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Wir vom Neptunplatz Ein Vorabendroman von Patricia Eckermann und Stefan Müller LESEPROBE Auszug Seite 14-18 © Carlsen Verlag, Hamburg 2011

2. Auszug Neptunplatz

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2. Teil zur Vorabend Leserunde

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Wir vom Neptunplatz

Ein Vorabendroman

von Patricia Eckermann und Stefan Müller

LESEPROBEAuszug Seite 14-18

© Carlsen Verlag, Hamburg 2011

Lucky genoss die Kälte, die seine Tränen auf ihrem Weg Rich-

tung Mundwinkel gefrieren ließ. Sein Second-Hand-Anorak, ein

schwarz-blau-weißes Flohmarkt-Fundstück aus Holland, hielt

ihn warm. Seinen Kopf mit den blonden Schnittlauchhaaren be-

deckte eine blaue No-Name-Strickmütze, und argentinische

Fleece-Fäustlinge wärmten seine filigranen Schreiberhände.

Die Nacht war Luckys Zeit. Egal, ob in kurzen, lauschigen Som-

mernächten oder wie jetzt im Dezemberfrost, der die Sterne

flimmern ließ, als hätten sie Spannungsschwankungen. In

stoischer Gleichmut trat Lucky die Pedale seines alten Beach-

cruisers, den er zu D-Mark-Zeiten gezockt hatte und der noch

heute jeden Pfennig wert war. Auch wenn dem Pfennig selbst

nur noch ein nostalgischer Wert geblieben war. Lucky hatte

damals keine Ahnung, worauf er sich einließ: ein Rad, das eine

gefühlte Tonne wog und nicht mal eine Schaltung besaß. Gut, es

gab in Köln auch keinen Berg, für den man einen alternativen

Gang benötigt hätte …

Im Falle seines Cruisers war der eine Gang ein ziemlich schwe-

rer, der sich aber im Lauf der Zeit als der richtige herausstellte.

Denn genau das war die Botschaft von Luckys Unbewusstem

beim Kauf dieses Cruisers gewesen: Sein Leben brauchte drin-

gend Entschleunigung. Und die zwang das sperrige Rad dem

Schreiber auf – Geschwindigkeit war Vergangenheit auf diesem

Bock. Vorbei waren die Zeiten, in denen Lucky unter konsequen-

ter Missachtung aller Verkehrsregeln nur 5 Minuten gebraucht

hatte vom Neptun- bis zum Brüsseler Platz. Heute benötigte er

dafür eine Viertelstunde. Doch es waren 15 Minuten, in denen

seine Augen eine wunderschöne Platanenallee durchsetzt mit

uralten Eschen genossen. Dazu wild mäandernde Wege durch

einen Grüngürtel, der viel schöner war als sein pragmatischer

Name. Lucky liebte diese grüne Oase entlang der Inneren Kanal-

straße. Er liebte den Grüngürtel bei Tag, wenn die Sonne sich in

den Zweigen der federblättrigen Eschen brach und die entfessel-

ten Hunde auf den riesigen Wiesen spielten, bellten und kack-

ten. All die Menschen, die hier ihren fehlenden Balkon ausgli-

chen und die Stunden jenseits des Alltags mit Frisbee und

Slackline veredelten.

Bei Nacht allerdings, wenn der Fernsehturm wie ein giganti-

scher Seismograf am mager bestirnten Köln-Himmel kratzte,

der spärliche Verkehr auf der Inneren Kanalstraße rauschte wie

ferne Brandung, wenn der Park nur noch von ein paar Obdach-

losen bevölkert war, oder wie jetzt menschenleer, dann war er

Luckys Garten. Dann spürte er: Das ist meine Stadt.

Heute Nacht allerdings spürte er eher so etwas wie: Das ist nicht

mein Leben …

Lucky lenkte das tonnenschwere Rad aus dem nächtlichen Park

auf die Aachener Straße, stadteinwärts, wo die Luft zwischen

den dicht stehenden Gründerzeithäusern locker um zwei, drei

Grad wärmer war als im Park. Null Grad vielleicht, oder ein Grad

plus.

»Plus«. Lucky spie die Silbe verächtlich zwischen den Lenker-

hörnern in die verschattete Straßenschlucht. Wenigstens etwas,

das im Plus war. Sein Konto war es definitiv nicht. Und das

machte ihm mehr Sorgen, als er zu Hause und allein ertragen

konnte. Also hatte er sich auf sein Rad geschwungen und in die

tiefe Nacht gestürzt, seine Lieblingszeit, um sich durch die

Stadt zu bewegen und für sich zu sein. Denn zu dieser Zeit war

die Stadt ohne Taxis und Bergheimer – und damit so sicher, dass

er die Fahrt sogar ohne Brille oder Kontaktlinsen wie einen Trip

durch eine konturlose Nebenrealität genießen konnte.

Lucky spürte den schneidenden Fahrtwind, schob eine Batterie

neuer Tränen aus den Augenwinkeln und wunderte sich einmal

mehr über die sedierende Wirkung von Selbstmitleid. Er gar-

nierte seine Tränen mit Satzfragmenten wie »diese Scheißbank«

oder »rollen irgendwann den roten Teppich aus, wenn ich

nachts um drei noch Geld haben will«. Er liebte diese lauten

Selbstgespräche, für die er zu jeder anderen Uhrzeit vom Rad ge-

holt und direkt in die Geschlossene gesteckt worden wäre.

Meist waren Luckys Auftragsbücher bis zum Jahresende prall

gefüllt. Aber vor Überraschungen war er in seinem Job als freier

Fernsehautor nie gefeit. Es gab immer wieder Phasen – häufig

dann, wenn ihn das Finanzamt für längst vergangene gute Ver-

dienste mit grotesken Vorauszahlungen abstrafte –, da versieg-

ten seine Einkommens-Quellen plötzlich. Die Aufträge brachen

einfach so weg und verdammten ihn zum Warten auf bessere

Zeiten. So auch in diesem Jahr. Lucky spuckte verärgert aus und

trat mit Verve in die Pedale. Er hasste Existenznöte. Er fühlte sich

zwar als Künstler, aber er war definitiv kein Lebenskünstler. Im

Gegenteil, Lucky achtete strikt darauf, mindestens ein Drittel je-

der Rechnung, die er als Autor stellte, sofort auf seinem Steuer-

konto zu parken. Es gab nur eine Situation, in der er verzweifelt

genug war, dieses Geld doch anzurühren: wenn er sonst den Kre-

dit für sein Heiligtum – seine eigene Wohnung – nicht länger ab-

stottern konnte.

Wenn es wenigstens sein eigener Kredit gewesen wäre. Doch als

freier Autor war er so kreditwürdig wie der Dude in Big Lebowski.

Da half leider nur Familie. Und so kamen Luckys Eltern ins Spiel.

Mit ihrem exklusiven Wäschefachgeschäft auf der Kö gehörten

sie zur Düsseldorfer Schicki-Creme. Entsprechend entsetzt wa-

ren sie damals gewesen, als Lucky nach seinem kaufmännischen

Frondienst im elterlichen Geschäft die Zelte abbrach und in die

Stadt zog. Nach Köln, was allein schon schlimm genug war. Dass

er aber fürs Fernsehen arbeiten wollte, empfanden seine kultur-

beflissenen Eltern als unfassbare Schmach. Ein Job, der jeg-

lichen Anspruchs und jeglicher Sicherheit entbehrte – diese

Kröte schluckten sie nur unter der Bedingung, dass sie ihrem

einzigen Stammhalter wenigstens eine Wohnung kaufen durf-

ten. Der Kompromiss, mit dem das Kriegsbeil begraben wurde,

bestand schließlich darin, dass Lucky den Kaufpreis in Raten bei

seinen Eltern abstotterte. Und genau das wurde ihm jetzt zum

Verhängnis. Denn wenn er nicht pünktlich überwies, läuteten in

Düsseldorf direkt die Krisenglocken. Seine Eltern wüssten so-

fort, wie es finanziell um ihn stand. Das musste Lucky um jeden

Preis verhindern. Er hasste nichts mehr als die Vorstellung,

seine Eltern könnten sich im Recht sehen mit ihrer ewigen Sorge

um ihn. Folglich war nichts dringlicher, als die nächste Miete

aufzutreiben. Egal wo. Es war der 27. Dezember. Und er hatte

noch vier Tage Zeit.