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LANDESARCHIV BADEN-WÜRTTEMBERG Nr. 59 / September 2019 Greifbar – Materialität von Archivgut Gerollte Schrift Haut, Wachs und Seide Landeskunde wird interaktiv! Anfassen erlaubt ARCHIVNACHRICHTEN

ARCHIV NACHRICHTEN - Landesarchiv Baden-Württemberg€¦ · READ-Projekts kam zum Ergebnis, dass Menschen Informationstexte wesentlich effizienter von Papier als vom Bildschirm lesen

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LANDESARCHIVBADEN-WÜRTTEMBERG

Nr. 59 / September 2019

Greifbar –Materialität von Archivgut

Gerollte Schrift

Haut, Wachs und Seide

Landeskunde wird interaktiv!

Anfassen erlaubt

ARCHIVNACHRICHTEN

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Sara Diedrich26 || Ferrotypien und andere Früh-formen der Fotografie im Generallandes-archiv Karlsruhe

Annette Riek28 || „…dass Sie in der Lage sind, Aktenschnüre mit geleimten Enden zuliefern.“

Martin Häußermann30 || Die Seismogramme der württem-bergischen Erdbebenwarte

Maria Magdalena Rückert32 || „Gerollte Schrift“ im Kloster Söflingen

Sandra Rosenbruch / Simone Ruffer34 || Audiovisuelle Überlieferung der Württembergischen Landesbühne in Esslingen

Claudia Wieland36 || Schwere Kost – Archivgut als Fitnessgerät

ARCHIV AKTUELL

Nils Meyer / Andreas Weber37 || Projekte mit Beständen des Lan-desarchivs bei Coding da Vinci Süd

Daniel Fähle / Andreas Neuburger38 || Landeskunde wird interaktiv!„Mein LEO-BW“ ist online

Marius Golgath40 || Die Kunstsammlung Otto Staebler

Ulrich Schludi41 || Kommt ne Archivbox geflogen …

QUELLEN GRIFFBEREIT

Peter Exner42 || „Wir KZ-Häftlinge haben hinein-geschaut in das Gesicht des Teufels!“

Sara Diedrich43 || „Sammlung Thomas Kellner“

Uwe Heizmann44 || Quellen zu den württembergischenSchulmeistern

KULTURGUT GESICHERT

Sara Menato45 || Immer dabei: Japanpapier in derPapierrestaurierung

Leonie Rök / Ute Henniges / Irene Brückle46 || Pflege nach dem Bad

ARCHIVE GEÖFFNET

Nicole Bickhoff47 || Roh.Stoff.Papier. Papierherstellungim deutschen Südwesten. Ausstellung imHauptstaatsarchiv Stuttgart

HÄUSER MIT GESCHICHTE

Nicole Bickhoff48 || Schlichtheit und Repräsentationim besten Sinne

JUNGES ARCHIV

Elke Koch50 || Anfassen erlaubt! Archivpädagogi-sche Überlegungen zur Magie der weißenHandschuhe

GESCHICHTE ORIGINAL: QUELLEN FÜR DEN UNTERRICHT 58

Florian Hellberg / Tobias Roth51 || Mythos „Trümmerfrauen in Frei-burg“

Verena Schweizer3 || Editorial

GREIFBAR – MATERIALITÄT VON ARCHIVGUT

Christian Keitel4 || Materialität

Birgit Meyenberg7 || Nah am königlichen Herzen

Erwin Frauenknecht8 || Papier und Wasserzeichen

Wolfgang Mährle10 || Diktate eines Kriegsverbrechers

Maike Fuidl12 || Haut, Wachs und Seide – Eine facettenreiche Lehensurkunde

Michael Aumüller14 || Vom neun Kilo-Band zum elektro-nischen Grundbuch

Stefan Morent / Peter Rückert16 || Mittelalterliche Choralhandschrif-ten als Einbandfragmente

Franz-Josef Ziwes18 || Aus den Anfängen der Bundes-dienstflagge

Laurencius Griener20 || Charta auf Karton

Dinah Rottschäfer21 || Verhängnisvolle Gabel

Kai Naumann22 || Fragt uns ab – digitale Quellen zurZeitgeschichte

Monika Schaupp24 || Im Wandel der Zeiten auch ’malauf dem Holzweg: Vom Kerbholz zumPapier

Archivnachrichten 59 / 20192

Inhalt

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Archivnachrichten 59 / 2019 3

Editorial

Was erscheint vor Ihrem inneren Auge,wenn Sie an Archivgut denken? Ein dick-es Aktenbündel aus Hadernpapier, einemittelalterliche Pergamenturkunde, eineFotografie auf einer Glasplatte oder einegemalte frühneuzeitliche Karte? Jede undjeder hat sicher ein eigenes Bild vor denAugen, aber allen ist gemein, dass wir zu-erst an das Aussehen der Archivalien underst dann an deren Inhalt denken. Dabeikönnen Archivalien unterschiedlichsteMaterialien vereinen, wie bei dem Lager-buch auf dem Titelbild dieser Archiv-nachrichten: ein dicker Buchblock ausPapier, der Einband aus Holz umschla-gen mit Schweinsleder und mit Metall-beschlägen verziert.In den Magazinen des Landesarchivsschlummern vielfältige Archivalien ausunterschiedlichsten Materialien. In die-sem Heft der Archivnachrichtenmöchtenwir einige vorstellen und dabei nichtvom Inhalt, sondern von Form und Ma-terial der Archivalien ausgehen. Durchdiesen Perspektivwechsel auf die Mate-rialität des Archivguts hoffen wir Ihnenneue Einblicke zu geben. Denn nicht nur im Inhalt, auch in der Beschaffenheithistorischer Dokumente wird Geschichtegreifbar. So schreiben die Autorinnenund Autoren unter anderem über ge-wichtige Bände, Wasserzeichen, gefälschteund echte Urkunden, ungewöhnlicheGegenstände in Akten und frühe Foto-techniken. Auch digitale Quellen mitihren Besonderheiten werden vorgestellt.

In der Rubrik Archiv aktuell finden SieInformationen zur Weiterentwicklungdes landeskundlichen Informations-portals LEO-BW. Weiter berichten wirüber den Wettbewerb Coding da VinciSüd, bei dem unter anderem Beständedes Landesarchivs genutzt wurden, überQuellenfunde im Rahmen der Prove-nienzforschung im Staatsarchiv Sigma-ringen und über die diesjährige Notfall-übung des Landesarchivs, die im Hohen-lohe-Zentralarchiv Neuenstein stattfand.Wie gewohnt präsentieren wir unterQuellen griffbereit und Kulturgut gesichertneu erschlossene Bestände, interessanteArchivalienfunde sowie Restaurierungs-projekte und neue Methoden bei der Re-staurierung.Herzlich laden wir Sie ab Oktober zurAusstellung Roh.Stoff.Papier. Papier-herstellung im deutschen Südwesten imHauptstaatsarchiv Stuttgart ein.In den Quellen für den Unterricht gehenFlorian Hellberg und Tobias Roth demMythos der Trümmerfrauen in Freiburgnach und stellen hierbei Kriterien für dieAnalyse von historischen Fotografienvor.Ich wünsche Ihnen bei der Lektüre der Archivnachrichten einen neuen und anderen Blick auf das Archivgut undgrüße Sie herzlich

IhreDr. Verena Schweizer

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Archivnachrichten 59 / 2019 Greifbar – Materialität von Archivgut4

Manchmal macht gerade das Unsicht-bare Dinge sichtbar, die uns seit jeher vorAugen stehen. Für das menschliche Augeunsichtbar sind all die Bits und Bytes, dieuns in unvorstellbarer Zahl tagtäglich be-gleiten. Allein zum Speichern der vordiesem Satz stehenden Eingangswortedieses Artikels benötigt Microsoft Word93.776 Bits, also 93.776 unsichtbare Zei-chen, 93.776-mal eine Eins oder ebeneine Null. In noch viel größerer Zahl lie-gen diese Zeichen seit 2002 im DigitalenMagazin des Landesarchivs. Zwar müs-sen auch diese Archivalien physikalischerhalten werden. Dennoch ist neben diebisherigen Archivalien aus Pergamentund Papier, Holz oder Stein etwas ande-res getreten und gerade diese Andersar-tigkeit macht zunehmend deutlich, was

die bisherigen konventionellen Archiva-lien auszeichnet. In diesem Heft der Ar-chivnachrichten sollen die stofflichenund zumeist auch greifbaren Eigenschaf-ten einiger Archivalien des LandesarchivsBaden-Württemberg im Mittelpunkt ste-hen. Was bedeuten uns diese Eigenschaf-ten heute? Können wir sie denn so gutdigitalisieren, dass die Vorlagen künftigohne Bedeutung sein werden?Wenn wir für eine Edition Urkundenabschreiben, wird offenkundig, dass wiretwas verlieren, was wir beim Anblickdieser Urkunde noch vor Augen hatten.Bereits im 19. Jahrhundert träumtendaher einige Archivare davon, Urkundennicht nur zu edieren, sondern sie gleichauch fotografisch abzubilden. Egal, obdiese Bilder als Papierabzug, auf Mikro-

film und heute digital zugänglich sind,sie fassen mehr Einzelheiten des Origi-nals, als dies einer reinen Abschrift mög-lich wäre. Die neue Technologie lässt unsso näher an das Original heranrücken.Verlieren wir also überhaupt noch We-sentliches, wenn wir heute digitalisieren?Oft genug sind es gerade die nicht-in-haltlichen Elemente, die ein konventio-nelles Archivale interessant machen. Al-lein der Geruch alter Akten hat schonganze Bücher hervorgebracht. Im Staats-archiv Wertheim liegen die heute nurnoch sprichwörtlich verstandenen Kerb-hölzer in ihrer ursprünglichen, materiel-len Form. Manche Gerichtsakten enthal-ten noch das Messer, also die Tatwaffe.Im Staatsarchiv Ludwigsburg liegen ineiner Patentakte die Belegplättchen eines

MaterialitätAnmerkungen zu den substantiellen Eigenschaften konventioneller Archivalien

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Archivnachrichten 59 / 2019 5

aus Glimmer hergestellten Silberbrokatsund in einem Geschäftsbrief die Musterverschiedener Nähseidengarne. BadischeAkten werden seit Jahrhunderten durchdie Badische Oberrandheftung zusam-mengehalten. Die einzelnen Stücke derbei weitem umfangreichsten Archivalien-gruppe des Generallandesarchivs Karls-ruhe und des Staatsarchivs Freiburg be-sitzen daher ein Merkmal, das sich inWürttemberg nicht finden lässt. War einAmtsbuch in häufigem Gebrauch, wer-den wir heute, also nach einigen hundertJahren, am Original immer noch Ge-brauchsspuren feststellen können. SogarSchädigungen können auf vergangenesGeschehen verweisen.Ein möglicherweise gefälschter Briefaus dem 17. Jahrhundert kann auf seine

Greifbar – Materialität von Archivgut

Echtheit überprüft werden, wenn das Pa-pier ein Wasserzeichen hat. Das Landes-archiv hat für diese Fälle mit anderenPartnern das Wasserzeichen- Informati-onssystem (WZIS) aufgebaut (www.wasserzeichen-online.de). Auf Pergament-urkunden des Mittelalters kann dieseMethode nicht übertragen werden, daPergament keine Wasserzeichen habenkann. Dafür besitzen die Urkunden aberandere stoffliche Merkmale, die ebenfallsganz unabhängig von dem verfassten In-halt untersucht werden können. So kön-nen die im Staatsarchiv Sigmaringen unddem Hauptstaatsarchiv Stuttgart ver-wahrten gefälschten Urkunden des Klo-sters Marchtal anhand der nachgeahm-ten Siegel identifiziert werden. Ob Was-serzeichen oder Wachssiegel, in beiden

Fällen bestätigt das Material den daraufunauflösbar angebrachten Inhalt. Genaudiese Verbindung geht bei digitalenDaten verloren. Mit ihr verlieren wir beider Digitalisierung von Pergament oderPapier die Möglichkeit, weiterhin mit der geschilderten Methode die Echtheitder konventionellen Archivalien zu über-prüfen.Es sind aber nicht nur besonders illu-strative Einzelfälle oder mögliche Fäl-schungen, die auch künftig für eine Nut-zung der konventionellen Originale spre-chen. Schon Grundschulkinder reagierenbegeistert und zugleich ehrfürchtig,wenn ihnen eine mittelalterliche Ur-kunde auf die ausgestreckten Hände ge-legt wird. Auch Erwachsene empfindenoft eine Aura, wenn ihnen ein Original

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2 | Der Farbenfabrikant Friedrich Rotter erkundigtsich danach, ob sein in Bayern erteiltes Patent aufdie Herstellung von Silberbrokat aus Glimmer auchin Württemberg erteilt werden kann (1867).Vorlage: LABW, StAL E 170 a Bü 1016.

1 | Hofrat Grüneisen aus Stuttgart legt seinem Ge-schäftsschreiben an Baron Carl Albrecht von Metzin Unterdeufstetten Nähseide-Proben bei und bietetderen Besorgung an (1763).Vorlage: LABW, StAL PL 20 VII Bü 172.

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Archivnachrichten 59 / 20196 Greifbar – Materialität von Archivgut

vorgelegt wird. Vielleicht ist es die Un-mittelbarkeit, die in diesen Momentenzu spüren ist: Dieses Stück Papier oderPergament wurde vor so langer Zeit vondiesem oder jenem wichtigen Menschenbeschrieben, und genau dieses Stück liegtnun im Original vor einem selbst. Beieinem Foto oder einem Digitalisat, eineredierten Abschrift oder gar der Darstel-lung eines Historikers hat sich zwischendas vergangene Ereignis und den Nutzeretwas anderes geschoben, ein unmittel-barer Zugang zum Geschehenen bestehtnicht mehr.Vielleicht kommen Papier und Perga-ment aber auch ganz und gar unspekta-kuläre Qualitäten zu, die von den immerzahlreicheren elektronischen Geräten bis heute nicht bereitgestellt werdenkönnen. Eine 2019 veröffentliche Meta-Studie des von der EU geförderten E-READ-Projekts kam zum Ergebnis, dassMenschen Informationstexte wesentlicheffizienter von Papier als vom Bildschirmlesen und verstehen können. Von den 854 ausgewerteten Einzelstudien ergabkeine einzige, dass digital wiedergege-bene Texte schneller und vollständigerverstanden werden als ihre Gegenstücke

auf Papier. Der Abstand im Lesever-ständnis vergrößerte sich sogar noch,wenn die Lektürezeit begrenzt war.Hinzu kommt, dass Menschen in derRegel ihr Verständnis gerade bei digitalvorgelegten Texten eher überschätzen alsim anderen Fall. Es gibt sogar Hinweise,dass sich die Differenz im Verstehen derbeiden Präsentationsformen im Laufeder letzten Jahre vertieft hat. Weshalbsollten diese Ergebnisse nicht auf dieLektüre einer Handschrift des 16. oder17. Jahrhunderts übertragbar sein?Die Autorinnen und Autoren der er-wähnten Metastudie plädieren dafür, pa-pierbasierte und digitale Zugänge gleich-wertig zu behandeln. Auch in Archivenwäre es verfehlt, konventionelle Archiva-lien und ihre digitalen Abbilder als Alter-nativen zu verstehen. Archive müssensich nicht für eine der beiden Weltenentscheiden. Vielmehr sollten sie in bei-den Gebieten versuchen, ihren Nutzerin-nen und Nutzern die bestmöglichen An-gebote zu machen. Weder sollten wir un-sere Lesesäle schließen noch das Feld derDigitalisierung aufgeben. Vielmehr kannes nur um ein Miteinander beider Wel-ten gehen. Möglichst viele Archivalien

sollten digital verfügbar und auf der gan-zen Welt abrufbar sein. Durch die Ver-größerung oder die Anzeige mit unter-schiedlicher Helligkeit können die Digi-talisate in Details sogar leichter lesbarsein als im Original. Auch sollten wirMethoden fördern, die die digitale Aus-wertung von Daten erleichtern. Dennochbesitzen die Originale aus Papier oderPergament immer noch vieles, was we-nigstens bislang nicht adäquat ins Digi-tale überführt werden kann.

Christian Keitel

4 | [Gefälschtes Reitersiegel von Pfalzgraf Rudolf I.von Tübingen.Vorlage: LABW, HStAS B 475, U 134.

In der Südwestdeutschen Archivalien-kunde in LEO-BW werden viele Archiva-lien beschrieben: https://www.leo-bw.de/web/guest/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde

3 | Authentisches Reitersiegel von Pfalzgraf Rudolf I.von Tübingen.Vorlage: LABW, HStAS A 474 U 3.

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Archivnachrichten 59 / 2019 7Greifbar – Materialität von Archivgut

eine Psychiatrie stecken zu lassen. Bei-spiele für ein ähnliches Verfahren mituntreuen Ehefrauen aus hochadeligenKreisen waren beispielsweise HerzoginSophie in Bayern oder Prinzessin Louisevon Belgien.Das Verhältnis mit André Giron warnicht von Dauer. Doch die Konsequen-zen aus der Liaison blieben nicht aus.Sowohl das sächsische Haus Wettin alsauch das Erzhaus Habsburg schlossendie Ehebrecherin aus ihren Familien-kreisen aus. Ehe- und Geburtsnamewurden ihr samt ihren Titeln aber-kannt. Das im Exil Luises geboreneMädchen, das auf den Namen AnnaMonica Pia getauft wurde, erkannte dersächsische Kronprinz als sein Kind an.Luises Leben blieb indes unstet undnicht skandalfrei. Als sie schließlich denMusiker Enrico Toselli 1907 heiratete,musste sie die kleine Prinzessin dem kö-niglichen Vater überlassen. Aber auchdie Ehe der Tosellis währte nicht ewig.Nach dem Scheitern der zweiten Ehenahm Luise ihren Wohnsitz in einemBrüsseler Vorort. Dort verstarb sie 1947verarmt, nachdem aufgrund der politi-schen Ereignisse die sächsischen Apana-gezahlungen ausgeblieben waren. Ihreletzte Ruhestätte fand die einstige Erz-herzogin und sächsische Kronprinzessinin der Hedinger Familiengruft der Für-sten von Hohenzollern in Sigmaringen.Im Gegensatz zu seiner Schwieger-tochter waren die Enkel König Georgsvon Sachsen nah an seinem königlichenHerzen, so auch Margarete, die beimTod des Königs allerdings erst vier Jahrealt war.

Birgit Meyenberg

Am 6. Juni 1920 heiratete PrinzessinMargarete, Herzogin von Sachsen, aufSchloss Sibyllenort in Schlesien denErbprinzen Friedrich von Hohenzol-lern. Eines der Geschenke zu diesem be-sonderen Tag dürfte das zum Buchzei-chen umfunktionierte Ordensbandihres Großvaters König Georg vonSachsen gewesen sein, das ihr vermut-lich von ihrem Vater König FriedrichAugust III. überreicht wurde.Die Ehe dauerte ein Leben lang, biszum Tod Margaretes im Jahr 1962. Die-ses Glück war ihren Eltern nicht ver-gönnt gewesen. Die 1891 geschlosseneEhe des damaligen Prinzen FriedrichAugust von Sachsen mit PrinzessinLuisa von Toskana, Erzherzogin vonÖsterreich, wurde am 11. Februar 1903geschieden. Dem ging ein Skandal vor-aus, der die damalige Adelswelt erschüt-terte: Die sächsische Kronprinzessinverließ den Ehemann und die fünf ge-meinsamen Kinder, mit dem sechstenKind gerade schwanger, um sich im An-schluss an die Flucht mit ihrem Gelieb-ten André Giron, dem Sprachlehrerihrer Söhne, zu treffen. Ob Giron derGrund für ihre Flucht war oder ob dasschlechte Verhältnis zu ihrer angeheira-teten Familie, insbesondere zu ihremSchwiegervater König Georg, sie vomköniglichen Hof getrieben hatte, bleibtSpekulation. Dass er sie der sächsischenKrone und der Königsfamilie für un-würdig hielt, mag der in Luises Lebens-erinnerungen festgehaltene Satz des Kö-nigs belegen: C’est malheureux, que tusois venue dans notre famille, parceque tune seras jamais une de nôtres.Will manLuises Erinnerungen Glauben schenken,drohte ihr der Schwiegervater an, sie in

Nah am königlichen HerzenDas zum Buchzeichen umfunktionierte Ordensband des Königs Georg von Sachsen

Recycelt: Ordensband als Lesezeichen.Vorlage: LABW, StAS FAS HS 1-80 T 17 Nr. 145.

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Karteikarte (PO 120526) aus der Wasserzeichen-sammlung Piccard mit dem signifikanten Wasser-zeichen der ersten Uracher Papiermühle. Auf derabgebildeten Karte sind Bleistiftkorrekturen vonPiccards Hand zu erkennen, die Beschreibort undDatum korrigieren.Vorlage: LABW, HStAS.

Archivnachrichten 59 / 20198

Der Aspekt der Materialität ist bei Was-serzeichen aus handgeschöpftem Papierunbestritten. Sie entstehen bei der Pro-duktion des Papierbogens: Auf demSchöpfsieb wird dazu zusätzlich ein fei-ner, gebogener Metalldraht angebracht,der an dieser Stelle die Dichte der Pa-pierfasern reduziert. Nach dem Trock-nungsvorgang wird dann das Wasserzei-chen im Gegenlicht sichtbar.Wasserzeichen sind eine mittelalterli-che Erfindung und dienen als Herkunfts-oder Gütezeichen, einzelne Motive kön-nen zu Markenzeichen verschiedener Pa-piermacher werden. Nicht wenige Pa-piermühlen etwa verwendeten die Wap-pen der jeweiligen Städte oder Territori-alherren in ihren Wasserzeichen.Als Beispiel mag das Wasserzeichen derersten württembergischen Papiermühlein Urach dienen. 1477 erstmals fassbar,wird die Papiermühle zunächst von

einem italienischen Spezialisten aus demPiemont betrieben. Man darf dabei eineenge Verzahnung mit dem Hof Eber-hards im Bart annehmen, der zu dieserZeit noch in Urach residierte. Diese engeVerbindung bringt auch das verwendeteWasserzeichen zum Ausdruck, denn inder Kombination von Horn und Hirsch-stange greift es die gräfliche und städti-sche Wappensymbolik auf. Das signifi-kante Zeichen kommt nur in UracherPapier zwischen 1477 und 1482 vor. Fürzahlreiche Schreiben aus dem Umfelddes Hofes, aber auch für in Urach ge-druckte Inkunabeln fand solches Papierhäufig Verwendung.Ganz allgemein dienen Wasserzeichendaher im Bereich der Handschriftener-schließung oder bei der Erschließungfrüher Drucke als wichtige Informati-onsquelle. Darüber hinaus nutzen auchandere Wissenschaftsdisziplinen die

Greifbar – Materialität von Archivgut

Papier und Wasserzeichen

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Archivnachrichten 59 / 2019 9

Wasserzeichenexpertisen gewinnbrin-gend (Musikwissenschaft, Kunstge-schichte, Philologien). Das Erkenntnisin-teresse geht längst über Fragen zur Da-tierung hinaus. Papiergeschichtliche Un-tersuchungen ziehen Wasserzeichennicht nur zur Erforschung einzelner Pa-piermühlen, sondern auch für die Re-konstruktion von Handelswegen oderallgemeineren wirtschaftsgeschichtlichenFragestellungen heran.Der Sammlung und Bereitstellung von

Wasserzeichen kommt somit eine hoheBedeutung zu. Mit der etablierten Was-serzeichendatenbank WZIS kann dasLandesarchiv Baden-Württemberg denRang eines internationalen Kompetenz-zentrums beanspruchen. Die digitalePräsentation in der Datenbank hat dieAuswertungsmöglichkeiten von Wasser-zeichen erheblich erweitert.Der digitale Fortschritt mit neuen tech-nischen Möglichkeiten macht sich imBereich der Wasserzeichen besonders in

der Quantität von Bildern bemerkbar.Neue Aufnahmeverfahren ermöglichenexakte, maßstabsgetreue Abbildungenvon Wasserzeichen in relativ kurzer Zeit.Die Erschließung von Wasserzeichenund ihre Bereitstellung in Datenbankenwird sich dadurch erheblich beschleuni-gen und macht es nötig, sie mit anderenInformationssystemen zu vernetzen(Handschriftenportal). Für die beste-hende Datenbank WZIS werden dahervoraussichtlich technische Anpassungenerforderlich werden. Deswegen plant dasLandesarchiv, die Weiterentwicklungund Vernetzung der Wasserzeichen-In-frastruktur voranzutreiben, um die Was-serzeichenforschung weiter maßgebendunterstützen zu können.

Erwin Frauenknecht

Greifbar – Materialität von Archivgut

Aus publizistischen Gründen lässt Graf Eberhard imBart 1480 ein kaiserliches Schreiben drucken (GW10358) – in Urach auf Uracher Papier. Das Wasser-zeichen ist unten mit bloßem Auge zu erkennen.Vorlage: LABW, HStAS B 198 Bü 3.

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Hubert Lanz’ Darstellung der Ereignisse auf Kefalo-nia im September 1943, Typoskript mit handschrift-lichen Korrekturen.Vorlage: LABW, HStAS M 660/025 Bü 10.

Archivnachrichten 59 / 201910 Greifbar – Materialität von Archivgut

Diktate eines KriegsverbrechersDie Lebenserinnerungen von Hubert Lanz im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

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3./8. September 1943 waren die seit län-gerem geplanten deutschen Maßnahmengegen den bisherigen Verbündeten inKraft getreten. In diesem Zusammen-hang hatte Lanz als Vertreter des Deut-schen Reiches am 9. September mitCarlo Vecchiarelli, dem Oberbefehlsha-ber der in Griechenland stationiertenitalienischen 11. Armee, vereinbart, dassdessen Streitkräfte entwaffnet werdensollten.Während die Waffenabgabe bei denmeisten Verbänden zügig vonstattenging,war dies bei der auf der westgriechischenInsel Kefalonia eingesetzten DivisionAcqui nicht der Fall. Die dortigen, vonGeneral Gandin geführten Soldaten nah-men am 15. September den Kampf gegendie Deutschen auf. Dies führte zu einemBlutbad. Nach einigen Anfangserfolgenwurden die italienischen Verbände bin-nen weniger Tage aufgerieben. An dieKämpfe schlossen sich Massaker an. AufBefehl Hitlers und des Oberkommandosder Wehrmacht erschossen die Lanz un-terstehenden Soldaten auch Italiener, diesich ergeben hatten. Insgesamt fielen denKampfhandlungen und den anschließen-den Massenerschießungen nach neue-sten Forschungen etwa 1.600 bis 2.500italienische Militärangehörige zumOpfer, darunter die große Mehrzahl derOffiziere der Acqui. Viereinhalb Jahrespäter wurde Lanz im Geiselmord-Prozesswegen der Vorfälle auf Kefalonia alsKriegsverbrecher zu zwölf Jahren Haftverurteilt. Von diesen verbüßte er – dieUntersuchungshaft eingerechnet – fünf.Dass sich Hubert Lanz in den frühen1970er Jahren entschloss, seine Lebenser-innerungen auf Band zu sprechen,mochte mit den auf Kefalonia begange-nen Kriegsverbrechen zusammenhängen.Über das dortige Geschehen war 1969 im

Ich habe mir damals alle erdenklicheMühe gegeben und mit viel Geduld ver-sucht, den General Gandin zur Einsicht zubringen, die von seinem OberbefehlshaberV[ecchiarelli] befohlene Kapitulationohne Blutvergießen durchzuführen […]Ich flog selber wiederholt auf die Insel Ke-falonia und bat den General Gandin ein-dringlich auf teleph[onischem] Weg, sichzu ergeben und die begonnenen Kampf-handlungen sofort einzustellen.Die Textpassage klingt wie eine Be-schwörung. Die Beschwörung einerHandlungsmöglichkeit, die – wie wirheute wissen – nicht ergriffen wurde undderen Nichtergreifen für viele hundertMenschen den Tod bedeutete. Das Zitatstammt aus den im HauptstaatsarchivStuttgart überlieferten Lebenserinnerun-gen des Generals der Gebirgstruppe Hubert Lanz (1896–1982). Dieser hattesie am 2. Oktober 1975, im Alter von fast80 Jahren, auf Band gesprochen; späterhatte er seine Tonband-Diktate mitSchreibmaschine zu Papier bringen las-sen.Lanz, in Entringen bei Tübingen gebo-ren und in Stuttgart aufgewachsen,blickte im Herbst 1975 auf den ZweitenWeltkrieg zurück, genauer: auf seinenEinsatz als Kommandierender Generaldes XXII. Gebirgs-Armeekorps an derWestküste Griechenlands. Nach demSturz Mussolinis im Juli 1943 und demanschließenden Waffenstillstand zwi-schen Italien und den Westalliierten vom

Archivnachrichten 59 / 2019 11Greifbar – Materialität von Archivgut

Spiegel berichtet worden. Lanz trieb au-genscheinlich das Bedürfnis, eine eigeneInterpretation seines Lebenswegs vorzu-legen. Seine Diktate – insgesamt 14 –entstanden im Zeitraum zwischen No-vember 1970 und November 1975, hinzukamen im Sommer 1976 einige Nach-träge. Lanz’ Arbeit an seinen Erinnerun-gen gelangte jedoch nicht zum Ab-schluss. Nachdem die Diktate verschrift-licht worden waren, führte der frühereWehrmachtsgeneral noch einen Korrek-turgang aus, stellte die Arbeit an seinemText dann jedoch ein. Im Jahr 1980 wur-den die Materialien schließlich durchVermittlung des damaligen Präsidentender Landesarchivdirektion Baden-Würt-temberg Eberhard Gönner, der mit Lanzverwandt war, an das HauptstaatsarchivStuttgart abgegeben.In seinen Diktaten blendet Lanz nichtnur die Massaker auf Kefalonia, sondernauch andere, von der Wehrmacht imZweiten Weltkrieg begangene Verbre-chen fast vollständig aus. Lanz stilisiertsich stattdessen als Teil des militärischenWiderstands. Er behauptet, mehrfachentgegen Befehle Hitlers gehandelt undsogar ein Attentat auf den Führer ge-plant zu haben.Auch wenn Lanz seine Lebenserinne-rungen nicht im Druck vorlegen konnte,wurde seine persönliche Sicht der Ereig-nisse wirkmächtig. Die verschriftlichtenDiktate, die er seinem amerikanischenFreund Charles B. Burdick zur Verfü-gung gestellt hatte, dienten diesem alsGrundlage für eine Biografie des Wehr-machtsgenerals, die 1988 in Buchformerschien. Lanz’ Formulierungen kehrendarin sinngemäß, zum Teil sogar wört-lich wieder.

Wolfgang Mährle

Porträt von Hubert Lanz als Oberstleutnant, um1938/39.Vorlage: LABW, HStAS M 708 Nr. 1878.

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deshalb suchten wir Rat bei Kollegen ausder Textilrestaurierung. Zum Stabilisie-ren von Textilien mit Tintenfraß werdendort Seidenfäden mit einer Acrylat-Lö-sung getränkt. Außerdem wird zur Siche-rung brüchiger Textilbereiche Tüllstoffeingesetzt. Diese beiden Techniken wur-den hier verbunden. Die Netzstrukturdes Tüllstoffes ist fast unsichtbar und dieFlexibilität perfekt für die geschlungenenSiegelschnüre. Nach einer Vorbehand-lung der Schnüre mit der Acrylat-Lösungnähte ich das flexible Gewebe mit einemfeinen Seidenfaden eng um die betroffe-nen Stellen (ca. 12 mm). So sind die fra-gilen Bereiche optimal vor weiteren Be-schädigungen geschützt und einer Nut-zung steht nichts mehr im Wege.Nach der Restaurierung werden diebeiden Urkunden in eine stabile Boxmontiert, wo sie sicher vor Licht, Staubund Feuchtigkeit hoffentlich noch vieleJahrhunderte überdauern.

Maike Fuidl

Im Jahr 1726 belehnte Kaiser Karl VI.den Grafen Marquard Willibald Schenkvon Castell mit dem Blutbann (Gerichts-barkeit über Leben und Tod) im DorfDischingen. Für diese Lehenschaft ließsich der Graf zwei wertvolle Urkundenanfertigen (heutige Signatur: LABW,HStAS B 82 U 34).Damals müssen sie einen schönen An-blick geboten haben: weißes Velours-Pergament, die Tinte dunkel, die Seiden-schnüre leuchtend in gelbgold undschwarz. An den Schnüren ein großesrotes Kaiser-Siegel in einer gedrechseltenHolzkapsel.Im Frühjahr 2019, auf dem Arbeitstischin der Restaurierungswerkstatt, bietetsich mir nun ein trauriges Bild: Die Per-gamente sind verschmutzt und ver-knickt, haben Brandspuren und -löcher,die Tinte teilweise abgerieben. Die Sei-denschnüre sind staubig und liegen frag-mentiert vor mir. Die Holzkapseln habenAusbrüche, ein Siegel fehlt. Das vorhan-dene rote Kaisersiegel ist unter demSchmutz kaum noch auszumachen.Ganz klar, die Jahre der Benutzung undLagerung gingen nicht spurlos an ihnenvorüber.Viele Urkunden gehen durch meine

Hände und meistens sind es die gleichenMaterialien, die meiner besonderen Auf-merksamkeit bedürfen: das Pergament(Haut) und die Siegel (Wachs oder Lack).Durch Klimaschwankungen, Tierfraßoder menschliche Einflüsse können dasPergament und die Siegel Schaden neh-men. Aber Falten können geglättet, Fehl-stellen sowie Risse an Pergament undSiegel geschlossen werden. Jedoch gibt esnoch ein gefürchtetes Schadensbild: denTintenfraß. Fast überall dort, wo unsereVorfahren die Eisengallustinte benutzten,kommt es bei uns heute zu Problemen.Durch zu hohe Luftfeuchtigkeit werdendie Eisensulfat-Ionen der Tinte aktiviert,es entsteht Schwefelsäure. Diese greiftjedes organische Material an, auf demsich die Tinte befindet.Die Seidenschnüre meiner Urkundensind in den kaiserlichen Farben (gelb-schwarz) gefärbt. Für das Schwarz wurdedie Eisengallustinte verwendet. Nun zer-fallen sie langsam zu feinem schwarzemStaub und an vielen Stellen sind nurnoch Schnurfragmente erhalten. Dennnatürlich macht der Fraß der Tintenauch vor den feinen Seidenfäden keinenHalt.Das Material Seide ist bei uns selten,

Archivnachrichten 59 / 201912 Greifbar – Materialität von Archivgut12

Kaiser Karl VI. belehnt den Grafen Marquard Willi-bald mit dem Blutbann im Dorf Dischingen, Wien18. März 1726.Vorlage: LABW, HStAS B 82 U 34.Alle Aufnahmen: LABW, IfE.

Haut, Wachs und Seide – Eine facettenreiche Lehensurkunde

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Archivnachrichten 59 / 2019 13Greifbar – Materialität von Archivgut

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Württembergisches Folianten-Grundbuch aus Baiersbronn.Vorlage: LABW, GBZA A 004.728.190.

Autsch, wenn der einem auf den Fuß fällt –und das noch mit der messingbeschlagenenEcke, dann ist da nicht mehr viel vom Fußübrig…. Bei dem Ausruf einer Besucherinwährend einer Magazinführung imGrundbuchzentralarchiv verziehen meh-rere Teilnehmer schmerzvoll das Gesicht.In Anbetracht der zum Teil gewaltigenGrundbuchbände wird augenfällig, wie –im wahrsten Sinne des Wortes – gewichtigdas Grundbuchwesen war, zumindest inBaden.An den Regalen des Grundbuchzentral-archivs werden die Unterschiede deutlich.Als das moderne Grundbuchwesen zum1. Januar 1900 eingeführt wurde, existier-ten auf dem heutigen baden-württember-gischen Staatsgebiet noch drei verschie-dene Territorien. Das GroßherzogtumBaden, das Königreich Württemberg unddas Königreich Preußen mit den Hohen-zollerischen Landen. Das schlug sich inder Materialität der Unterlagen nieder. Aufeinen Blick ist hier zu erkennen, ob es sichum eine badische, württembergische oderpreußische Akte handelt. Denn die Bade-ner bevorzugten die Oberrandheftung, beider durch zwei Löcher am linken oberenRand ein Bindfaden geführt und verkno-tet wurde. Die Preußen ließen sämtlicheAkten mittels Faden heften. Die Württem-berger waren sparsam und verzichtetenauf jegliche Heftung. Hier wurden diezum Akt gehörigen Dokumente lose inden Grundaktenumschlag gelegt.Bei den Grundbüchern hingegen warendie Badener am sparsamsten. Zwischen 30und 35 Grundbuchhefte wurden in einemBand vereinigt. Das sparte sowohl Platz alsauch Einbände. Zustande kamen die

Vom neun Kilo-Band zum elektronischen GrundbuchGrundbuchunterlagen im Spiegel ihrer Materialität

Archivnachrichten 59 / 201914 Greifbar – Materialität von Archivgut

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Archivnachrichten 59 / 2019 15Greifbar – Materialität von Archivgut

mächtigen Folianten, die gerne neun undmehr Kilogramm wiegen. Handlich sinddiese nicht, aber imposant.Auch innerhalb der ehemals selbststän-digen Territorien sieht man Unterschiede.So gab es etwa in Baden Gemeinden, dieviel Mühe auf ihre Grundbuchbände ver-wandten, die Ecken zum Schutz mit Mes-sing beschlagen oder sogar noch Messing-buckel an den Deckeln anbringen ließen.Wohlstand und Stolz der Gemeinde sindanhand dieser Materialität spürbar. An-dere Orte konnten sich das nicht leisten.Hier ist die Ausführung der Bände mit Ge-webe- und Leineneinbänden einfacher.Form und Haptik der Grundbücher gebensomit bereits einen ersten Hinweis auf diefinanziellen Verhältnisse einer Gemeindezum Zeitpunkt der Anlegung der Bücher.Anders als in Baden, bekam in Württem-berg jedes Grundbuchheft seinen eigenenEinband. Im aufgeschlagenen Zustand vonmehr als einem Meter Breite und knapp90 cm Höhe füllen diese jedoch auch

einen ganzen Schreibtisch. Ungefähr 70Jahre lang mussten sich die Mitarbeiten-den in den Grundbuchämtern mit denRiesenformaten plagen und sämtlicheEintragungen von Hand vornehmen. Erstals ab 1969 in Baden-Württemberg be-gonnen wurde das Loseblattgrundbucheinzuführen, änderte sich das. Jetzt konntePapier im DIN-A4-Format maschinen-schriftlich beschrieben werden. Anders alsin den Folianten wurden nun in den lan-desweit gleich aufgebauten Loseblatt-grundbüchern die verschiedenen Abtei-lungen mit unterschiedlich farbigem Pa-pier gekennzeichnet. Die Art des Materialserleichterte damit die Sachbearbeitung.Erst im Dezember 2018 wurde durch Ju-stizminister Guido Wolf das letzte Grund-buch – übrigens ein Foliant – digitalisiert.So werden die modernen elektronischenGrundbücher nicht mehr in Kilogramm,sondern in Kilobyte gemessen.

Michael Aumüller

Pfandbuch Bd. 34 der Gemeinde Dossenheim mitBeschriftung am Schnitt und Nägeln.Vorlage: LABW, GBZA A 006.215.041.

Grundbücher Bd. 34 und 35 der Gemeinde Lörrachmit Metallverstärkung an den Ecken und Messing-buckeln zum Schutz der Unterlagen.Vorlage: LABW, GBZA A 011.071.192.

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Blatt aus einem Missale als Einband eines Lager-buchs des Klosters Maulbronn, um 1000.Vorlage: LABW, HStAS H 102/49 Bd. 222a.

Mittelalterliche Choralhandschriften als EinbandfragmenteEin interdisziplinäres Forschungsprojekt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Archivnachrichten 59 / 201916

Ein von der Deutschen Forschungsge-meinschaft für drei Jahre (2017–2020) fi-nanziertes Forschungsprojekt erschließtbisher unbekannte mittelalterlicheMusik-Fragmente aus württembergi-schen Klöstern in den Beständen desHauptstaatsarchivs Stuttgart. Unter derwissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr.Stefan Morent (MusikwissenschaftlichesInstitut der Universität Tübingen) wer-den in enger Kooperation mit demHauptstaatsarchiv Stuttgart ca. 1.500Fragmente erfasst, katalogisiert und digi-talisiert und über das einschlägige Web-portal Fragmentarium öffentlich zugäng-lich gemacht. Das Online-Findmittelsy-stem des Landesarchivs Baden-Würt-temberg wird entsprechend damitverlinkt. Daneben soll ein gedruckter Ka-talog ausgewählte Fragmente dokumen-tieren.Das Projekt bietet neue Einblicke in diebisher nur teilweise oder gar nicht be-kannte mittelalterliche Musikkulturwürttembergischer Klöster vor der Zer-störung vieler Handschriften im Zugeder Einführung der Reformation inWürttemberg 1534. Wegen des wertvol-len Pergaments, das als Beschreibstoffder Handschriften diente, wurden dieeinzelnen Blätter auseinandergenom-men, beschnitten und als Einbandmaku-latur vor allem für Verwaltungsschriftgutweiterverwendet.

Greifbar – Materialität von Archivgut

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Archivnachrichten 59 / 2019 17

chertausch oder -kauf hierher. Auch die-ser Befund und die Frage nach den mög-lichen Überlieferungswegen solcherfremden Fragmente lassen interessanteRückschlüsse etwa auf die Austausch-beziehungen zwischen verschiedenenKlöstern und Liturgiekreisen zu.Dies sollen zwei Beispiele aus dem Klo-ster Maulbronn verdeutlichen: Ein Dop-pelblatt aus einem Missale mit den Ge-beten und Gesängen für die Messfeierwurde als Einband für ein Amtsbuch derMaulbronner Pflege Speyer von 1511(LABW, HStAS H 102/49 Bd. 222a) ver-wendet (Abb. 1). Dieses Fragment kannaufgrund der feinen Neumenzeichen fürdie Notation auf die Zeit um 1000 da-tiert werden – lange vor der GründungMaulbronns. Das ursprüngliche Missalekann also nicht in Maulbronn entstan-den sein, wurde aber später offenbar hierbenutzt und auch im Kloster makuliert,als es hier nicht mehr im Gebrauch war.Wie das Missale zuvor nach Maulbronngelangt war, wissen wir bislang nicht.Allerdings bietet die sehr einheitlicheund stabile Melodieüberlieferung der Zi-sterzienser einschlägige Kriterien zurIdentifizierung der liturgischen Frag-mente. So zeigt ein beschnittenes Einzel-blatt aus einem Antiphonale des 15. Jahr-hunderts mit Gesängen für das Stunden-gebet am Fest der Hl. Petrus und Paulus

eine vollständige Übereinstimmung mitder Zisterziensertradition. Es wurde alsEinband für ein Amtsbuch der Stadt Le-onberg von 1591 (LABW, HStAS H101/33 Bd. 92) wiederverwendet (Abb.2). Auch wenn in der Klosterzeit kaumKontakte zwischen Maulbronn und Le-onberg nachweisbar sind, wird hier deut-lich, dass dieses Maulbronner Antipho-nar nach der Auflösung des Klosters1534 in Württemberg makuliert wurdeund zumindest ein Teil davon der Leon-berger Amtsverwaltung zum Einbindendiente. Dadurch hat sich ein ganz neuerBlick auf die bislang kaum bekanntemittelalterliche Musikkultur und Litur-gie gerade im Kloster Maulbronn bei-spielhaft geöffnet.

Stefan MorentPeter Rückert

Erschlossen werden die Fragmente nunerstmals systematisch im Hinblick aufdie Trägerarchivalien, die nachweislicheoder vermutete Provenienz, die Zugehö-rigkeit zu einer Handschriftengattung,die Datierung, den Überlieferungszu-stand, die musikalische Notation sowieden Inhalt mit Blick auf seinen ur-sprünglichen liturgischen Kontext.Die notwendigerweise interdisziplinäreErforschung der Fragmente durch diezusammenschauende Analyse und Ex-pertise der Musikwissenschaft für dieNotation und die Ordenstraditionen derMelodien, der Paläographie für dieSchrift, der Liturgiewissenschaft für denRitus und des Restaurierungswesens fürdie Materialität der Pergamente erlaubtAufschlüsse über die Rekonstruktionihres Lebensweges: von der klösterlichenGemeinschaft, in der die Handschriftenursprünglich geschrieben und verwendetwurden, über den Weg in die Bibliothekeines anderen Klosters, bis zur späterenNachnutzung als Einband und schließ-lich zur Lagerung in einem Archiv. Dabeiist durchaus nicht immer sicher, dass dieFragmente in den Klöstern, aus denendie Träger-Archivalien stammen bzw. wosie dann als Einband dienten, auch ge-schrieben wurden. Teilweise gelangtendie Handschriften vor ihrer Makulaturaus anderen Gemeinschaften durch Bü-

Greifbar – Materialität von Archivgut

Beschnittenes Blatt aus einem Antiphonar als Ein-band eines Lagerbuchs des württembergischenOberamts Leonberg von 1591.Vorlage: LABW, HStAS H 101/33 Bd. 92.

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rich Roemer wagte in einem Gutachtendie Vorhersage: Die Westdeutsche Bundes-fahne wird sicher nicht häufig in Erschei-nung treten, da die Länder ihre eigenenFlaggen führen und bei dem sehr föderati-ven Charakter des Bundes auch dessenFarben nur bei seltenen Gelegenheiten zusehen sein werden.Des ungeachtet veranlasste die Staats-kanzlei eine gemeinsame Sammelbestel-lung aller Landesministerien und desnachgeordneten Bereichs für die Bun-desfahne. Bundesdienstflaggen wurdenkeine beschafft. Ob eine solche an derDienstlimousine des BundeskanzlersAdenauer mitgeführt wurde, als dieserim Juli 1951 auf der Durchfahrt in dieSchweiz seine Schwiegereltern in Tübin-gen besuchte, ist nicht überliefert. Mandürfte auch kaum Gelegenheit gehabthaben, den Stander zu erkennen. Schondie Kradfahrer des landespolizeilichenBegleitkommandos konnten dem rasen-den Wagen nur mit größter Mühe fol-gen. Eine Beschwerde von MinisterialratTheodor Eschenburg über das erheblichverkehrsgefährdende Verhalten desKanzler-Chauffeurs beim Chef des Bun-deskanzleramts Hans Globke blieb un-beantwortet.

Franz-Josef Ziwes

Bundesdienstflagge im Format 20 cmHöhe x 30 cm Breite inklusive Seitenver-stärkung und eingenähtem Seil für dieBefestigung als Kfz-Stander daher. Inihrer Ausgestaltung entspricht die Flaggemit Ausnahme des Seitenverhältnissesgenau den Vorgaben der Anordnung desBundespräsidenten über die deutschenFlaggen vom 7. Juni 1950: Die Dienst-flagge der […] Bundesbehörden […] hatdie gleichen Querstreifen wie die Bundes-flagge, darauf, etwas nach der Stange hinverschoben, in den schwarzen und dengoldfarbenen Streifen je bis zu einemFünftel übergreifend, den Bundesschild,den Adler nach der Stange gewendet, Ver-hältnis der Höhe zur Länge des Flaggentu-ches wie 3 zu 5.Die schwarz-rot-goldene Bundesflaggetraf bei den Westdeutschen anfangs aufeher wenig Gegenliebe. Die meisten dervom Allensbacher Institut für Demosko-pie im Dezember 1948 zur Gestaltungder künftigen deutschen Fahne befragtenBürgerinnen und Bürger zeigten sichdesinteressiert oder gar ablehnend.Haben die Herren schon wieder die Sor-gen?meinte eine Bäuerin lakonisch.Skepsis gab es auch auf der politischenEbene. Der Balinger Landrat und spätereStuttgarter Regierungspräsident Fried-

Aus den Anfängen der Bundesdienstflagge

Archivnachrichten 59 / 201918 Greifbar – Materialität von Archivgut

In einer Staatskanzlei laufen bekanntlichdie Fäden von Politik und Verwaltungzusammen. Für die Staatskanzlei deskleinen Landes Württemberg-Hohenzol-lern mit ihrem Sitz in Tübingen kann dieRedewendung sogar im wörtlichen SinneGeltung beanspruchen, denn in Erman-gelung eines größeren behördlichen Un-terbaus musste sich die Spitze der Lan-desverwaltung auch eher banalen Ange-legenheiten wie der Beschaffung von ein-fachen Gebrauchsgegenständen widmen.In den Verwaltungsakten finden sich des-halb neben Prospekten und Werbebro-schüren auch Proben der benötigtenProdukte, etwa Stoffmuster für Arbeits-kleidung oder Sitzschonbezüge vonDienstkraftfahrzeugen.Nach der Festlegung der Farben derdeutschen Bundesflagge durch den Par-lamentarischen Rat wehten im Mai 1949– noch vor der Verkündigung desGrundgesetzes – die ersten Offerten vonFahnenfabriken für das neue National-symbol in die Tübinger Regierungszen-trale. Stoffproben aus reinwollenem Ma-rine-Schiffsflaggentuch angefertigt undgarantiert licht-, luft- und wasserechtlagen den Angeboten bei und sollten dieKaufentscheidung erleichtern. Eines derMuster kam sogar als voll ausgebildete

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Archivnachrichten 59 / 2019 19Greifbar – Materialität von Archivgut

Eine Bundesdienstflagge zur Befestigung als Kfz-Stander liegt als Muster den Beschaffungsunter-lagen der Staatskanzlei Württemberg-Hohenzollernfür die Bundesflagge bei.Vorlage: LABW, StAS Wü 2 T 1 Nr. 435.

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Gefälschte Nachzeichnung einer Urkunde Karls desGroßen von 786.Vorlage: LABW, StAS FAS DS 26 T 2 Nr. 1.

stanz um Klärung der Vorwürfe bat. Derzur Rede gestellte Abt behauptete kalt-schnäuzig, dass ihm von einer Schriftver-fälschung nichts, auch überhaupt kein ver-fälschtes Aktenstück in dem hiesigen Ar-chive bekannt sei. Aufgrund der Untersu-chung sollte die Abtei bestraft werden,allerdings änderte der zuständige Hofratin Wien seine Meinung und Abt Rudolffand einflussreiche Verbündete, sodassentschieden wurde, die Sache bis zumTod des Abtes ruhen zu lassen.Abt Rudolf gab in Sachen Reichsunmit-telbarkeit jedoch nicht auf. 1787 wurdendie gefälschten Texte wieder zu einemGutachten verarbeitet, wieder erkannteman die Fälschungen, und wieder fandAbt Rudolf einflussreiche Unterstützerund konnte so einer Bestrafung entge-hen.Schließlich, Anfang 1790, schloss Öster-reich mit Beuron einen Vertrag, durchden Beuron die Reichsunmittelbarkeitgegen Abtretung einiger Zehntrechte er-hielt. Beuron hatte sich die Reichsunmit-telbarkeit damit teuer für wenige Jahreerkauft. Denn mit dem Reichsdeputati-onshauptschluss wurde die Abtei 1803vom Fürsten von Hohenzollern-Sigma-ringen säkularisiert.

Laurencius Griener

Archivnachrichten 59 / 201920

1751 wurde in dem unter österreichi-scher Landeshoheit stehenden Augusti-nerchorherrenstift Beuron ein neuer Abtmit hohen Zielen gewählt: Rudolf III.Reichel wollte sich die Stellung einesreichsunmittelbaren Prälaten verschaffen.Nachdem Rudolf mit anderen Versu-chen gescheitert war, machte sich – wieWilfried Schöntag akribisch erforscht hat– sein Kanzleiverwalter Johann Bartholo-mäus Pizenberger mit der Unterstützungdes Kanzleischreibers, des zeichnerischbegabten Klostergärtners und einigerweiterer Mitstreiter daran, durch Fäl-schung von Urkunden, Propstlisten, An-niversaren sowie Kopialbüchern und Re-pertorien Beweise für eine Gründung desKlosters im Jahre 777 und die Verleihungder Immunität durch Karl den Großenherzustellen. Das zentrale Stück wardabei die um 1770 gefertigte Nachzeich-nung der angeblichen Immunitätsur-kunde vom 29. Juni 786.Als eine Nachzeichnung wird in der Ur-kundenlehre eine möglichst detailgetreueKopie bezeichnet, die meist aus Gründender Bestandssicherung oder Weitergabehergestellt wurde. Man entschied sich inBeuron vermutlich für diesen Weg, umdie Schwierigkeiten der Fälschung einerechten Urkunde Karls des Großen zuumgehen. In der Nachzeichnung be-mühte man sich um die Schrift des12./13. Jahrhunderts, was allerdings nur

Greifbar – Materialität von Archivgut

Charta auf KartonFälschung einer Urkunde Karls des Großen im Staatsarchiv Sigmaringen

leidlich gelang. Geschrieben wurde dieNachzeichnung auf drei zusammenge-klebten, knapp 1 mm dicken Kartontei-len.Als alle Texte fertiggestellt waren, wurde1771 der Tübinger Jurist Professor Gott-fried Daniel Hoffmann gebeten, mit demSohn Pizenbergers, der zu dieser Zeit inTübingen studierte, eine Abhandlung nurauf Basis von Abschriften der Doku-mente anzufertigen. Hoffmann hattescheinbar keine Bedenken und wies derAbtei die Reichsfreiheit nach. Erst als dieAusarbeitung schon gedruckt war, kam ernach Beuron, sah sich die Originale anund gab bezogen auf die Urkunde Karlsdes Großen einen Rat: Zeigen Sie dieseKopie niemandem, wenn Sie nicht müssen.Die Hoffnung der Beuroner Fälscher,dass die Autorität des Professors Hoff-mann nicht infrage gestellt würde, er-füllte sich nicht. Denn die Fälschungenflogen schnell auf, da das Konventsmit-glied P. Fidel Wegschneider, zu dem Zeit-punkt Professor in Freiburg, den Öster-reichern das Vorgehen der Fälscher schil-derte und mit Material belegte. Außer-dem waren die meisten Dokumente, wieHoffmann schon aufgefallen war, rechtplump gefälscht. Die daraufhin von dervorderösterreichischen Regierung einge-leitete Untersuchung konnte 1784 alleFälschungen entlarven, worauf der Beur-oner Konvent den Generalvikar in Kon-

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Archivnachrichten 59 / 2019 21

Actum Weikersheim 4. & 5. July anno1725. Nachdem in der abgewichenenNacht aus der Nachtischstuben, die sil-berne Löffel nebst Messern und Gabelnmiteinand entwendet worden, als ist des-wegen auf herrschaftl. gnädigsten Befehlfolgende Inquisition darüber angestellt.Die Befragung der Spinnerin, derMägde und der Spülerin, des für die Si-cherheit zuständigen Torwarts Klemmund seiner Frau brachten wenige Er-kenntnisse in dem Fall des verschwunde-nen kostbaren Essbestecks. Die MagdClara Stöhr und ihre Kollegin waren dieletzten im Raum, in dem das Gesinde aßund hatten diesen gegen 20 Uhr verlas-sen und beede Thür vorher ordentlich zu-geschlossen. Die beiden Schlüssel warenvorschriftsgemäß verwahrt. Heut früheum 7. Uhr habe sie allein die Nachtisch-stuben gesäubert, von dieser Sache abernoch nichts wahr genommen, bis auff d.Mittag, als sie die Tische decken wollen,

hätte sie die Tischtücher und Serviettenalle untereinand geschmissen gefunden.Torwart Klemm bekümmerte der Vorfallsehr und er beteuerte, dass ihm in seinerZuständigkeit bis dato nichts verlohrengegang sei.Freiwillig stellte sich der dreiste Be-steckdieb nicht, trotz der öffentlichenAnkündigung die Strafen bei Rückgabedes Diebesguts zu recompensieren. Dochdann wurden weitere kostbare Silberge-genstände im Schloss extradirt und dasermittelnde Amt zählte eins und eins zu-sammen. Die Gelegenheit zu diesemzweiten Diebstahl hatte Peter Weber ge-habt, ein 30-jähriger Schreiner aus El-persheim, der zur fraglichen Zeit imSchloss mit der Reparatur eines Billiard-tisches beschäftigt war. Bei einer ange-ordneten Durchsuchung seines Hausesfand man in der Nagelkiste eine kleineKlappgabel. Schnell zeigte sich, sie ge-hörte zum gesuchten Diebesgut: 1 zu-

sammen gelegt Besteck mit Silber beschla-gen von Helffenbein . Weber hatte dasrestliche Gestohlene längst versetzt unddie weitere Befragung zeigte: Peter Weberwar definitiv kein Gelegenheitsdieb! Bises ihn nach Hohenlohe verschlug, war erals Musketier und Schreinergeselle schonweit in anderen Herrschaftsgebieten her-umgekommen. Und hier und da hatte er plötzlich ein paar Gulden mehr in derTasche gehabt, während andere sieschmerzlich vermissten.Die kleine Klappgabel wurde demmehrfach gesuchten Dieb zum Verhäng-nis. Peter Weber wurde am 14. Dezember1725 mit dem Schwert zum Tode gerich-tet. Das zweizinkige Corpus Delicti ausder Nachtischstube in Schloss Weikers-heim hat es zusammen mit der Fallaktebis ins Hohenlohe-Zentralarchiv nachNeuenstein geschafft.

Dinah Rottschäfer

Greifbar – Materialität von Archivgut

Die Klappgabel brachte Schreiner Peter Weber keinGlück und ist doch heute ein besonderer Glücksfall:In Weikersheim selbst haben sich nur prachtvollePrunkbestecke des Grafen erhalten.Vorlage: LABW, HZAN We 41 Schubl. 61 Fasz. 61.

Verhängnisvolle Gabel

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Archivnachrichten 59 / 201922 Greifbar – Materialität von Archivgut

Fragt uns ab – digitale Quellen zur Zeitgeschichte

Seit etwa zehn Jahren gehört im Landes-archiv das Aufnehmen und Bewahrengenuin digitaler Objekte zum alltägli-chen Handwerk. Inzwischen hat sicheine ganze Reihe faszinierender Quellenangesammelt, eine Fundgrube künftigerForschergenerationen. Zur Wahrung desDatenschutzes sind fast alle diese Be-stände noch für den Lesesaal tabu, eswerden aber bereits angemessene Nut-zungsumgebungen entwickelt. Die Nut-zung erfolgt unter den gleichen rechtli-chen Voraussetzungen wie für physischesArchivgut. Es wird eine spannende Auf-gabe sein, die vielfältigen Nutzungsmög-lichkeiten, die die Abgeber seinerzeit hat-ten, im Lesesaal in vergleichbarer Weisezu schaffen. Dies gilt besonders für Da-tenbanken und Geoinformationen. Inden nächsten zehn Jahren wird die Ein-führung der E-Akte in Behörden undGerichten des Landes die Menge der ge-nuin digitalen Archivalien weiter starkvermehren.

Kai Naumann

1 | Koordinaten einer landesweiten Luftbildserie von1968 werden hier mit modernen Geobasisdatenkombiniert. So lassen sich Orte mühelos dem pas-senden Bildausschnitt zuordnen. Hier ein Aus-schnitt am östlichen Hochrhein. Eine lückenloseLuftbildansicht von Baden-Württemberg im Jahr1968 soll 2020 für die Nutzung bereitstehen.Vorlage: LABW, HStAS J 310.

2 | Ein Handyvideo aus dem Beweismaterial für diejuristische Aufarbeitung des „Schwarzen Donners-tags“ (30. September 2010) aus YouTube. Die Lan-despolizei hat 2010/11 sowohl Aufnahmen der Poli-zeieinheiten als auch hunderte von Videos aus densozialen Netzwerken ausgewertet.Vorlage: LABW, StAL EL 51/7.

3 | Womit hatte die Polizei in Künzelsau im Jahr1985 zu tun? Die polizeiliche Kriminalstatistik hältAntworten für alle Polizeidienststellen bereit. Diewissenschaftliche Nutzung von archivierten statisti-schen Daten ist inzwischen auf Antrag und mit be-stimmten Auflagen möglich, sofern diese älter als 30Jahre sind.Vorlage: LABW, StAL EL 48/8 DO 37.

4 | Ein digitaler Pressespiegel von 2008 aus dem Int-ranet der PH Weingarten.Vorlage: LABW, StAS Wü 101 T 5 Nr. 13.

5 | Ab Dezember 2019 werden im Staatsarchiv Lud-wigsburg die ersten Dokumente aus den 2014 einge-führten digitalen Personalakten der Landesbedien-steten übernommen. Nicht jede Personalakte ist ar-chivwürdig, aber es gibt Kriterien zur Auswahl be-sonderer und alltäglicher Personen im Landesdienst.Hier ein Ausschnitt aus den XML-Metadaten derTeststellung.Vorlage: LABW, StAL.

6 | Welche Konzentration hat welcher Stoff imGrundwasser? Dieser Ausschnitt stammt aus derMesswertdatenbank der Landesanstalt für UmweltBaden-Württemberg, deren Aufgabe es ist, Basisda-ten über den Zustand des Landes für Forschungsowie Bürgerinnen und Bürger vorzuhalten.Vorlage: LABW, GLAK 518-1 Nr. 19.

7 | E-Mailpostfach eines baden-württembergischenPolitikers.Vorlage: LABW, HStAS.

8 | Website der Imagekampagne „Wir können alles –außer Hochdeutsch“, Snapshot vom 29. August2006. Das Landesarchiv archiviert seit 2006 auchWebseiten von Landesstellen. Die Infrastruktur wirdderzeit auf die neue Plattform DIWI umgestellt.Vorlage: LABW, HStAS EA 1/190 DO 84.

9 | Snapshot aus einem Video des Staatsministeri-ums anlässlich des Staatsbesuchs des niederländi-schen Königspaars in Stuttgart am 4. Juni 2013. Indem Bestand, der noch in Bearbeitung ist, findensich auch die wichtigsten Videobotschaften des Mi-nisterpräsidenten Kretschmann.Vorlage: LABW, HStAS EA 1/118.

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Was im Einzelnen an genuin digitalenQuellen im Landesarchiv vorliegt, könnenSie hier verfolgen:https://www2.landesarchiv- bw.de/ofs21/suche/findbuecher_dimag.php

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Bei Führungen sind sie stets ein High-light – nicht nur bei Schulklassen. Unddie Frage Was ist das? lockt selbst denletzten unmotivierten Jugendlichen ausder Reserve. Die Phantasie sprudelt: Wä-schezwicker und Zeitungsklemme sinddabei die gängigsten Antworten. Die Lö-sung bringt meist erst der Hinweis aufdie Materialität mit dem Tipp Beschrei-ben Sie doch einmal genau, was Sie dasehen!. Kerben in einem Holz. – Ah! Kerb-holz!. Und diesen Begriff und das Sprich-wort etwas auf dem Kerbholz haben hateigentlich jede und jeder schon einmalgehört, auch die Jüngeren.Aber erneut: Was ist das? Die Antwor-ten darauf sind nicht minder phantasie-reich. Einig ist sich die Gruppe oft nichteinmal, ob es positiv oder negativ wäre,etwas auf dem Kerbholz zu haben.

deutung und Verwendung einzelnerKerbhölzer deutlich werden. So ist derAkte zur Güterpfändung des entwiche-nen, der Einbringung schlechter Münzenbeschuldigten Juden Mosche Rosskampein Kerbholz beigefügt, das hebräischeSchriftzeichen trägt (Abb. 3). Und denVerfahrensakten im Streit 1609 zwischenden Vormündern von Adam BechtoldsKindern aus Ebenheid und ThomasGrein aus Wertheim, der bei BechtoldSchulden hatte, ist als Beweisstück einKerbholz mit der Einritzung XII bei-gelegt: und uber die 12 fl. zins eine kerbenmiteinander uffgericht, so hiebevor ein-kommen (Abb. 4).Gelegentlich berichten ältere Teilneh-mer bei Führungen, das Prinzip Kerb-holz beim Gasthausbesuch ihres Vatersnoch real erlebt zu haben. Doch in der

Für den Fall wenn jemand gibt und einanderer empfängt (Panaitescu) sindKerbhölzer variantenreiche und sinnfle-xible, dabei leicht verfügbare und mühe-los bedienbare sowie auf Ausgleich aus-gerichtete Beweismittel. Erste Belegeeiner derartigen Buchführung gibt es be-reits aus dem Hochmittelalter. Der Clou:Man nehme das nächstbeste Stück Holzund spalte es in zwei Teile, den einen erhält der Gläubiger bzw. Arbeitgeber(Abb. 1), den anderen der Schuldner bzw.Arbeitnehmer; bei jeder Einzelleistungwerden beide Teile aneinandergelegt unddie Kerbe (Quittung) über beide Teilegeführt – Schummeln ausgeschlossen.Nur selten sind beide Gegenstücke ge-meinsam überliefert (Abb. 2). Und einbesonderer Glücksfall ist es, wenn an-hand begleitender Materialien die Be-

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Im Wandel der Zeiten auch ’mal auf demHolzwegVom Kerbholz zum Papier

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Archivnachrichten 59 / 2019 25Greifbar – Materialität von Archivgut

Verwaltung der Grafschaft Wertheimsetzte das Ende der Abrechnung mitKerbhölzern Anfang des 17. Jahrhun-derts ein: Auf der knappen, summari-schen Bürgermeisterrechnung der Ge-meinde Sachsenhausen von 1610 wirdausdrücklich vermerkt, dass die Rech-nung alttem brauch nach biß hero mit ker-ben gehaltten, aber furhin [...] auffs babiergebracht und schrifftlich gehaltten werdensoll (Abb. 5). Die Gründe für den Mate-rialwechsel werden hier leider nicht genannt, denn noch im Code Napoléonwerden derlei Holzurkunden den schrift-lichen als gerichtliches Beweismittelgleichgestellt.

Das Staatsarchiv Wertheim bewahrt inder Goldgrube des GemeinschaftlichenArchivs der Grafen und Fürsten von Lö-wenstein-Wertheim, dem BestandLABW, StAWt-G Rep. 102 Akten, Nach-träge (http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=7-226721&a=fb), sowie im Be-stand LABW, StAWt-A 91 Kerbhölzer einegroße Vielzahl von Kerbhölzern. Syste-matisch erforscht wurden diese bishernoch nicht. Wer sich daran wagen will,wird gerne von den Mitarbeiterinnen desArchivverbunds Main-Tauber unter-stützt.

Monika Schaupp

1 | Die Abrechnung von Dresch-Arbeiten wurde mitdiesen Kerbhölzern dokumentiert. Das oberste gibtan: „Dinckel kerben uff Vockenrodt, mit den Tre-schern malter weiß angeschnitten Anno 1605.“Vorlage: LABW, StAWt-A 91.

2 | An diesem Beispiel ist das Prinzip der Kerbhölzerbesonders gut zu erkennen, beschriftet sind die bei-den Teile mit „Saltzkerb der schäfferey Habitzheym,angefangen Michaelis [29.9.] 1612“ sowie „Saltz-kerb angefangen Michaelis 1612.“Vorlage: LABW, StAWt-G Rep. 102 Nr. 6866.

3 | Bei den Unterlagen zu strittigen Schuldsachendes Juden Mosche Rosskamp liegt auch dieses Kerb-holz mit hebräischen Schriftzeichen.Vorlage: LABW, StAWt-G Rep. 102 Nr. 282.

4 | Verfahrensakten im Streit zwischen den Vormün-dern von Adam Bechtolds Kindern aus Ebenheidund Thomas Grein aus Wertheim.Vorlage: LABW, StAWt-G Rep. 102, Nr. 1657.

5 | Ein ähnliches Prinzip wird bei den sogenanntenKerbbriefen angewandt. Bei dieser besonderen Ur-kundenform wurde der Vertragstext zweimal aufge-schrieben, danach das Papier oder Pergament zer-schnitten und jedem der Vertragspartner ein Teilübergeben. Zum Beweis der Echtheit müssen beideStücke zusammenpassen. In diesem Beispiel überden Verkauf der Badstube in der Eichelgasse vom22. Januar 1604 sind sogar drei Kerbbriefe angefer-tigt worden, für den Käufer, den Verkäufer und dieStadt Wertheim. Dass hier zwei Teile erhalten ge-blieben und im Archiv überliefert sind, gehört zuden Ausnahmen.Vorlage: LABW, StAWt-S I Nr. 3051.

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Archivnachrichten 59 / 201926

Das heute mit dem Handy einfach undschnell erzeugte digitale Foto macht esmöglich, überall und jederzeit Fotos vonMenschen oder Gebäuden zu erstellenund diese in die ganze Welt zu verschi-cken. In ihren Anfängen nur von weni-gen Personen als wandernde Fotografenoder in Ateliers professionell ausgeübt,wurde die Fotografie im Laufe ihrer 180-jährigen Geschichte mehr und mehrzum Bestandteil des Alltags der Men-schen. Bis heute haben sich die Fotogra-fie und ihre Technik stetig verändert undweiterentwickelt. Die ersten Fotos warennoch Unikate, die es nur in schwarz-weißgab. Auch verschiedene Trägermateria-lien kamen im Laufe der Zeit zum Ein-satz: Rollfilm, Papier, Kupfer-, Eisen-und Glasplatten etc.Eines der ersten Fotografie-Verfahrenstellt, benannt nach ihrem ErfinderLouis Jacques Mandé Daguerre (1787–1851) aus Paris, die Daguerreotypie von1839 dar. Das Foto entsteht dabei in derKamera auf einer versilberten Kupfer-platte, auf der sich eine dünne, lichtemp-findliche Silberjodidschicht befindet.Das Verfahren fand auch schnell Verbrei-tung im Großherzogtum Baden. Tech-nisch war es jedoch noch recht aufwen-dig und teuer. Vor allem Adlige, wieGroßherzog Ludwig II. von Baden um1856, und Angehörige des höheren Bür-gertums ließen sich fotografieren.Der Vorgang des Fotografierens erfor-derte von den Personen außerdem länge-res, anfangs sogar minutenlanges Still-halten, sonst wurde das Bild unscharf;ein Problem, das bei unbeweglichen Mo-tiven nicht bestand. Der MannheimerFotograf Jakob August Lorent (1813–1864) fertigte im Jahr 1857 Fotos von derStadt Venedig auf Albuminpapier an, dieaufgrund ihres großen Formats als eineBesonderheit unter den frühen Fotos imGenerallandesarchiv Karlsruhe geltenkönnen. Von Vorteil bei dem von Lorentgenutzten Verfahren war es, dass voneinem ersten Negativ-Bild beliebig viele

positive Abzüge erstellt werden konnten.Für die großformatigen Fotos mussteaber auch die Kamera entsprechend großsein.Als weiteres besonderes Trägermaterialunter den frühen Fotos der 1850er Jahrefand bei der Ferrotypie eine dunkel lackierteEisenplatte Verwendung. Wanderfoto-grafen setzten sie gerne auf Jahrmärktenein. Allerdings lieferte sie ein etwasdunkles und spiegelverkehrtes Bild undwar stets ein Unikat. Die Ferrotypiestellte eine Variante des Fotografie-Ver-fahrens mit Kollodium dar, das auchbeim von Frederick Scott Archer 1851eingeführten nassen Kollodiumverfahrenverwendet wurde, mit dem die lichtemp-findlichen Silbersalze auf Glasplattenübertragen werden konnten. Die Glas-platten lösten die Daguerreotypie ab underzeugten ein schärferes Bild als gängigeFotopapiere (Kalotypien von Talbot), je-doch war das Fotografieren nur möglich,solange die Beschichtung feucht war. Ab-hilfe schaffte 1878 das Gelatine-Trocken-platten-Verfahren, das für Fotos aufGlasplatten bis ins 20. Jahrhundert hin-ein verwendet wurde, welche in denSammlungen des GenerallandesarchivsKarlsruhe zahlreich vorhanden sind.Aufgrund der verschiedenen Eigen-schaften der Trägermaterialen und che-mischen Beschichtungen handelt es sichbei Fotos um empfindliche Archivalien,die spezifische Verpackungen und Lage-rungsbedingungen erfordern, um sie auflange Zeit zu erhalten. Das Generallan-desarchiv Karlsruhe verfügt über ein ei-genes Fotomagazin, worin die Tempera-tur auf 13°C gekühlt wird (kälter als beiStandardarchivgut) und die Fotos vorLicht geschützt sind. Außerdem bestehtgerade bei Fotos auf Kupfer-, Eisen- undGlasplatten die Gefahr, dass sie zerbre-chen oder die Bildoberflächen zerkrat-zen. Zum Schutz vor Beschädigungenwerden sie auch digitalisiert und im In-ternetangebot des Landesarchivs zugäng-lich gemacht.

Sara Diedrich

Greifbar – Materialität von Archivgut

Ferrotypien und andere Frühformen der Fotografie im Generallandesarchiv Karlsruhe

Literaturhinweis: Gut Licht. Fotografie in Baden 1840–1930.Ausstellung des Badischen Landesmuse-ums Karlsruhe und des Generallandesar-chivs Karlsruhe im Karlsruher Schloss. Hg.von Harald Siebenmorgen (Veröffentli-chungen des Badischen LandesmuseumsKarlsruhe 6). 2003.

1 | Gruppenfoto von drei Herren und zwei Damenin lustigen Posen. Ferrotypie, 6 x 9 cm.Vorlage: LABW, GLAK F 1 Nr. 417.

2 | Großherzog Ludwig II. von Baden. Daguerreo-typie, 10 x 7,5 cm, Aufnahme um 1856.Vorlage: LABW, GLAK 69 Baden, Sammlung 1995F I Nr. 606.

3 | Porträt eines Mannes mit einem jungen Mäd-chen. Ferrotypie aus dem Photographie-AutomatBosco von Conrad Bernitt, 8,5 x 6 cm, Aufnahmenach 1890.Vorlage: LABW, GLAK S Thomas Kellner 5,1.

4 | „Palazzo Ca d'Oro“ in Venedig. Foto von JakobAugust Lorent, Albuminpapier, 58 x 77 cm, Auf-nahme von 1857.Vorlage: LABW, GLAK 69 Baden, Sammlung 1995F I Nr. 2073.

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Archivnachrichten 59 / 2019 27Greifbar – Materialität von Archivgut

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Im Jahr 1949 lieferte die Firma ArminWinterhalder, Bindfaden-Großhandlungin Freiburg im Breisgau, 3.000 dünneSchnüre von 55 cm Länge nach Bonn,insgesamt etwa 2 kg zum Preis von 25,78DM. Die meisten Empfänger in Bonnhätten mit dieser Lieferung wohl nichtviel anzufangen gewusst. Auftraggeberinin diesem Fall war jedoch eine badischeBehörde, nämlich die Vertretung desLandes Baden bei der BundesrepublikDeutschland, die auch außerhalb Badensnicht auf die gewohnte Art der Aktenhef-tung verzichtete.Statt Stehordnern, Schnellheftern oderHängeregistraturen verwendete mandort die Badische Oberrandheftung, beider die Blätter einer Akte am oberen lin-ken Rand mit zwei kleinen Löchern ver-sehen werden, durch die dann einedünne Schnur gezogen wird (eben dienach Bonn bestellten Aktenschnüre oderAktennestel). Diese Schnur wird auf derRückseite der Akte mit einem speziellenAktenknoten zusammengebunden, deralle Blätter fest zusammenhält.Wann genau diese besondere Art derAktenheftung entstanden ist, lässt sichnicht mehr genau nachvollziehen, jedochist bereits in der badischen Archivord-nung von 1801 vom Stechen und Schnü-ren der Akten die Rede. In einer badi-schen Gemeinderegistraturordnung ausdem Jahr 1843 lautet die Anweisung zumBinden der Akten: Alle Actenstücke […]sind […] zu heften, d. h. an der linkenEcke oben doppelt zu durchstechen, mit-

telst eines mit einem Stückchen Karten-blatt beschützten Bindfadens zusammenzu binden. Eine spätere Gemeinderegi-straturordnung von 1905 nennt auch diegenauen Maße dieser Lochung: DieDurchlochung soll 43 mm Spannweitehaben, die Entfernung des oberen Lochesvom Aktenrande 21 mm und vom linkssei-tigen Rande 14 mm betragen. Ob es auchfür die Art der Schnüre genaue Vor-schriften gab, ist nicht bekannt, die Ver-tretung des Landes Baden bei der Bun-desrepublik Deutschland bestand beiihrer Bestellung 1949 aber ausdrücklichauf geleimten Schnurenden.In einigen Verwaltungszweigen Badens,insbesondere in der Justiz, hat sich dieseArt der Aktenbindung bis heute gehal-ten. In außerbadischen Gebieten sorgtdiese Besonderheit eher für Belustigung.Wenn badische Gerichte und Staatsan-waltschaften aber darauf bestehen, aus-geliehene Unterlagen wieder korrekt ge-bunden zurück zu erhalten und niemandaußerhalb Badens weiß, wie man einedünne Schnur durch viele kleine Löcherfädeln soll, ist auch der Ärger groß. Viel-leicht wäre er etwas geringer, wennNicht-Badenern die Vorteile der Ober-randheftung bewusst wären: Sie ist si-cher, einfach und sparsam. Eine so ge-bundene Akte kann kaum in Unordnunggebracht werden, mithilfe eines Lesekno-tens – ein lockerer Knoten mit etwas Ab-stand zum hinteren Aktendeckel – istaber auch das Lesen und Blättern darinbequem möglich. Einmal gelernt ist die

Anwendung, also das Auffädeln mithilfeeines Aktenstechers und das Anbringendes Knotens, sehr einfach. Der Material-verbrauch ist gering und die so gebunde-nen Akten können platzsparend aufbe-wahrt werden.Die Firma Armin Winterhalder handeltinzwischen nicht mehr mit Schnur undBindfaden. Badische Archive und Justiz-behörden müssen ihre Aktenschnüre vonanderen Anbietern beziehen, heutzutageinsbesondere aus den Justizvollzugsan-stalten. Und wenn in naher Zukunft flä-chendeckend die elektronische Akte ein-geführt wird, müssen sich auch die letz-ten Behörden von der Badischen Ober-randheftung verabschieden.

Annette Riek

Greifbar – Materialität von Archivgut

„…dass Sie in der Lage sind, Aktenschnüremit geleimten Enden zu liefern.“Der spezielle Materialbedarf badischer Behörden

1 | Auszug aus einer Gemeinderegistraturordnungvon 1905, hier der Paragraph betreffend das Durch-lochen und Binden der Akten mit der Angabe dergenauen Maße für die Anbringung der Löcher.Vorlage: LABW, StAF B 733/1 Nr. 3780.

2 | Angebot der Firma Armin Winterhalder über3.000 Aktennestel samt mitgeliefertem Muster, ent-halten in einer Akte betreffend die Beschaffung vonBüromaterial für die Vertretung des Landes Badenbei der Bundesrepublik Deutschland. Natürlich istauch diese Akte vorschriftsmäßig badisch geheftet.Vorlage: LABW, StAF C 7/1 Nr. 120.

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Archivnachrichten 59 / 2019 29Greifbar – Materialität von Archivgut

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Sie gehören zu den gewaltigsten Natur-katastrophen, die den Menschen treffenkönnen. Erdbeben kommen wie aus hei-terem Himmel, völlig überraschend undmit einer ungeheuren Zerstörungskraft.Wie sie entstehen, lag lange Zeit im Dun-keln, erst im späten 19. und frühen20. Jahrhundert setzte sich in der Wis-senschaft die Erkenntnis durch, dass dieeinzelnen Kontinente nicht fest auf derErdkruste verankert sind, sondern sichbewegen; die Theorie der Plattentektonikwar geschaffen.Erdbeben aus großer Entfernung zu

orten, gelang der Menschheit jedochschon wesentlich früher, nämlich imChina des 12. Jahrhunderts. Doch erstganz am Ende des 19. Jahrhunderts kamder erste einsatztaugliche Seismograf aufden Markt. Innerhalb weniger Jahr-zehnte entstanden nun weltweit Erdbe-benmessstationen, so auch im König-reich Württemberg, wo im Jahr 1905 inHohenheim – mit einer Nebenstation inBiberach an der Riß – durch Karl Mack,Professor für Physik an der dortigenLandwirtschaftlichen Hochschule, eineErdbebenwarte eingerichtet wurde.

Anfang 1923 stieß Wilhelm Hiller, derspäter zum führenden ErdbebenforscherDeutschlands werden sollte, zur Erdbe-benwarte nach Stuttgart. Unter seinerLeitung wurde diese im Jahr 1929 in dieUntergeschossräume des württembergi-schen Staatsministeriums, der Villa Reit-zenstein, verlegt. Mitten im Bomben-krieg vollzog sich dort eine zutiefstmenschliche Geschichte: Der Verant-wortliche für die Geräte der Erdbeben-warte in der Villa Reitzenstein war näm-lich ein Franzose und Kriegsgefangener,Elie Peterschmitt. Er hatte in Straßburg

Archivnachrichten 59 / 201930 Greifbar – Materialität von Archivgut

Die Seismogramme der württembergischenErdbebenwarte

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als Forscher gearbeitet und war schonlänger mit seinem Stuttgarter KollegenWilhelm Hiller bekannt gewesen. Diesersetzte sich, als Peterschmitt als Kriegsge-fangener nach Stuttgart kam, für denKollegen ein. So durfte Peterschmittnicht nur in der Villa Reitzenstein arbei-ten, in den Räumlichkeiten unter dennationalsozialistischen Machthabern,sondern er durfte auch aus dem LagerGaisburg ausziehen und privat dortwohnen. Dies rettete ihm vermutlich dasLeben, denn im April 1943 fielen Bom-ben auf das Gaisburger Lager und töte-ten über 300 Menschen.Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieErdbebenwarte schließlich in den vonReichsstatthalter Wilhelm Murr erbautenLuftschutzbunker unter der Villa Reit-zenstein verlegt, wo sie sich heute nochbefindet. Organisatorisch verblieb sie bisin die 1970er Jahre beim StatistischenLandesamt, ehe sie nach kurzer Zugehö-rigkeit zum Geologischen Landesamtheute zur Abteilung 9 des Regierungs-

präsidiums Freiburg gehört.Im Sommer 2016 konnte das Staatsarchiv Ludwigsburg im Rahmen einerAktenaussonderung das ebenfalls in denTiefen des ehemaligen Luftschutzbun-kers gelagerte Seismogrammarchiv über-nehmen. Die ab dem Jahr 1906 bis 1993(in diesem Jahr Umstellung auf EDV)komplett erhaltenen Seismogramme –bis in die 1930er Jahre auf Rußpapier ge-fertigt – der (baden)-württembergischenErdbebenwarten Stuttgart, Hohenheim,Meßstetten, Ravensburg sowie Schwarz-wald im Umfang von rund 350 lfd. Me-tern bilden sowohl hinsichtlich ihrerKontinuität, als auch der Qualität ihrerAufzeichnungen eine der weltweit ambesten erhaltenen Überlieferungen indiesem Bereich, ein Archiv der Kulturge-schichte, das nicht nur die Erdbewegun-gen dokumentiert.Selbst die Erdbebenforscher habenjahrzehntelang überhaupt nicht darangedacht: Aber ihre Seismografen, dierund um die Uhr die kleinsten Erschüt-

terungen aufzeichnen, registrieren natür-lich nicht nur Erdbeben, sondern auchauf Baustellen, Autoverkehr – und selbstFußballtore – eben alles, was den Bodenzum Beben bringt. So lassen sich traurigeEreignisse wie etwa die Luftangriffe aufStuttgart, Heilbronn, Karlsruhe undPforzheim während des Zweiten Welt-krieges ebenso ablesen wie freudige – wiezum Beispiel die Fußball Weltmeister-schaft 1974 im damaligen StuttgarterNeckarstadion.

Martin Häußermann

Archivnachrichten 59 / 2019 31Greifbar – Materialität von Archivgut

Das Seismogrammarchiv im Luftschutzbunkerunter Villa Reitzenstein vor der Übernahme durchdas Staatsarchiv Ludwigsburg.Aufnahmen: LABW, StAL.

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Unter den Urkunden und Akten aus demKloster Söflingen, die im StaatsarchivLudwigsburg aufbewahrt werden, befin-den sich auch fünf Pergamentrotuli(LABW, StAL B 509 U 154, U 155, U 163,U 175 und U 214). Sie sind zwischen1302 und 1321 im Kontext von Prozes-sen entstanden, in denen die Klarissenihren Besitz gegen weltliche Große oderandere geistliche Institutionen vor Ge-richt verteidigten. Die zwischen 30 und430 cm langen Schriftrollen aus Söflin-gen stammen aus einer Zeit, die alsHochphase dieser speziellen, aus der An-tike überkommenen Überlieferungsformim Mittelalter gilt. Vom 12. bis 14. Jahr-hundert treten Rotuli oder Rodel/Rödelneben anderen Formen pragmatischerSchriftlichkeit vor allem als Informati-onsträger im administrativen und wirt-schaftlichen Bereich auf, finden aberauch immer wieder bei Gerichtsverfah-ren Anwendung. Die Söflinger Rotulilegen Zeugnis vom Verlauf der geführtenProzesse und von den Dokumenten ab,die bei Gericht vorgelegt wurden, um dieRechte der Klosterfrauen einzuklagen.Die Entstehung eines Rotulus als be-sonderer Form eines Textträgers lässtsich am Beispiel des Konfliktes von Söf-lingen mit der Abtei Reichenau umZehnten in Söflingen, Butzental undHarthausen nachvollziehen, der von Ok-tober 1310 bis März 1312 vor päpstlichbestellten Richtern in Zürich ausgetra-gen wurde. Der Rotulus (LABW, StAL B509 U 175) ist 406 cm lang und 23 cmbreit, sein Schriftspiegel beträgt 19,5 cm.Er ist von einer Hand geschrieben undbesteht aus sieben Pergamentblättern,die jeweils mit dünnen Pergamentstrei-fen zusammengeheftet sind. An deren

Enden hängt zur Beglaubigung jeweilslinks das Siegel des Kantors der ZüricherKathedrale, rechts das Siegel des dortigenThesaurars als päpstlich bestellten Rich-tern. Diese hatten am 18. März 1312 denZüricher Kanoniker Jakob Ruf mit derAbschrift der für den Prozess relevantenDokumente beauftragt. Von den insge-samt 31 Stücken sind acht auch noch alsOriginale im Söflinger Bestand erhalten.Handelt es sich hier um einen nachträg-lich gefertigten Sekundärrotulus (MarkMersiowski), so liegen in anderen FällenZusammenstellungen von Abschriften,Zeugenaussagen mit Originalen in Formvon Rotuli vor. Man wollte die Doku-mente nicht nur gemeinsam aufbewah-ren, sondern im Bedarfsfalle wiederschnell zur Hand haben. Dies ist etwa beiden Rotuli LABW, StAL B 509 U 154 undU 214 zu beobachten, die einen Konfliktmit den Grafen von Helfenstein betref-fen, der 1302 vor dem Bischof von Kon-stanz beigelegt werden konnte. Da er1319 wieder aufflammte, wurden die bei-den Rodel zeitweilig in Form einesTransfixes aneinandergeheftet. Hier zei-gen sich die Vorzüge dieser Form derSchriftlichkeit gegenüber Codices. Rotuliwaren nicht nur einfacher zu transpor-tieren, sondern sie waren auch flexiblerund funktionaler, indem man sie pro-blemlos erweitern oder bei Bedarf durchEntnahme von Dokumenten verändern,also dem jeweiligen Kontext entspre-chend einsetzen konnte. Dies war offen-bar noch nach der Reform in Söflingen1484 der Fall, als die Nonnen auf einemangehefteten Zettel darum baten, zweiRodel (LABW, StAL B 509 U 154 und U155) ins Deutsche zu übersetzen.

Maria Magdalena Rückert

„Gerollte Schrift“ im Kloster Söflingen

Verhör der Söflinger Zeugen im Prozess zwischenKloster Söflingen und Graf Eberhard von Württem-berg um die Kaplanei Ehrenstein. Pergament-Rotulus, um 1302.Vorlage: LABW, StAL B 509 U 155.

Archivnachrichten 59 / 201932 Greifbar – Materialität von Archivgut

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Archivnachrichten 59 / 2019 33Greifbar – Materialität von Archivgut

Rechtssache des Luprand von Halle als Kläger gegenGraf Johannes von Helfenstein wegen rechtswidrigerEntziehung der Einkünfte aus dem Hof Hofstett vordem bischöflichen Gericht zu Konstanz. Pergament-Rotulus, zwischen 1319 und 1321.Vorlage: LABW, StAL B 509 U 214.

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Hase und Igel von Peter Ensikat, 1997.Vorlage: LABW, PL 424 IV Bü 154.

Archivnachrichten 59 / 201934 Greifbar – Materialität von Archivgut

Audiovisuelle Überlieferung der Württem-bergischen Landesbühne in Esslingen

Die Übernahme von Ton- und Videoauf-nahmen von Theateraufführungen ge-hört zu den großen Herausforderungenin Archiven. So stehen nicht nur urhe-berrechtliche Fragen Abgaben an die Ar-chive oftmals im Wege, auch der großeUmfang der Aufnahmen und die Massean unterschiedlichen Formaten derFilm- und Tonträger müssen bei derÜbernahme bewältigt werden. Besonderserfreulich ist es deshalb, dass vor kurzemein großer Bestand an Ton- und Video-aufnahmen der WürttembergischenLandesbühne Esslingen an das Staatsar-chiv Ludwigsburg abgegeben wurde. DieAufnahmen ermöglichen es Archivnut-zern, Theaterinszenierungen nachzu-empfinden und im Nachhinein mitzuer-leben. Die Überlieferung der Württem-bergischen Landesbühne in Esslingen istfür die Dokumentation des kulturellenLebens der Region von großer Bedeu-tung und aus archivischer Sicht auch einschönes Beispiel für eine Ergänzung dertraditionellen Überlieferung um audio-visuelle Medien.Die Landesbühne feiert in diesem Jahrihr 100-jähriges Jubiläum und gewährtdadurch Einblicke in das württembergi-sche Theaterleben des 20. Jahrhunderts:Gegründet 1919 als Schwäbische Theater-bühne und 1921 umbenannt in Würt-tembergische Volksbühne hatte sie ihrenfesten Sitz in Esslingen, fungierte aberauch als Wanderbühne und bespielte ei-nige Orte der Region. Auch wenn sie

zweimal kurzzeitig geschlossen wurde,gelang ihr sowohl 1933 die Neugrün-dung als auch 1945 die Wiedereröff-nung.Seit den 1970er Jahren unterhält sie alseines der ersten deutschen Theater eineeigene Sparte für das Kinder- und Ju-gendtheater. Das abwechslungsreicheProgramm setzt sich aus Spieloper, Ope-rette und Schauspiel zusammen. Gespieltwurden und werden u. a. Klassiker vonMolière, Shakespeare, Schiller undBrecht, aber auch Stücke mit starkem re-gionalem Bezug wie Schweig, Bub! (‘sKonfirmandefescht) von Fitzgerald Kuszoder Der Mond braust durch das Neckar-tal von Theodor Haering, sowie Stückeaus dem Kindertheater wie Der kleinePrinz oder Hase und Igel.Die Bestände umfassen sowohl Schrift-gut zur frühen Zeit, zur Neugründungder Landesbühne ab 1933 bis zum Jahre1960, als auch zum Spielbetrieb von1960 bis zum Anfang der 2000er Jahre.Im Wesentlichen handelt es sich dabeium Akten, Plakate und Programme, aberauch Rollfilme, die im Zuge der Siche-rungsverfilmung gefertigt wurden.Hinzu kommen etwa 240 Mitschnitteaus Hörfunk- und TV-Aufzeichnungenvon Theateraufführungen, Generalpro-ben oder Theaterberichterstattungen derLandesbühne ab den 1960er bis ebenfallsin die 2000er Jahre. Trägermaterial sindhierbei VHS-Kassetten. Darunter befin-den sich Aufnahmen von der deutschen

Theater-Erstaufführung Spielwiese, zweiim Quadrat oder Aufführungen vonKlassikern wie Was ihr wollt oder DieWahlverwandtschaften sowie Berichter-stattungen und Aufnahmen von Probenim Südwest3-Fernsehen über beispiels-weise Lea von Alfred Dulk.Diese Ton- und Filmdokumente, die alswichtige Medien für Bildung, Informati-onsweitergabe oder Unterhaltung im20. Jahrhundert an Bedeutung gewonnenhaben und das traditionelle papierneSchriftgut gut ergänzen können, ver-wahrt das Landesarchiv in einem eigensdafür eingerichteten Archiv, dem AV-Ar-chiv des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart.Auch wenn heute die Trägermateria-lien, wie hier die VHS-Kassetten, allmäh-lich an Bedeutung verlieren, da sie meistnur eine kurze Lebensdauer aufweisen,soll der Inhalt der AV-Medien dauerhaftgesichert werden. Deswegen treffen Ar-chive heute vermehrt die Entscheidung,AV-Medien umzukopieren oder zu digi-talisieren. Die dabei erzeugten Audio-oder Videodateien können dann ineinem digitalen Magazin abgespeichertwerden. So können die Aufführungender Württembergischen Landesbühneauf Dauer, unabhängig vom Trägermate-rial, authentisch erhalten und von Inter-essierten weiterhin und zukünftig nach-empfunden werden.

Sandra RosenbruchSimone Ruffer

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Archivnachrichten 59 / 2019 35Greifbar – Materialität von Archivgut

Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller,1983/84.Vorlage: LABW, PL 424 IV Bü 68.

Ein Weihnachtslied oder Der Geizhals und die Gespenster von Charles Dickens, 1989/90.Vorlage: LABW, PL 424 IV Bü 501.

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Der erste Band des Gült- und Zinslagerbuchs derGemeinde Werbach aus den Jahren 1746–1756 ent-hält auf 2.365 Seiten ein Verzeichnis der Häuserund Hofreiten, Äcker, Wiesen, Gärten und Wein-berge auf der Ortsgemarkung. Der Einband des 19,5cm dicken Bandes ist verloren.Vorlage: LABW, StAWt-K G 40 B 1.

Archivnachrichten 59 / 201936 Greifbar – Materialität von Archivgut

Schwere Kost – Archivgut als FitnessgerätFaszikel, Büschel, Band – solche Bezeich-nungen für die Formierung von Schrift-stücken finden sich in zahlreichen älte-ren Findbüchern. Was damit nicht zumAusdruck kommt – mit wie viel Quellen-material ein potenzieller Nutzer bei sei-nem Besuch im Lesesaal zu rechnen hat.Wie viele Seiten beschriebenen Papiersenthält z. B. ein Band? Ist es ein Schmal-folio-Band, mit festem Einband verse-hen, doch nur wenige Blätter enthaltend?Oder ein dicker Foliant, mit Abmessun-gen größer als das in den Registraturenhäufig verwendete Folio-Format und ausunzähligen, auf dicke Bünde geheftetenPapierlagen formiert? Solche voluminö-sen und im wahrsten Sinne des Wortesgewichtigen Bände sind Bestandteil vie-ler Archive. Zins-, Gült- und Lagerbü-cher, die oft ganze Gemeindegemarkun-gen abdecken bzw. bei ungeteilten Herr-schaftsrechten alle abgabepflichtigenEinwohner eines Ortes enthalten, sindein typisches Beispiel dafür. Wenn derBuchblock dann auch noch in einen le-derüberzogenen Holzdeckeleinband ein-geheftet und zum Schutz vor Beschädi-gung zusätzlich mit Buchkantenverzie-rungen aus Metall versehen ist, braucht

man als Archivmitarbeiter kein Fitness-studio mehr. Der Umgang mit solchemArchivgut kräftigt die Muskeln automa-tisch. Wiegungen einzelner Objekte imArchivverbund Main-Tauber haben hierGewichte bis zu 12 kg ergeben, die Uni-versitätsbibliothek Würzburg zeigte inihrer Jubiläumsausstellung kürzlicheinen Prachtband mit 25 kg Gewicht. BeiFührungen erregen gerade diese ObjekteInteresse und bringen Besucher nicht zu-letzt wegen der Handwerkskunst derBuchbinder zum Staunen. Einmal einsolches Archivale in Händen halten zudürfen und dessen Gewicht zu schätzen,hinterlässt nicht nur bei Kindern einenbleibenden Eindruck.Besondere Ansprüche stellen solcheBände an eine konservatorisch geeigneteLagerung und Handhabung. Selbst wennBucheinbände noch vorhanden sind unddie Bindung weitgehend intakt ist, kanndas Gewicht eines Buchblocks diesen beistehender Aufbewahrung aus dem Ein-band förmlich herausziehen. Nur mitSchließen zusammengehaltene Einband-deckel wirken dem entgegen. Fehlendiese, kann Planlagerung oder ein eigensan das Buchformat angepasster Schuber

den Druck von der Bindung nehmen. Istder Bucheinband bereits abgegangen, isteine nach dem Objektmaß angefertigteVerpackung optimal. Standardisierte Ar-chivboxen können bei kleineren Forma-ten ebenfalls hilfreich sein.Das Lesen solcher Folianten ist für denNutzer nicht immer einfach – und fürdas Objekt nicht immer ungefährlich.Denn je nach Art der Buchrückengestal-tung und der Verbindung von Buchein-band und Buchblock lässt sich solch eindickes Buch mehr oder weniger gut auf-schlagen. Schaumstoffkeile, die den Ni-veauunterschied beim Aufschlagen derersten oder letzten Papierlagen ausglei-chen, die den Buchrücken abstützenoder ein zu weites Öffnen des Bandesund daraus resultierende Schäden an derBindung verhindern, sind den Nutzernam besten gleich mit an die Hand zugeben. Archivalienschonende Reproduk-tionen aus solchen Bänden werden heutemit Aufsichtkameras gefertigt. ZumGlück vorbei sind Zeiten, als schwer-gewichtige Bände dafür mit dem Gesichtnach unten auf einen Bürokopierer ge-wuchtet wurden.

Claudia Wieland

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Archivnachrichten 59 / 2019 37

das Team einen Meme-Baukasten reali-siert. Ausgewählte Fotos des Bestandeskönnen hier mit verschiedenen Hashtagsund Kurzmeldungen aus Twitter kombi-niert werden. Die so erstellten Memeskönnen heruntergeladen und dann z. B.über die sozialen Medien geteilt werden.Das Projekt lässt sich modular anpassenund ist daher auch über die Europawahlhinaus nutzbar.Auf Grundlage der historischen Fotosder Staatstheater Stuttgart und der zuge-hörigen Erschließungsdaten des Landes-archivs wurde daneben das Projekt Lin-ked Stage Graph umgesetzt. Wir freuenuns sehr, dass dieses Projekt den Preis beiCoding da Vinci Süd in der Kategoriemost useful gewonnen hat!Das Team hat die Bestände der Staats-

theater Stuttgart mit Methoden aus denBereichen Semantic Web und Data Sci-ence aufbereitet. Zum einen steht nuneine Schnittstelle zur Verfügung, die eserlaubt, die Daten maschinenlesbar ab-zurufen. Zum anderen können Interes-sierte die Theateraufnahmen intuitivdurchsuchen und aufgrund der automa-tischen Nachkolorierung mittels künstli-cher Intelligenz erstmals in Farbe erle-ben. Darüber hinaus stehen Links bereit,mit denen man direkt von den Archiva-lien beispielsweise zum Wikipedia-Ein-trag des jeweiligen Theaterstücks oder zuergänzenden Angeboten anderer Kultur-einrichtungen gelangt.

Nils MeyerAndreas Weber

Am 18. Mai 2019 fand in Nürnberg diePreisverleihung zu Coding da Vinci Südstatt. Im Rahmen der Veranstaltungkonnten Interessierte digitalisierte Kul-turgüter und Erschließungsdaten vonverschiedensten Kulturinstitutionen ausBayern und Baden-Württemberg in eige-nen Projekten auf kreative Weise verar-beiten. Das Landesarchiv Baden-Würt-temberg hat zwei Bestände bereitgestellt:die Fotos der Staatstheater Stuttgart(LABW, StAL E 18 III) und die Foto-sammlung Willy Pragher (LABW, StAFW 134). Zwei Teams haben sich gefun-den und mit unseren Materialien eigeneProjektideen umgesetzt.Aus der Fotosammlung Willy Pragherist das Projekt #wiegehtsdireuropa ent-standen. Im Vorfeld der Europawahl hat

Archiv aktuell

1 | Die Teilnehmenden von Coding da Vinci Süd aufder Preisverleihung am 18.05.2019 in Nürnberg.Aufnahme: Diane von Schoen, CC-BY 4.0 Codingda Vinci Süd.

2 | Ausschnitt aus der Startseite der Anwendung#wiegehtsdireuropa.

Projekte mit Beständen des Landesarchivsbei Coding da Vinci Süd

Probieren Sie die Projekte aus unter:http://leo-bw.de/wiegehtsdireuropaund: http://slod.fiz-karlsruhe.de/

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Digitalisiertes Lexikon desHauses Württemberg onlineLEO-BW bietet nicht nur zusätzlicheFunktionen, sondern auch attraktive neueInhalte: So findet sich im Portal nun eineOnline-Version der Publikation „DasHaus Württemberg. Ein biographischesLexikon. Hg. von Sönke Lorenz, DieterMertens und Volker Press. Stuttgart 1997“.Das Nachschlagewerk umfasst 459 biogra-fische Einträge zu Mitgliedern des Hausesvon den Anfängen im 11. Jahrhundert biszur unmittelbaren Gegenwart. Die Umset-zung als digitale Version erfolgte als Ge-meinschaftsprojekt mit der Abteilung Lan-desgeschichte des Historischen Instituts derUniversität Stuttgart und dem Institut fürGeschichtliche Landeskunde und Histori-sche Hilfswissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

Das landeskundliche Informationssy-stem lädt Nutzerinnen und Nutzer seitkurzem dazu ein, LEO-BW zu ihremPortal zu machen. Herzstück der im Pro-jekt Mein LEO-BW entwickelten interak-tiven Funktionen ist dabei die kostenloseApp Landauf, LandApp BW. Direkt vonunterwegs via Smartphone oder vomheimischen PC aus können dort selbst-gemachte Fotos und Beschreibungstextehochgeladen werden.Schon kurz nach Freischaltung derleicht bedienbaren App stößt das Mit-mach-Angebot auf große Resonanz: Weitüber 1.000 Motive mit zum Teil ausführ-lichen Beschreibungen stehen bereits on-line. Besonders erfreulich ist dabei nichtnur die Verteilung der Beiträge über dasganze Bundesland, sondern auch dasbreite Spektrum der Motive. NebenOrtsansichten und historischen Gebäu-den unterschiedlicher Kategorien findensich auch moderne Architektur undDenkmale. Es ist vorgesehen, die Bilder

schon bald in LEO-BW verfügbar zu machen.Jenseits der App bietet LEO-BW nochweitere neue Funktionen: Nach Erstel-lung eines kostenlosen persönlichen Zu-gangs können jetzt individuelle Merkli-sten für recherchierte Informationen an-gelegt und verwaltet werden. Neben derthematischen Gliederung ausgewählterPortalinhalte können die erstellten Listenanschließend auch anderen Nutzerinnenund Nutzern zur Verfügung gestellt wer-den. Der neu eingerichtete Blog infor-miert über Neuigkeiten zum Portal undschlägt eine Brücke zu den Social-Media-Angeboten von LEO-BW. Hinzu kom-men eine Kommentar- und Empfeh-lungsfunktion für alle Portalinhalte. Nut-zerinnen und Nutzer können auf dieseWeise Informationen ergänzen, auf Un-stimmigkeiten hinweisen oder direkt un-tereinander in Kontakt treten.Machen Sie mit, wir freuen uns auf IhreBeiträge!

Daniel FähleAndreas Neuburger

Landeskunde wird interaktiv! „Mein LEO-BW“ ist online

Archivnachrichten 59 / 201938 Archiv aktuell

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Archivnachrichten 59 / 2019 39Archiv aktuell

Links: https://www.leo-bw.de/landauf-landapp(App)https://www.leo-bw.de/web/guest/themen/biographisches-lexikon-des-hauses-wurttemberg (Online-Version des Lexi-kons des Hauses Württemberg)

1 | Mit der „Landauf, LandApp BW“ können alleInteressierten eigene Fotos hochladen.Vorlage: LABW.

2 | Oberfläche der „Landauf, LandApp BW“ miteiner interaktiven Karte.Vorlage: LABW.

3 | Merkliste im landeskundlichen Informationspor-tal LEO-BW.Vorlage: LABW.

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1 | „Dame mit zwei Herren nach dem Diner“von Lovis Corinth. Die Dargestellten sind Dr.Ferdinand Mainzer mit Frau und Schwager.Vorlage: Katalog der Modernen Galerie Hein-rich Thannhauser, München. Hg. von der Gale-rie Thannhauser. München 1916. Tafel 106.https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/thann-hauser1916bd1/0148/image.

2 | Vermögenskontrolle über die Chiron-Werke(Tuttlingen) und die firmeneigene Gemälde-sammlung.Vorlage: LABW, StAS Wü 120 T 3 Nr. 2052.

Archivnachrichten 59 / 201940

sante Auflistung ist einer der größtenFunde des Projekts. Der Gesamtwert be-trug angeblich 162.050 RM, allerdingsvariieren die Angaben. Nach dem Ein-marsch der Franzosen wurden die Ge-mälde unter die Vermögenskontrolle derBesatzungsbehörden gestellt und erstnach Aufhebung dieser Maßnahmen1950 freigegeben.Nach dem Verkauf der Chiron-Werkeklagte Staebler 1951 erfolgreich gegenden Käufer Fritz Kiehn auf Herausgabeder Gemälde. Als Otto Staebler 1955überraschend verstarb, wurde seineSammlung in Stuttgart versteigert. DasGemälde Dame mit zwei Herren nachdem Diner gelangte in bis heute unbe-kannten Privatbesitz. Die SigmaringerQuellen liefern damit neue Hinweise zurSammlung Staebler und Anknüpfungs-punkte für eine zukünftige Restitution.

Marius Golgath

Archiv aktuell

Im Zuge der vom Deutschen ZentrumKulturgutverluste geförderten Sigmarin-ger Provenienzforschung konnten im er-sten Projektjahr Hinweise zu ca. 7.000 inder NS-Zeit widerrechtlich entzogenenKunstobjekten ermittelt werden. DieseDurchsicht der einschlägigen Beständebildete die Grundlage für ein sachthema-tisches Inventar, das die Auffindung vonRaubkunst erleichtern soll. Aufgrund derErmittlung von neuen Quellen zu demTuttlinger Unternehmer Otto Staeblerkonnte die Provenienz seiner Kunst-sammlung näher untersucht werden.In den Sigmaringer Akten befindet sichein Gemäldeverzeichnis, darin das BildDame mit zwei Herren nach dem Dinervon Lovis Corinth. Das Bild ist auf derDatenbank lost.art als Suchmeldung ein-gestellt. Bisher war bekannt, dass es derin Theresienstadt ermordeten Jüdin IdaBaer aus Berlin entzogen wurde und1943 im Auktionshaus Hans W. Langeversteigert wurde. Das Bild Dame mit

zwei Herren nach dem Diner aus ihremBesitz wurde von Otto Staebler erstei-gert, der Beziehungen zu dem Kunst-händler Karl Haberstock unterhielt.Nach der Gewährung von Staatskredi-ten und Beihilfen hatte Staebler 1942/43mit Betriebsmitteln der ihm gehörendenChiron-Werke über 30 Gemälde vonnamhaften Malern erworben. Die Krimi-nalpolizei sah 1944 darin eine unzuläs-sige Handlung, weil der Ankauf aus öf-fentlichen Mitteln erfolgte und die vor-genommene Abschreibung einen Verstoßgegen die Preisbildungsvorschriften dar-stellte. Die Stuttgarter Oberstaatsanwalt-schaft beschlagnahmte am 7. Februar1945 die Sammlung, weshalb es zur Er-stellung des genannten Verzeichnisseskam. Auf dieser Liste stehen 33 Bildermit den Namen der Künstler, den Dar-stellungen und dem Wert. Darunter be-finden sich Werke von Lovis Corinth,Franz von Lenbach und Max Slevogt.Die für die Provenienzforschung interes-

Die Kunstsammlung Otto Staebler (Tuttlingen)Provenienzforschung im Staatsarchiv Sigmaringen

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Archivnachrichten 59 / 2019 41

Das Hohenlohe-Zentralarchiv im SchlossNeuenstein ist traumhaft gelegen: einSchloss im Renaissancestil, vom Städt-chen her mittels eine Brücke über denBurggraben zugänglich, im Süden undWesten der Schlosspark, umrahmt voneinem See, das Archiv selbst hoch oben,40 m über Park und See, mit traumhaf-ter Aussicht in das Hohenloher Land.Wenn hier einmal Wind aufkommt,dann pfeift es so richtig um die Mauern,und auch der Regen kann ganz ordent-lich gegen die Fenster schlagen.Was aber tun, wenn im Schloss Neuen-stein einmal ein Feuer ausbrechen sollte?Sicher, es sind viele Maßnahmen ergrif-fen worden, um die Brandlast im Archivzu senken – aber ausschließen lässt sichein Brand ja nie, wir haben es am 15.und 16. April in Notre-Dame in Paris er-lebt. Dieser Großbrand hat nun dazu ge-führt, dass das Innenministerium desLandes Baden-Württemberg am 5. Junieinen runden Tisch einberufen hat, derBrandschutz und Brandbekämpfung fürSakral- und Kulturbauten im Land vor-anbringen soll.Das Landesarchiv und die FreiwilligeFeuerwehr Neuenstein haben entspre-chende Schritte schon unternommenund basteln seit März gemeinsam aneinem neuen Notfallkonzept für das Ho-henlohe-Zentralarchiv. Am 4. Juli sindschließlich 22 Mitarbeiter aus dem Lan-desarchiv, darunter unsere zentrale Not-fallgruppe, sowie Vertreter der Freiwilli-

gen Feuerwehren von Neuenstein undÖhringen zusammengekommen, umden Ernstfall vor Ort zu üben.Über den Schlossgraben hinweg kameine Drehleiter zum Einsatz und brachtedas zu bergende Archivgut aus demHauptgeschoss des Hohenlohe-Zentral-archivs wannenweise auf sicheren Boden.Eine fest eingebaute Evakuierungsrut-sche ließ die Archivboxen zuvor vomDachgeschoss des Archivs ins Hauptge-schoss gleiten.An der Westseite des Archivs über demSchlosspark war das Anleitern nichtmöglich. Und so mussten die Archivkar-tons aus dem Hauptflügel das Fliegenlernen. Abgesichert durch Kletterseiledurften die Übungsteilnehmer sie aus 40m Höhe auf 3x4 m große weiße Planenim Park abwerfen. Und das Experimentgelang: Mit Altpapier geladene Archiv-kartons drehten sich wie Butterbroteimmer auf die Breitseite, sprangen nachdem Aufprall wieder einen halben Meterin die Höhe und kamen schließlich mitgeschlossenem Deckel, wohlbehaltenund fast ausnahmslos ohne die kleinsteDelle zum Liegen.Die Ergebnisse der diesjährigen Not-fallübung sind im Juli und August in dasgemeinsame Notfallkonzept von Hohen-lohe-Zentralarchiv und Freiwilliger Feu-erwehr Neuenstein eingeflossen. Diejährlichen Notfallübungen im Landesar-chiv Baden-Württemberg aber gehen imkommenden Jahr in die nächste Runde.

Ulrich Schludi

Archiv aktuell

1 | Das Hohenlohe-Zentralarchiv im Schloss Neuen-stein – Ansicht vom Schlosspark.Aufnahme: Landesarchiv Baden-Württemberg.

2 | Zum Abwurf bereit: Archivkartons im freien Fall.Aufnahme: Yvonne Tscherwitschke.

3 | Maximale Höhe: Blick vom Drehleiterkorb aufSchloss und Archiv.Aufnahme: Yvonne Tscherwitschke.

Kommt ne Archivbox geflogen …Die diesjährige Notfallübung des Landesarchivs fand in luftiger Höhe statt

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„Wir KZ-Häftlinge haben hineingeschaut in das Gesicht des Teufels!“Briefe aus dem Priesterblock des KZ Dachau

Archivnachrichten 59 / 201942 Quellen griffbereit

79 Briefe aus der Hölle – die Schreibendes katholischen Priesters Kurt Habichsind ein einzigartiges Dokument überdie Barbarei und Willkür im SS-Staat.Die Briefe des Häftlings Nr. 33687 ausBlock 26 dokumentieren Alltag, Terrorund Erniedrigung im Dachauer Konzen-trationslager.Der durch Schenkung an das General-landesarchiv Karlsruhe gelangte NachlassKurt Habichs enthält neben Unterlagenüber das Nachleben des Geistlichen vorallem eine umfangreiche Sammlung sei-ner Briefe aus verschiedenen Haftanstal-ten des Dritten Reichs. Neben Schreibenaus der Gestapo-Haft in Singen bildendie Briefe Habichs aus seiner fast drei-jährigen KZ-Haft in Dachau an seinenVater Wilhelm sowie die Feldpostbriefean seinen Bruder Hans Habich und sei-nen Schwager Karl Pfitzmayer den Groß-teil der persönlichen Korrespondenz.Kurt Habich wurde am 30. Januar 1912im badischen Lahr geboren. Nach demStudium der katholischen Theologie undder Priesterweihe am 7. März 1937 inFreiburg wirkte er als Vikar in Karlsdorfbei Bruchsal, wo er die Unvereinbarkeitvon christlich-katholischem Glauben mitder NS-Weltanschauung zu spürenbekam. Die Gestapo schrieb seine Pre-digten mit und durchsuchte das Pfarr-haus nach Flugblättern. Diese Auseinan-dersetzung war zum einen angesichtsHabichs Selbstbildnis als Glaubenszeugeunausweichlich. Das damalige liturgischeVerständnis vom Opfercharakter der hei-ligen Messe animierte zu einer Hingabebis zum Tod. Zum anderen verlangtenseine Tätigkeiten in Unterricht, Predigtund Seelsorge ein eindeutiges Bekennt-nis.1937 in die Gemeinde St. Franziskus inPforzheim versetzt, geriet der Jugend-seelsorger und Religionslehrer in Kon-flikt mit dem weltanschaulichen Mono-polanspruch der Nationalsozialisten inder Jugenderziehung. Als in den LiLi-Lichtspielen am Pforzheimer Leopold-platz der im August 1941 uraufgeführtePropagandafilm Ich klage an gezeigtwurde, der den NS-Krankenmord legiti-

schweil, das im Jahr zuvor als zentraleWeiterbildungsstätte vom ehemaligenLandvolkpfarrer Paul Wollmann gegrün-det worden war. Im benachbarten Klo-ster und in der Pfarrei St. Trudpert imMünstertal wirkte er lange Zeit als Mit-seelsorger. Von 1961 bis 1982 war KurtHabich Pfarrer der Gemeinde St. Bar-bara in Freiburg-Littenweiler.Als Überlebender des NS-Terrors wares ihm ein besonderes Anliegen, seineErlebnisse mitzuteilen. Bereits im Früh-jahr 1945 berichtete er in einer Rede inBräunlingen über seine Leidenszeit imKonzentrationslager Dachau. In derNachkriegszeit hielt er in der ErzdiözeseFreiburg Vorträge über die Rolle der ka-tholischen Kirche in der NS-Zeit, indenen er sich kritisch mit dem Verhaltender Kirchenleitung auseinandersetzte.1993 erhielt er für sein beharrliches En-gagement als Zeitzeuge der nationalso-zialistischen Willkürherrschaft das Bun-desverdienstkreuz. Er starb am 9. Sep-tember 1997 in Staufen. Weitere Ehrun-gen erfuhr er posthum in Pforzheim, woim Ortsteil Südweststadt eine Straßenach ihm benannt wurde.

Peter Exner

mieren sollte, protestierte Kurt Habichlautstark gegen die Ausstrahlung.Am 25. März 1942 nahm ihn die Ge-stapo fest. Ein Schüler der 8. Klasse hatteihn denunziert, den Film Ich klage anmitden Worten, dass das Beseitigen von sog.lebensunwerten Leben Mord sei, kom-mentiert zu haben. Zudem hatte Habichfür seinen von der Gestapo verhaftetenund nach Dachau verschleppten Mitpri-mizianten Emil Kiesel beten lassen. Am15. April 1942 aus dem Karlsruher Ge-fängnis entlassen, setzte Habich seine Ju-gendarbeit entschlossen fort, ehe ihn dieGestapo am 8. Juni 1942 wegen Beunru-higung der Bevölkerung erneut in soge-nannte Schutzhaft nahm. Die Gestapowarf ihm vor, das Vertrauen der Jugendzur politischen Führung untergraben zuhaben.Über die Gefängnisse Konstanz, Singen,Friedrichshafen, Ulm und Ingolstadtwurde Habich am 7. August 1942 in dasKonzentrationslager Dachau verschleppt.Von den SS-Wachmännern mit denWorten Hier kommen Sie nie wieder raus!Sie Verbrecher! empfangen, wurde derHäftling Nr. 33687 im (Priester-)Block26 zu schwerer körperlicher Arbeit ge-zwungen sowie mit Folter und Isolati-onshaft bedroht. Hunger und Erniedri-gung waren seine steten Begleiter. AufSeelsorge, insbesondere die Einbezie-hung von Polen oder Russen, derer Ha-bich sich annahm, stand in Dachauebenso die Todesstrafe wie auf Taufeoder Beichte. Umso bewegender war esfür Habich, dass er am 17. Dezember1944 die heimliche Priesterweihe vonKarl Leisner mitfeiern konnte.Am 28. März 1945 aus dem Konzentra-tionslager Dachau entlassen, litt Habichunter den gesundheitlichen Folgeschä-den seines Freiheitsentzugs. Nach einemkurzen Aufenthalt in Bräunlingen setzteer sich wieder in der Jugendarbeit ein.Von April 1945 bis 1950 wirkte er als Ju-gendseelsorger und Kaplan in der Offen-burger Pfarrei Hl. Dreifaltigkeit, danachleitete er mehr als elf Jahre als Rektor dasDiözesanschulungsheim im Bund Ka-tholischer Jugend in St. Ulrich/Boll-

„Was für Verfolgungen habe ich da erduldet! Unddoch hat mich der Herr aus allem errettet.“: KurtHabich als Häftling Nr. 33687 im KZ Dachau undals Seelsorger in der Nachkriegszeit.Vorlage: LABW, GLAK N Habich 1.

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Archivnachrichten 59 / 2019 43

Wie sahen die Gebäude in Karlsruhe vorden Zerstörungen im 2. Weltkrieg aus?Wo verliefen Straßen und Wege? Wie er-lebten die Menschen ihren Alltag? ImGenerallandesarchiv Karlsruhe findensich viele Akten staatlicher Behördenüber Personen, Bauvorhaben oder Ver-anstaltungen in Karlsruhe und anderenOrten Badens, jedoch überwiegenschriftliche Dokumente, die für solcheFragen oft wenig aussagekräftig sind. AlsErgänzung wurden und werden deshalbim Landesarchiv Sammlungen von Bil-dern, Karten, Plakaten, Feldpostbriefenetc. angelegt, die stetig durch Schenkun-gen und Ankäufe wachsen. Neben Ein-zelstücken werden zum Teil auch ganzeSammlungen ins Archiv übernommen.Im Jahr 2006 erwarb das Generallan-desarchiv Karlsruhe solch eine Samm-lung von dem Karlsruher Buchhändlerund Antiquar Thomas Kellner (1935–2004). Die umfangreichen Erschlie-ßungsarbeiten im GenerallandesarchivKarlsruhe, mit Verpackung, Signierungund Beschreibung der Sammlungs-stücke, konnten 2019 abgeschlossen wer-den. Die Einteilung der Sammlung er-folgte nach formalen Kriterien (Art desSammlungsstücks) sowie nach topogra-fischen und Sachbegriffen. Außerdemwurden Orte und Personen, sofern mög-lich, identifiziert und mit Normdeskrip-toren versehen.Mit fast 10.000 Archivalien – vor allembildliche Darstellungen aus Baden vom

Quellen griffbereit

1 | Karte vom Lauf des Rheins mit seiner Umge-bung. Kolorierter Stich von Pieter Schenk dem Jün-geren, 1735, 16,5 x 16,5 cm.Vorlage: LABW, GLAK S Thomas Kellner K 34, 4.

2 | Hoftheater (Bau von Heinrich Hübsch) in Karls-ruhe. Farbige Postkarte, gemalt von Wilhelm Hemp-fing, hg. vom Stadtrat Karlsruhe, um 1921.Vorlage: LABW, GLAK S Thomas Kellner 8, 40.

3 | Postkarte mit einer Karikatur aus dem ErstenWeltkrieg „Letztes Aufgebot“. Künstler: Paul OttoEngelhard, Verlag: Ottmar Zieher in München No.26.Vorlage: LABW, GLAK S Thomas Kellner 12, 255.

4 | Trachten „Alsace“. Lithografie von F. C. Wentzel,Verleger in Weißenburg (Elsass), 19. Jh., 56 x 45 cm.Vorlage: LABW, GLAK S Thomas Kellner K 51, 27 a.

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„Sammlung Thomas Kellner“Erschließung eines wertvollen Sammlungsbestandes abgeschlossen

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Das Findbuch zur Sammlung ThomasKellner im Online-Angebot des Landes-archivs:http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=4-280191&a=fb

1 16. bis ins 20. Jahrhundert – stellt Kell-ners Sammlung eine der umfangreich-sten und bedeutendsten im Generallan-desarchiv Karlsruhe dar: Karten undPläne zeugen von den Veränderungender Städte und Flüsse; Bilder von Perso-nen und Ereignissen aus dem badischenFürstenhaus gestatten Einblicke in dieWelt des Adels und seiner Selbstdarstel-lung; Ansichten von Karlsruhe veran-schaulichen den Zustand vor und nachden Zerstörungen des Zweiten Welt-kriegs. Außerdem umfasst die Sammlung6.545 Postkarten, unter anderem mitKarlsruher Ansichtsserien von WilhelmHempfing (1886–1948). Feldpost- undPropagandakarten aus dem Ersten Welt-krieg führen Bildwelten und Erlebnisseder Soldaten und ihrer Angehörigen vorAugen. Studenten- und Schülerzeitun-gen, hauptsächlich von Karlsruher Schu-len im 20. Jahrhundert, zeugen mit Witzvon der Sicht der Schüler auf ihre Schul-zeit. Daneben beinhaltet die Sammlungauch Dokumente und Kunstwerke vor-nehmlich badischer Künstler und Künst-lerinnen sowie Material von badischenKunstvereinen. Die Sammlung Kellnersergänzt damit die Überlieferung staatli-cher Unterlagen sowie verschiedenerSammlungen im GenerallandesarchivKarlsruhe.

Sara Diedrich

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Quellen zu den württembergischen Schulmeistern

Archivnachrichten 59 / 201944 Quellen griffbereit

Sommerschule, sind in den Visitations-protokollen zu finden, die im Bestand A281 (Kirchenvisitationsakten) des Lan-desarchivs, Hauptstaatsarchiv Stuttgartüberliefert sind.Die Überlieferung der Visitationsproto-kolle im Landeskirchlichen Archiv sindfür den Zeitraum 1695 bis 1822 durchge-hender, wenn auch mit kleineren Lük-ken, als im Landesarchiv. Auch für dieZeit zwischen 1581 und 1680 sind die Vi-sitationsprotokolle umfangreicher, hiermit größeren Lücken, im Landeskirchli-chen Archiv vorhanden, als im Landesar-chiv. Lediglich die Jahre 1681 bis 1692sind allein durch die Überlieferung imLandesarchiv abgedeckt, wobei auch hiernicht durchgängig für alle Pfarreien.Man kann also sagen, dass die Überliefe-rung im Landesarchiv inhaltlich um-fangreicher, die Überlieferung an sich je-doch im Landeskirchlichen Archiv dich-ter ist. Nicht unerwähnt bleiben darfhierbei, dass v. a. in den älteren Visitati-onsprotokollen des LandeskirchlichenArchivs die Informationen zu den Schul-meistern noch spärlich und in den Visi-tationsprotokollen aus der Zeit des Drei-ßigjährigen Krieges nicht alle Pfarreienaufgeführt sind.Ergänzend sind in den Dekanatsarchi-ven, von denen sich die meisten im Lan-deskirchlichen Archiv befinden, Visitati-

onsakten vorhanden. Diese enthaltenneben anderen Unterlagen zu den Visita-tionen ebenfalls Visitationsprotokolle.Ob diese Entwürfe sind oder versehent-lich nicht an den Synodus eingeschicktwurden, müsste im Einzelfall noch ge-prüft werden.Weitere Informationen über die örtli-chen Schulen und Schulmeistern könn-ten ferner in den Akten zu Schulsachen,die in Dekanats- wie auch in Pfarrarchi-ven vorhandenen sind, zu finden sein.Die Informationen zu den Schulmei-stern halten sich in den ersten Visitati-onsprotokollen noch in Grenzen, werdenim 17. Jahrhundert mehr, bis sie ab dem18. Jahrhundert den oben angegebenenUmfang haben. Die Visitationsprotokollesind somit eine interessante und um-fangreiche Quelle für genealogische For-schungen, aber auch für Untersuchun-gen zur Sozial-, Schul- und Bildungsge-schichte.

Uwe Heizmann

Der Mann ist nicht unfein in der Schule,Ehe und Wandel.Hat schlechte Gabe, übt die Kinder nichtlange genug im Buchstabiren, deßwegensie nie recht lesen lernen, versteht nichtsim Rechnen, sonst ist Fleiß, Wandel,Schulzucht und Ehe recht.Solche und andere positive und nega-tive Zeugnisse über die Schulmeistersind in den Visitationsprotokollen desHerzogtums und später des KönigreichesWürttemberg zu finden. Die Visitations-protokolle sind nicht nur eine interes-sante und umfangreiche Quelle zu denPfarreien und Pfarrern, sondern auch zuden Schulmeistern – und zu Schulmei-sterinnen. Ihnen können neben denZeugnissen durch den Visitator biografi-sche Daten wie Name, Alter oder Ge-burtsdatum, Herkunft und Anzahl dereigenen Kinder sowie Dienstzeit und An-zahl der Schulkinder entnommen wer-den.Die Visitationsprotokolle sind im Be-stand A 1 (Synodusprotokolle I – Visita-tionsberichte) des Landeskirchlichen Ar-chivs Stuttgart in gekürzter Form, abermit den eben genannten Informationenzu finden. Weitere Angaben, speziellHaupt- oder Nebentätigkeiten der Schul-meister und die Beurteilung durch denOrtspfarrer sowie genauere Angabenzum zeitlichen Umfang der Winter- und

Bestände im Landeskirchlichen ArchivStuttgart und Landesarchiv, Hauptstaats-archiv Stuttgart: www.wkgo.de/wkgosrc/findmittel/cms/index/LKAS-A001www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=1-1164

Eintrag zum Schulmeister und zum Hilfslehrer(Provisor) in Vöhringen, Vater und Sohn, ein Bei-spiel für eine sogenannte Schulmeisterdynastie, Visitation 21.05.1779.Vorlage: Landeskirchliches Archiv Stuttgart A 1, Nr.111, S. 169.

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Archivnachrichten 59 / 2019 45Kulturgut gesichert

In Ostasien wird Papier nicht als ein fra-giles Material angesehen, sondern als ein Rohstoff, aus dem viele Objekte inder traditionellen Architektur produziertwerden, wie Schiebetüren, aber auchMöbel, Lampions, Kimonos, Banknoten.Es wird in religiösen Shinto Ritualen ein-gesetzt und bei der Blattgoldherstellung.Wunderschön sind die bemalten und bedruckten Papiere, sowie die Sumina-gashi, eine Art Marmorpapiere Japans.Bei Japanpapier handelt es sich um eine sehr dauerhafte Papierart, weil seinAlter 1000–1500 Jahre erreichen kann. Es erscheint durchsichtig bis blickdichtund hat unterschiedliche Helligkeits-grade von Weiß bis Hellbraun.Das Besondere: Japanpapier entstehtdirekt aus Pflanzen. Heutzutage wird esvor allem aus Kozo, Mitsumata undGampi hergestellt. Kozo, ein Maulbeer-gewächs, besteht aus gröberen Fasern,die sehr lang, weich, flexibel, nicht dehn-bar oder schrumpfbar sind. Das Papierhaftet sehr gut. Zu einer nahen Pflanzen-familie gehört auch der Hanf. Gampiund Mitsumata sind Seidelbastgewächse.Mitsumata hat kürzere Fasern als Kozound Gampi. Gampipapier hat eineStruktur aus seidenartiger Faser, istdurchsichtig, filmartig und knistert,wenn es geknittert wird. Gerne wirdGampi auch zu den anderen Pflanzen ge-mischt. Gampi eignet sich zum Ausbes-

Rückseite mit 10 g/m2 Japanpapier, alsoeine Kaschierung, wieder handhabbargemacht werden, ohne dass Aussehenoder Oberfläche der Originale dadurchstark verändert werden. Kaschierungenkönnen auch mit ca. 18 g/m2 oder ca. 30g/m2 Papier vorgenommen werden, jenachdem welche Steifigkeit erreicht wer-den soll. Sehr leichte Japanpapiere von 3oder 5 g/m2 werden auch auf die Vorder-seite oder die Schriftseite geklebt, ohnedass Lesbarkeit oder Optik davon beein-flusst sind. Aus diesen Papiern reißt manStreifen, um die Risse der Archivalien zuschließen. Die festeren Papiere sind ca.134 g/m2 dick. Zusammensetzungen vonverschiedenen Stärken und kräftigereBögen können benutzt werden, um Fehl-stellen in Karten zu ergänzen. WeitereAnwendungsmöglichkeiten werden be-reits erprobt.

Sara Menato

Immer dabei: Japanpapier in der Papierrestaurierung

1 | Japanpapierstreifen für die Restaurierung vonArchivalien.Aufnahme: LABW, IfE, Sara Menato.

2 | Japanpapier in verschiedenen Stärken.Aufnahme: LABW, IfE, Sara Menato.

sern von Transparentpapieren. Die Fa-sern von Gampi und Mitsumata habenin sich einen Bitterstoff, der fressende Insekten abweist.Alle drei Pflanzenarten enthalten vieleHemicellulosen, die wie ein Kleber undein Füllstoff zwischen den Fasern wir-ken. Das macht das Papier voluminöserund wenig aktiv bei Feuchtigkeit. Japan-papier wird maschinell oder per Handhergestellt. Man verwendet dazu Rinde.Die gewonnenen Fasern werden in vollerLänge belassen, anders als Hadern.Das Papier ist säurefrei und enthält teil-weise einen Zusatz von Calciumkarbo-nat. Neri, eine leimartige Substanz, wirdzu den Fasern gegeben, hält sie in Sus-pension und verhindert das schnelle Ab-fließen von Wasser. So hat man beimSchöpfen eine bessere Kontrolle über dieBildung der Dicke und so können auchsehr dünne Papiere erzeugt werden. DieFasern setzen sich in alle Richtungenund sind stark verbunden, anders als beiPapieren mit einer Maschinenrichtung.Durch den Zusatz von Neri verklebendie frischgeschöpften Blätter nicht mit-einander, im Gegensatz zu westlichenPapieren, die verblocken, wenn sie nasswerden. So entstehen Bögen bereit fürdie verschiedensten Verwendungen.Dünne, fragile, zerstückelte, von Schim-mel befallene Papierobjekte könnendurch eine flächige Beklebung von der

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Archivnachrichten 59 / 201946 Kulturgut gesichert

300). Die nachgeleimten, getrocknetenPapiere wurden auf Zugfestigkeit innaher Entsprechung der TAPPI NormT404 cm-92 geprüft.Bei dem benetzbaren Papier erzieltendie Gelatinen im Vergleich zu den Cellu-loseethern eine stärkere mechanische Fe-stigung (Abb. 1). Die Festigungsleistungder Klebstoffmischung lag am niedrig-sten, wobei zu bemerken ist, dass dieseMischung in der Praxis nicht allein derNachleimung, sondern gleichzeitig demAnkleben eines dünnen, zusätzlich dasObjekt sichernden Japantissues dient,wobei der Kleisteranteil für ausreichendeKlebkraft der Mischung sorgt. Des Weite-ren konnten zwischen dem gut benetzba-ren Filterpapier und einem schlecht be-netzbaren historischen Papier Unter-schiede in der festigenden Wirkung fest-gestellt werden. Aus den Ergebnissen lässtsich Folgendes schließen: Kann der Kleb-stoff bis in die Tiefe der Papierstruktureindringen, erhöht sich die festigendeWirkung; lagert er sich bei schlecht be-netzbaren Papieren eher auf der Oberflä-che an, so wirken sich die filmbildendeEigenschaft und Konzentration des Kleb-stoffs stärker auf die erzielbare Festigungaus. Insgesamt lässt sich zudem feststel-len, dass ein hoher Viskositätsgrad (Gela-tinen in Bloomgrad, MC in durchschnitt-liche Kettenlänge angegeben) und höhere

Konzentration der Klebstoffe eine Zu-nahme der haptisch feststellbaren Biege-festigkeit bewirkt. Gering konzentrierteKlebstoffe wirkten sich geringfügig erhö-hend auf die Transluzenz aus (Abb. 2),ebenso die Steifigkeit und Tendenz zurDeformation, erkennbar am Volumenzu-wachs gleichartig behandelter gestapelterPapiere (Abb 2). Nur bei dem gut benetz-baren Papier nahm die Benetzbarkeit mitKonzentration und Viskosität des Kleb-stoffs ab. Der Oberflächenglanz blieb beiallen Testpapieren unverändert.Die oben genannten Parameter sind beider Auswahl einer Klebstofflösung füreine Nachleimung zu beachten, da sonstunerwünschte, optisch und haptisch er-kennbare Nebenwirkungen auftretenkönnten.

Leonie RökUte HennigesIrene Brückle

Die meisten der bei Archivgut vorliegen-den Papiere sind geleimt, also teilweisehydrophobisiert und damit beschreibbargemacht. Da bei einer in manchen Fällenzur Substanzerhaltung notwendigenNassbehandlung ein Teil dieser das Pa-pier schützenden Leimung entfernt wird,oder diese zuvor durch mikrobiellen Be-fall zerstört wurde, wird die mechanischeFestigkeit eines solcherart geschwächtenPapiers im Anschluss an eine Nassbe-handlung durch eine Nachleimung ver-bessert. Neben Gelatine werden hierzuKleister und Celluloseether (z. B. Methyl-cellulose) verwendet, aber auch Mischun-gen.Im Rahmen einer Bachelor-Arbeit imStudiengang Konservierung und Restau-rierung von Kunstwerken auf Papier, Ar-chiv- und Bibliotheksgut an der Staatli-chen Akademie der Bildenden KünsteStuttgart wurde folgende Untersuchungdurchgeführt: Auf natürlich gealtertes,massegeleimtes Papier und Whatman Fil-terpapier Nr. 1 wurden fünf verschiedene,stark verdünnte Klebstofflösungen mitdem Pinsel einseitig aufgetragen (zweiGelatinetypen in je drei verschiedenenKonzentrationen, die beiden Cellulosee-ther Tylose MH 300 und Methocel A4Cin je zwei Konzentrationen und eine mitWasser verdünnte Klebstoffmischung ausWeizenstärkekleister und Tylose MH

Pflege nach dem BadUntersuchung zur Nachleimung von Papier als letzter Schritt der Nassbehandlung

1 | Zugfestigkeit des nachgeleimten Whatman Fil-terpapier Nr. 1; die Standardabweichung in Newtonberechnet sich aus jeweils zehn Messungen.Vorlage: Leonie Rök.

2 | Whatman Filterpapier nach der Nachleimungmit unterschiedlichen Klebstoffen in Bewertung derTransluzenz (einzelne Papiere in Aufsicht überschwarzem Karton) und Deformation (schnittseitigeAnsicht gestapelter Papiere).Aufnahme: Leonie Rök.

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Archivnachrichten 59 / 2019 47

Schlaglichter auf die Geschichte der Pa-piererzeugung in Südwestdeutschlandund beleuchten die Bedeutung von Pa-pier als Beschreibstoff und Handelswarevon den Anfängen bis heute.

Nicole Bickhoff

von dort weiter nach Nord- und Osteu-ropa verbreitete. Die erste Papiermühleim heutigen Deutschland wurde 1390durch einen Kaufmann in Nürnberg er-richtet; wenige Jahre später folgte einePapiermühle in Ravensburg. Im süddeut-schen Raum – in Schwaben, Franken undBayern – wurden besonders viele Papier-mühlen in Betrieb genommen.Papier ist von Beginn der europäischenPapierherstellung an ein Recyclingpro-dukt. Bis in die Mitte des 19. Jahrhun-derts wurde Papier aus Lumpen gewon-nen. Man kann Papier jedoch aus fastallen pflanzlichen Fasern herstellen. DieseVielfalt an möglichen Rohstoffen führteüber verschiedene Experimente im 18.und 19. Jahrhundert zu unserem heuti-gen Papier aus Holz und Cellulose.Die Ausstellung des Museums Humpis-Quartier Ravensburg und der Museums-gesellschaft Ravensburg, die in Verbin-dung mit dem Hauptstaatsarchiv Stutt-gart realisiert wurde, entführt in die Weltdes alten Papiermacherhandwerks. VomRohstoff über das Schöpfen bis hin zumLeimen zeigt sie, wie Papier hergestelltwird und gibt somit einen faszinierendenEinblick in die Werkstatt eines Papierma-chers. Herausragende Exponate werfen

Unsere heutige Form der Kommunika-tion erfährt durch die Digitalisierungund die neuen Medien eine tiefgreifendeVeränderung. In der Folge scheint das bisvor wenigen Jahrzehnten noch wichtigsteMedium allmählich dem Untergang ge-weiht: das Papier.Vor über 600 Jahren löste das Papiereine ähnliche mediale Revolution aus,wie wir sie heute erfahren. Billiger als derbis dahin traditionelle Beschreibstoff Per-gament und massenhaft herstellbar, er-möglichte das Papier einen enormen An-stieg der Schriftlichkeit. Mit dem Buch-druck, der kaufmännischen Buchfüh-rung, den Verwaltungsakten und privatenSchreiben eröffnete es neue Wege derWissensspeicherung und des Informati-onsflusses.Das Papier wurde in China im 1. Jahr-hundert v. Chr. erfunden und trat vondort seinen langsamen Siegeszug nachWesten an. Über die arabische Halbinselgelangte das Wissen um die Herstellungvon Papier im 11. Jahrhundert nach An-dalusien und Katalonien, wo die erstenPapierwerkstätten entstanden. Im13. Jahrhundert hielt die Papierherstel-lung in Italien Einzug, von wo sie sichnach Frankreich und Deutschland und

Roh.Stoff.Papier. Papierherstellung im deutschen SüdwestenAusstellung im Hauptstaatsarchiv Stuttgart

Archive geöffnet

AusstellungRoh.Stoff.Papier.Papierherstellung im deutschen Südwesten

Öffnungszeiten23. Oktober 2019 – Februar 2020Montag 9.15–17.00 UhrDienstag und Mittwoch 8.30–17.00 UhrDonnerstag 8.30–19.00 UhrFreitag 8.30–16.00 Uhr

InformationenLandesarchiv Baden-Württemberg- Hauptstaatsarchiv Stuttgart -Konrad-Adenauer-Str. 470173 StuttgartTelefon 0711/212-4335Telefax 0711/212-4360E-Mail: [email protected]: www.landesarchiv-bw.de/hstas

1 | Sortieren von Lumpen.Vorlage: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné dessciences, des arts et des métiers, Recueil des Plan-ches. Hg. von Denis Diderot und Jean-Baptiste leRond. Paris 1762–1772.

2 | Schöpfsieb mit Ochsenkopf-Wasserzeichen.Vorlage: Museum Humpis-Quartier, Aufnahme:Anja Köhler.

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Archivnachrichten 59 / 201948 Häuser mit Geschichte

Von den schweren Luftangriffen, denenStuttgart im Februar und September1944 ausgesetzt war, blieb auch dasHauptstaatsarchiv Stuttgart nicht ver-schont. Wie die meisten anderen Ver-waltungsgebäude in der Landeshaupt-stadt, war das Archivgebäude, das1822/26 nach Plänen von Gottlob GeorgBarth in klassizistischer Bauweise an derdamaligen Neckarstraße errichtet wor-den war, von schweren Zerstörungen ge-zeichnet. Glücklicherweise hatte manvorsorglich die meisten Archivbeständeausgelagert, sodass die Verluste mit etwadrei Prozent des archiveigenen Bestan-des verhältnismäßig gering ausfielen. Inden ersten Nachkriegsjahren war das Ar-chiv in wechselnden Provisorien, verteiltauf mehrere Standorte, beherbergt. DieEntscheidung über seine zukünftige Un-terbringung zog sich lange hin, da ver-schiedene Optionen im Spiel waren.Schließlich fasste im Juni 1957 der Mini-sterrat den Beschluss, die große Lösungdes Gesamtkomplexes Neues Schloss,Landtagsneubau und obere Anlagen inAngriff zu nehmen, verbunden miteinem Neubau für Landesbibliothekund Staatsarchiv.Von vornherein war man sich darübereinig, dass das neue Gebäude auf dembisherigen, zentral gelegenen Grund-stück errichtet werden solle. 1962 wurde

mit dem Abbruch der Archivruine be-gonnen. Die Planung und Durchfüh-rung des Bauprojektes lag beim Staatli-chen Hochbauamt Stuttgart I. Bei denBeratungen über die Gestalt des Gebäu-des spielte das vom Leiter der Hochbau-abteilung des Finanzministeriums,Horst Linde, entwickelte städtebaulicheKonzept zur Stuttgarter Kulturmeile einewichtige Rolle. Wegen der Nachbar-schaft zu historischen Gebäuden, insbe-sondere dem Wilhelmspalais und demNeuen Schloss, sollte der Neubau nied-rig gehalten werden.Aufgrund der mit 3.500 Quadratme-tern geringen Größe des Grundstückswaren Untergeschosse einzuplanen fürdie Magazinräume mit Kapazitäten für18 km Archivgut. Zu den weiteren An-forderungen gehörten die Trennung vonöffentlichem und internem Bereich, eingut ausgestatteter Lesesaal mit Platz für50 Nutzer, ein Ausstellungs- und Vor-tragsraum sowie Restaurierungs- undFotowerkstatt. Bei der Umsetzungmusste die Architektengemeinschafteinen eigenständigen Weg beschreiten,da nach 1945 noch kein vergleichbarerArchivbau in Deutschland erstellt wor-den war. Am 5. Juli 1965 wurde derGrundstein gelegt, nach insgesamt vier-einhalbjähriger Bauzeit konnte der Neu-bau bezogen werden.

Das Hauptstaatsarchiv präsentiert sichals flach gedeckter, zweigeschossiger,kubischer Bau auf rechteckigem Grund-stück. Drei der insgesamt fünf Ge-schosse des Gebäudes befinden sichunter der Erde, wobei Magazingeschossedie beiden untersten Stockwerke ein-nehmen. Das Erdgeschoss ist gegenüberdem Obergeschoss zurückgesetzt, wasLetzterem einen beinahe schwebendenCharakter verleiht. Mit den über derErde befindlichen Geschossen zeigt sichdas Archiv als funktionaler Verwaltungs-bau, der sowohl eine Forschungs- alsauch eine moderne Dienstleistungsinsti-tution darstellt. Für den Innen- wie Au-ßenbau wählte man wenige hochwertige,für die Architektur der 1960er Jahre ty-pische Materialien wie Sichtbeton, Klin-kermauerwerk, Holz, Kupfer und Glas.Sie vermitteln Schlichtheit und Repräsen-tation im besten Sinne, wie Finanzmini-ster Gleichauf bei der Einweihung desGebäudes im Juli 1969 betonte. Der Bausei außen wie innen geprägt von noblerKlarheit; jeder übertriebene Aufwandwurde vermieden. Als ein bedeutendesDokument für die Entwicklung und denAusbau der Infrastruktur der Landes-hauptstadt wurde dem Hauptstaatsar-chiv 2014 die Eigenschaft eines Kultur-denkmals zugesprochen.

Nicole Bickhoff

Grundsteinlegung am 5. Juli 1965.Vorlage: LABW, HStAS Bibl. Xb 1 Nr. 32.

Das Hauptstaatsarchiv beim Einzug 1969.Vorlage: LABW, HStAS Bibl. Xb 1 Nr. 121.

„Schlichtheit und Repräsentation im besten Sinne“Der Neubau des Hauptstaatsarchivs Stuttgart vor 50 Jahren

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Archivnachrichten 59 / 2019 49Häuser mit Geschichte

Das Hauptstaatsarchiv von der Konrad-Adenauer-Straße aus gesehen, 2004.Aufnahme: LABW, HStAS.

Blick in das Repertorienzimmer und den Lesesaaldes Hauptstaatsarchivs, 2018. Aufnahme: LABW, HStAS, Alain Thiriet.

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„Anfassen erlaubt“ – Schulkinder zuBesuch im Staatsarchiv Ludwigsburg.Aufnahme: Reform Design.

Archivnachrichten 59 / 201950 Junges Archiv

Jetzt haben wir die Chance, in wenigenSätzen sehr viel über das Arbeiten im Archiv, über die Aufgaben der Bestands-erhaltung und über die Archivbenutzungin altersgerechter Sprache zu erklären.Nein, normalerweise ziehen Archivarin-nen bei der Arbeit keine Handschuhe an,wir können die alten Sachen oft scho-nender ohne Handschuhe anfassen. Aberwas muss man vorher machen? Richtig,die Hände waschen. Wir mustern diePfötchen unserer Kundschaft durch: Tin-tenflecke und Reste des gerade genosse-nen reichlichen Vespers (schließlichmacht die Klasse einen Ausflug ins Ar-chiv, da können die Proviantpakete nichtgroß genug sein), sind eindeutig zu iden-tifizieren. Ein haptisches Erlebnis musses trotzdem geben: Wie sich Pergamentanfühlt, kann jeder anhand einiger Per-gamentstücke aus der Restaurierungs-werkstatt erleben, ohne dass eine Ur-kunde leiden muss. Ein robustes Papieraus der frühen Neuzeit hält aber auchmal einige (saubere) Kinderfinger aus –schließlich dürfen die Nutzer im Lesesaaldas auch anfassen. Schriftstücke, die ei-gentlich empfindlich, aber inhaltlich sehrbeliebt sind für bestimmte Archivpäd-agogik-Module (z. B. die Räuber-Unter-schrift) werden von den FSJlern und Buf-dis des Staatsarchivs hervorragend ge-fakt; mit Scannen, Kopieren und kreati-vem Basteln entstehen so sehr echtaussehende Archivalien, die man unbe-sorgt aus der Hand geben kann, um sie

Anfassen erlaubt! Archivpädagogische Überlegungen zur Magie der weißen Handschuhe

Mystisches Halbdunkel herrscht imRaum. Die Augen werden magisch ange-zogen von den beiden hellsten Objektender Szenerie. Zwei Hände in weißenBaumwollhandschuhen präsentieren einwertvolles Archivale. Die Archivarin da-hinter ist kaum zu erkennen, die ganzeAufmerksamkeit gilt der alten, nur halb-beleuchteten Urkunde und den weißenHandschuhen, die das kostbare Stückganz vorsichtig berühren und hochhalten.Genau dieses Bild sitzt unverrückbarfest in den Köpfen und steht vor den in-neren Augen vieler Menschen. KeinWunder: Wenn es in Fernsehdokumen-tationen um Archive oder Archivgutgeht, wird es von den Archivarinnenselbst doch immer wieder hochbeschwo-ren. Sobald eine Kamera auftaucht, ge-hören die weißen Handschuhe fast obli-gatorisch dazu.Auch bei den Archivpädagogik-Füh-rungen des Staatsarchivs Ludwigsburgsspielen die weißen Handschuhe eineRolle, aber eine andere. Neben den fürdie Schulklassen vorbereiteten Archiva-lien liegt regelmäßig ein Paar weißerBaumwollhandschuhe. Allerdings: DieArchivpädagoginnen ziehen diese nichtetwa an. Wir beginnen mit unserer Ar-chivalienpräsentation und zeigen z. B.den Grundschulklassen eine Pergament-urkunde, in der es um die Verleihungeines Wappens geht. Fast immer geht un-sere Rechnung auf. Darf man die einfachso anfassen? will jemand wissen. MusstDu nicht die Handschuhe anziehen? fragtder Nächste.

befühlen zu lassen. Natürlich wird eineKopie nie als Original ausgegeben. ImGegenteil kann man hier nochmals aufdie Bestandserhaltung aufmerksam ma-chen. Archive hüten ihre Unterlagen,damit alle sie lesen dürfen – auch in 200oder sogar 500 Jahren noch. Da ist esmanchmal besser, man fasst die Origi-nale nicht mehr so oft an.Das Vorurteil Kinder machen Archiva-lien kaputt!, taucht leider immer wiederauf. Wir können aus fast 20 Jahren Praxisberichten, dass es bei uns noch nie derFall war. Das allerschlimmste, was wir jeveranlassen mussten, war ein deutlichesFinger weg! (das wir so bei Führungenmit Erwachsenen schon viel häufiger ge-braucht hätten, aber leider meistensnicht so direkt sagen durften). Das Fin-ger weg kommt fast immer schneller vonden eigenen Mitschülern als von uns ausdem Archiv. Wir haben eher korrigiert:Nein, nein, das darf man anfassen!Die Archivpädagogik geht also ziemlichrespektlos mit dem Distanzierungs- undWichtigkeitssymbol der weißen Hand-schuhe um. Wir halten es bei dieserKundschaft, den Schülerinnen undSchülern von Klasse 1 bis 13, für vielwichtiger, ihnen beim ersten Archivbe-such das Anfassen erlaubt deutlich zumachen. Es steht für: Archivbesuch er-laubt! Komm wieder in den Lesesaal,nimm es in die Hand und lies. Wer be-rührt hat, den hat das Archiv berührt.

Elke Koch

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Quellen für den Unterricht 58

erkennen. Die Frauen rechts und linkssind unscharf, wodurch der Fokus desBetrachters auf die Frau in der Mitte derFotografie gelenkt wird. Alle drei abge-bildeten Personen wirken fröhlich, wasdurch das Lachen der Frau im Bildzen-trum unterstrichen wird. Sowohl derSchattenwurf als auch die Kleidung deu-ten darauf hin, dass die Fotografie in denSommermonaten geschossen wurde.Obwohl keine der Frauen direkt in dieKamera blickt, handelt es sich allem An-schein nach nicht um einen Schnapp-schuss von drei weiblichen Personen beider Trümmerräumung, sondern viel-mehr, aufgrund der strengen Symmetrie,um ein gestelltes Foto.

Mythos „Trümmerfrauen“

Die Fotografie erweckt den Eindruck,dass es vor allem die Frauen waren, diefreudig und freiwillig mit bloßen Hän-den Trümmer wegräumten und somitmaßgeblich für den Wiederaufbau nachdem Krieg verantwortlich waren. DieseVorstellung ist nach der Lektüre desTextauszuges der Historikerin LeonieTreber nicht mehr zu halten, da sie nach-weisen konnte, dass vor allem professio-nelle Verwertungsgesellschaften undschweres Gerät die Trümmer in Deutsch-land nach dem Krieg beseitigten (M 6).Trotzdem gibt es in ganz Deutschlandzahlreiche Denkmäler sowie Darstellun-gen, die das vermeintliche Massenphä-nomen Trümmerfrau sowie die damiteng verbundenen Leistungen der Frauenfür den Wiederaufbau Deutschlands un-kritisch heroisieren. Allerdings wurde dieTrümmerfrau als Nachkriegsheldin in derBundesrepublik erst seit den 1980er Jah-

Mythos „Trümmerfrauen in Freiburg“

Archivnachrichten 59 / 2019 51

Operation Tigerfish

Der 27. November des Jahres 1944 giltals schwärzester Tag der jüngeren Frei-burger Stadtgeschichte. Bei diesem hölli-schen Furioso, so war der Lokalpresse inder unmittelbaren Nachkriegszeit zu ent-nehmen, bombardierten britischeKampfflugzeuge weite Teile der Altstadt,die gesamte Nordstadt, die Mooswald-siedlung und Betzenhausen sowie denStühlinger. Im insgesamt 23 Minutendauernden und mit dem militärischenCodenamen Operation Tigerfish bezeich-neten Angriff wurden mehr als 14.500Bomben über der Stadt abgeworfen (M3). Dass sich die Zahl der Opfer auf rund2.800 beschränkte, ist auf die zahlreichentiefen Keller, das in Freiburg teilweiseausgebaute System unterirdischerFluchtwege sowie Fluchtmöglichkeitenauf den angrenzenden Schlossberg zu-rückzuführen (M 2).

Freiburg in Trümmern

Die Folge des Flächenbombardementswaren rund eine Million KubikmeterSchutt. Dies entsprach einer Schutt-menge von zehn Kubikmeter pro Kopf.Wie aus zahlreichen anderen deutschenStädten sind auch aus Freiburg Fotogra-fien erhalten, die junge Frauen bei derTrümmerräumung zeigen. Die unda-tierte Schwarz-Weiß-Fotografie aus einerLoseblattsammlung des PressefotografenKarl Müller zeigt drei Frauen, die aufge-reiht vor einer etwa hüfthohen Maueraus Backsteinen stehen (M 1). Sie rei-chen sich in einer Menschenkette Steine.Im Hintergrund sind einige Bäumesowie die Silhouette eines Gebäudes zu

ren in den Rang eines identitätsstiften-den Gründungsmythos zwischen Wäh-rungsreform, Wirtschaftswunder undWunder von Bern erhoben. In der DDRhingegen wurden die Trümmerfrauen be-reits seit den 1950er Jahren als positiverPrototyp der neuen sozialistischen Frauideologisch aufgeladen (M 7).

Freiburger Trümmerexpress

Auch in Freiburg erfolgte die Trümmer-räumung maßgeblich durch Großgerätezur Trümmerbeseitigung. Am 12. Fe-bruar 1947 feierte die städtische Freibur-ger Schuttbahn (auch Trümmerexpress)ihre Jungfernfahrt (M 5). Für den Be-trieb standen insgesamt fünf Dampflo-komotiven, vier Diesellokomotiven und146 Loren zur Verfügung (M 4). Nachder allmählichen Umstellung der Ent-trümmerung auf den Lkw-Betrieb wurdedie Schuttbahn im August 1949 demon-tiert.

Quellen für den Unterricht 58 Florian Hellberg / Tobias Roth

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Archivnachrichten 59 / 201952 Quellen für den Unterricht 58

M 1: Drei Freiburger Trümmerfrauen,undatierte Schwarz-Weiß-FotografieVorlage: Stadtarchiv Freiburg, SammlungKarl Müller, N 75/1 Positivkasten 14; Landesbildungsserver http://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/epochen/nachkriegszeit/freiburg/photoalbum_freiburg/b2h.jpg.

M 2: Identifizierbare Opfer des Bomben-krieges in Freiburg im Breisgau nachAlter und GeschlechtNach Walter Vetter: Freiburg in Trüm-mern 1944–1952. Bild- und Textdoku-mentation Teil II. Freiburg 1984. S. 171.Die Zahl der Todesopfer lag insgesamt bei2.797, vgl. Geschichte der Stadt Freiburg,Bd. 3: Von der badischen Herrschaft biszur Gegenwart. Hg. von Heiko Haumannund Hans Schadek. Stuttgart 2001. S. 361.

Altersgruppe

0–10 Jahre11–20 Jahre11–30 Jahre11–40 Jahre11–50 Jahre11–60 Jahre11–70 Jahre11–80 Jahre11–90 Jahreüber 90 JahreAlter unbekannt

insgesamt

Zahl

37826930540037433934622770471

2.783

i n s g e s a m t

davon nicht geborgen

373632606262836831213

487

männlich

194108851371261291558227150

1.094

d a v o n

unbekannt

––––––––––4

4

weiblich

18416122026324821019114543317

1.685

M 1

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Archivnachrichten 59 / 2019 53

M 3: Anzahl der abgeworfenen Bombenauf Freiburg im Breisgau am Abend des27. November 1944Insgesamt wurden von den mitgeführten1725,9 Tonnen Bomben 1723,1 Tonnenabgeworfen, davon 1456,9 Tonnen Spreng-bomben und 266,2 Tonnen Brand- undLeuchtbomben. Die Einsatzberichte derGruppen nennen im einzelnen folgendeZahlen für den Bombenabwurf:308 Stück der 4000 lbs.-Sprengbomben1282 Stück der 1000 lbs.-Sprengbomben1412 Stück der 500 lbs.-Sprengbomben1229 Stück der 4 lbs.-14er Brandkanister10200 Stück der 4 lbs.-Brandbomben94 Stück der 250 lbs.-Markierungsbom-ben.Aus: Gerd R. Ueberschär: Freiburg imLuftkrieg 1939–1945. Freiburg im Breis-gau/München 1990. S. 242.

M 4: Freiburger Trümmerbahn, unda-tierte Schwarz-Weiß-FotografieVor dem Nordflügel der Hildaschule ander Rheinstraße befand sich eine Stationder Trümmerbahn. Vorlage: StadtarchivFreiburg, Sammlung Karl Müller, N 75/1Positivkasten 14; Landesbildungsserverhttps://www.schule-bw.de/faecher-und-schularten/gesellschaftswissenschaftliche-und-philosophische-faecher/landeskunde-landesgeschichte/module/epochen/nachkriegszeit/freiburg/photoalbum_freiburg/b2b.jpg.

Quellen für den Unterricht 58

M 4

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Archivnachrichten 59 / 201954

M 5: Streckenverlauf der TrümmerbahnFreiburg im Breisgau (1947–1949)Vorlage:https://de.wikipedia.org/wiki/Tr%C3%BCmmerbahn_Freiburg#/media/File:Tr%C3%BCmmerbahn_Freiburg_Karte.png(aufgerufen am 19. April 2019), Karte er-stellt von Grauer Elefant, CC BY-SA 3.0(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

M 6: Trümmerräumung in DeutschlandBereits vor Beginn des Luftkrieges etab-lierten die Nationalsozialisten zentral ge-lenkte Maßnahmen zur Trümmerräu-mung, die mit der verstärkten Bombardie-rung durch die Alliierten beständig ausge-weitet wurden. Zum Einsatz kamen nebenBauhandwerkern und Mitgliedern unteranderem der Luftschutzpolizei, des Reichs-arbeitsdienstes, der Hitlerjugend und derWehrmacht vor allem Zivilarbeiter,Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Dermassive Einsatz von Zwangsarbeitern kon-notierte die Trümmerräumung deutlichals Strafarbeit. Diese Idee wurde in derNachkriegszeit von den alliierten Militär-regierungen und deutschen Stadtverwal-tungen weiter fortgesetzt, denn nun wur-den zuallererst ehemalige NSDAP-Mitglie-der und deutsche Kriegsgefangene als Süh-nemaßnahme zur Trümmerräumungeingesetzt. Davon abgesehen waren in derNachkriegszeit in erster Linie professio-

nelle Firmen und Gesellschaften – wie bei-spielsweise die Frankfurter Trümmerver-wertungsgesellschaft – mit schweremGerät und Fachkräften die Träger der Ent-trümmerung. Über die Initiierung vonBürgereinsätzen und Dienstverpflichtun-gen von Arbeitslosen wurde der Arbeits-kräftemangel ausgeglichen.Während in der amerikanisch und in derfranzösisch besetzten Zone die Heranzie-hung von Frauen zur Trümmerräumung

dezidiert abgelehnt wurde, wurde in derbritisch besetzten Zone zwischen 1945 und1947 eine sehr geringe Zahl von Frauenhierfür eingesetzt. Lediglich für Berlin unddie Städte der sowjetischen Besatzungs-zone (SBZ) lässt sich der Einsatz von vorallem arbeitslosen Frauen zur Enttrüm-merung in einem größeren Umfang nach-weisen. Generell waren dort Männer undFrauen im arbeitsfähigen Alter verpflich-tet, sich bei den Arbeitsämtern registrierenzu lassen, sodass Arbeitslose zu lebensnot-wendigen Arbeiten herangezogen werdenkonnten, worunter auch die Trümmerräu-mung fiel. Wurden die Anweisungen derArbeitsämter nicht befolgt, konnte dies mitdem Entzug der Lebensmittelkarte sank-tioniert werden. […] Insgesamt ist dem-nach festzuhalten, dass Frauen bei derTrümmerräumung eine deutlich nachge-ordnete Rolle zukam.Aus: Leonie Treber: Mythos „Trümmer-frau“: deutsch-deutsche Erinnerungen.In: Aus Politik und Zeitgeschichte 16–17(2015) S. 29.

Generell kann für die westdeutschenStädte festgehalten werden, dass dasSchlagwort für die Beteiligung von Frauenbei der Trümmerbeseitigung Freiwilligkeitlautete; sieht man einmal von der geringenZahl von Frauen ab, die in der britischenZone als Arbeitslose zur Trümmerräu-mung verpflichtet worden waren. Alles an-dere als eine freiwillige Beteiligung derFrauen war kaum denkbar, was sich auchdadurch unterstreichen lässt, dass Frauen

zu keinem einzigen Bürgereinsatz zurTrümmerräumung in den westdeutschenStädten verpflichtend herangezogen wur-den. Entweder waren die Bürgereinsätzezu denen Frauen ganz explizit aufgerufenworden waren, zumindest formal freiwillig[…], oder die Verpflichtung galt nur fürdie Männer und die Frauen konnten sichfreiwillig daran beteiligen […].In diesem Zusammenhang lohnt es sicheinen Blick auf die Stadt Freiburg zu wer-fen […]. „Alle in der Stadt Freiburg woh-nenden männlichen Personen im Alter von16–60 Jahren und weibliche Personen imAlter von 16–45 Jahren haben im Ehren-dienst mindestens 1 Mal im Monat bei derTrümmerbeseitigung oder bei anderen,dem Wiederaufbaubüro dienenden Arbei-ten mitzuhelfen.“ [StAFr, C5/3146: Ent-wurf für Aufruf an die Bevölkerung, 30.September 1946.][…] Diese Variante des Bürgereinsatzes[scheiterte] an der Nichtbeteiligung der

Quellen für den Unterricht 58

M 5

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Archivnachrichten 59 / 2019 55

Freiburger Bürger. Möglicherweise trugdazu auch die mangelnde Bereitschaft bei,Frauen zur Teilnahme aufzufordern. Dennbereits kurz nach Anlaufen des „Ehren-dienstes“ fiel in einer Arbeits-Ausschusssit-zung in diesem Zusammenhang der Satz:„Es ist unrichtig, wenn behauptet wird[…] die Stadt zöge verwerflicherweiseFrauen zur Arbeit heran.“ [StAFr,C5/3146: Protokoll der Arbeits-Aus-schußsitzung [vermutlich], 19. Novem-ber 1946.] Und schließlich verabschiedetesich der Freiburger Stadtrat nicht nur vonder freiwilligen Variante des „Ehrendien-stes“, in dem er diesen in einen verpflich-tenden umwandelte, sondern auch von derHeranziehung von Frauen zu demselben.Denn zum verpflichtenden Einsatz zurTrümmerbeseitigung wurde nur noch „diegesamte männliche Bevölkerung im Altervon 16–60 Jahren“ [StAFr, C5/3146:Schreiben des Wiederaufbaubüros an dasBürgermeisteramt Abt. I, 24. Mai 1948]aufgerufen.Dies unterstrich der Freiburger Oberbür-germeister, als er in der Stadtratssitzungseinen Plan verkündete, alle Mitglieder desStadtrats zu einer gemeinsamen symbol-trächtigen Teilnahme beim Bürgereinsatzaufzufordern: „Ich werde mir erlauben,die Mitglieder des Stadtrats zu einer ge-meinsamen Schippaktion aufzurufen. DieDamen werden nicht dabei sein, wenn siesich nicht vordrängen. Wir wollen auf dieFrauenarbeit ganz allgemein verzichten.“[StAFr, C5/3146: Protokoll der Stadtrats-sitzung, 24. April 1947].Aus: Leonie Treber: Mythos Trümmer-frauen. Von der Trümmerbeseitigung inder Kriegs- und Nachkriegszeit und derEntstehung eines deutschen Erinne-rungsortes. Bonn 2015. S. 62f.

M 7: Auszug aus den Freiburger Biogra-phienAuf eine Million Kubikmeter schätzte mannach dem Bombenangriff des 27. Novem-ber 1944 die Trümmer, in denen Freiburgversunken war. Die Zahl sagt nichts ausüber die rund 3.000 Menschen, die in derBombennacht starben; sie sagt auch nichtsaus über mehr als 20.000 beschädigte oderzerstörte Wohnungen und über die unwie-derbringlich verlorengegangenen Bau-denkmale, die von 14.000 [sic!] Bombenin 23 Minuten zerschlagen worden waren.Die Last der Aufräumarbeiten lag in denersten Monaten und weit über das Kriegs-ende hinaus bei den Frauen, die man bald

„Trümmerfrauen“ nannte. Sie trugen dieSorge um die materielle Existenz ihrer Fa-milien. Zahlreiche Männer waren imKrieg gefallen oder noch nicht wiederheimgekehrt, so daß 1947 die Zahl derFrauen im Stadtkreis noch um 50 Prozenthöher lag als die der Männer. Frauenwaren es, die zur Arbeit in „kriegswichti-gen Produktionsbetrieben“ verpflichtetworden waren und jede freie Minute dar-auf verwandten, im Schwarzwald zu„hamstern“, um die schlimmste Not zulindern. Ohne daß die Gesellschaft sie dar-auf vorbereitet hatte, waren sie zur Selb-ständigkeit und Eigenverantwortung ge-zwungen.Es waren unvorstellbare Leistungen, dieeine Generation von Frauen erbracht hat– in Freiburg ebenso wie in jeder anderendeutschen Stadt. Hat dies ihre Rolle in derGesellschaft und ihr Selbstverständnis ge-ändert? Die meisten gaben die Erwerbstä-tigkeit wieder auf, sobald die Männer wie-der heimgekehrt waren, und kümmertensich um den häuslichen Bereich. Dort waraufgrund der katastrophalen Ernährungs-lage genug zu tun.Aus: Walter Preker: Die Trümmerfrauen.In: Freiburger Biographien. Hg. vonDems. und Peter Kalchthaler. Freiburgim Breisgau 12002. S. 292f.

Didaktisches Potenzial derQuellenFotografien sind Einzelbilder und ihnenfehlt der für eine historische Narrationkonstitutive Kontext des Vorhergehen-den und des Nachfolgenden. Trotzdemtreten Fotografien nie isoliert auf. DieZusammenhänge, in die sie gestellt wer-den, die Worte und Texte, mit denen sieerläutert werden, erfüllen eine spezifi-sche Funktion, nämlich eine Narrationin den Köpfen der Betrachter auszulö-sen. Der Betrachter rekontextualisiert dieAufnahmen und stellt aus dem Horizontder jeweiligen Gegenwart heraus Sinnbe-züge und Deutungen her. Gerade ausdiesem Konstruktcharakter heraus ergibtsich die Notwendigkeit, die Darstellun-gen der Vergangenheit in Fotografien alsstets perspektivengebunden, kontextab-hängig und dadurch dekonstruktionsbe-dürftig zu erkennen.Damit ist der Unterrichtsvorschlag anden neuen Bildungsplan Baden-Würt-temberg hochgradig anschlussfähig, wirddoch sowohl ein methodischer Schwer-punkt über die Fotografieanalyse gelegt

als auch die Reflexions- und Orientie-rungskompetenz gefördert, indem aufder einen Seite Deutungen aus verschiede-nen Perspektiven erkannt und beurteiltwerden müssen (Reflexionskompetenz),auf der anderen Seite das kollektive Ge-dächtnis […] analysiert und bewertetwird, auch unter Berücksichtigung ihrermedialen Darstellung.Methodisch siehtsich der hier gewählte Ansatz dem trans-disziplinären Instrumentarium der Vi-sual History (nach Gerhard Paul) ver-pflichtet. Demnach werden die auch inder geschichtsunterrichtlichen Praxisgängigen Methoden der HistorischenBildkunde um Fragen der Rezeptionsge-schichte (Nutzungs- und Wirkungsreali-tät) erweitert (M 8). Bilder im Allgemei-nen und Fotografien im Speziellen wer-den somit über ihre zeichenhafte Abbild-haftigkeit hinaus als Medien und Aktivamit einer eigenständigen Ästhetik be-trachtet. Das Ziel besteht nicht in der Er-setzung von methodischen Ansätzen, diesich mit der Visualität von Geschichte be-fassen, sondern um dessen Erweiterungvon Fragen nach der Historizität des Vi-suellen.Dies wird am Beispiel des MythosTrümmerfrauen besonders deutlich, dasich aus einer ikonischen regionalge-schichtlichen Fotografie ein Narrativentfaltet, das zu verschiedenen Zeitenunterschiedliche Verwendung erfuhr. DieFotografie M 1 stammt aus einer priva-ten Sammlung des Presse-FotografenKarl Müller, die dem Stadtarchiv Frei-burg vermacht wurde. Aus dieser Foto-grafie, die durch zwei Statistiken M 2und M 3 kontextualisiert wird, lässt sichdas Narrativ, das Grundlage für die My-thenbildung sowohl in Ost und Westwar, konstruieren. Es erweckt den Ein-druck, dass v. a. junge Frauen mit Freudeund Eifer dabei mithalfen, die Stadt vonden Trümmern zu befreien und somitwiederaufzubauen. Eine kognitive Disso-nanz entsteht durch die Kontrastierungmit zwei weiteren Quellen M 4 und M 5,die die Vermutung nahelegen, dass v. a.schweres Gerät notwendig war, um Frei-burg von den Trümmern zu befreien.Gerade die Darstellung der Karte M 5zeigt die logistischen Herausforderun-gen, vor denen die verantwortlichen re-gionalen Behörden standen.Über einen Auszug aus Leonie TrebersStudie Mythos Trümmerfrauen wird dieDekonstruktion des Narrativs auf einewissenschaftliche Grundlage gesetzt. So

Quellen für den Unterricht 58

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Archivnachrichten 59 / 201956

Verwendung im Unterricht

ErarbeitungsphaseDie Lernenden lesen den Auszug ausLeonie Trebers Studie und im Vergleichmit dem kontrastierenden Auszug ausden Freiburger Biographien wird deut-lich, dass die Reproduktion des Mythosbis in die Gegenwart anhält.Die Sicherung erfolgt über eine tabellari-sche Gegenüberstellung der beiden Nar-rative anhand ausgewählter Kriterien:- verantwortlich für die Trümmer-räumung - Maßnahmen zur Trümmerräumung - Grad der Freiwilligkeit

Vertiefung / ProblematisierungAbschließend diskutieren die LernendenUrsachen für die Hartnäckigkeit undWirkmächtigkeit des Mythos Trümmer-frauen bis in die Gegenwart. Hierzu kön-nen weitere Beispiele der tagesaktuellenpolitischen Diskussion herangezogenwerden, um zu verdeutlichen, wie gegen-wärtig Geschichte als Argument für poli-tische Ansichten verwendet wird.

Literatur

Arbeit am Bild. Visual History als Praxis(=Visual History. Bilder und Bildpraxenin der Geschichte Bd. 3). Hg. von JürgenDanyel, Gerhard Paul und Annette Vo-winckel. Göttingen 2017.Bildungsplan 2016 für Baden-Württem-berg. http://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/bpExport/4151958/Lde/index.html?_page=0&requestMode=PDF&_finish=Erstellen (aufgerufen am19.04.2019).Freiburger Biographien. Hg. von WalterPreker und Peter Kalchthaler. Frei-burg im Breisgau 12002.Freiburg in Trümmern 1944–1952. Bild-und Textdokumentation. 2 Teile. Hg. vonWalter Vetter. Freiburg im Breisgau21983 und 1984.Geschichte der Stadt Freiburg Bd. 3: Vonder badischen Herrschaft bis zur Gegen-wart. Hg. von Heiko Haumann undHans Schadek. Stuttgart 2001. S. 361.Christoph Hamann: Fotografien im Ge-schichtsunterricht. Visual History als di-daktisches Konzept. Frankfurt am Main2019.Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschlandund die Deutschen 1945–1955. Berlin2019.Marita Krauss: Trümmerfrauen. Visuel-les Konstrukt und Realität. In: Das Jahr-hundert der Bilder. 1900–1949 Bd. 1. Hg. von Gerhard Paul. Göttingen 2009.S. 738–745.Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter.Punkt und Pixel. Göttingen 2016.Gerhard Paul: Visual History. Ein Studi-enbuch. Göttingen 2006.Christiane Pfanz-Sponagel: Blumenstatt Bomben? Die Situation der Freibur-gerinnen bei Kriegsende und in derNachkriegszeit. In: Zeitschrift des Breis-gau-Geschichtsvereins „Schau-ins-Land“125 (2006) S. 185–196.Leonie Treber: Mythos Trümmerfrauen.Von der Trümmerbeseitigung in derKriegs- und Nachkriegszeit und der Ent-stehung eines deutschen Erinnerungs-ortes. Bonn 2015.Leonie Treber: Mythos „Trümmerfrau“:deutsch-deutsche Erinnerungen. In: AusPolitik und Zeitgeschichte 16–17 (2015)S. 28–34.Gerd R. Ueberschär: Freiburg im Luft-krieg 1939–1945. Freiburg im Breisgau/München 1990.

Quellen für den Unterricht 58

war die Arbeit der Trümmerräumungnicht zuletzt aufgrund ihrer ursprüngli-chen Praxis durch die Nationalsozialistenals Strafarbeit kodiert. Auch die Alliier-ten setzten v. a. Kriegsgefangene und NS-Häftlinge zur Strafarbeit ein.Die letzte Quelle M 7 weitet die Per-spektive und verdeutlicht den Mehrwertder Fragestellungen der Visual History.Die Publikation Freiburger Biographienunternimmt als Sammelband den Ver-such, Berühmtheiten ebenso wie unbe-kannte oder vergessene Personen […],Menschen, die in Freiburg geboren sind,längere Zeit oder nur kurz hier lebten, injedem Fall ihre Spuren hinterlassen habe(siehe http://www.promo-verlag.de/shop/Freiburger-Biographien; aufgeru-fen am 19.04.2019) zu portraitieren. Ausdiesem Auszug kann ersichtlich werden,wie die Konstruktion des Mythos in sei-ner heutigen gängigen Version nach wievor präsent ist und weiterhin reprodu-ziert wird. Die in den 1980er Jahren imZuge der Diskussion um die Einführungeines Babyjahres in der Bundesrepublikvorgenommene Anpassung des Narrativsspiegelt sich auch in diesem Auszug wie-der: Aus einem isolierten, v. a. BerlinerPhänomen wird eine unvorstellbare Lei-stung gemacht, die eine ganze Generationvon Frauen erbracht hat – in Freiburgebenso wie in jeder anderen deutschenStadt. Abschließend denkbar wäre nocheine Vertiefung oder Problematisierungder Verwendung des Trümmerfrauenbil-des als politisches Argument im Land-tagswahlkampf in Bayern 2018 (So warv. a. die Grünen-Abgeordnete KatharinaSchulze Ziel einer Kampagne der AfD,siehe https://twitter.com/AfD_Bayern/status/1050734187509108736, aufgeru-fen am 19.04.2019) oder die Darstellungbeispielsweise von Andrea Nahles alsTrümmerfrau der SPD im Zuge ihrerWahl zur SPD-Parteivorsitzenden. Kari-katuren beispielsweise aus der FederHorst Haitzingers (siehe https://www.badische-zeitung.de/meinung/karikaturen/truemmerfrauen--149340801.html, aufgerufen am19.04.2019) sind online frei zugänglich.

Florian Hellberg ist Landeskundebeauf-tragter des Kultusministeriums Baden-Württemberg im Regierungsbezirk Frei-burg und Gymnasiallehrer in Rheinau.Tobias Roth ist Gymnasiallehrer in Frei-burg.

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Archivnachrichten 59 / 2019 57Quellen für den Unterricht 58

Formale Merkmale

Organisation der Bildfläche

Organisation des Bildraumes

Bildgegenstände / Figurendarstellung

Perspektive

Farbgebung

Fotografische bzw. bildbearbeitende Mittel

Historischer Kontext

Intention des Fotografen bzw. des Auftraggebers

Bildbearbeitung und Präsentation

Nutzung

Wirkung

Quellenwert der Fotografie

- Um welche Art von Bild handelt es sich? (Personenbild, Landschaftsbild, ...)

- Gibt es Achsen, Linien oder Kurven, die die Bildfläche gliedern? - Lässt sich eine bestimmte Lichtführung erkennen?- Lassen sich Ordnungsprinzipien oder Kompositionsmuster ausmachen?- Welche Wirkung entsteht durch diese Ordnung der Fläche? (Ruhe, Spannung, …)

- Wie entsteht die Raumillusion? (Groß-Klein-Beziehung, Überschneidungen, …)- Welcher Bereich des Bildes lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich?

- Wie sind die vorhandenen Objekte und Figuren auf der Fläche arrangiert?- Welche Beziehungen nehmen sie zueinander, zu ihrer Umgebung und zum Betrachter auf?- Welche Haltung und Handlungen sind zu erkennen?

- Welche Aufnahmeperspektive wurde gewählt? - Wirkt der Raum betretbar? (Weg führt hinein, Hindernisse, …)- Handelt es sich bei dem Bild um einen Ausschnitt oder ein Panorama?

- Wie ist die Farbpalette beschaffen? (Tonumfang, Haupttöne, Mischung, …)- Welche Kontraste fallen auf?- Welche Wirkung geht von der Farbwahl aus?

- Wie ist die Bildoberfläche beschaffen? (rau, glatt, strukturiert, glänzend, …)- Wie wird das Bild präsentiert? (Format, Rahmung, …)

- Wann, wo und wie wurde das Foto aufgenommen bzw. produziert? - Wer hat das Foto aufgenommen und wer war der Auftraggeber?

- Was ist die Botschaft des Fotografen und seines Auftraggebers? - Welche Wirkungsabsicht hatte die Fotografie?

- Wurde die Fotografie nachträglich aus einem bekannten Grund bearbeitet?- In welchem Kontext wurde die Fotografie veröffentlicht/präsentiert?- Hat die Fotografie Bildunterschriften, Kommentare, Anmerkungen?

- In welchem Kontext und mit welcher Absicht wird das Bild (wieder-)verwendet? (politisch, ökonomisch, …)- Wie verändert sich die Verwendung im jeweiligen historischen Kontext?

- Wie wirkt das Bild in seinem jeweiligen historischen Kontext auf den Betrachter?

- Welchen Stellenwert hat die Fotografie im kollektiven Gedächtnis?- Welche Geschichtskonstruktion verbirgt sich hinter dem Schlüsselbild?

M 8: Methodenblatt Visual History zurAnalyse historischer FotografienI. Be-Schreibung – Abbildungsrealität

II. Be-Deutung – Entstehungsrealität (im historischen Kontext)

III. Be-Nutzung – Rezeption

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Der Schwäbische Dichterkreis von 1938und seine EntnazifizierungBegleitbuch zur AusstellungHerausgegeben von Stephan MolitorVerlag W. Kohlhammer 2019133 Seiten, kartoniert€ 14,–ISBN 978-3-17-036527-8

Ritter – Landespatron – JugendidolMarkgraf Bernhard II. von BadenHerausgegeben von Martin Stingl undWolfgang ZimmermannVerlag W. Kohlhammer 2019203 Seiten, fester Einband/Fadenheftung€ 20,–ISBN 978-3-17-036528-5

Mechthild (1419–1482) im Spiegel derZeitBegleitbuch und Katalog zur AusstellungBearbeitet von Erwin Frauenknecht undPeter RückertVerlag W. Kohlhammer 2019247 Seiten, fester Einband/Fadenheftung€ 20,– ISBN 978-3-17-036526-1

Neue Veröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg

Archivnachrichten 58 / 201958

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Landesarchiv Baden-WürttembergEugenstraße 7, 70182 StuttgartTelefon 0711/212-4238Telefax 0711/212-4283E-Mail: [email protected]: www.landesarchiv-bw.de

Redaktion: Dr. Verena SchweizerGestaltung: volker müller grafik design, Königsbach-SteinDruck: Printsystem GmbH, Heimsheim

Das Heft erscheint halbjährlich und wird kostenlos abgegeben.ISSN 1437-0018

Archivnachrichten 59 / 2019 59

Impressum

Das Archivmagazin – Anforderungen,Abläufe, GefahrenVorträge des 78. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2018 inAugsburgHerausgeben von Christian Kruse undPeter MüllerVerlag W. Kohlhammer 201980 Seiten, kartoniert€ 10,–ISBN 978-3-17-036525-4

Deutsch–französische Besatzungs-beziehungen im 20. JahrhundertHerausgegeben von Frank Engehausen,Marie Muschalek und Wolfgang ZimmermannVerlag W. Kohlhammer 2018Werkhefte der Staatlichen Archivverwal-tung Baden-Württemberg Serie A Heft27234 Seiten, fester Einband/Fadenheftung€ 20,–ISBN 978-3-17-034383-2

Olympische Spiele: Architektur und Gestaltung. Berlin – München – Stutt-gartBegleitbuch zur AusstellungHerausgeben von Peter Bohl und Markus FriedrichVerlag W. Kohlhammer 2018192 Seiten, fester Einband/Fadenheftung€ 18,–ISBN 978-3-17-036208-6

Neue Veröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg

Die Bände sind im Buchhandel oder direkt beim Verlagerhältlich.

Alle Neuerscheinungen finden Sie auf der Homepage desLandesarchivs Baden-Württemberg (www.landesarchiv-bw.de) unter „Aktuelles > Neue Publikationen“.

Archivnachrichten und Quellen für den Unterricht findenSie auch auf der Homepage des Landesarchivs Baden-Würt-temberg (www.landesarchiv-bw.de) unter „Landesarchiv > Publikationen“.

Titelfoto: Haubt-Rodel über das Amt Ummendorf von 1727, Beirodel 1732.Vorlage: LABW, HStAS H 230 Bd. 226; Aufnahme: Marcella Müller.

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Colombistraße 479098 Freiburg im BreisgauTelefon: 0761/38060-0Telefax: 0761/38060-13E-Mail: [email protected]

Nördliche Hildapromenade 376133 KarlsruheTelefon: 0721/926-2206Telefax: 0721/926-2231E-Mail: [email protected]

Arsenalplatz 371638 LudwigsburgTelefon: 07141/64854-6310Telefax: 07141/64854-6311E-Mail: [email protected]

Außenstelle des Staatsarchivs LudwigsburgSchloss74632 NeuensteinTelefon: 07942/94780-0Telefax: 07942/94780-19E-Mail: [email protected]

Landesarchiv Baden-WürttembergZentrale DiensteEugenstraße 770182 StuttgartTelefon: 0711/212-4272Telefax: 0711/212-4283E-Mail: [email protected]

mit:Institut für Erhaltung vonArchiv- und BibliotheksgutSchillerplatz 1171638 LudwigsburgTelefon: 07141/64854-6600Telefax: 07141/64854-6699E-Mail: [email protected]

Landesarchiv Baden-WürttembergArchivischer GrundsatzEugenstraße 770182 StuttgartTelefon: 0711/212-4272Telefax: 0711/212-4283E-Mail: [email protected]

mit:GrundbuchzentralarchivStammheimer Straße 1070806 KornwestheimTelefon: 07154/17820-500Telefax: 07154/17820-510E-Mail: [email protected]

Landesarchiv Baden-WürttembergEugenstraße 770182 StuttgartTelefon: 0711/212-4272Telefax: 0711/212-4283E-Mail: [email protected]

Karlstraße 1+372488 SigmaringenTelefon: 07571/101-551Telefax: 07571/101-552E-Mail: [email protected]

Konrad-Adenauer-Straße 470173 StuttgartTelefon: 0711/212-4335Telefax: 0711/212-4360E-Mail: [email protected]

im Archivverbund Main-TauberBronnbach 1997877 WertheimTelefon: 09342/91592-0Telefax: 09342/91592-30E-Mail: [email protected]

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