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KLAUS SCHSN~EnC~a .Arbeiter, heraus aus den biirgerlichen Sportvereinen!" Entstehung, Jfuflerungsformen und Bedeutung yon Arbeitersportvereinen in wiirttembergischen Land g emeinden 1905--1933 ~Wenn man bei einem kleinen Handwerker oder bei einera Unternehmcr gelernt hat, da ist man doch schon immer gezwiebelt worden, dann kann man doch am Abend mit denen nicht noch zusara- men turnen" (GLIYNZ). In den yon H. J. TEXCnLER(1984, 325--347) in dieser Zeitschrift publizierten ,Kriti- schen Anmerkungen zu einem liingst fiberfiilligen Aufarbeitungsprozef~" (zum gegen- w~irtigen Forschungsstand in der Gesdalchte des Arbeitersports) finden sich ebenso wie in seiner Literaturzusammenstellung zum Thema ,Arbeitersport -- KSrperkultur -- Arbeiterkultur" (TEscHLER 1985, 83--94) nieht ohne Grund nut marginale Hinweise auf Studien fiber die l~indliehe Arbeiterbewegungskultur1 oder Arbeiterturn- und -sport- bewegung. Dies h~ingt nicht zuletzt damit zusammen, daf~ die konkrete Arbeitersport- vereins-Praxis im Gegensatz zur Organisationsgeschichte und Programmatik der Ar- beitersportverbiinde bisher nut am Rande abgehandelt wurde. In diesern Zusammen- hang stellt die Tiibinger Arbeit fiber das ,rote MSssingen" (ALTHAUSu. a. 1982, 110-- 141), die auda den Alltag der Arbeitervereine in diesem sdaw~iblschen Doff untersucht, elne Pionierstudle dar. Urn dlesem Mangelzustand abzuhelfen, entsteht zur Zeit eine umfangreiche Untersuchung der Verkniipfungen, Verbindungsebenen und Vermittlungs- instanzen zwischen hegemonialen dSrflichen und kleinst~dtisdaen Kulturformen und der l~indlichen Arbeiterbewegungskultur, fiber deren Fragestellung und erste Hypo- thesen am Beispiel der Arbeiterturn- und -sportbewegung dieser Aufsatz berichtet ~. Soziale Ausdifferenzierung und Ausgrenzung Die soziale Ausdifferenzierung im deutschen Vereinswesen des 19. Jahrhunderts fllhrt mit dem Eindringen der Vereine auf dem Lande auch dort nada der Jahrhundertwende zu einem dichten Netz proletarlscher Turn- und Sportvereine, die sich vehement gegen- fiber den biirgerlichen oder sogenannten .deutschen Turnvereinen ~ abgrenzen. Aber was t Da im folgenden nur yon den Freizeitbestrebungen der organisierten Arbeiterklasse die Rede ist, verwenden wir in Abgrenzung zu dem umfassenderen Begriff ~Arbeiterkuhur~ den Ter- minus .Arbeiterbewegungskultur". a Dieser Aufsatz basiert auf den gemeinsamen Quellenerhebungen des ehemaligen Arbeits- kreises zur Heimatgeschidate der Arbeiter (heute Alexander-Seitz-Geschichtswerkstatt Marbach und Umgebung), die im Rahmen eines Projekts zur regionalen Arbeiterkultur stattfanden (Sc~6NBERCER/STEFVrNS 1985, 221--242). Im Rahmen dieses Projekts sind eine Vielzahl yon Quellen archivalischer wie miindlicher Art erschlossen worden. Den grS~ten Anteil bilden jedoch die zeitgenSssisdlen Lokalzeitungen, was zugleida das methodische Problem aufwirft, inwiefern die dort verSffentlidaten Artikel tats~.ehlida auch das Bewugtsein des einzelnen Be- teiligten widerspiegeln, nicht nur das der Aktivisten und schreibgewandten Funktion~ire (yon denen die Artikel fiber das Vereinsgeschehen stammen). Daffir existiert jedoch das Korrektiv der Interviews, die im wesentlichen eine Kongruenz zwisdaen verSffentlichter Meinung und individuellen Erinnerungen erbringen. 76

„Arbeiter, heraus aus den bürgerlichen Sportvereinen!“

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KLAUS SCHSN~EnC~a

.Arbeiter, heraus aus den biirgerlichen Sportvereinen!" Entstehung, Jfuflerungsformen und Bedeutung yon Arbeitersportvereinen

in wiirttembergischen Land g emeinden 1905--1933

~Wenn man bei einem kleinen Handwerker oder bei einera Unternehmcr gelernt hat, da ist man doch schon immer gezwiebelt worden, dann kann man doch am Abend mit denen nicht noch zusara- men turnen" (GLIYNZ).

In den yon H. J. TEXCnLER (1984, 325--347) in dieser Zeitschrift publizierten ,Kriti- schen Anmerkungen zu einem liingst fiberfiilligen Aufarbeitungsprozef~" (zum gegen- w~irtigen Forschungsstand in der Gesdalchte des Arbeitersports) finden sich ebenso wie in seiner Literaturzusammenstellung zum Thema ,Arbeitersport - - KSrperkultur - - Arbeiterkultur" (TEscHLER 1985, 83--94) nieht ohne Grund nut marginale Hinweise auf Studien fiber die l~indliehe Arbeiterbewegungskultur 1 oder Arbeiterturn- und -sport- bewegung. Dies h~ingt nicht zuletzt damit zusammen, daf~ die konkrete Arbeitersport- vereins-Praxis im Gegensatz zur Organisationsgeschichte und Programmatik der Ar- beitersportverbiinde bisher nut am Rande abgehandelt wurde. In diesern Zusammen- hang stellt die Tiibinger Arbeit fiber das ,rote MSssingen" (ALTHAUS u. a. 1982, 110-- 141), die auda den Alltag der Arbeitervereine in diesem sdaw~iblschen Doff untersucht, elne Pionierstudle dar. Urn dlesem Mangelzustand abzuhelfen, entsteht zur Zeit eine umfangreiche Untersuchung der Verkniipfungen, Verbindungsebenen und Vermittlungs- instanzen zwischen hegemonialen dSrflichen und kleinst~dtisdaen Kulturformen und der l~indlichen Arbeiterbewegungskultur, fiber deren Fragestellung und erste Hypo- thesen am Beispiel der Arbeiterturn- und -sportbewegung dieser Aufsatz berichtet ~.

Soziale Ausdifferenzierung und Ausgrenzung Die soziale Ausdifferenzierung im deutschen Vereinswesen des 19. Jahrhunderts fllhrt mit dem Eindringen der Vereine auf dem Lande auch dort nada der Jahrhundertwende zu einem dichten Netz proletarlscher Turn- und Sportvereine, die sich vehement gegen- fiber den biirgerlichen oder sogenannten .deutschen Turnvereinen ~ abgrenzen. Aber was

t Da im folgenden nur yon den Freizeitbestrebungen der organisierten Arbeiterklasse die Rede ist, verwenden wir in Abgrenzung zu dem umfassenderen Begriff ~Arbeiterkuhur ~ den Ter- minus .Arbeiterbewegungskultur ".

a Dieser Aufsatz basiert auf den gemeinsamen Quellenerhebungen des ehemaligen Arbeits- kreises zur Heimatgeschidate der Arbeiter (heute Alexander-Seitz-Geschichtswerkstatt Marbach und Umgebung), die im Rahmen eines Projekts zur regionalen Arbeiterkultur stattfanden (Sc~6NBERCER/STEFVrNS 1985, 221--242). Im Rahmen dieses Projekts sind eine Vielzahl yon Quellen archivalischer wie miindlicher Art erschlossen worden. Den grS~ten Anteil bilden jedoch die zeitgenSssisdlen Lokalzeitungen, was zugleida das methodische Problem aufwirft, inwiefern die dort verSffentlidaten Artikel tats~.ehlida auch das Bewugtsein des einzelnen Be- teiligten widerspiegeln, nicht nur das der Aktivisten und schreibgewandten Funktion~ire (yon denen die Artikel fiber das Vereinsgeschehen stammen). Daffir existiert jedoch das Korrektiv der Interviews, die im wesentlichen eine Kongruenz zwisdaen verSffentlichter Meinung und individuellen Erinnerungen erbringen.

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.Arbeiter, beraus aus den biirgerlidoen Sportvereinenl ~

unterscheidet einen Arbeiter- yon einem biJrgerlichen Turn- und Sportverein? Wir wol- len dieser Frage am Beispiel der Entstehungsbedingungen, Auf~erungsformen und der Bedeutung yon Arbeiterturn- und -sportvereinen in der Neckar-, Murr- und Bottwar- talregion nachgehen, die im wesentlichen mit dem ehemaligen Oberamt Marbach iden- tisda istL Mit der Durchsetzung der industrlekapitalistisdaen Produktionsweise auf dem Land ver/indert sich die soziale Zusammensetzung in einigen Gemeinden des bis zur Jahr- hundertwende noch vSllig agrarisch strukturierten Oberamtes Marbach. Insbesondere in Steinheim a. M. 4 und Marbada a. N. 5 entwickelt sich eine fiir l~indliche Verh~iltnisse bedeutende Holzverarbeitungsindustrie (BECK u. a. I983, 64--67). Die D~Srfer Bennin- gen, Murr, Erdmannhausen, Kirchberg und Burgstall wandeln sich vonde r Jahrhundert- wende an yon Bauernd/Srfern zu Arbeiterwohngemeinden, wo aber dem agrarischen Moment nach wie vor gewisse Bedeutung zukommt. Durch die gewandelten Lebensbedingungen wird die traditionelle Lebensweise der Land- bev~Slkerung einem Modernisierungsschub unterworfen, wobei aber nicht vergessen wer- den sollte, daft auda in der Weimarer Republik der eher agrarische Zug der Region erhalten bleibt. 1925 leben in den 26 Gemeinden des Oberamtes Marbach immer noch zwei Drittel der GesamtbevSlkemng von der Landwirtschaft (MZ, 14. 10. 1930). Eng verbunden mit der fortschreitenden Industrialisierung sind die zahlenm~il~ige Zu- nahme der Arbeiterschaft in der Region und deren eigenst~indige Versuche, sich in Ge- werkschaften und sozialdemokratischen Arbeitervereinen zu organisieren 6. Auf die selb- st~indige Organisierung reagieren die traditionellen Herrschaftseliten (Honoratioren wie Lehrer, Beamte, Pfarrer sowie die neu hinzustof~enden Fabrikanten) und die agrarisch orientierten Bev~Slkerungsschichten mit sozialer Achtung und Ausgrenzung. So werden die Arbeiter in Benningen als ,Lausbuben ~7 (ST, 10. 12. 1907) bezeichnet. Die organi- slerten Arbeiter fiJhlen sich dort ,als Biirger zweiter Klasse" (ST, ebd.) behandelt und bemiJhen sich zu zeigen, ~dafl die hiesigen Sozialdemokraten eben doch zu der Biirger- schaft z~ihlen" (ST, 21.12. 1908). Die geringe soziale Wertsch~itzung der Arbeiter ~indert sich auch in der Weimarer Republik kaum. Im Gemeinderat in Kirchberg a. M. werden die Arbeiter immer noch als ,Lumpen" und ,Faulenzer ~ (ST, 5. 3. 1920), in Murr als

Neckar-, Murr- und Bottwartalregion (hier vor allem): Marbach, Steinheim, Murr, Erdmann- hausen, Burgsta11, Kirchberg und Benningen (Oberarnt Ludwigsburg). 1911 z~ihlt Steinheim 1549, 1926 1631 und 1928 1785 Einwohner. 1928 leben 370 Einwohner von der Landwirtsdaaft, und fiir 1010 Einwohner wlrd der Lebensunterhalt aus industrieller Arbeit bestritten (Sa~INHEIM 1980, 219).

5 Von 2426 (MP, 23. 3. 1907) um 1900 steigt die Einwohnerzahl auf ca. 3500 um 1930 (NP, 8. 5. 1930). Die ans~issigen administrativen, sozialen und kulturellen Versorgungseinrichtungen verleihen der Oberamtsstadt fiir die umliegenden Gemeinden eine Zentrumsfunktion. Als Besonderheit kommt der Schillerkult hinzu, der in Schillers Geburtsstadt mit besonderer Inten- sit,it gepflegt wird.

6 In Steinheim: Central-Kranken- und Sterbekasse der Tischler u. a. gewerblidaer Arbeiter (1888), Arbeiterverein (1889). In Marbada: Arbeiterverein (1894) und Holzarbeiterverband (1896).

7 Das Zitat aus der Schw~ibischen Tagwacht l~iflt often, ob damit alle Arbeiter oder nur die Sozialdemokraten gemeint sind (allerdings macht das insofern keinen groflen Unterschied, als der gewerkschaftliche Organisationsgrad auflerordentlich hooh ist), und es l~iflt sich aud~ nidlt rekonstruieren, wie verbreitet solche Bezeidmungen wirklich sind. Auf die entschiedene Distanzierung der biirgerlichen Kreise lassen sie aber auf jeden Fall schliet~en.

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Klaus Sch6nberger

.Lumpen und Zigeuner" (NP, 3. 6. 1926) und in Marbach als das .Arbeiterpack" (KLEINKNECHT) tituliert. Das mit der modernen sozialistischen Arbeiterbewegung verbundene Gedankengut und die aus der Industrialisierung resultierende Erschiitterung der agrarisch-d~Srflichen und handwerklich-kleinst~idtischen Lebenswelt provozieren die g_ngste der Kleinbauern wie der Beamten und Kleingewerbetreibenden. Mit der Form ihrer Organisationen wie mit ihrer ver~inderten Lebensweise konfrontieren die Arbeiter die Provinz mit einem ab- weichenden Wert- und Normengeffige, was letztlich die Spaltung des Dorf- und Klein- stadtlebens in Lager weiter vertieft. Beides, die erlittene Ausgrenzung Wie die selbst aktiv betriebene Abgrenzung des klassen- bewufltesten Teils der Arbeitsklasse, stellt im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg jedem einzelnen Arbeiter die Frage nach seiner klassenspezifis&en Identit~it und damit nach seinem politischen Standort. Die verst~irkte Spaltung der d~Srfli¢hen und kleinst~idtischen Gesellschaft in verschiedene soziale und politis&e Lager besd~r~inkt rich aber weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik ausschlief~lich auf den iSkonomischen und politis&en Sektor; sie findet in Folge dieser Auseinandersetzungen au¢h im Freizeit- bereich ihre Fortschreibung.

Entstehung der Arbeiterturn- und -sportbewegung Etwas sp~iter als in den Metropolen der Arbeiterbewegung, aber aufgrund gleicher Motive (Ausgrenzung) entstehen auf dem Land zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem Eindringen des Vereinswesens die ersten gesonderten Arbeiterturn- und -sport- vereine. In der Neckar-, Murr- und Bottwartalregion gibt es um 1905 neben der Aus- grenzung ein zweites Motiv ftir die Griindung eines Arbeitersportvereins: die Kreation einer Vereinsart, die noch nicht besteht. Die ersten Arbeitervereine sind Arbeiter-Rad- fahrervereine. In Pleidelsheim (1905), Rielingshausen (1906), Marbach (1906), Bennin- gen (1907), Steinheim (1911) und in Erbstetten (heute Burgstetten 1911) werden sie allesamt vor den Arbeiterturnvereinen gegriindet. Mit der allm~ihlichen Verbilligung des Fahrradpreises wird dieses auch fiir den einzelnen Arbeiter erschwinglich. Als Haupt- verkehrsmittel der Arbeiter setzt rich das Fahrrad allerdings erst nach dem Ersten Welt- krieg durch (BEDt31~N 1982, 18). Da das Fahrrad eine relativ neue Erscheinung ist, exi- stiert dafiir noch kein dem Turnen vergleichbares Vereinsnetz. Deshalb miissen die Ar- beiter hier keine schon bestehenden Vereine spalten, sondern k/Jnnen eine neue Infra- struktur aufbauen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dab beispielsweise die Mehrzahl der Mitglieder des Marbacher Arbeiter-Radfahrervereins 1908 zugleich auch Mitglied im ,deutschen" Turnverein sind s. W~ihrend das Gesangvereinswesen der Region schon eine liingere Tradition aufweist °, sind mit Ausnahme yon Marbach (1862) die Turnvereinsgriindungen insgesamt jiinge- ren Datums (Steinheim: 1892; Beilstein: 1894; Benningen: 1899; Mutt: 1908; H~Jpfig- helm: 1923 usw.). Vereine gewinnen erst mit dem Strukturwandel yon der Bauem- zur gewerblichen oder Arbeiterwohngemeinde fiir die l~indliche Lebensweise an Bedeu- tung. Das erkliirt, dab Marbach als Oberamtsstadt und aufgrund seines Entwicklungs- vorsprungs (Handwerk und Gewerbe) den umliegenden D/Srfern voraus ist und schon

s StAM/A 1065. 9 Marbach (1832), Steinheim (1854) und Benningen (1863).

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,Arbeiter, heraus aus den biirgerlichen Sportvereinen!"

vor 1850 eine Reihe yon Vereinen aufweist. Die agrafische Produktionsweise bletet dem- gegenfiber keinerlei Voraussetzungen - - die nicht vorhandene freie Zeit wirkt dem ebenso entgegen wie ein relativ selbstbestimmter Arbeitsrhythmus - - ffir die Entstehung eines ausgedehnten Vereinsnetzes, weil sie nicht das Bedfirfnis erzeugt, sich fiber die vorhan- denen sozialen Grundformen hinaus freiwillig und mit spezifischer Zielsetzung in Ver- einen zusammenzuschlief~en. Das Aufkommen der Turn- und Sportvereine f~illt direkt in den Zeitraum, in dem das agrarische Sozialsystem und seine sozialen Prim~irgebilde, sowohl was ihre sozio-kulturelle Urnwelt wie ihre Lebensweise angeht, schon einem umfassenden Differenzierungsprozet~ ausgesetzt sind (W.~LNEa 1973, 163). In den neu entstandenen Turnvereinen fiberwiegen Arbeiter und Handwerker, ohne da~ dadurch der Ffihrungsanspruch der traditionellen Herrschaftseliten in Frage gestellt wird. Im Zuge der zunehmenden Versch~irfung der Klassengegens~itze macht die Polarisierung des Doff- und Kleinstadtlebens auch vor den Turnvereinen nicht halt. In Marbach wehren sich die Arbeiter dagegen, ausschliet~lich wegen ihrer Leistungen im Turnen im Verein geduldet und immer wieder als Staffage bei Kaiser- und K6nigsfeiern entgegen ihren eigenen Interessen instrumentalisiert zu werden: Sie grfinden 1910 einen eigenen Arbeiterturnverein (BECK U. a. 1985 a). Die Auseinandersetzung mit den wankelmfitigen eigenen Klassengenossen verl~iuft beim Aufbau eines proletarischen Vereinsnetzes nicht geradlinig. In Benningen besteht seit 1899 ein ,deutscher" Turnverein, in dem zahlreiche Arbeiter turnen. Der Vereinsvor- stand, der anscheinend seinen Bfirgerausschu~itz den Sozialdemokraten verdankt (ST, 29. 9. 1911), grfindet hinter dem Rficken derselben eine Darlehenskasse. Ein Ergebnis dieser Turbulenzen ist einige Monate sp~iter die Grfindung eines (Arbeiter-)Turnerbundes: ,Die sogenannten ,besseren Arbeiter' dieses Vereins richteten ihren Kampf in letzter Zeit nut gegen uns, was zur Folge hatte, dat~ der deutsche Turnverein jetzt an Mitgliedern Schwindsucht leidet. Der sonst so helle Vorstand des deutschen Vereins hat im Tri.iben gefischt, als er im letzten Sornmer mit seiner bekannten ,Bauernaufweckerei' (gemeint ist die Darlehenskassen-Auseinandersetzung; K. S.) gegen uns mobil zu machen versuchte. Allen Arbeitern rufen wir zu: Heraus aus dem deutschen Turnverein, hinein in den Arbeiterturnverein, wo schon l~ingst euer Platz ist!" (ST, 25. 2. 1912). Mit der Parole ,Heraus aus dem deutschen Turnverein!" gelingt es in Marbach, Bennin- gen und Steinheim vor 1914, dauerhaft Arbeiterturnvereine zu etablieren. Diese haben schon zu Beginn fiber 50 Mitglieder und werden damit fiir die ,deutschen" Turnvereine zu einer unliebsamen Konkurrenz. Die Entstehungsgeschichte der regionalen Arbeiterturnbewegung verweist darauf, dab dieselbe nicht wegen vorwiegend alternativer Vorstellungen fiber das Turnen und den Sport entsteht, sondern eine politische Reaktion auf die zunehmende gesellschaftliche Ausgrenzung der Arbeiterklasse im Kaiserreich ist. Es sind die unmittelbaren Erfahrun- gen sozialer Konflikte und nicht to sehr theoretische Erw~igungen oder das Wissen um sozio5konomische Zusammenh~inge, die die Ursache fiir die Herausbildung und Entwick- lung der Arbeiterturn- und -sportbewegung bilden 10 (UEBEBHOaST 1973, 21). Vor die- sere Hintergrund lassen sich schSpferische Impulse ffir alternative Verhaltensnormen und -formen im Turnen und Sport erst einmal nicht erwarten.

10 Die Abgrenzung yore Wehrturnen der deutschen Turnvereine beinhaltet mehr eine politisdae Komponente (Ablehnung des Militarismus) denn turnpraktische Differenzen. Vgl. auda die Beibehaltung der Spiet]schen Ordnungsiibungen durda die Arbeiterturner.

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Klat~s SchSnberger

Ausbreitung in der Weimarer Republik Obwohl der Erste Weltkrieg das Arbeitervereinsleben praktisch zum Erliegen bringt, der Krieg mit erheblichen Verlusten an Mitgliedern verbunden und die Spaltung der Arbeiterbewegung den Vereinsaktivit~iten nicht gerade fSrderlich ist, schwingen sich die Freizeitorganisationen der Arbeiterbewegung zu einem bedeutsamen kulturellen Faktor in der Weimarer Republik auf. Eine Voraussetzung dafiir ist die relative Demokratisierung der Gesellschaft nach 1918/ 1919, die zumindest eine formale Gleichberechugung der Arbeiterbewegung nach rich zieht. Das gemeinsame .Kriegserlebnis" und die Entwicklung der SPD zur staatstragen- den Partei, die nun auch in der kommunalen Selbstverwaltung Mandate und Amter innehat, entzieht der staatllch sanktionierten und gesellschaftlich gutgeheif~enen Aus- grenzung, wie sie vor 1918 herrschte, den Boden. Die fortschreitende Industrialisierung bringt die fiir die Aufw~irtsentwicklung der Arbeitersportbewegung nStigen industriellen Arbeitspl~itze mit sich. Doch erst die yon der Arbeiterbewegung erk~impfte Arbeitszeit- verkiirzung erm/Sglicht den Arbeitern, einen grot~en Tell ihrer Freizeit in den Organi- sationen der Arbeiterbewegungskultur zu verbringenlL In fast allen Arbeiterwohngemeinden der Region werden nach 1918/19 Arbeitersport- und Arbeitergesangvereine gegriindet. In den Jahren 1905--1933 existieren 25 Arbeiter- turn- und -Sportvereine (13 Arbeiterradfahrervereine und zwiSlf Arbeiterturnvereine) (Arbeitskreis 1983, 44--48). Dariiber hinaus gibt es noch weitere Arbeitervereine, etwa die Naturfreunde, die Arbeiter-Samariter oder die Spielplatzvereine. Nach wie vor bleiben aber zahlreiche Arbeiter (selbst gewerkschaftlich organisierte) weiterhin in den ,deutschen" und ,neutralen" Turn- und Sportvereinen. Da aber das erkl~irte Ziel des Arbeitersports darin besteht, die Arbelter dem Einflufl der biirgerlichen Vereine zu entziehen, und die Ausgrenzungsversuche trotz der vermeintlichen Integration der Arbeiterklasse andauern, besteht die grunds~itzliche Frontstellung zwischen Arbeiter- und biirgerlichem Sport fort. Deshalb werden immer wieder Appelle wie anl~if~lich des 15j~ihrigen Stiftungsfestes des Steinheimer (Arbeiter-)Turnerbundes laut: .Nicht nur der Weg, sondern auch das Ziel trenne die Arbeitersportler yon der biirger- lichen Sportbewegung. Die Arbeiter, die noch biirgerlichen Sportorganisationen ange- hiSren, sollten endlich erkennen, dab ihr Platz im Arbeiter-Turn- und Sportbund ist ~ (NP, 12.6. 1928). In der Region sind verh~iltnism~iflig viele Arbeiter in Turnvereinen des rich selbst als ,neutral" verstehenden Murr-Turngaus organisiert (NP, 30. 6. 1925), der 1928 aus 17 Vereinen besteht (NP, 29. 6. 1929). 1922 unterstreicht der zum Murr-Turngau ge- h/Srende Turnverein Steinheim, man wolle ~den zahlreichen politisch linksstehenden unter unseren Mitgliedern die unbedingte Gew~ihr bieten, dal~ politische oder gesellschaft- liche Nebenzwecke bei uns vSllig ausscheiden ~ (Festschrift). Der (Arbeiter-)Turnerbund zweifelt jecloch an der Neutralit~it des Turnvereins: ,M~Schten doda die Arbeiter im Bezirk Marbach einmal erkennen, daf~ ihr Platz im grof~en Arbeiterturn- und -sportbund ist und nicht in biirgerlichen Vereinen, wo sie unter der ,unpolitischen' und ,Neutralit.~itsflagge ' ihre wahre Lage vergessen ~ (NP, 30. 6. 1925).

11 In Marbach und Steinheim sinkt die w/Schentliche Arbeitszeit (bei seehs Arbeitstagen) yon 57 Stunden im Jahr 1912 auf 48 Stunden im Jahr 1929 (Arbeitskreis 1983, 10).

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.Arbeiter, beraus aus den bilrgerlicben Sportvereinenl*

12ber die Rolle der Arbeiter in den biirgerllchen Vereinen l~i_~t man sich in Marbach anl~it~lich der Holzarbeiteraussperrung von 1925 in der sozialdemokratisdaen Neckar- Post aus: ,Noch immer sind viel zu viel Arbeiter und Arbeiterkinder in den sogenannten Fabri- kantenvereinen, wo sie gn/idigst den Hanswurst machen diirfen, kommt es aber einmal zu Auseinandersetzungen wegen den Lohnverh~ilmissen, dann erhalten sie die gleichen Fut~tritte, wie die iibrigen Arbeiter auch" (NP, 19. 6. 1925). Vielfach bleiben die Arbeiter in den biirgerlidaen Vereinen, well diese meist bessere Vor- aussetzungen als die Arbeitervereine besitzen, die aui~erdem iiber keine klangvollen Namen in der Vorstandsdlaft verfiigen und eben immer noch suspekt erscheinen: ,Viele Eltern sind gegen das Turnen deshalb voreingenommen, well der hiesige Turn- verein (in Kirchberg; K.S.) dem Arbeiterturn- und -sportbund angeschlossen ist. W~re er Mitglied der Deutschen Turnersdaaft oder w~ire es doch wenigstens ein sogenannter ,neutraler' Turnverein - - dann vielleidat ja --, abet es ist eben ein Arbeiterturnverein, der angeblich die Jugend zu bSsen Sozialdemokraten machen will; deshalb neinV (NP, 2.2. 1925). Die sogenannten .besseren Arbeiter =, die kollektive LSsungsversuche der Arbeiterklasse ablehnen und individuellen Aufstiegsillusionen anh~ingen, wollen sich auda auf diese Weise yon der Arbeiterbewegung distanzieren. Warum sich die klassenbewul~ten Arbeiter in eigenen Turn- und Sportvereinen zusammenschlief~en - - dariiber gibt das Eingangs- zitat dieses Aufsatzes Auskunft. Immer noch sind es die konkreten sozialen Erfahrungen, die auch in der Weimarer Republik das Bediirfnis nach selbst/indiger Organisation aufrechterhalten. Die Stein- heimer Arbeitersportler kSnnen und wollen sonntags nicht mit den Fabrikanten zu- sammen turnen, die sie werktags aussperren" ,Da nun am Sonntag verschiedene Holzindustrielle mit ihrer Arbeiterschaft gemelnsam dem ,neutralen' Turnen und Sport huldigten, wird wohl auch die Aussperrung im Holz- gewerbe beendet sein" (NP, 30. 6. 1925).

Vereinsstrukturen und Feste Hinsichtlich des organisatorischen Rahmens der Arbeitersportvereine lassen sich in jener Zeit kaum Unterschiede zu den anderen Vereinen ausmachen. Auch im Arbeiterverein glbt es PSstchen zu vergeben, um deren Besetzung sdaon einmal ein Streit entbrennt (Samara.E). Die Amter sind generell yon M~innern besetzt; seIbst Frauenriegen werden yon M/innern betreut und geleitet. Trotz der formalen Gleichberechtigung kommt den Frauen im Arbeiterverein nur eine untergeordnete Funktion zu, die sich in der Regel auf die geschlechtsspezifische Rolle bei Veranstahungen und Festen reduziert. Zur Be- w/iltigung der anstehenden Aufgaben werden monatliche Mitglieder- und AusschuSver- sammlungen und j/ihrlich oder halbj~ihrlich eine Generalversammlung abgehalten. F/.ir die aktiven Funktion/ire kommen die Delegiertentreffen auf iiberregionaler Ebene hinzu. Mit der Zunahme der Mitgliederzahl w/ichst auch der biirokratische Aufwand zur Ver- waltung der Vereinsaktivit~iten. Nach den w6chentlichen Ubungsstunden sitzt man noch in der Vereinskneipe bei einem Bier, wobei das Vereinsemblem und der Name des Ar- beitersportlers manchmal das Glas zieren. Neben dieser ,allt/iglichen" Seite kennt das Arbeitervereinsleben zahlreiche Gelegen- heiten zur Selbstdarstellung, bei denen Sport und Fest miteinander verbunden werden.

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Klaus SdoSnberger

Banner- oder Saalmaschinenweihe, Stiftungs-, Frtihjahrs-, Sommer- oder Herbstfest sind willkommene Anl~isse vorzuftihren, was der jeweilige Verein zu leisten imstande ist. Der H~Ahepunkt im Festkalender ist das Weihnachtsfest, auf das sich schon Monate vor- her alle Kr~ifte konzentrieren. Die Teilnahme an traditionellen Festen des Doff- und Kleinstadtlebens wie Kirchweihe oder Feuerwehrfest kommt hinzu. Den Solidarit~its- anspruch der Arbeiterbewegung hingegen unterstreicht die Beteihgung an Wohlt~itigkeits- veranstaltungen zugunsten yon Arbeitslosen. Ein besonderes Erelgnis stellt die MSg- lichkeit dar, ein Gau- oder Bezirkstreffen ausrichten zu dtiffen. Solche Zusammenktinfte sind willkommene Gelegenheiten, in einern Festzug, zusammen mit den Brudervereinen, sich selbst und der tibrigen Einwohnerschaft die St~irke der Arbeiterbewegung zu de- monstrieren. Die Teilnahme an Bundesturnfesten und Arbeiterolympiaden erleben die einzelnen Teilnehmer als unvergeffli&e Ereignisse Abet all das unterscheidet die Ar- beitervereine nur wenig yon den biirgerlichen Turn- und Sportvereinen, deren Vereins- leben vergleichbar organisiert ist.

Die Spielplatzhallen Demgegen~iber erinnert die r~iumliche Absonderung der Arbeiterbewegungskultur in die Spielplatzhallen wieder mehr an den alternativen Gesellschaftsentwurf der sozialisti- schen Arbeiterbewegung. Die Spielplatzhallen sind weit mehr als Sport- und Spiel- st~itten. Ende der 1920er Jahre bekommen sie die Funktion regelrechter Kultur- und Kommunikationszentren der gesamten Arbeiterbewegung im Ort. Neben Fabrik und Haushalt werden sie ftir die in der Arbeiterbewegung organisierten Arbeiter und ihre Familien, insbesondere ftir die Arbeitersportler, zu einem wichtigen kollektiven Hand- lungs- und Lebenszusammenhang. Sie sind Turnhalle, Sportplatz, VersammIungsst~itte ftir Vereine und Parteien, Gewerkschaftshaus, Kinderspiel- und Kundgebungsplatz, Wald- heim, Bibliothek, Festsaal, Kneipe, Kegelbahn, Tanzlokal, Jugendhaus, Theater, Kon- zertsaal, Familientreffpunkt, ,SpielhSlle" und Ausflugsziel ftir ausw~rtige Besucher. Dieser multifunktionale Charakter macht die SpielpIatzhallen zum MitteIpunkt, aber auch zur Besonderheit der Arbeiterbewegung der Region. Der Spielplatzbetrieb wird nach kollektiven und solidarischen Leits~itzen organisiert. So gibt es keinen Trink- oder Verzehrzwang, wodurch die zahlreichen Arbeitslosen nicht aus dem Arbeiterver- einsleben ausgegrenzt werden. In diesem Zusammenhang ist der Satz ,Die Halle war meine Heimat" ein vielge~iu/~ertes Bekenntnis der Arbeitersport-Veteranen. Bei der Realisierung dieser Groflprojekte erfahren die Beteiligten unmittelbar, was Solidarit~it ist. Die (Selbst-)GewiBheit - - unabh~ingig davon, ob es zutrifft -- , dab die biirgerlichen Vereine der Region Vergleichbares nicht aufzuweisen haben, steigert das Selbstwert- gefiihl eines jeden klassenbewui~ten Arbeiters. Die Spielplatzhallen st~irken die Arbei- terbewegungskultur und sind zugleida Ausdru& ihrer St~irke. Als architektonische Zeug- nisse des Klassenantagonismus kommt ihnen in Doff und Kleinstadt ein gewisser Sym- bolcharakter zu (BECK u. a. 1985 b).

Bfirgerlicher und Arbeitersport Nach Ansicht der Theoretiker des Arbeitersports hat der Sport fiir die herrschende Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft eine doppelte Funktion: Einerseits lenkt er politisch neutralisierend yon den gesellschaftlichen Verh~iltnissen ab, andererseits stellt er ein Mittel der kapitalistischen Erziehung dar, indem er die herrschenden Werte wie Kon-

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~Arbeiter, heraus aus den biirgerlichen Sportvereinenl ~

kurrenz und Individualismus im Bewuftsein der Massen verankern soil (VAN D~.~ WtIaJ BwNs 1982, 90). Der Arbeitersport grenzt sich auf der theoretischen Ebene vom biirger- liohen Wehr-, Berufs-, Leistungs- und Rekordsport ab: ,Nieder mit dem Kampfrekord, freie Bahn dem Massensport" lautet die immer wieder auftauchende Parole, die auf Versu&e hinweist, alternative Normen und Formen fiir den Arbeitersport zu ent- wickeln. Auf die Frage, worin denn der Unterschied zwischen den biirgerlichen und den Arbeitervereinen bestehe, antwortet ein Marbad~er Arbeitersport-Veteran, daf die Biir- gerlichen ,genau dasselbe gemacht" h~itten, ,nur waren wir die Arbeiter und dort die, die sich als etwas Besseres gefiihlt haben" (SaRX~a~E). Auf die Nachfrage, ob im Arbei- tersport nicht die K/SrperertiidMgung dem Leistungsstreben gegeniiberstehe, antwortet er, daf auch die Arbeitersportler ,einen sehr guten Sport geboten" h~itten; blof daf es bei ihnen keine Preise oder Kr~inze, sondern nur Diplome gegeben habe. Nach seiner Auskunft hat auch der bi~rgerliche Turnverein ,Breitenarbeit ~ - - wenn auch nicht im selben Ausma~ - - betrieben. Auch andere betonen immer wieder, daf aus dem Arbeiter- sport ,ganz gute Sportier ~ gekommen seien: ,In Marbach . . . kam der Turnverein nicht gegeniiber dem Arbeiterturnverein an" (STRZnLV.), wird stolz herausgestellt. Diese Ansichten iiber sich selbst und die Sportpraxis der iSrtli&en Kontrahenten sind durch- aus repr~isentativ. Sie zeigen, daf der entscheidende Unterschied in der Zweckbindung (Identi6itsstabilisierung) der Aktivi6iten zu suchen ist (DmRKER 1983, 48). Fiir die Arbeitersportler ist es zuniid~st wichtig, der Offentlichkeit und sich selbst das eigene Leistungsverm/Sgen des ,Arbeiterpacks ~ zu beweisen. Ein Bericht iiber die Herbstfeier des AthIetiksportvereins ,Spartania" in Marbach illustriert dies deutlich:

, Im Gewidatheben wurden Rekordleistungen gezeigt . . . Diese Leistungen zeigen, daft die Behauptungen der bllrgerlichen Verb~inde, bei den Arbeiterathleten k~imen keine Spitzenleistungen heraus, well keine Ehrenpreise und Medaillen ausgegeben werden, falsch sind" (NP, 30. 10. 1929). An dieser Stelle wird offensichtlich, welche Bedeutung cler Arbeiterbewegung fiir die Weckung und St~irkung eines proletarischen Selbst- und Klassenbewuftseins zukommt und dat~ sie gleichzeitig das latente Minderwertigkeitsgefiihl beseitigt (VAN PEa W t t ~ BURNS 1982, 90). Gegen[iber der Anstrengung zur Hervorbringung eines proletarischen Selbstwertgefiihls ger~it das kultursch/Spferische Element im Arbeitersport der Region ins Hintertreffen. So gelingt es nicht, den Einfluf des Wettkampfgedankens im Arbeitersport zuriickzu- driingen. Da der Wettkampf nicht prinzipiell abgelehnt, sondern nur in seiner in der kapitalistischen Gesellschaft pervertierten Form zuriickgewiesen wird, mug rich der Ar- beitersport permanent mit Auswiichsen des Wettkampfproblems auseinandersetzen (DiEs- xEa 1983, 48). Am Ende des 19. Jahrhunderts entsteht im Arbeitersport der Gegensatz zwisdlen Tur- nen und Sport, der in der Region Anfang der 1920er Jahre im Streit um das Fufballspiel kulminiert. Diese Auseinandersetzung ist vor dem Hintergrund des zunehmenden Bedeutungsver- lusts des Turnens und des unaufhaltsamen Aufstiegs des Fufballspiels nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen, dem zugleich die weitere Ausbreitung des Arbeitersports mitzuver- danken ist. Obwohl sich der ATB in Arbeiter-Turn- und -Sportbund (ATSB) umbe- nennt, sind die Turner nicht bereit, die Fufballer als gleid~berechtigt zu akzeptieren.

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Die Turner sehen Rir die auch yon ihnen gepriesenen Tugenden wie Ordnung und Dis- ziplin in den freieren Formen des Fugballsports und der Leidatathletik keine angemessene Entsprechung f/Jr ihren zumeist auf einem festen Regelsystem beruhenden Ubungskanon mehr (DIERKER 1983, 51). Im Streit um das Fuf~ballspiel spaltet sida 1920 in Benningen der Rasensport- vom Turnverein ab. Als zehn Jahre sp~iter die Wiedervereinigung diskutiert wird, heist es, ,daf~ im Jahre 1920, wo der RSV sida selbst~indig gemadat hat, yore Turnverein gewisse Fehler gemacht sein sollen, wurde offiziell zugegeben, jedenfalls waren die Zeitverh~ilt- nisse ganz anders als heute. Der Fu~ballsport, damals im Anfangsstadium, diirfte nicht nur in Benningen yon den eingeborenen Turnern etwas bek~impft worden sein ~ (NP, 22. 10. 1930). In Marbada bekommen die fu~ballbegeisterten Arbeiterjugendlichen die Abneigung ihrer V~iter gegen den Fu~ballsport zu spiiren: ,Die Alten waren gegen den Sport. Das war dann auch ein Kuriosum. Da hab' ida ein ganzes Jahr heimlida Fut~ballspielen miissen, und mein Vater hat gesagt: ,Wenn Du zu dene Sdalurgel gehst, ida sdalag' Dir d'Fiif~ ra . . .!' Obwohl er Sozialdemokrat war, ist er in der Hinsidat riickst~indig gewesen: ,Des braudat m' nidat. Des ist ein Rowdy', haben die Alten gesagt ~ (GLuNz). In der Theorie des Arbeitersports wird dem Mannschaftsspiel eine sozialerzieherisdae Funktion zugeschrieben. Hier sollen vor allem Jugendlidae durda die Gemeinschaft die Faszination des Wettkampfgedankens erfabren. Doch gerade die Arbeitersportpraxis mit ihren Serienspielen und zahlreichen Sportfesten wirkt diesem Anspruda entgegen und lehnt sida so an die allgemeine Verabsolutierung des Wettkampfs als oberstes Sportprinzip an (DI~.R~.R 1983, 48). Unmittelbar nada der Durchsetzung des Fut~ballspiels macht der Begriff des Sportfanatis- mus die Runde. Er steht als Bezeichnung fiir ein Ph~inomen, das w~ihrend der gesamten Weimarer Republik in den Spielberichten der Arbeiterpresse ersdaeint. Unter der Uber- schrift ,Allen Arbeitersportvereinen zur Beadatung! ~ kritisiert die Neckar-Post-Redaktion anl,if~lida eines Punktspiels zwisdaen Neckarrems und Murr im Jahr 1932, ,dab wir aus den Spielberichten der letzten Zeit leider den Eindruck gewinnen mui]ten, dat~ in vielen Spielermannschaften unserer Arbeitersportvereine verdammt wenig yon dem Geist der sozialistisdaen Arbeiterbewegung zu sp[iren ist, sonst k/Jnnte es nicht immer wieder zu solda groben Aussdareitungen kommen. Die einzelnen Spieler sollten sich bewut~t bleiben, dab die Spiele nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, n~im- lich zur k~Srperlidaen und geistigen Ertiidatigung sein sollen, um so die heranwadasende Arbeiterjugend stark zu madaen f~ir den politisdaen und wirtsdaaftlichen Kampf ihrer Klasse. Angesichts der ungeheuren politisdaen Gefahren, vor denen die ganze deutsche Arbeiterklasse steht, madat es geradezu einen j~immerlichen Eindruck, wenn sich Arbei- tersportler auf ihren Sportpl~itzen herumbolzen, als ob es sich dabei um die gr/Sgte Ent- sdaeidungss&lacht handeln wiirde. Wir sind die letzten, die einen gesunden Ehrgeiz verurteilen, aber es verliert wirklida kein Arbeitersportverein etwas yon seinem An- sehen, wenn einmal eine seiner Mannsdaaften bei einem Spiel um einige Punkte sdaledater absdaneidet, und fiir den politisdaen und wirtsdaaftlidaen Kampf der Arbeiterschaft ist es ganz gleidagiiltig, wer Tabellenerster oder Tabellenletzter ist ~ (NP, 24. 9. 1932). Alternative Entwiirfe finden sida eher bei den Arbeiterradfahrern und Arbeiterturnern als bei den Fugballspielern. Die Arbeiterradfahrer praktizieren zwar das Zeitfahren und halten Strat~enrennen ab, doch wenden sie sida auda intensiver dem Saal- und Kunstrad- sport zu. Neben dem Radball und -polo riickt das Reigenfahren (Sdaul-, Vierer-, Sechser-,

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Steuerrohrreigen und Duettfahren), das die Kombination yon Kraft, Ges&icklichkeit und kiinstlerisch-geistiger Leistung erfordert und ermSglicht, in den Mittelpunkt (BEDoaN 1982, 86). Im Freien widmen rich die Arbeiterradfahrer dem Korso- und Langsam- fahren und organisieren Wanderfahrten, bei denen aber auch schon einmal ein kurzes Rennen abgehalten wird. Bei den Arbeiterturnern kommt der alternative Anspruch vor allem in den Massen- iibungen zum Ausdruck. Wegen der GrS£e der Gemeinden der Region sind die Massen- fibungen aber nut bei gr6~eren Veranstaltungen wie Gau- oder Bezirkstreffen durda- fiihrbar. Grofler Beliebtheit erfreut sich das Pyramidenturnen, fiir das der Arbeiter- Turn-Verlag in Leipzig eigens Anleitungshefte entworfen hat. 1929 werden aus Arbeiter- turnern gebildete Pyramiden auf einem im Nediar verankerten Kahn bei Benningen vorgefiihrt (BECK u. a. 1983, 71). Da im Arbeitersport yon einem Bedingungsgefiige zwischen Gesellschaft, Politik, Oko- nomie und Sport ausgegangen wird, steht derselbe in Theorie und Praxis vor dem Problem, unter den bestehenden Verh~ilmissen, gegen die er sich richter und ank~impft, glei&zeitig alternative Normen und Formen zu entwickeln und im Bewufltsein der Arbeitersportler zu befestigen. Well der Arbeitersport auf den vorangegangenen biirger- lichen Traditionen aufbaut, kSnnen die yon ihm praktizierten Leibesiibungen die theo- retisch gewiinschten alternativen Normen und Formen hSchstens vorbereiten; doch viel- fach ist in der Praxis ein Zuriickfallen hinter den Stand der kritischen Aufarbeitung des biirgerlichen Sports zu konstatieren (DIERKEa 1983, 45--77). Im Sinne der marxisti- schen Auffassung, dal~ jedes Produkt einer Gesellschaft sich mit ihr selbst ver~indere, entwi&eln die Theoretiker des Arbeitersports in antlzipatorischer Absicht neue Modelle sportlicher Bet/itigung (VAN DER WILL/BURNS 1982, 90). Diese werden aber nur in be- schr~inktem Matte aufgenommen und verbreitet. Dies erkl{irt sich daraus, daft bestimmte Elemente des Sports, wie das c-g-s-System des Wettkampfes, Ausdruck und Abbild der modernen arbeitsteilig-kapitalistischen Industriegesellschaft sind, wogegen der politische Wille, es anders machen zu wollen, allein nut wenig auszurichten vermag (Elcrm~.ac 1975, 76 in Anlehnung an WACNER 1931, 158). Diesem Sachverhalt mllssen die Arbeitersportvereine in der Region Rechnung tragen, wenn fie nichr Gefahr laufen wolien, an den Bediirfnissen ihrer Mitglieder vorbeizu- agieren. Da aber das Hauptziel der Arbeitersportvereine darin besteht, m/~glichst vide Arbeiter den biirgerlichen Vereinen zu entziehen, und die Arbeiter wie die Gesamt- gesellschaft vom Wettkampfsport fasziniert sind, l~iflt sich diese Absicht nicht gegen die vorherrschende Bediirfnisstruktur der Arbeiter realisieren. Von daher sind die MSglich- keiten und Chancen fiir alternative Entwiddungen yon vornherein beschr~inkt.

Politisierung und Spaltung W{ihrend sich die Arbeiterturnvereine im Kaiserreich auch im liberalen Wiirttemberg un- politisch geb~irden miissen, um Repressalien zu entgehen (BECK U. a. 1985 a), wird zwar in den 1920er Jahren bei jeder Festrede die emanzipatorische Absicht der Arbeitersport- bewegung hervorgehoben, doch bleiben explizit politische Stellungnahmen die Ausnahme. Im Zeichen der Polarisierung des politischen Lebens durch den erstarkenden National- sozialismus um 1930 versuchen sich die Arbeiterpartelen mit Parolen wie ~Arbeiter- sportier, sddagt Hitler! ~ (NP, 4. 3. 1932) oder ,Der Kampfruf der Arbeitersportler - -

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Seid aktiv, diszipliniert und einig! ~ (NP, 22. 7. 1932) der Loyalit~it der Arbeitersportler zu versichern. Unter der L~berschrift ,Jeder Sportler ein Wahlhelfer ~ werden 1932 die Arbeiter£uftballer yon der Neckar-Post aufgefordert, rich trotz der anstehenden Punktspiele Samstag und Sonntagfr~ih an der Wahlarbeit zu beteiligen:

,Die Spiele, die am Sonntag stattfinden, dtirfen nicht begonnen werden, ohne daft nicht jeder Spieler zuvor seiner Wahlpflicht Geniige getan hat" (NP, 23.4. 1932). Die Politisierung der Arbeitersportvereine erfolgt Hand in Hand mit der zunehmenden Militarisierung der politischen Auseinandersetzung, die mit der Bildung yon SA-Gruppen in Steinheim (1930) und Marbach (1930/31) in der Region ihren Anfang nimmt. Als Schutz gegen Ubergriffe der SA griinden SPD (Reichsbanner) und KPD (Kampfbund zum Schutz gegen den Faschismus) 1931 eigene paramilit~rische Hilfsorganisationen, die sich sowohl in Steinheim wie in Marbach haupts~ichlich auf die aktiven Arbeiter- sportler s~tzen kSnnen. Immer h~iufiger werden Arbeitersportler innerhalb dieser Schutz- organisationen in Handgreiflichkeiten mit der SA verwickelt (BgcrdScH6~ERGER 1984, 29--31). Die Spaltung der Arbeitersportbewegung in eine sozialdemokratische und eine kommu- nistische Fraktion wirkt sich in der Region nur in Marbach aus. Aufter in Marbach bestehen in der Region nur in Benningen und Steinheim schlagkr~iftige KPD-Ortsgrup- pen, die in ihren Gemeinden jedoch einfluftreicher als in Marbach sind. In Steinheim kandidieren KPD und SPD 1928 auf einer gemeinsamen Gemeinderats- liste, und insofern verwundert es nicht, daft es gelingt, die politischen Gegens~itze in den Steinheimer Arbeitervereinen nicht aufkommen zu lassen. Sinnbildlich driickt sich das in der Steinheimer Spielplatzhalle aus: Auf der einen Seite des Gastraums h~ingt das Bild Friedrich Eberts, gegeni~ber wacht W. I. Lenin fiber seine Genossen (Arbeits- kreis 1981). 1930 lehnt die Generalversammlung des (Arbeiter-)Turnvereins Benningen einen Antrag ab, ,das Solidarit~itsgefiihV fiir die vom ATSB gemaf~regelte kommunistische Leitung des Turnerbundes Ludwigsburg zu bezeugen, und beschlieftt dagegen, ,daft sich der Verein seine Interessen yon keiner politischen Partei gef~ihrden liiftt, sondern es jedem Mitglied ilberl~iftt, seine politische Gesinnung in den Parteiversamm- lungen zu verbreiten" (NP, 25.1. 1930). Demgegeni~ber verlaufen die Konflikte in Marbach sch~irfer. H/Shepunkt ist der Sp~it- sommer 1932, als der KPD-dominierte Athletiksportverein ,,Spartania ", der yon An- beginn (1919) in Auseinandersetzungen mit den anderen Arbeitersportvereinen in Mar- bach verwickelt ist, gegen das Marbacber Arbeitersportkartell ein eigenes Kartell (.Kampfgemeinschaft fi.ir Rote Sporteinheit ~) griindet. Neben ,,Spartania ~ schlieften sich noch die Motorradfahrer-Abteilung des Arbeiter-Radfahrervereins und eine neuge- bildete Freie Kulturvereinigung, die der KPD nahesteht, im Roten Sport- und Kultur- kartell, wie es auch genannt wird, zusammen.

Zerschlagung durch den Faschismus Nach der Machiibergabe geht die NSDAP iiberall in Deutschland zielstrebig an die Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung. Wenn die Hauptaufgabe des Faschismus in der terroristischen Disziplinierung der Arbeiterklasse liegt, mi~ssen alle Organisationen, die Ausdruck der Klasseninteressen der Arbeiterschaft sind, zerschlagen werden (AGNora

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u. a. 1973, 10). Folgerichtig wendet sich der NS-Apparat nicht nur gegen die Arbeiter- parteien und die Gewerksdaaften, sondern auch gegen die Arbeitervereine. Es kommt zwar zu regionalen Unterschieden in Ablauf und Zeitpunkt, doch an der Ziel- gerichtetheit der fasdaistischen Vorgehensweise ~indert das nichts. Beispielsweise widmen die neuen Machthaber, bevor sie die ersten KPD-Funktion~ire verhaften lassen, ihre Aufmerksamkeit zun~ichst den Spielplatzhallen. Diese werden schon Mitre M~irz ,auf hShere Weisung polizeilida ~ (MZ, 17. 3. 1933) gesdalossen. Damit unterstreicht der NS-Apparat im Grunde nur die Bedeutung der Spielplatzhallen als Kommunikations- zusammenhang fiir die Arbeiterbewegung. W~ihrend die iibrigen Arbeitersportvereine in der Region erst ab Ende April bis Juni 1933 verboten und aufgelSst werden, trifft es ,Spartania" in Marbach als KPD-Verein bereits Mitte M~irz. Er 15st sich ,selbst ~ auf, und an seiner Stelle bildet sida ein Kraft- sportverein ,Germania 1933 ", ,der auf nationalem Boden steh(t) "1~, wobei nicht klar wird, ob es rich um eine taktische Ma~nahme oder um das Ergebnis eines Anpassungs- prozesses handelt. /¢litte 1933 sind wie andernorts siimtliche Arbeitervereine verboten, ist ihr Eigentum beschlagnahmt, dessen Liquidation sida bis 1935/36 hinzieht, und man beginnt nun mit der Gleichsdaaltung des biirgerlichen Vereinswesens, die aber zumeist die Best~itigung des bisherigen Vorsitzenden bringt. Die vollst~indige Zerschlagung der Arbeiterbewegungskultur wirft die Frage nach der weiteren Be6itigung der klassenbewuflten Arbeiterschaft in der NS-Zeit auf. Erfolgt nun eine Abschottung gegeniiber den gleichgeschalteten biJrgerlichen Vereinen, oder er- weist sich der dSrfliche und kleinst~idtische Lebenszusammenhang als durdal~issig fiir die Integration des ,Arbeiterpacks"? In den Gemeinden, in denen es wie in Benningen und Burgstall nur Arbeitersport- und keine anderen Sportvereine gibt, ist der NS-Apparat gezwungen, im Interesse der Auf- rechterhaltung des Sportbetriebs an die friiheren Arbeitervereins-Strukturen anzukniip- fen. Bei der AuflSsung des Benninger Turnvereins wird zwar noch betont, ,dat~ eln ge- schlossener L~bertritt zur deutschen Turnerschaft unmSglich ist "lz, deshalb iibemimmt die Gemeinde die Anlagen der Arbeitervereine (in Marbach die NSDAP); doch wird 1934 fiir beide ehemaligen Arbeitersportvereine unter dem Namen TSV Benningen ein gleichgesdaalteter Verein konstitulert. In ihm diirften die Arbeitersportler das Gros der Mitglieder gestellt haben (Benningen 1979, 278). In Burgstall wird Mitte Mai versucht, den Arbeiterturnverein direkt fiir NS-Belange .umzubilden" (MZ, 19. 5. 1933). In den Orten, in denen es biirgerliche Parallelvereine gibt, tiegen die Dinge etwas anders. In Erdmannhausen, wo 1933 das Arbeiterheim nebst Sportanlage besdalagnahmt wird, tritt ein Gro~teil der Sportler des aufgelSsten Arbeitervereins in den gleichgesdaal- teten Turnverein ein (Mi~LLER 1975, 308). Anpassung wie Resistenz lassen sich in Stelnheim feststellen. Ehemalige Arbeiterfu~ baller griinden 1936 eine Fugballabteilung (LoREWZ) im Steinheimer Turnverein. Anderer- seits beantragt die Staatsanwaltschaft gegen drei Arbeitersportler einen Strafbefehl beim Amtsgericht in Marbach, ,well sie am 22. September 1934 in der Rose ein dreifaches ,Frei hell' auf die verbotene und aufgelSste Arbeitersportbewegung ausbrachten und sodann die Internationale sangen "14. 12 StAM/A 1064, Gemeinderatsprotokoll 17. 3. 1933. 13 GAB/A 1377. 14 StASt/A 2986.

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Da der Turnverein Marbach keine eigene Fut~ballabteitung besitzt, bemiJht er rich um die Mannschaft des verbotenen Arbeiterturnvereins. Der TV organisiert eine Aussprache mit den Arbeitersportlern, die ansdalief~end geschlossen in den TV eintreten (GLvNZ). Doda nidat nur die Fuf~baller, auch Turner und Leichtathleten wechseln in den gleich- geschalteten TV (LANG). So kann es gesdaehen, dat~ einige Arbeiterturner und Leicht- athleten im Juli 1933 am Deutschen Turnfest in Stuttgart, einem NSDAP-Propaganda- Spektakel (BERNErr 1983), teilnehmen, w~ihrend gleidazeitig fiihrende Sozialdemokra- ten und Kommunisten Marbachs im KZ Heuberg sitzen (GLuNZ). Da der Marbacher TV nur die Fu/~bailer gebrauchen kann, l~iflt er die Arbeiterradfahrer seine wieder erlangte Vormadatstellung gegentiber den jetzt ohnm~datigen Arbeitersportlern sptiren: ,Euch rote Lumpen brauchen wir nicht!" (STa~,HLE). Wie die Gewerkschaften paint sich 1933 die ATSB-Leitung dem neuen System an. Sie hofft, dadurch den Verband als Organisation erhalten zu kSnnen, verkennt dabei aber vSllig die Absichten des Faschismus (TIMMEmCIA~m 1973, 121). Unter solchen Vorzeidaen verwundert es nicht, da/~ jugendliche Arbeitersportler, fiir die der Sport der wichtigste Bestandteil ihrer Freizeit geworden war, in die friiher bek~impften biirgerlichen Vereine gehen. Da sie (insbesondere wohl die Fut~baller) auch keine grot~en sportpraktischen Differenzen zu erkennen vermSgen und nachdem die MSglichkeit, sich klassenspezifisch zu organisieren, nicht mehr gegeben ist, haben offensichtlida nur wenige Bedenken gegen- fiber elnem solchen Sdaritt (AuR^Ms 1984, 33). Da es den gleichgeschalteten Vereinen gelingt, zahlreiche Arbeitersportler in ihre Reihen zu integrieren, wird hier schon der Grundstein dafiir gelegt, dat] die Arbeitersport-Idee nada 1945 nicht wieder aufgenom- men wird I~.

Abgrenzung und Integration Obwohl die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik yon der traditionellen Herr- schaftselite in Dorf und Kleinstadt nur widerwillig und gezwungenermafgen (als Macht- faktor) akzeptiert wird, trotz der r~iumlichen und organisatorischen Absonderung im Freizeitbereich und trotz einer durch das Aufkommen der Nazis bedingten verst~irkten inhaltlidaen Distanzierung gegeniiber den der Nazi-Ideologie immer mehr erliegenden biirgerlichen Vereinen, kSnnen in der Region keine allumfassenden hermetischen Lager entstehen. Die Verflechtungen zwischen btirgerlicher, agrarischer und proletarischer Le- bensweise sind vielf~ltig. Zahlreidae direkte Kontakte der Einwohner untereinander und hinzukommende verwandtschaftliche Beziehungen ersdaweren die vollkommene Lager- bildung. Als Scharnier zwisdaen den biirgerlichen und den Arbeitervereinen wirken in nahezu jedem Ort Musikverein und Feuerwehr, in denen die AngehSrigen beider Ver- einsarten zusammenarbeiten. Die Trommeln des Marbacher Arbeiterturnvereins werden bei der Feuerwehr und umgekehrt benutzt (NP, 29. 7. 1932). Bei den Arbeitervereinen ist der Wunsch nach sozialer Anerkennung und Integration grSfler als die politisch motivierte Absicht, sich gegentiber dem traditionellen Lebens- gefiige abzugrenzen. Um yon der U~ffentlichkeit akzeptiert zu werden und lebensf~ihig zu bleiben, glauben die Arbeitersportvereine der Region, sida den allgemeinen Standards anpassen zu miissen, und sie verzichten damit zwangsl~iufig auf die Weiterentwicklung der

t6 Ausnahmen shad in Marbada die Naturfreunde und die Arbeiterradfahrer, bei denen sich aber jeweils wieder Bundesverb~inde bilden.

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traditionellen Freizeitformen. Die Bemiihungen um die Entwicklung einer Gegenkultur, die dennoch existieren, besitzen somit nur geringe Erfolgschancen, sich gegeniiber den angeeigneten b~rgerJichen Kuttur- und Freizeifformen durdazusetzen. Damit h~itte auch eine entsprechende politische Praxis einhergehen miissen; eine solche haben die staats- tragenden Sozialdemokraten in den l~indlich-reformistischen Ortsvereinen der logischer- weise nicht entwickelt. Die hier zu beobadatenden Ungleichzeitigkeiten sind somit auch Ausdruck dieser reformistischen politischen Praxis.

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Weiterhin wurden Quellen folgender Archive verwendet: Gemelndearchiv Benningen (GAB): A 1377; Stadtarchiv Marbach (StAM): A 1064, A 1065; Stadtarchiv Steinheim (StASt): A 2986.

Interviews mit: GLUNZ, W.: 18.8. 1981. KLEINKNECHT, O.: 31. 1. 1981. LANG, K.: Januar 1981. LORENZ, G.: 20. 5. 198I. STR)~ILE, K. 2. 4. 1981.

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