwann kommt der Moment, an dem die Eltern nicht mehr wissen können, was das ist, dieses „Beste“.Eine Meinung aber wird man vielleicht doch haben dürfen.Mein Sohn bleibt sechs Monate in Australien. Ich fi nde das richtig. Körperlich arbeiten, Surfen, Feiern, davon hat

1. Arbeiten Sie heraus, wie Ladenthin „Bildung“ defi niert.

Geben Sie dabei auch wieder, welche anderen Verständ-

nisse dieses Begriffs er anführt und wie er sie von seiner

Defi nition abgrenzt.

2. Geben Sie Ladenthins Defi nition der Begriffe „Entwick-

lung“ und „Sozialisation“ wieder und vergleichen Sie seine

Defi nitionen mit anderen, die Ihnen bekannt sind.

3. Erläutern Sie Ladenthins Begriff von Bildung mithilfe von

Texten aus diesem Kapitel und selbstgewählten Beispie-

len.

4. Erörtern Sie kritisch Ladenthins Position.

5. Entwickeln Sie im Anschluss an Henningsens und Laden-

thins Bildungsbegriff pädagogische Fragestellungen zum

Thema „Erziehung und Lebenslauf“.

Aufgaben

1. Kapitel

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er was fürs Leben. Das meine ich nicht ironisch. Wann im Leben wäre sonst Platz dafür? Es ist Unsinn, mit 20 auf den Karrieretrip zu gehen und so zu tun, als wisse man, wer man sei und was man mal werden möchte.Ich wusste es mit 20 jedenfalls nicht. Ich wollte Tierarzt werden, oder Psychologe, war ein paar Monate im Kibbuz, ein paar Monate in Südamerika, habe ziellos vor mich hin studiert, nicht etwa Psychologie, sondern randständige Fä-cher wie Ethnologie und Afrikanistik, und das Gleiche emp-fehle ich meinem Sohn, falls er mal zuhört. Lass dir Zeit. Nicht endlos, versacken sollte man nicht. Aber ein bisschen Zeit nehmen ist okay. Man muss nicht mit Mitte 20 voll im Beruf stehen, vor allem nicht heute, wo man, vermutlich, sowieso bis Ende 60 arbeiten muss.Vor einiger Zeit hörte ich mal wieder den Satz: „Wo möch-ten Sie in zehn Jahren berufl ich stehen?“ Ich fand das lus-tig, weil man so eine typische Bewerbungsfrage in meinem Alter lange nicht gehört hat – mir reicht es völlig, wenn ich in zehn Jahren noch am Leben bin, halbwegs gesund und nicht völlig verarmt. Leute zwischen 20 und 30 hören diese Frage in Einstellungsgesprächen sicher oft, sie soll den Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit testen, den Biss, das Karrie-restreben, vielleicht auch den Realismus.Hinter der Frage aber steckt etwas Fragwürdiges – die Idee, dass man sein Leben planen sollte. Auf mindestens zehn Jahre im Voraus. Etwa so: Heute habe ich das zweite Staatsexamen, in fünf Jahren sitze ich im Landtag, in zehn Jahren bin ich Minister.Karriere, wenn es darauf ankommt, kann man auch anders machen. Sicher, ohne Ehrgeiz und ohne eine gewisse Hart-näckigkeit erreicht man keine Ziele. Aber es muss auch Raum für Abenteuer da sein. Es ist wichtig, offen zu sein für Zufälle, und man sollte den Mut haben, Ziele aufzuge-ben, wenn man das Interesse an ihnen verloren hat oder wenn der Preis zu hoch erscheint. Ich kenne fast nieman-den in meinem Alter, der berufl ich oder privat jahrzehnte-lang einen schnurgeraden Weg gegangen ist.Deshalb sollten wir das auch von unseren Kindern nicht verlangen.Mein wichtigster Rat an meinen Sohn klingt sehr ange-nehm: Er sollte tun, was ihm Spaß macht. Wenn er einen Beruf ergreift, der ihm Spaß macht, dann wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit gut sein in diesem Beruf. Und wenn er gut ist, in was auch immer, dann kann er damit auch Geld verdienen. Das, was ihm Spaß macht, muss er dann aller-dings mit Ehrgeiz, Fleiß und Zähigkeit tun. […]Als ich 20 war, waren wir natürlich alle ziemlich optimis-tisch. Irgendeinen Job würden wir schon fi nden. Und das passierte dann auch. Ich zum Beispiel habe in meinem Leben kein einziges Praktikum gemacht. Studium. Volon-tariat. Dann die erste richtige Anstellung, mit Ende 20, un-befristet. Wir sind eine Generation, die es leichter hatte als ihre Kinder. Die machen manchmal noch mit 30 Praktika, leben womöglich noch von den Eltern, hangeln sich von einem befristeten Job zum nächsten. […]Überall wird geklagt oder gewarnt. Das ist so etwas wie das Mantra unserer heutigen Gesellschaft: klagen und warnen. Selten hört man den Satz „Das Leben ist schön“, er steht beinahe unter Kitschverdacht. Oder es heißt, man

fi nde sich mit Ungerechtigkeiten und politischen Mängeln ab, wenn man sich auf eine Wiese setzt, sich die Sonne ins Gesicht scheinen lässt und das Leben schön fi ndet. Unsinn! Man fi ndet sich deswegen keineswegs mit allem ab.Nur mit einem muss man sich abfi nden: mit dem Men-schen, der man nun einmal ist. Das ist das Wichtigste am Erwachsenwerden, die Voraussetzung zur Zufriedenheit. Ich habe lernen müssen, dass ich kein Manager bin, wenig Talent zum Multitasking besitze, zum Teamwork nicht tau-ge, bei 60-Stunden-Wochen Hautausschlag bekomme; und der richtige Weg bestand nicht darin, dagegen anzukämp-fen, sondern darin, nach einer Nische zu suchen, in die ich hineinpasse.Erfolg und Glück sind zwei verschiedene Dinge. Nicht alle im Beruf erfolgreichen Menschen sind glücklich, nicht alle erfolglosen Menschen sind unglücklich. Glück aber ist das Wichtigere. Das sollte man den Kindern vermitteln. […]

1. Geben Sie wieder, wie Martenstein die Entwicklung

seines Sohnes und seine eigene Entwicklung beschreibt

und welche pädagogischen Überlegungen er daran an-

schließt.

2. Prüfen und erörtern Sie seine pädagogischen Ansichten

vor dem Hintergrund der Bildungsbegriffe von Hennings-

en und Ladenthin.

Aufgaben

1. Formulieren Sie zusammenfassend im Anschluss an Hen-

ningsen und Ladenthin die pädagogische Perspektive auf

den Lebenslauf.

2. Entwickeln Sie begründete Vermutungen darüber, welche

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen pädagogi-

schen und psychologischen Sichtweisen auf den Lebens-

lauf bestehen. Greifen Sie bei der Antwort auch auf Ihr

Wissen über „Entwicklung“ und „Entwicklungsbegriffe“

aus dem letzten Kurs zurück.

3. Sammeln Sie Fragen, denen Sie im Hinblick auf „Erzie-

hung und Lebenslauf“ in diesem Kurs nachgehen möch-

ten.

Fragen und Anregungen zum Abschluss

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Was ist die pädagogische Perspektive auf die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter?

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Tom – ein Fallbeispiel

Tom ist 22 Jahre alt und lebt in einem kleinen Ort in Bran-denburg, nicht weit von Berlin. Er ging auf eine Gesamt-schule und hat die Schule in der 8. Klasse abgebrochen. Seine Eltern trennten sich, als er neun war. Tom wohnt bei seiner Mutter und hat relativ häufi g Kontakt mit seinem Vater. Er würde gern Kraftfahrer werden, aber dazu muss er zunächst noch ein paar Hürden überwinden.

Wie würde ick mich vorstellen? Ein offener Mensch bin ick, ick rede manchmal sehr gerne sehr viel, manchmal zu viel. Kann mich aber auch schnell aufregen, also ick bin so ein kleener Choleriker. Ick dreh auch gern mal schnell durch und so ’ne Sachen. Was noch? Eigentlich kann man mit mir viel erleben, ick will immer lachen, eigentlich so gut wie bei allen Sachen dabei sein. Ja. Bin manchmal ein kleener Sesselpupser hier mit meinen Computerspielen halt so, das kann man ja nicht verneinen, heißt aber nicht, dass ick mich hier einschließe wochenlang und die ganze Zeit nur spiele, also ick bin auch gerne draußen, wenn es nicht ge-rade minus 18 Grad sind und irgendwas. Ja. Also eigentlich

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2. Was ist die pädagogische Perspek-tive auf die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter?

Welchen Herausforderungen man sich im Jugendalter stellen muss, welche Entwicklungs-aufgaben man bewältigen muss, erleben Sie jeden Tag. Sie haben sicherlich auch schon oft darüber nachgedacht, was sich im Vergleich zu Ihrer Kindheit verändert hat. Und Sie haben wahrscheinlich mehr oder weniger konkrete Pläne, wie Ihr Leben in zwei, fünf oder zehn Jahren aussehen soll. Im Jugendalter kann man den Fragen nicht ausweichen: Was hat sich bei mir verändert? Wie will ich sein? Welches Verhältnis zu meinen Eltern möchte ich ha-ben? Wer sollen meine Freundinnen und Freunde sein?

In diesem Kapitel werden Sie wissenschaftliche Konzepte und Theorien kennenlernen, die sich mit diesen Themen beschäftigen. Dabei sind unterschiedliche fachliche Sichtweisen im Spiel. Aus pädagogischer Perspektive geht es vor allem darum zu klären, welche Mög-lichkeiten der Unterstützung bei der Entwicklung zu einem mündigen Erwachsenen es gibt und wann die pädagogischen Einwirkungen an ein Ende kommen sollten. Aus sozialwis-senschaftlicher Perspektive geht es um die sozio-kulturellen Einfl üsse auf das Heranwach-sen in dieser Lebensphase. Psychologische und biologische Erkenntnisse erweitern und ergänzen diese Blickwinkel.

Sie werden zunächst einige Jugendliche kennenlernen, die über ihre Pläne und Probleme berichten. Danach bieten wir Ihnen einige pädagogische Konzepte an, die das Jugendalter betreffen. Dann können Sie das in der Öffentlichkeit viel beachtete Konzept der produk-tiven Realitätsverarbeitung von Klaus Hurrelmann kennenlernen. Hurrelmann beschreibt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bestimmte „Entwicklungsaufgaben“, die im Ju-gendalter zu bewältigen sind. Im dritten Teil fi nden Sie die bildungstheoretischen Positio-nen der Pädagogen Jürgen Rekus und Marian Heitger, die Ihnen helfen können, Leistungen und Grenzen der verschiedenen Sichtweisen zu erkennen.

2.1 Jugendliche über ihre Pläne und Probleme

In M 1 und uu8v92 und 3t8rx4 erzählen Jugendli-

che von ihren Plänen und Problemen. In einem weiteren Text

( M 2 ) erinnern sich Erwachsene an ihre Jugendzeit.

1. Arbeiten Sie heraus, welche Pläne, Sorgen und Entwick-

lungsaufgaben die Befragten beschäftigen.

2. Ergänzen Sie, wenn Sie möchten, die Aussagen der

Jugendlichen um Erfahrungen, die Sie selbst gemacht

haben.

3. Entwickeln Sie auf dieser Basis eine nach Kriterien geglie-

derte Übersicht über Entwicklungsaufgaben, um die es

im Jugendalter geht.

4. Nehmen Sie Stellung zu den jeweiligen Lebensentwürfen

und Entscheidungen der Jugendlichen.

5. Entwerfen Sie pädagogische Handlungsoptionen, die die

Jugendlichen bei der Bewältigung der Entwicklungsauf-

gaben unterstützen können.

Aufgaben

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ein rundum offener Mensch. Also, ick komm mit allen klar, die mit mir klarkommen wollen.

Schule abgebrochen: Jetzt sitz ick hierIch bin 22, habe gar keine Ausbildungsabschlüsse, irgend-wie gar nicht, weil ick mich nicht hinjesetzt habe früher. Ick hab wichtige Sachen für mich irgendwie, äh, ja, ick war ’ne stinkfaule Sau früher in der Schule, also richtig doll faul, hab auch keene Arbeiten mitgeschrieben oder so Zeug, weil mir dieser Graffi timist und so wat alles wichtiger war. Äh ja, bin dann ja hier jahrelang zur Schule gegangen, ir-gendwann in der 8. Klasse bin ick abgegangen, also ick hab in dem Sinne auch keenen richtigen Abschluss deswegen.Auf was für eine Schule bist du gegangen? Auf eine Gesamtschule. Und ja, und irgendwann hab ick die Schnauze voll gehabt und hab halt gesagt, ick schaff’s sowieso nicht mehr, und dann bin ick ein halbes Jahr früher aus der Schule gegangen und hab dann als Dachdecker gearbeitet, aber auch nicht lange, nur so Familienbetrieb, und dann hab ick da ein halbes Jahr oder so gearbeitet und dann mich durchgeschlagen. Kleinigkeiten halt, hier mal einen Monat, da mal einen Monat gearbeitet und so. Und dann…, jetzt sitz ick hier.Kannst du mir beschreiben, wie im Moment so ein normaler Wochentag von dir aussieht?Ganz sinnlos meistens. Also entweder leb ick einfach nur in den Tag hinein und spiele halt meine drei Stunden Computer am Tag und treff mich mit Kumpels oder so, und dann, rumvegetieren, mache nichts halt. „Chillen“, wie man immer so schön sagt. Bei irgendwelchen Kumpels, gucken Filme und so ein Zeug halt, nichts Weltbewegendes.

Führerschein weg: Echte KatastropheIck bin totaler Motorradfan. Also ganz schlimm. Also, mit jede zweite Woche ’n MotoGP gucken und so ’ne Sachen und Valentino Rossi anfeuern und so, das ist ’ne ganz dolle Macke von mir. Mit 16 hab ick meinen Motorradführer-schein gemacht, mein Vater hat ’ne Fahrschule, so lag es ja nah, musste auch nichts bezahlen dafür. Da hab ick mir so ’ne kleine Rennkarre gekauft, damit sind wir den ganzen Tag rumgeballert. Das ist halt meine Welt, Motorradfahren. […] Also, es stand bei mir auf jeden Fall mit an erster Stel-le, Motorradfahren. Also, da konnte mir auch keiner rein-funken. Das ist meine Welt. […]Und machst du das auch immer noch? Wär schön! Ich musste meinen Führerschein abgeben.Aah, wie kam das denn?Ja, Kifferscheiße. Also, ick wurde angehalten und musste dann, weeß ick nich, da in so ’nen Becher pinkeln und alles. Okay, und damit ist er dann erst mal weg. Erst mal schon. Also, ick muss MPU64 machen, und das wird alles wieder relativ teuer, deswegen muss ick auch gucken, dass ick irgendwie Arbeit kriege langsam. Die wollen irgendwie 3200 Euro von mir haben, nur die Strafe alleine, und dann MPU auch noch mal locker 1000 Euro, also es wird nicht billig … Also, also ick krieg‘n auf jeden Fall wieder irgend-wann, so ist es nicht, aber ick muss das Geld erst mal auf-treiben. Das passiert mir nicht noch mal. […]

Bei der Mutter leben mit Hartz IVEine andere Perspektive hab ick zurzeit nicht, weil ick brauch nicht auf 200-Euro-Basis irgendwo anfangen zu ar-beiten, da hab ick nichts von, da verdien ick mehr Hartz IV, wenn ick nüscht mache, wie wenn ick mich dann da hin-stelle und für 1 Euro die Stunde arbeite, ist einfach mal so.Das heißt, im Moment beziehst du auch dann Arbeits-losengeld II.Ja genau, ist aber nicht so, dass ick das auf mein Konto kriege und ick das jeden Tag ausgebe. Dadurch, dass ick bei meiner Mutter wohne, kriegt die das komplette Geld. Ick krieg auch kein Kindergeld, weil ick halt kein, na, keine Lehre, ick bin nicht für Lehre angemeldet. […] Wenn ick denn mal ein paar Taler haben will, so armselig sich das auch anhört, dann muss Klein-Tom zu seiner Mutti gehen und die mal nach 5 Euro fragen. Is halt einfach so, geht nicht anders.

Graffi ti und RespektDas war so ein Hobby von euch, Graffi ti zu sprühen?[…] Wir wollen cool sein und müssen jetzt hier sprühen, aber irgendwie hat sich daraus halt wat entwickelt. Ick bin damit aufgewachsen und ohne geht auch nicht mehr. […]

ComputerspieleKannst du mir zu den Computerspielen noch ein bisschen was erzählen? Ja, na wir haben gestern zum Beispiel erst halt wieder gespielt, abends bei ’nem Kumpel. So gegeneinander halt. Wir schleppen dann unsere Laptops rüber, stöpseln die Dinger aneinander und spielen irgendwas. Kann ick gleich sagen, was ick gar nicht abkann, sind so ’ne Sachen wie World of Warcraft, allet dieses Science-Fiction-Zeug hasse ick wie die Pest. […]Ick bin so ein Renn-Realismus-Fan, also so Simulationen halt. Wo du halt noch an den Dingern rumbasteln kannst, tunen, jetzt aber nicht so übertrieben tunen. […] Naja, und dann halt weeß ick nicht, ick will ja nicht sagen Ballerspie-le, das hört sich immer so bescheuert an, aber ist ja eigent-lich so. Aber dann spiel ick halt auch nicht irgendso ein’ Müll, wo ick mit so einer Cyberwaffe rumrenne und irgend-welche Monsterraketen abschieße, sondern dann muss es irgendwie realistisch sein. […]

Mit dem Vater auf den Schießstand[…] Aber das ist quasi auch was, was du mit deinem Vater regelmäßig zusammen machst?Ja, das ist auf jeden Fall so ein Vater-Sohn-Ding. Er ist dann auch immer ganz stolz, wenn ick gut schieße und solche Sachen, und seine Kumpels dann auch. – Macht Spaß.

Mir wurden Manieren beigebrachtAlso, mit meiner Mutter und meinem Vater bin ick immer gut klargekommen. Meine Mutter war immer mehr die Frau, die durchgegriffen hat, wenn irgendwas war. Mein Vater konnte mir keine knallen, da wär ick durchs Zimmer gefl ogen, das ist einfach so. Also hat meine Mutter das ge-macht. Aber, na … ick habe Anstand beigebracht gekriegt

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Was ist die pädagogische Perspektive auf die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter?

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von meinen Eltern, ohne Ende, also ohne „Bitte, Danke“ und so ging gar nicht. Da war mein Vater rigoros.Aber du hast ja gesagt, du verstehst dich gut mit deinem Vater? Sehr gut, ja. Also es ist ’ne extreme Respektsperson. Also, das ist schon was anderes. Wo ick mit meiner Mutter mehr diskutiere, sag ick bei meinem Vater gleich: Ja, ist okay. Bumm, Kopf runter und das war‘s. Der schafft es heute noch, mich wie einen Elfjährigen hinzustellen. Wo du dir echt wie ein kleines Kind vorkommst so. Aber so sind halt Eltern. Da wirst du auch nie rauskommen, schätze ick mal.Aber das heißt, du hast auch einfach, also, du hast auch Respekt vor ihm, du fi ndest auch gut, was er macht und was er sagt und so?Ohne Ende, ja. Ja. Muss ick. Ansonsten wär das alles anders abgelaufen, ist halt einfach so. Mein Vater ist auch manch-mal nicht so der Ruhigste, was solche Sachen angeht. Also ist keen Mensch, den man irgendwie an der Nase herumführen kann, sagen wir’s mal so, ist ’ne extreme Res-pektsperson. Und wenn der auf den Tisch kloppt und sagt: „Bis hier und nicht weiter!“, dann ist auch bis hier und nicht weiter so. Er kann auch anderen Leuten es gut klarmachen, die ihn nicht kennen. Und das ist bei mir nicht anders. So manchmal wirk’ ick och auf Leute, weeß ick nich, aggressiv, obwohl ick’s nich bin so. […]

Zukunft: Hab Schiss!Beschreib mal dein Gefühl, was die Zukunft betrifft! Also, was würde es da am besten beschreiben?Hab ick Schiss. […] Hab einfach Angst vor der Zukunft. Kei-ne Ahnung, warum. Also, irgendwie arbeitstechnisch und allet. Wenn ick sehe, wie es andern Leuten geht so. Weil, ick will auf keenen Fall auf der Straße enden oder irgend so ’n Scheiß oder in ’ner Ein-Raum-Wohnung oder so. Ick will ’n vernünftiges Leben haben. Und davor hab ick Angst. Also Existenzängste einfach. Später, ja … so Kleinigkeiten. Ick will och in Urlaub und all so ’n Scheiß. Ick will mein Auto nehmen, will meine Freundin einsacken und einfach mal irgendwo hinfahren, an die Ostsee. Wo bei mir schon mehr wieder is, wo ich mich auf die Fahrt freue, wie auf die Ostsee selber so. Weißte, der-Weg-is-das-Ziel-mäßig, so Kleinigkeiten. Wie du das von Mama und Papa früher gesehen hast. Du sitzt als kleener Piepel hinten in dem Van drinne, Papi fährt, Mutti krault ihm den Nacken, weil er schon fünf Stunden fährt, so nach dem Motto, so wat fi nd ick cool einfach, weißte. Diese Fernfahrer-Romantik in dem Sinne, so wat möchte ich einfach och haben später. Und ick will nicht, weeß ick nicht, wie irgendso ’n Asi enden. Weil, det könnt ick nicht. Und ick will jetz och nicht … Sagen wir‘s einfach ma so: Also, bevor ick gar nichts habe, hört sich jetzt ganz übel an, nehm ick’s mir einfach.Ist einfach so. Weil, ick verreck nicht auf der Straße, ist mir scheißegal, wo ick’s dann herhole. Ick meine jetzt nicht in dem Sinne, dass ick jetzt Menschen ausraube, aber kannst ja och bei den Firmen wat machen und Geld machen. Schadest ja zwar der Firma meinetwegen, in dem Sinne, weil du den halben Hof da leerklaust mit irgendwelchem Dreck, aber ick würde auf jeden Fall nicht auf der Straße

verrecken, so viel ist schon mal klar. Und da bin ick nicht der Einzigste, dem es so geht.Mir soll’s einfach gut gehen später. Ick will, dass et mir gut geht, egal in welcher Hinsicht. Anderen Leuten geht’s gut, wenn se zweitausend Euro auf‘m Konto haben, mir geht’s gut, wenn ick geliebt werde. In dem Dreh halt, mir muss es einfach gut gehn. Ick will halt vielleicht mal Kinder, nich übertrieben, vielleicht zwei höchstens, ’ne Frau, die ick lieb-habe, und allet so wat. Ick mein, ick will einfach nur ganz normal sein. Das is einfach so. Mehr erwart’ ick gar nicht vom Leben. Dass ick och morgen mit ’nem guten Gewissen aufstehn kann.

Probleme und Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen im Rückblick (Rolf Göppel)

(1) Ich kann mich an einen Herbst erinnern, als meine Mutter radikal versuchte, mir Ordnung beizubringen. Ich räumte mein Zimmer – aus Trotz – nicht auf. Meine Mutter verzweifelte total, ordnete meine Sachen in meiner Ab-wesenheit. Natürlich hasste ich sie dafür, weil sie einfach Sachen, die ich noch gut hätte gebrauchen können (!!!) wegwarf. Einmal hat sie meine neuen Möbel in den Keller gestellt, sie durch alten Sperrmüll ersetzt, mit der Begrün-dung, ich sei noch nicht reif für solch teure Möbel. Ich fand es schon damals lächerlich, es war echt ein Zeichen von Überforderung […]. Ein halbes Jahr lang damals hatten wir diesen Krieg. (2) Lange Zeit hatte ich kein Gefühl dafür, eine biografi sche Kontinuität in meinem Leben zu sehen, ich konnte mir kaum eine Vorstellung über mein zukünftiges Sein machen. Das lag wohl zum Teil daran, dass ich immer sehr wenig auf meine Fähigkeiten vertraut habe und mir immer sehr unsicher in allem war, was ich getan habe. Außerdem woll-te ich es immer allen Leuten aus meiner Umgebung gleich recht machen (meinen Eltern, meinen Freunden etc.), hatte immer Angst davor, was andere über mich denken, wenn ich so und so handelte. Das hat mich immer sehr in meinen Entscheidungen behindert, hat dazu geführt, dass bestimmte Entscheidungen sehr lange gedauert haben. Trotzdem gab es immer wieder Punkte, bei denen ich ge-nau sagen konnte, dass ich so nicht sein möchte. Bestimm-te Personen, ihre Lebensweise und ihre Ideale haben mich immer abgeschreckt. (3) Meine Eltern wussten in dieser Zeit zwar gar nichts von mir und meinem Leben, spürten aber irgendwie, dass ir-gendetwas nicht stimmte. Sie warfen mir ständig vor, mich von ihnen abzugrenzen. Ich war ganz beleidigt, dass sie wohl gar nicht bemerkt hatten, dass ich mich ihnen schon lange völlig entzogen hatte. Sie wollten einfach nicht wahr haben, dass zu viel passiert war, um so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre. Sie wollten unbedingt wieder eine Bilder-buchfamilie herstellen und nahmen mir sehr übel, dass ich ihren Plan durchkreuzte. (4) Ich erinnere mich, wie ich plötzlich mit meiner Volljäh-rigkeit in die Verlegenheit kam, wählen zu „müssen“. Ich

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wollte nicht zu den Nichtwählern gehören, da ich zwar zugeben muss, dass mein Interesse für Politik nicht groß war, ich sie aber für sinnvoll und notwendig hielt. Ich bin losgezogen und habe mir die einzelnen Parteiprogramme besorgt und angefangen, mich mit dem Thema zu beschäf-tigen. Es fi el mir ziemlich schwer da durchzublicken, denn die Ziele sahen im Groben sehr ähnlich aus. Auch heute hat die Politik noch nicht den Stellenwert in meinem Leben, den sie haben sollte. (5) Ich habe wirklich ganz genau beobachtet, wie sich mein Körper verändert. Viele Stunden habe ich vor dem Spiegel verbracht und meine Figur, mein Gesicht, meine Augen und meine Haare begutachtete und ausprobiert, wie ich in verschiedenen Klamotten aussehe. Dabei kam ich eigentlich immer zu dem Schluss, dass ich mit meinem Aussehen zufrieden bin und im Vergleich mit den anderen gut mithalten kann. Oft habe ich mich auch direkt mit mei-nen Klassenkameradinnen gemessen und überlegt, ob ich hübscher bin oder nicht. Diese Art Konkurrenzkampf war wahrscheinlich an meiner Schule besonders ausgeprägt, weil ich bis zur elften Klasse eine Mädchenschule besucht habe. Dazu fällt mir ein, dass eine Mitschülerin in der sieb-ten Klasse eine Rangliste aufgeschrieben hat, in der sie alle Schülerinnen der Klasse nach ihrer Attraktivität aufge-listet hat. Sich selber hatte sie an die erste Stelle gesetzt, danach eine große Lücke gelassen und dann alle anderen aufgelistet. Die Liste ließ sie dann durch die Klasse gehen, was natürlich für riesige Aufregung sorgte und eine gene-relle Antipathie gegen diese Schülerin. (6) An dem Tag, als ich mein Elternhaus verließ, um im Aus-land zu studieren, geriet ich in Panik. Die Erkenntnis, dass ich mich abnabeln muss, dass ich jetzt alleine in die Welt geschickt werde. Ich blickte zurück auf diese schwierigen Jahre und erkannte, dass meine Eltern doch in meinem Interesse handelten, dass sie mir nur auf der Suche nach dem richtigen Weg helfen wollten. Bittere Erkenntnis. Es tat mir auf einmal leid für meine Trotzreaktionen, für die Zeit, in der ich mich mit ihnen stritt, für die Zeit, die ich nicht mit ihnen ge-meinsam verbrachte. Ich wusste, jetzt werde ich ins Ausland gehen, jetzt ist es vorbei mit der Geborgen-heit. Ich war jetzt „frei“, selbstständig. Doch so ist es im Leben, oder? Man erkennt alles immer, wenn es zu spät ist. (7) Mit dem Wechsel auf das Gymnasium gehörte ich eher zu dem guten Durchschnitt der Klasse. Ich lernte bald ein paar Mädels kennen, mit denen ich teilweise heute noch befreundet bin. Insgesamt fühlte ich mich in meiner „neu-en Klasse“ eher weniger wohl. Ich vermisste unseren alten Klassenzusammenhalt. Ich gehörte auch in eine Clique, in der mir nur die Hälfte der Mädels sympathisch war. Die Mädels untereinander lästerten sehr viel und verletzten

sich damit. jedenfalls habe ich diese Zeit als ziemlich stres-sig in Erinnerung. Es ging mehr darum, irgendwie dazu zu gehören. Trotzdem entwickelten sich in dieser Klasse neue Freundschaften, die zum Teil heute noch existieren. (8) Meine Mutter nutzte diese Situation, indem sie die Höhe meines Taschengeldes stark von meinen Noten ab-hängig machte, d. h. ich bekam kaum festes Taschengeld, dafür bekam ich für Einser und Zweier Extrageld. So war ich gezwungen, für die Schule zu lernen, um meine Frei-zeit und auch Dinge wie teure Kleidung und Kosmetika zu fi nanzieren, die meine Eltern (verständlicherweise) nicht noch komplett zusätzlich bezahlen wollten, sodass ich mich mit meinem Taschengeld beteiligen musste. (9) Ich habe mich in der Jugendzeit phasenweise sehr in-tensiv zurückgezogen, d. h. ich wollte alleine bestimmten Gedanken nachhängen, diese auch mit niemandem teilen, häufi g geschah dies auch in Tagebuchaufzeichnungen. Hier hatte ich meine eigene Welt, wobei es tatsächlich nachdenkenswert ist, ob dies mein eigentliches Selbst war, mit dem ich mich beschäftigte – oder ob ich eher ein Ich-Ideal entworfen habe, also wie ich gerne wäre, was ich alles erreichen wollte. Sicher trifft beides zu, denn ich habe versucht herauszufi nden, wer ich bin, wie mich andere wohl sehen und was ich verändern wollte. So entstanden auch Krisen, Phasen des Unwohlseins, wenn ich erkannte, dass die Realität eben nicht den Wünschen entsprach, be-sonders, wenn ich mich eben nicht, aus welchen Gründen auch immer, so geben konnte, wie ich „eigentlich“ war bzw. sein wollte. Das war eine ständige Arbeit an mir selbst, ein ständiges Hinterfragen. Ich war ständig auf der Suche, nach Wissen, nach Werten, nach Antworten über mich, über die Welt, über den Sinn von allem; ich habe regel-mäßig stundenlang alleine in Buchhandlungen gestöbert, wobei es hier auch nicht „die“ Antwort gab. Es war alles ein Prozess, ein Vortasten vor allem zu der Frage, wer ich eigentlich bin, zu meinen Zielen etc. Auch die Auseinander-setzung mit der Welt, mit gesellschaftlichen Themen wie auch Erwartungen war wichtig. Ich habe versucht, meine Stellung in der Welt herauszufi nden, eigene Standpunkte zur Politik, Religion, Lebensgestaltung etc. zu entwickeln. Im Nachhinein kann ich dabei feststellen, dass bestimmte Einstellungen, Neigungen sich im Wesentlichen bis heute nicht geändert haben, also sich in der Adoleszenz mein eigentlicher Kern, mein Selbst ausgebildet hat, das sich zwar ausdifferenziert und teilweise auch verschoben hat, doch nicht mehr in völlig andere Richtungen ging. Eine gewisse Kontinuität, ein In-mir-selber-Ruhen, eine Treue zu mir selbst also.

Abb. 2.1

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Was ist die pädagogische Perspektive auf die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter?

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Hurrelmann war lange Zeit Profes-sor an der Universität Bielefeld und ist inzwischen an der Berliner Hertie School of Governance tätig.

Abb. 2.2: Klaus Hurrelmann (* 1944)

Das Energieunternehmen Shell beauftragt seit den fünf-ziger Jahren unabhängige Forschungsinstitute damit, An-sichten und Stimmungen von Jugendlichen zu erforschen. Für die 16. Shell-Jugendstudie im Jahre 2010 wurden 2604 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren befragt. Federfüh-rend wurde die Studie von dem Sozial- und Erziehungswis-senschaftler Klaus Hurrelmann durchgeführt. Grundlegend für die Studie ist Hurrelmanns Konzept der „Entwicklungs-aufgaben“.

Entwicklungsaufgaben im Jugend-alter (Mathias Albert/Klaus Hurrel-mann/Gudrun Quenzel)

Die von außen an die Jugendlichen herangetragenen ge-sellschaftlichen und kulturellen Erwartungen ähneln sich durchaus, auch der Umgang der Jugendlichen mit ihnen weist gemeinsame Muster auf.Sozialisationstheoretisch spricht man in diesem Zusam-menhang auch von Mustern der Bewältigung psychosozia-ler „Entwicklungsaufgaben“. Darunter werden Zielprojek-tionen verstanden, die in jeder Kultur existieren, um die Anforderungen zu defi nieren, die ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener und ein alter Mensch zu erfüllen haben (Hurrelmann 2006: 35). Nach diesem von Havighurst (1981) entwickelten Konstrukt werden an die Individuen der verschiedenen Altersgruppen kulturell und gesellschaft-lich vorgegebene Erwartungen herangetragen, die ihrer Entwicklung nützlich und der Gesellschaft zu ihrem Erhalt funktional sind.Was an die verschiedenen Altersgruppen an Entwicklungs-aufgaben herangetragen wird, ist kulturspezifi sch und ändert sich im Zeitverlauf. Die für die Lebensphase Jugend in den modernen Industriegesellschaften aktuell konsti-tutiven Entwicklungsaufgaben lassen sich in vier Cluster unterteilen (Hurrelmann 2010: 27):Entwicklungsaufgabe „Qualifi kation“: Hier geht es um die Entfaltung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um selbstverantwortlich schulischen und anschließenden berufl ichen Anforderungen nachzukommen, mit dem Ziel,

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eine berufl iche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische Basis für die selbstständige Exis-tenz als Erwachsener zu sichern. Soziologisch gesprochen handelt es sich hierbei um die Übernahme einer Mitglied-schaftsrolle in der Leistungsgesellschaft und die Vorberei-tung auf die Übernahme der Verantwortung für die „ökono-mische Reproduktion“ der Gesellschaft.Entwicklungsaufgabe „Ablösung und Bindung“: Hier geht es um das Akzeptieren der veränderten körperlichen Er-scheinung, die soziale und emotionale Ablösung von den Eltern, den Aufbau einer Geschlechtsidentität und von Bindungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts sowie um den Aufbau einer Partnerbeziehung, welche potentiell die Basis für eine Familienplanung und die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann. Aus soziologischer Perspektive handelt es sich bei dieser Aufgabe um die Übernahme von Verantwortung für die Sicherung sozialer Bindungen und der „biologischen Repro-duktion“ der Gesellschaft.

Entwicklungsaufgabe „Regeneration“: Hier geht es um selbstständige Handlungsmuster für die Nutzung des Kon-sumwarenmarkts einschließlich der Medien, um die Fähig-keit zum Umgang mit Geld, mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil und einen kontrollierten und bedürfnisorientier-ten Umgang mit den „Freizeit“-Angeboten zu entwickeln. Soziologisch gesprochen geht es um die Partizipation an der Konsumwirtschaft und die Regeneration der Arbeits-kraft.Entwicklungsaufgabe „Partizipation“: Hier geht es um den Aufbau einer autonomen Werte- und Normenorientierung und eines ethischen und politischen Bewusstseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht. Soziologisch gesprochen handelt es sich um die verantwortliche Übernahme von gesellschaftlichen Parti-zipationsrollen als Bürger im kulturellen und politischen Raum und damit um die Sicherstellung der Einbindung des Individuums in den kulturellen und politischen Reproduk-tionsprozess einer demokratischen Gesellschaft.

2.2 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter

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Bedingt durch den ökonomischen Wandel von der indus-triell produzierenden zur Dienstleistungs- und Wissensge-sellschaft, die rasanten Entwicklungen im Konsum- und Freizeitmarkt sowie die die Geschlechterrollen herausfor-dernden Identitätsbewegungen ist die Bewältigung der verschiedenen Entwicklungsaufgaben für viele Jugendliche zu einer sehr viel größeren Herausforderung geworden. Ju-gendliche müssen heute mehr Informationen verarbeiten und mehr Entscheidungen treffen als jede Generation vor ihnen. Um diese Wahlfreiheit nutzen zu können, benötigen Jugendliche heute vielfältige Kompetenzen, angefangen mit der Fähigkeit, die möglichen Konsequenzen ihrer Wahl abschätzen zu können, bis hin zur Selbsterkenntnis und auch dem Selbstbewusstsein, ihre eigenen Präferenzen zu erkennen und nach diesen zu handeln.Die Chance, dass mit der erhöhten Wahlfreiheit und der individuellen Gestaltungsmöglichkeit auch eine Biografi e gestaltet wird, die den Wünschen und Bedürfnissen der einzelnen Jugendlichen entspricht, erhöht sich dabei aber nicht bei allen Jugendlichen. Während erhöhte Wahlfreiheit und individuelle Gestaltungsmöglichkeit bei den einen den Raum schaffen, in dem sie kreativ ihre eigene Zukunft ge-stalten können, lösen sie bei den anderen Unsicherheiten und Ängste aus. Freiheiten können dann auch als Zwang empfunden werden, das eigene Leben erfolgreich gestal-ten zu müssen, und hierüber vermittelt zum Gefühl der Überforderung und zu Zukunftsängsten führen.

Kritik des Konzepts der Entwick-lungsaufgaben (Jutta Ecarius)

Über die Entwicklungsaufgaben lässt sich die Jugendphase von der Kindheit und dem Erwachsenenalter abgrenzen. Im Kindesalter geht es um die Entwicklung kognitiver und sprachlicher Kompetenzen und um die Entwicklung sozialer Kooperationsformen sowie moralischer Grundorientierun-gen. Der Übergang ins Erwachsenenalter ist gegeben, wenn die jugendspezifi schen Entwicklungsaufgaben vollständig bewältigt sind und eine Identität herausgebildet sowie der innere Prozess der Ablösung von den Eltern abgeschlossen ist. Der Entwicklungsverlauf des Lebens ist danach eine kontinuierliche Abfolge der Lebensphasen Kindheit, Jugend, frühes Erwachsenenalter, spätes Erwachsenenalter und spätes Alter (vgl. Heitmeyer, Hurrelmann 1988, S. 56), mit denen jeweils spezifi sche Konfi gurationen von Handlungs-kompetenzen defi niert werden. Präzise Altersdatierungen tauchen nur noch dann auf, wenn sie durch institutionelle Vorgaben festgelegt sind, wie z. B. den Beginn der Schul-pfl icht oder die Länge der Berufsausbildung.

Vernachlässigung bzw. Verengung der Generations-unterschiedeGenerationenunterschiede werden auf diese Weise zu un-terschiedlichen Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf. Die Perspektive lässt die sozialen Bedeutungszuschreibungen der jungen und alten Generationen verschwinden. Welche Personen Entwicklungsaufgaben formulieren und auch einfordern, sie gesetzlich über die Schulpfl icht und das Ausbildungsrecht verankern, bleibt offen. Diskutiert wird nicht, dass es sich auch hier um eine spezifi sche Form von Generationsbeziehungen und Generationsunterschieden handelt und Entwicklungsaufgaben von älteren Generatio-nen formuliert werden. Die Verknüpfung von Lebenslauf und Entwicklungsaufgaben führt zu einer Verengung, da mit der Perspektive der Subjekthaftigkeit Verantwortlich-keiten zwischen den Generationen, Erziehungsaufgaben und Anforderungen an die jüngere Generation unbe-antwortet bleiben und auch nicht beantwortet werden müssen. Durch die Überbetonung der Selbsttätigkeit der jüngeren Generation scheint sich die Notwendigkeit von pädagogischen Generationsbeziehungen zu erübrigen.

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1. Erläutern Sie die vier Entwicklungsaufgaben mit Beispie-

len aus den oben dokumentierten Texten von Jugend-

lichen.

2. Vergleichen Sie Hurrelmanns Einteilung der Entwick-

lungsaufgaben mit der von Ihnen entwickelten Syste-

matik.

3. Erörtern Sie, welche Aufgaben das Konzept der Entwick-

lungsaufgaben übernehmen kann und ob es Grenzen

aufweist.

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1. Geben Sie die Kritik wieder, die Jutta Ecarius an dem Kon-

zept der Entwicklungsaufgaben formuliert.

2. Erörtern Sie, ob bzw. inwiefern Ecarius’ Kritik überzeugen

kann.

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