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VON ECKHARD STENGEL. BREMEN Bremer Koalitionsgespräche grüßt die Fremde im Dämmerlicht des Treppenhauses. „Christo kommt gleich", sagt sie und bittet aufs Sofa, quasi dem einzigen Möbelstück in einem riesigen Raum, der für Ausstellungen ge- nutzt werden kann. An den Wänden hängen Christos Projekte. In der Mitte der Reichstag. Christo kommt tatsächlich gleich, scherzt und bietet einen Drink an. „Wir leben hier seit 31 Jahren. Das Haus wurde vor 140 Jah- ren gebaut, noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Im Krieg war es dann Muni- tionsdepot", erklärt er ungefragt, wohlwis- send, was Besucher, zumal Journalisten, wissen möchten. Ebenso bereitwillig zeigt er später das Haus: fünf Etagen, die inzwischen alle von Christo und Jeanne-Claude bewohnt werden. Früher habe man nur die oberen beiden Etagen gehabt, doch inzwischen sei das Haus ihr Eigentum. Dennoch hat hier nichts auch nur den Anflug von Luxus. Das Bosnien-Herzegowina - ein Land, in dem sich nur noch Bestattungen lohnen VON RUPERT NEUDECK. ZENICA I ch gehe" - diesen Satz haben die Bremer Genossen schon öfter gehört: Dreimal in zwei Jahren trat der oder die Landesvor- sitzende zurück. Diesmal, auf dem ersten Parteitag nach der SPD-Schlappe bei der Bürgerschaftswahl, geht allerdings nicht Parteichefin Christine Wischer, sondern ein Juso-Funktionär. Bevor er die Partei verläßt, versucht er noch, die Delegierten zur Um- kehr aufzurufen. „Von hier muß ein absolu- tes Nein zu einer Großen Koalition ausge- hen", fordert er lautstark. Dem Bürgermei- sterkandidaten Schert" ruft er zu: „Henning, bist Du bereit, die Sparpolitik sofort aufzu- geben?" Als er nur Gelächter erntet, sagt er: „Ich gehe" und kündigt die Gründung einer „Sozialistischen Partei" an. Der junge Rote ist am Montagabend der einzige Redner, der sich nicht mit dem Er- gebnis der SPD-Basisbefragung vom Vortag abfindet. Mit hauchdünner Mehrheit hatten die Mitglieder für eine Große Koalition ge- stimmt, weil ihnen ein rot-grünes Bündnis bei einer Parlamentsmehrheit von 51 zu 49 Stimmen zu riskant erschien. Alle anderen Redner beschwören den Parteitag, das Er- gebnis der Umfrage nun auch offiziell zu be- stätigen. „Da kommt keine Begeisterung auf, klagen Rot-Grün-Anhänger, aber sie fü- gen sich in das Unvermeidliche. Am Rande der Bündnisdebatte wird auch die Wahlniederlage gewürdigt. „Pleiten, Pech und Pannen" habe es in Partei, Senat und Fraktion gegeben, sagt selbstkritisch Parteichefin Wischer. Auf die Europaabge- ordnete Karin Jons wirkt die SPD „meist alt- modisch, hausbacken und sozialdemokra- tisch bieder". Jons: „Sind wir nicht langsam zu einem Selbstbedienungsladen kurz vor dem Ausverkauf geworden?" Aber alle plä- menkommen konnten. Jeanne-Claude hatte nämlich zunächst einen anderen Mann ge- heiratet, um Christo, den unbekannten Por- traitmaler, der auf Vermittlung eines Genfer Friseurs die Mutter portraitiert hatte, zu ver- gessen. Nach drei Wochen Ehe verließ sie den Ehemann. „Dein Schlüssel paßt nicht zu meinem Schloß", hatte sie ihm zum Ab- schied noch an den Kopf geschleudert. Die Familie war sauer, sprach zwei Jahre nicht mehr mit der Tochter, die fortan mit Christo und dem gemeinsamen Sohn unver- heiratet zusammenlebte. Dies sei damals nicht so einfach gewesen wie heute. An Kindheit und Jugend mag denn Jeanne-Clau- de auch nicht erinnert werden. Es sei furcht- bar gewesen. Christo dagegen erinnert sich gern. Beispielsweise an Abenteuer. Als er mit den Eltern im Balkan Ferien machte, habe er sich in den Schnee eingegraben und geglaubt, dort den Südpol zu entdecken. Da- mals sei Amundsen, der Südpol-Forscher, sein Idol gewesen. „Ich liebe Abenteuer", Christo ist immer freundlich. „Ich verstehe Menschen nicht, die klagen. Ich liebe das Le- ben", bekennt er und erinnert auf dem Fuß- boden sitzend noch mehr als sonst an jenen Berufsoptimisten, der komischerweise im- mer wieder zum tragischen Alltagshelden wird: Woody Allen. Christo und Jeanne-Claude leben in New York, dort, wo Manhattan Soho heißt. „Drük- ken Sie den roten Klingelknopf hatte am Ende der handgemalten Wegbeschreibung gestanden, die der Besucherin in Berlin in die Hand gedrückt worden war. Ohne dieses Hilfsmittel wäre es schwer geworden, Chri- sto und Jeanne-Claude zu finden. Vor Ort an- gekommen, sieht man vier Klingelknöpfe, von denen einer nur schwach erkennen läßt, daß er einmal rot sto, „ich liebe es hungrig zu sein. Hunger macht kreativ." Beide essen nur eine einzige Mahlzeit am Tag, meist spät in der Nacht. Sonst gibt es nur Vitamine. Wie halten sie sich gesund? „Ich laufe zwanzig bis dreißig Mal am Tag die Treppen hier im Haus rauf und runter", sagt Christo und erzählt, daß er sich alle sechs Monate durchchecken lasse. Jedesmal gebe ihm der Arzt scherzhaft „noch sechs Monate". Gleichwohl scheint beide zu beunruhigen, daß sie nun mit sech- zig nicht mehr die Jüngsten sind. „Ich will nie wieder jung sein", behauptet Jeanne- Claude, aber sie wünsche sich nichts mehr, als „weitere 400 Jahre lang 60 zu sein." Und auch Christo weiß, was er sich am meisten wünscht: „Gesundheit". Beim Autounfall plötzlich tot zu sein, sei nicht schlimm, aber schlimm sei es, krank zu werden. Auf dem Tisch vor dem Sofa stapeln sich Bücher. Alle handeln von Christo und Jean- ne-Claude. Sämtliche Projekte liegen parat. Mit einem Griff hat Jeanne-Claude auch Be- weismaterial zur Hand, wenn es beispiels- weise darum geht, die Kunst der beiden in die Kunstgeschichte einzusortieren. Kleine gelbe Zettel markieren die entsprechenden Seiten: hier Duerer, dort Fra Angelico, aber auch die Griechen und Römer werden als Vorbilder akzeptiert. Es sei immer von Verhüllung die Rede, ereifert sich Christo, das sei schrecklich. Da- bei habe man bislang überhaupt nur zwei Gebäude verhüllt, die Berner Kunsthalle, 1968, und nun den Reichstag. Ihnen käme es auf etwas ganz anderes an: den Faltenwurf, das Fließen des Stoffes, genau auf das eben, das auch die Renaissance-Künstler mit ihren Mitteln versucht hätten. Daß man, im Ge- gensatz zu den Vorbildern, mit der Kunst aus dem Atelier hinaus ins wirkliche Leben gehe, sei zeitgemäß. Er sei kein moderner Künstler, betont Christo, er sei ein zeitge- nössischer Künstler. Bleibt bei so viel Erfolg und Zufriedenheit ein Wunsch offen? Daß am 17. Juni, wenn die Reichstagsverhüllung beginnt, kein Wind weht. Auch in diesem Wunsch sind, niemand wird sich wundern, Christo und Jeanne-Claude eins. Treppenhaus wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gestrichen. Überall hängen Kakerla- kenfallen. Die einzige Etage, an die Jeanne- Claude und Christo jemals einen Architek- ten heranließen, ist die erste, dort, wo das Sofa steht und die Bilder hängen. Hier sei es schöner, weil hier ihr Sohn gewohnt habe. Immer wieder bringen beide ihren Sohn ins Gespräch, einen offenbar nicht recht er- folgreichen Dichter. Jeanne-Claude kopiert der Besucherin eines seiner Gedichte, denn das beweise, erklärt Christo, daß sein Sohn der einzige auf der Welt gewesen sei, der das Ende des Kalten Krieges vorausgesehen habe. Trotz dieser Bewunderung der Eltern scheint der Sohn die Einheit „Christo und Je- anne-Claude" nicht zur Dreieinigkeit ver- vollständigen zu wollen. Er lebt irgendwo anders in Manhat- angestrichen gewe- sen sein mag. Die Sprechanlage ant- wortet umgehend auf den Knopfdruck. Die Tür öffnet sich, eine Treppe führt steil nach oben. Je- anne-Claude be- gen Schwanger- schaften, die jedesmal mit der Verwirkli- chung glücklich zu Ende gingen. Jeanne-Claude vergißt nie, ob jemand für oder gegen das Reichstags-Projekt gekämpft hat. So wischt sie dem Bundeskanzler Kohl gern eins aus, jetzt, wo alles gelaufen ist. Auch sonst sortiert sie nach Freunden und Feinden. Freundin, eine dicke sogar, ist Rita Süssmuth. Auch Annemarie Renger kommt gut weg. All die anderen Bundes- und Bun- destagspräsidenten, die das Projekt torpe- diert haben, wurden ohnehin durch die Ent- wicklung übertollt. Christo und Jeanne- Claude sind Sieger geblieben. Warum? Ir- gendwie scheint es für beide die Selbstge- wißheit zu geben, einfach auf der richtigen Seite des Schicksals zu stehen. Dazu kommt eine Zähigkeit, die wahrscheinlich nur noch durch die Unbekümmertheit übertroffen wird, mit der beide ihre Ideen verfolgen und dieren schließlich für einen gemeinsamen Neuanfang und möchten die Spaltung der Partei in rot-grüne und rot-schwarze „Bin- destrich-Sozialdemokraten" überwinden. Als Spezialist für Versöhnungen aller Art steigt nach zwei Stunden der „lange Hen- ning" aufs Podium. Der Zwei-Meter-Mann war als Rot-Grün-Verfechter angetreten, hatte aber auch Rot-Schwarz nicht ganz aus- geschlossen. Schnell hat er sich damit abge- funden, daß ihm die Mitglieder nun diesen Auftrag verpaßt haben. „Ich möchte nach vorne gucken", ruft er und breitet die Arme aus, als möchte er alle unter seinen Fittichen vereinen. Zur Freude vieler Genossen zieht er unerwartet heftig über die Grünen her und droht ihnen „scharfe Konkurrenz" an. Aber auch gegenüber der CDU schlägt Scherf Pflöcke ein: Mit der SPD nicht zu ma- chen, sei „das Verscherbeln" von Sozialwoh- nungsgesellschaften oder ein „Ausverkauf der Stadtwerke über 49,9 Prozent hinaus. Natürlich stehe das hochverschuldete Bre- men vor „extremen Sparnotwendigkeiten", aber dabei werde die SPD „die schutzwürdi- gen Interessen der kleinen Leute zu ihrer Sa- che machen" und „auf Verteilungsgerechtig- keit achten". „Wir überlassen das nicht den Bankern", ruft Scherf und spielt auf den CDU-Spitzenkandidaten Ulrich Nölle an - der sitzt im Bremer Sparkassenvorstand. Die anschließende Abstimmung ist da nur noch Formsache. 157 von 173 Delegierten übernehmen das Ergebnis der Basisbefra- gung und ernennen den bisherigen Bil- dungs- und Justizsenator zum Bürgermei- sterkandidaten. Fast genausoviele stimmen für Koalitionsgespräche mit der CDU. Zwei Anträge mit konkreten Forderungen für die Verhandlungen werden mit „Nichtbefas- sung" beschieden. Henning und seine Dele- gation werden's schon allein richten! Die erste Verhandlungsrunde beginnt noch am Dienstagnachmittag. SPD und CDU verfügen in der Bürgerschaft jeweils über 37 Mandate. Die Union leitet daraus ab, daß sie den gleichen Anspruch auf die Regierungs- führung hat wie die Sozis. Die wiederum kontern, sie hätten immerhin 2700 Wähler- stimmen mehr. Wahrscheinlich wird jetzt ein Koppelgeschäft vereinbart: Scherf wird Bürgermeister, Nölle Stellvertreter, und die CDU bekommt den Posten des Parlaments- präsidenten. Eine andere Möglichkeit wäre Job-Rotation: Scherf und Nölle wechseln sich nach zwei Jahren ab. „Wenn wir das durchsetzen, machen wir 'ne Sause", heißt es in CDU-Kreisen. Denn wenn die Union den Bürgermeister stellt, verliert die SPD ihre Mehrheit im Bonner Vermittlungsaus- schuß. Deshalb wird Scherf sich kaum dar- auf einlassen, auch wenn er sagt: „Reden müssen wir über alles." A sman Hodzic reibt sich den fast kah- len Kopf, als wir ihn fragen, ob wir die im Visier der bosnisch-serbischen Scharfschützen liegenden zwei Kilometer zwischen Visoko und Kiseljak - Vorstädte von Sarajevo - fahren können? „Macht das doch!" ruft er uns lachend zu: „Und wenn es nicht klappt, gebe ich euch einige Särge um- sonst." Kommt man in Asman Hodzics holz- verarbeitendes Unternehmen „Stolaric", wird man von der kapitalistischen Kühle der luxuriösen Geschäftsräume eingelullt. Denn Asman Hodzic ist junger Chef eines der lu- krativsten Unternehmen in Bosnien: ein Be- stattungsunternehmer. Aber der sportive Mann ist nicht nur wohlhabend, er ist auch dermaßen gescheit, daß er für dieses vor Kriminalität tobende Land schon fast gefährlich ist. Denn Bosnier, die die kalkulierte Unordnung und den öko- nomischen Wahnsinn, die mafiosen Allüren der vielen neuen „Regierungen" und Regie- renden durchschauen, sind zu gut für dieses Bosnien. Eigentlich, so sagt man, gehört so jemand wie Asman Hodzic erschossen. Bosnien ist zerhackt, zerstückelt, gevier- teilt. Kaum irgendwo auf der Welt sind die Alten, die Pensionäre, die gestempelt haben, die alten Kranken und die armen Alten so schlecht dran wie in diesem Land. Ein Witz- bold schrieb unlängst: Im Jahre 2000 wird es in Europa neun Länder geben. Eines heißt die Europäische Union mit offenen Innen- grenzen, die acht anderen sind: Kroatien, Mazedonien, Serbien, Montenegro, Kosovo, die Republik Krajina, die Republik Srbska, die muslimisch-kroatische Föderation. Asman Hodzic könnte man sich als Super- Schiller, als den Finanz-, Wirtschafts- und Innenminister einer neuen demokratisch gewählten Regierung vorstellen. Aber, wie er uns sarkastisch erzählt, in dieser neuen muslimisch-kroatischen Föderation gibt es schon 14000 Regierende, unproduktive Leute also, die in den Kantons-Regierungen sitzen bleiben und Pfründe verzehren wol- len. Ob die Kantone so klein sind wie Novi Travnik (kroatisch) und Travnik (musli- misch) oder größer als Zenica (muslimisch) und Mostar (gemischt) - oder ob man in Bosnien viel mehr gibt als veschleierte, ihre Kleidung auszutreiben. Dann wurde den Metzgereien das Schweinefleisch aus den Auslagen gerissen und vernichtet. Und schließlich fingen die Mudjahedin an, in den Restaurants und Straßencafes die Tische um- zuwerfen, auf denen Alkohol stand. Dabei hatten sie aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Die 1400 türkischen Blauhelme trinken nämlich gerne Bier, sie bilden eine hochmoderne und säkulare Ar- mee. Also holten die Türken mit ihren Funk- geräten Panzer-Verstärkung, sperrten die Straße ab, fingen die Fanatiker ein - und ver- prügelten sie vor der Stadtbevölkerung. Jetzt singen alle in Zenica das Lob auf die türki- schen Blauhelme, ganz besonders die Musli- me, die nie auf ihren Slivovic verzichten werden. Außerdem trauen sich die Mudja- hedin nur noch unbewaffnet in die Stadt. In Zenica sitzen wir abends im siebten Stock des Hotels Intercontinental. Vor dem Gebäude stehen acht funkelnagelneue Toyo- tas ohne einen Dreckspritzer und mit teu- rem Zubehör: Telefon, Funk, Air-Condition. Oben sitzen einige ausländische Militärs in blütenweißen Hemden. „Eisverkäufer" wer- den diese „Beobachter" hier genannt. Denn jeder weiß: Sie geben ein Heidengeld aus, machen alle Monate verlängerte Wochen- enden und sind nie da, wenn man sie wirk- lich braucht. Als am 12. Mai morgens um sechs Uhr die kroatische Armee nach West- slawonien einrückte, war die Mehrzahl von ihnen gerade an der Adria. Mostar und Siroki Brijeh drei Regierungen nebeneinander stehen läßt, das ist egal. Nie- mand verlangt nach Rentabilität oder öko- nomischer Verantwortlichkeit. Asman Hodzic hat während der ganzen Zeit dieses Krieges die Leichen der Serben - neben den anderen Leichen - vom Schlacht- feld und dann in seinen Särgen mit dem gu- tem Design auf die andere, die serbische Sei- te geschafft. Das hat ihm in seinem Haus und in seinen Geschäftsräumen in Visiko bis heute den Rücken freigehalten. Denn Asman Hodzic sitzt mit dem Rücken zu der nur 500 terstützt von etlichen alten Glaubenskämp- fern aus Afghanistan, Pakistan und dem Su- dan, wollten in der Stadt die Scharia-Gesetze einführen. Es begann mit einigen der Mud- jahedin, die sich eine schöne bosnische Frau oder ein bosnisches Mädchen in Zenica zur Frau nahmen. Gemäß der bosnischen Sitte kamen die Väter von Zeit zu Zeit bei ihren Töchtern zu Besuch. Daraufhin schnitten die empörten Glaubenskämpfer ihren Frauen die Fingerkuppen ab: Das hatten sie nicht erlaubt, Männerbesuch. Dann begannen sie, den Mädchen im Minirock, von denen es in Meter entfernten serbischen Frontlinie. Dort stehen die Einheiten der serbischen Armee, die ihn mit ihren Zielfernrohrgewehren schon längst hätten erledigen können. Bis jetzt blieb es ruhig. Doch inzwischen hat auch Hodzic seine Fenster vernageln lassen. In Zenica, der viertgrößten Stadt Bosniens, 65 Kilometer von Sarajevo entfernt, kochte es im letzten Jahr, zwischen Mai und August 1994. Die extremistischen Heißsoorne. un- DIE DRITTE SEITE MITTWOCH, 14. JUNI 1995 / Nr. 15 296 JJIE JJiVli 1 1J Ü 1J 1 1 DER TAGESSPIEGEL / SEITE 3 '///'//in ' "^ IN SEINEM ATELIER, in der vierten Etage des gemeinsamen Hauses, ist Christo zumeist allein. Foto: Wolfgang Volz ..- •*" "V. 1 J rfc. Atta*? HENNING SCHERF, der Bürgermeisterkandi- dat der Bremer SPD. Foto: dDa tan. „Der Reichstag, der Running Fence, Valley Curtain - das alles sind unsere Kinder", Jeanne- Claude spricht im Zusammenhang mit den Projekten im- mer wieder von Ian- Jeanne-Claude vergißt nie, ob jemand für oder gegen das Reichstags-Projekt gekämpft hat. Helmut Kohl wischt sie daher gern eins aus / s r * .. r , J 11 »i * st»* --r> r / <•- - i fj n[ fr-r Äö" IN PALE, der Hochburg der bosnischen Serben, stehen Kinder vor einem Totenkopf, dem Karadzic-Anhänger einen Blauhelm aufgesetzt haben. Damit wollen die Serben ihre Verachtung demonstrieren, die sie für die Friedenstruppen der Vereinten Nationen haben. Foto: AP Anzeige • GAM ist gut! Handwerk für Fassade und Haus Fassadenschutz mit GAMOPLAST. Wärmedämmung. Neuputz. Putzausbesserung und Anstriche. Alle Moler-, Klempner-, Dachdecker-, Zimmererarbeiten, auch Reparatur-Service. Hausflurrenovierung. Fußbodenverlegearbeifen jeder Art. Das Angebot ohne wenn und aber: FassadeSHaus ©80138 44 \=3Taaoi3844c=^ / GAM, Bergenqruenstr. 54,14129 Berlin Das beste Unternehmen am Ort Henning wird's richten Christo und Jeanne-Claude sind seit Jahren ein eingespieltes Team, das die Rollen fest verteilt hat. Ein Besuch in ihrem Haus und Atelier in New York „Ich liebe es, hungrig zu sein" VON MONIKA ZIMMERMANN, NEW YORK J eanne-Claude sitzt auf dem Sofa, Christo auf dem Fußboden, ihr zu Füßen. Doch diese Lage besagt nichts. Auf wunder- same Weise wollen sie offenbar immer dasselbe. „Es gibt nur drei Dinge, die wir nicht zusammen tun", erklärt Jeanne-Clau- de: „Christo macht Zeichnungen. Ich mache keine Zeichnungen. Christo hat noch nie Ab- rechnungen gemacht. Er weiß nichts über Steuern oder Rechnungen. Das erledige ich. Und drittens, wir nehmen nie dasselbe Flug- zeug." Deshalb werden sie auch nicht ge- meinsam nach Berlin fliegen. Jeanne-Claude fliegt zuerst, Christo kommt nach. Er will in New York noch wei- tere Zeichnungen machen, mit denen das Projekt finanziert werden muß. Sie küm- mert sich in Berlin um all die Handwerker und Helfer, die das verwirklichen müssen, was sich die beiden Künstler in den Kopf ge- setzt haben. Es sei eben nicht so, daß Christo die Ideen habe und sie sich um deren Ver- wirklichung kümmere, sondern beide machten beides. Jeanne-Claude ist bei ihrem Lieblingsthe- ma: Christo und Jeanne-Claude, die zwei, die eins sein wollen und diese Einheit auch per- fekt demonstrieren. Nein, sie würden nicht beide 60, sondern zusammen 120, verbes- sert Jeanne-Claude sofort eine entsprechen- de Frage und Christo lacht. Überhaupt läßt er immer zu, daß seine Frau schneller ist als er, daß sie vieles besser weiß als er - „No, Dar- ling, das ist nicht richtig" -, daß sie antwor- tet, wenn er gefragt ist, daß sie etwas leicht dahinsagt, während er nachdenklich ist. So erklärt Jeanne-Claude auch, warum der ein- geführte Markenname „Christo" nun partout in „Christo und Jeanne-Claude" geändert werden mußte. Man könne sich diese Ände- rung, die der wahren Arbeitsverteilung ent- spreche, nun leisten. Früher, 1964, als man nach Amerika gekommen sei, habe sich hier niemand für einen europäischen Künstler interessiert und schon gar nicht für zwei. Da erschien es ihnen geschickter, erst einmal auf einen von beiden zu setzen. Christo und Jeanne-Claude sind ein einge- spieltes Team, das die Rollen fest verteilt hat. 1958 schon lernten sie sich in Paris kennen: der bulgarische Flüchtling, der den Staliriis- mus floh, und die französische Generals- tochter, die offenbar das Bürgerliche ihrer Existenz fliehen wollte. „Wir liebten uns", sagt Jeanne-Claude und gibt sich auch noch heute gern verliebt. Damals sei das für ihre Mutter „keine gute Nachricht gewesen". Warum hat sie ihn geliebt? „Weil er ein fan- tastischer Liebhaber war." Jeanne-Claude hat keine Scheu vor dem Klischee und fügt erwartungsgemäß hinzu: „und es immer noch ist". Später, als die bejden der Besuche- rin aus Berlin das gesamte Haus zeigen, wird auch das Schlafzimmer nicht ausgespart: „Voila", sagt Jeanne-Claude, „das Heiligtum". Bereitwillig erzählen beide, wie das war, als sie, die zwei Königskinder, nicht zusam- geradezu Spaß daran haben, sich mit der Kunst mitten ins Leben hineinzubegeben. Das tun sie, jenseits der Arbeit, nur selten. Das Haus, mit seinen fünf Etagen, ist ihr Le- bensraum: in der ersten Etage die Ausstel- lung, darüber das Lager, wo alles steht, was von allem übrigblieb und wo es viel Packpa- pier gibt - nicht etwa zum Verhüllen, son- dern zum Verpacken von Büchern, Broschü- ren, Prospekten. Von New York aus dirigie- ren Christo und Jeanne-Claude die vielen treuen Helfer in aller Welt. In der dritten Etage ist die Wohnung. In der kleinen Küche wird gelegentlich gekocht. Ansonsten be- merkenswert ist allenfalls ein handgemach- ter Stuhl oder das Büro von Jeanne-Claude. Hier gibt es alles doppelt - zwei Faxe, zwei Telefone - und außerdem sind viele Sprüche und Zettel an Wand und Schränke gepinnt. Neben Laotse ein Gedicht vom Sohn. In der vierten Etage das Atelier. Hier ist Christo zumeist allein. Überall im Haus ent- deckt man frühe Werke. Beispielsweise im Atelier eine große verpackte Skulptur. Wer weiß, wie fuchsteufelswild Christo und Jean- ne-Claude reagieren, wenn im Zusammen- hang mit ihrer Arbeit von „Verpackung" die Rede ist, findet hier im Haus gleich mehrere Belege dafür, daß die Verhüllung tatsächlich einmal aus der Verpackung hervorging. Gi- gantisch und atemberaubend dann die Dachterrasse: Umstellt von Hochhäusern, breitet sich hier ein Stück New Yorker Skyli- ne zum Anfassen aus. Einmal im Jahr sei man nur hier oben, am 4. Juli, dem Unabhän- gigkeitstag, um das Feuerwerk zu erleben, erzählt Jeanne-Claude während Christo die neue Isolierung inspiziert. Zurück auf dem Sofa, schüttet Jeanne- Claude Mandeln und Schokoladentäfelchen in die Knabberschalen und knabbert selbst davon. „Wir sind immer hungrig", sagt Chri- Anzeige • TLJ/^MCT DAS GESAMTE STUHL-PROGRAMM FÜR ARBEITS- UJWOHNBEREICHE fSOlk CE Hikolsburger Str.8/9 10717 Berlin UllTlCr Tel.8827854-Fax8821168

Christo und Jeanne-Claude sind seit Jahren ein Ein Besuch ... · Das Haus wurde vor 140 Jah-ren gebaut, noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Im Krieg war es dann Muni- ... jemand

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  • VON ECKHARD STENGEL. BREMEN

    Bremer Koalitionsgespräche

    grüßt die Fremde imDämmerlicht des Treppenhauses. „Christokommt gleich", sagt sie und bittet aufs Sofa,quasi dem einzigen Möbelstück in einemriesigen Raum, der für Ausstellungen ge-nutzt werden kann. An den Wänden hängenChristos Projekte. In der Mitte der Reichstag.

    Christo kommt tatsächlich gleich, scherztund bietet einen Drink an. „Wir leben hierseit 31 Jahren. Das Haus wurde vor 140 Jah-ren gebaut, noch vor dem amerikanischenBürgerkrieg. Im Krieg war es dann Muni-tionsdepot", erklärt er ungefragt, wohlwis-send, was Besucher, zumal Journalisten,wissen möchten. Ebenso bereitwillig zeigt erspäter das Haus: fünf Etagen, die inzwischenalle von Christo und Jeanne-Claude bewohntwerden. Früher habe man nur die oberenbeiden Etagen gehabt, doch inzwischen seidas Haus ihr Eigentum. Dennoch hat hiernichts auch nur den Anflug von Luxus. Das

    Bosnien-Herzegowina - ein Land, in dem sich nur noch Bestattungen lohnen

    VON RUPERT NEUDECK. ZENICA

    I ch gehe" - diesen Satz haben die BremerGenossen schon öfter gehört: Dreimal inzwei Jahren trat der oder die Landesvor-sitzende zurück. Diesmal, auf dem erstenParteitag nach der SPD-Schlappe bei derBürgerschaftswahl, geht allerdings nichtParteichefin Christine Wischer, sondern einJuso-Funktionär. Bevor er die Partei verläßt,versucht er noch, die Delegierten zur Um-kehr aufzurufen. „Von hier muß ein absolu-tes Nein zu einer Großen Koalition ausge-hen", fordert er lautstark. Dem Bürgermei-sterkandidaten Schert" ruft er zu: „Henning,bist Du bereit, die Sparpolitik sofort aufzu-geben?" Als er nur Gelächter erntet, sagt er:„Ich gehe" und kündigt die Gründung einer„Sozialistischen Partei" an.

    Der junge Rote ist am Montagabend dereinzige Redner, der sich nicht mit dem Er-gebnis der SPD-Basisbefragung vom Vortagabfindet. Mit hauchdünner Mehrheit hattendie Mitglieder für eine Große Koalition ge-stimmt, weil ihnen ein rot-grünes Bündnisbei einer Parlamentsmehrheit von 51 zu 49Stimmen zu riskant erschien. Alle anderenRedner beschwören den Parteitag, das Er-gebnis der Umfrage nun auch offiziell zu be-stätigen. „Da kommt keine Begeisterungauf, klagen Rot-Grün-Anhänger, aber sie fü-gen sich in das Unvermeidliche.

    Am Rande der Bündnisdebatte wird auchdie Wahlniederlage gewürdigt. „Pleiten,Pech und Pannen" habe es in Partei, Senatund Fraktion gegeben, sagt selbstkritischParteichefin Wischer. Auf die Europaabge-ordnete Karin Jons wirkt die SPD „meist alt-modisch, hausbacken und sozialdemokra-tisch bieder". Jons: „Sind wir nicht langsamzu einem Selbstbedienungsladen kurz vordem Ausverkauf geworden?" Aber alle plä-

    menkommen konnten. Jeanne-Claude hattenämlich zunächst einen anderen Mann ge-heiratet, um Christo, den unbekannten Por-traitmaler, der auf Vermittlung eines GenferFriseurs die Mutter portraitiert hatte, zu ver-gessen. Nach drei Wochen Ehe verließ sieden Ehemann. „Dein Schlüssel paßt nicht zumeinem Schloß", hatte sie ihm zum Ab-schied noch an den Kopf geschleudert.

    Die Familie war sauer, sprach zwei Jahrenicht mehr mit der Tochter, die fortan mitChristo und dem gemeinsamen Sohn unver-heiratet zusammenlebte. Dies sei damalsnicht so einfach gewesen wie heute. AnKindheit und Jugend mag denn Jeanne-Clau-de auch nicht erinnert werden. Es sei furcht-bar gewesen. Christo dagegen erinnert sichgern. Beispielsweise an Abenteuer. Als ermit den Eltern im Balkan Ferien machte,habe er sich in den Schnee eingegraben undgeglaubt, dort den Südpol zu entdecken. Da-mals sei Amundsen, der Südpol-Forscher,sein Idol gewesen. „Ich liebe Abenteuer",Christo ist immer freundlich. „Ich versteheMenschen nicht, die klagen. Ich liebe das Le-ben", bekennt er und erinnert auf dem Fuß-boden sitzend noch mehr als sonst an jenenBerufsoptimisten, der komischerweise im-mer wieder zum tragischen Alltagsheldenwird: Woody Allen.

    Christo und Jeanne-Claude leben in NewYork, dort, wo Manhattan Soho heißt. „Drük-ken Sie den roten Klingelknopf hatte amEnde der handgemalten Wegbeschreibunggestanden, die der Besucherin in Berlin indie Hand gedrückt worden war. Ohne diesesHilfsmittel wäre es schwer geworden, Chri-sto und Jeanne-Claude zu finden. Vor Ort an-gekommen, sieht man vier Klingelknöpfe,von denen einer nur schwach erkennen läßt,daß er einmal rot

    sto, „ich liebe es hungrig zu sein. Hungermacht kreativ." Beide essen nur eine einzigeMahlzeit am Tag, meist spät in der Nacht.Sonst gibt es nur Vitamine. Wie halten siesich gesund? „Ich laufe zwanzig bis dreißigMal am Tag die Treppen hier im Haus raufund runter", sagt Christo und erzählt, daß ersich alle sechs Monate durchchecken lasse.Jedesmal gebe ihm der Arzt scherzhaft„noch sechs Monate". Gleichwohl scheintbeide zu beunruhigen, daß sie nun mit sech-zig nicht mehr die Jüngsten sind. „Ich willnie wieder jung sein", behauptet Jeanne-Claude, aber sie wünsche sich nichts mehr,als „weitere 400 Jahre lang 60 zu sein." Undauch Christo weiß, was er sich am meistenwünscht: „Gesundheit". Beim Autounfallplötzlich tot zu sein, sei nicht schlimm, aberschlimm sei es, krank zu werden.

    Auf dem Tisch vor dem Sofa stapeln sichBücher. Alle handeln von Christo und Jean-ne-Claude. Sämtliche Projekte liegen parat.Mit einem Griff hat Jeanne-Claude auch Be-weismaterial zur Hand, wenn es beispiels-weise darum geht, die Kunst der beiden indie Kunstgeschichte einzusortieren. Kleinegelbe Zettel markieren die entsprechendenSeiten: hier Duerer, dort Fra Angelico, aberauch die Griechen und Römer werden alsVorbilder akzeptiert.

    Es sei immer von Verhüllung die Rede,ereifert sich Christo, das sei schrecklich. Da-bei habe man bislang überhaupt nur zweiGebäude verhüllt, die Berner Kunsthalle,1968, und nun den Reichstag. Ihnen käme esauf etwas ganz anderes an: den Faltenwurf,das Fließen des Stoffes, genau auf das eben,das auch die Renaissance-Künstler mit ihrenMitteln versucht hätten. Daß man, im Ge-gensatz zu den Vorbildern, mit der Kunstaus dem Atelier hinaus ins wirkliche Lebengehe, sei zeitgemäß. Er sei kein modernerKünstler, betont Christo, er sei ein zeitge-nössischer Künstler. Bleibt bei so viel Erfolgund Zufriedenheit ein Wunsch offen? Daßam 17. Juni, wenn die Reichstagsverhüllungbeginnt, kein Wind weht. Auch in diesemWunsch sind, niemand wird sich wundern,Christo und Jeanne-Claude eins.

    Treppenhaus wurde seit Jahrzehnten nichtmehr gestrichen. Überall hängen Kakerla-kenfallen. Die einzige Etage, an die Jeanne-Claude und Christo jemals einen Architek-ten heranließen, ist die erste, dort, wo dasSofa steht und die Bilder hängen. Hier sei esschöner, weil hier ihr Sohn gewohnt habe.

    Immer wieder bringen beide ihren Sohnins Gespräch, einen offenbar nicht recht er-folgreichen Dichter. Jeanne-Claude kopiertder Besucherin eines seiner Gedichte, denndas beweise, erklärt Christo, daß sein Sohnder einzige auf der Welt gewesen sei, der dasEnde des Kalten Krieges vorausgesehenhabe. Trotz dieser Bewunderung der Elternscheint der Sohn die Einheit „Christo und Je-anne-Claude" nicht zur Dreieinigkeit ver-vollständigen zu wollen. Er lebt irgendwo

    anders in Manhat-angestrichen gewe-sen sein mag. DieSprechanlage ant-wortet umgehendauf den Knopfdruck.Die Tür öffnet sich,eine Treppe führtsteil nach oben. Je-anne-Claude be-

    gen Schwanger-schaften, die jedesmal mit der Verwirkli-chung glücklich zu Ende gingen.

    Jeanne-Claude vergißt nie, ob jemand füroder gegen das Reichstags-Projekt gekämpfthat. So wischt sie dem Bundeskanzler Kohlgern eins aus, jetzt, wo alles gelaufen ist.Auch sonst sortiert sie nach Freunden undFeinden. Freundin, eine dicke sogar, ist RitaSüssmuth. Auch Annemarie Renger kommtgut weg. All die anderen Bundes- und Bun-destagspräsidenten, die das Projekt torpe-diert haben, wurden ohnehin durch die Ent-wicklung übertollt. Christo und Jeanne-Claude sind Sieger geblieben. Warum? Ir-gendwie scheint es für beide die Selbstge-wißheit zu geben, einfach auf der richtigenSeite des Schicksals zu stehen. Dazu kommteine Zähigkeit, die wahrscheinlich nur nochdurch die Unbekümmertheit übertroffenwird, mit der beide ihre Ideen verfolgen und

    dieren schließlich für einen gemeinsamenNeuanfang und möchten die Spaltung derPartei in rot-grüne und rot-schwarze „Bin-destrich-Sozialdemokraten" überwinden.

    Als Spezialist für Versöhnungen aller Artsteigt nach zwei Stunden der „lange Hen-ning" aufs Podium. Der Zwei-Meter-Mannwar als Rot-Grün-Verfechter angetreten,hatte aber auch Rot-Schwarz nicht ganz aus-geschlossen. Schnell hat er sich damit abge-funden, daß ihm die Mitglieder nun diesenAuftrag verpaßt haben. „Ich möchte nachvorne gucken", ruft er und breitet die Armeaus, als möchte er alle unter seinen Fittichenvereinen. Zur Freude vieler Genossen ziehter unerwartet heftig über die Grünen herund droht ihnen „scharfe Konkurrenz" an.

    Aber auch gegenüber der CDU schlägtScherf Pflöcke ein: Mit der SPD nicht zu ma-chen, sei „das Verscherbeln" von Sozialwoh-nungsgesellschaften oder ein „Ausverkaufder Stadtwerke über 49,9 Prozent hinaus.Natürlich stehe das hochverschuldete Bre-men vor „extremen Sparnotwendigkeiten",aber dabei werde die SPD „die schutzwürdi-gen Interessen der kleinen Leute zu ihrer Sa-che machen" und „auf Verteilungsgerechtig-keit achten". „Wir überlassen das nicht denBankern", ruft Scherf und spielt auf denCDU-Spitzenkandidaten Ulrich Nölle an -der sitzt im Bremer Sparkassenvorstand.

    Die anschließende Abstimmung ist da nurnoch Formsache. 157 von 173 Delegiertenübernehmen das Ergebnis der Basisbefra-gung und ernennen den bisherigen Bil-dungs- und Justizsenator zum Bürgermei-sterkandidaten. Fast genausoviele stimmenfür Koalitionsgespräche mit der CDU. ZweiAnträge mit konkreten Forderungen für dieVerhandlungen werden mit „Nichtbefas-sung" beschieden. Henning und seine Dele-gation werden's schon allein richten!

    Die erste Verhandlungsrunde beginntnoch am Dienstagnachmittag. SPD und CDUverfügen in der Bürgerschaft jeweils über 37Mandate. Die Union leitet daraus ab, daß sieden gleichen Anspruch auf die Regierungs-führung hat wie die Sozis. Die wiederumkontern, sie hätten immerhin 2700 Wähler-stimmen mehr. Wahrscheinlich wird jetztein Koppelgeschäft vereinbart: Scherf wirdBürgermeister, Nölle Stellvertreter, und dieCDU bekommt den Posten des Parlaments-präsidenten. Eine andere Möglichkeit wäreJob-Rotation: Scherf und Nölle wechselnsich nach zwei Jahren ab. „Wenn wir dasdurchsetzen, machen wir 'ne Sause", heißtes in CDU-Kreisen. Denn wenn die Unionden Bürgermeister stellt, verliert die SPDihre Mehrheit im Bonner Vermittlungsaus-schuß. Deshalb wird Scherf sich kaum dar-auf einlassen, auch wenn er sagt: „Redenmüssen wir über alles."

    Asman Hodzic reibt sich den fast kah-len Kopf, als wir ihn fragen, ob wir dieim Visier der bosnisch-serbischenScharfschützen liegenden zwei Kilometerzwischen Visoko und Kiseljak - Vorstädtevon Sarajevo - fahren können? „Macht dasdoch!" ruft er uns lachend zu: „Und wenn esnicht klappt, gebe ich euch einige Särge um-sonst." Kommt man in Asman Hodzics holz-verarbeitendes Unternehmen „Stolaric",wird man von der kapitalistischen Kühle derluxuriösen Geschäftsräume eingelullt. DennAsman Hodzic ist junger Chef eines der lu-krativsten Unternehmen in Bosnien: ein Be-stattungsunternehmer.

    Aber der sportive Mann ist nicht nurwohlhabend, er ist auch dermaßen gescheit,daß er für dieses vor Kriminalität tobendeLand schon fast gefährlich ist. Denn Bosnier,die die kalkulierte Unordnung und den öko-nomischen Wahnsinn, die mafiosen Allürender vielen neuen „Regierungen" und Regie-renden durchschauen, sind zu gut für diesesBosnien. Eigentlich, so sagt man, gehört sojemand wie Asman Hodzic erschossen.

    Bosnien ist zerhackt, zerstückelt, gevier-teilt. Kaum irgendwo auf der Welt sind dieAlten, die Pensionäre, die gestempelt haben,die alten Kranken und die armen Alten soschlecht dran wie in diesem Land. Ein Witz-bold schrieb unlängst: Im Jahre 2000 wird esin Europa neun Länder geben. Eines heißtdie Europäische Union mit offenen Innen-grenzen, die acht anderen sind: Kroatien,Mazedonien, Serbien, Montenegro, Kosovo,die Republik Krajina, die Republik Srbska,die muslimisch-kroatische Föderation.

    Asman Hodzic könnte man sich als Super-Schiller, als den Finanz-, Wirtschafts- undInnenminister einer neuen demokratischgewählten Regierung vorstellen. Aber, wieer uns sarkastisch erzählt, in dieser neuenmuslimisch-kroatischen Föderation gibt esschon 14000 Regierende, unproduktiveLeute also, die in den Kantons-Regierungensitzen bleiben und Pfründe verzehren wol-len. Ob die Kantone so klein sind wie NoviTravnik (kroatisch) und Travnik (musli-misch) oder größer als Zenica (muslimisch)und Mostar (gemischt) - oder ob man in

    Bosnien viel mehr gibt als veschleierte, ihreKleidung auszutreiben. Dann wurde denMetzgereien das Schweinefleisch aus denAuslagen gerissen und vernichtet. Undschließlich fingen die Mudjahedin an, in denRestaurants und Straßencafes die Tische um-zuwerfen, auf denen Alkohol stand.

    Dabei hatten sie aber die Rechnung ohneden Wirt gemacht: Die 1400 türkischenBlauhelme trinken nämlich gerne Bier, siebilden eine hochmoderne und säkulare Ar-mee. Also holten die Türken mit ihren Funk-geräten Panzer-Verstärkung, sperrten dieStraße ab, fingen die Fanatiker ein - und ver-prügelten sie vor der Stadtbevölkerung. Jetztsingen alle in Zenica das Lob auf die türki-schen Blauhelme, ganz besonders die Musli-me, die nie auf ihren Slivovic verzichtenwerden. Außerdem trauen sich die Mudja-hedin nur noch unbewaffnet in die Stadt.

    In Zenica sitzen wir abends im siebtenStock des Hotels Intercontinental. Vor demGebäude stehen acht funkelnagelneue Toyo-tas ohne einen Dreckspritzer und mit teu-rem Zubehör: Telefon, Funk, Air-Condition.Oben sitzen einige ausländische Militärs inblütenweißen Hemden. „Eisverkäufer" wer-den diese „Beobachter" hier genannt. Dennjeder weiß: Sie geben ein Heidengeld aus,machen alle Monate verlängerte Wochen-enden und sind nie da, wenn man sie wirk-lich braucht. Als am 12. Mai morgens umsechs Uhr die kroatische Armee nach West-slawonien einrückte, war die Mehrzahl vonihnen gerade an der Adria.

    Mostar und Siroki Brijeh drei Regierungennebeneinander stehen läßt, das ist egal. Nie-mand verlangt nach Rentabilität oder öko-nomischer Verantwortlichkeit.

    Asman Hodzic hat während der ganzenZeit dieses Krieges die Leichen der Serben -neben den anderen Leichen - vom Schlacht-feld und dann in seinen Särgen mit dem gu-tem Design auf die andere, die serbische Sei-te geschafft. Das hat ihm in seinem Hausund in seinen Geschäftsräumen in Visiko bisheute den Rücken freigehalten. Denn AsmanHodzic sitzt mit dem Rücken zu der nur 500

    terstützt von etlichen alten Glaubenskämp-fern aus Afghanistan, Pakistan und dem Su-dan, wollten in der Stadt die Scharia-Gesetzeeinführen. Es begann mit einigen der Mud-jahedin, die sich eine schöne bosnische Frauoder ein bosnisches Mädchen in Zenica zurFrau nahmen. Gemäß der bosnischen Sittekamen die Väter von Zeit zu Zeit bei ihrenTöchtern zu Besuch. Daraufhin schnitten dieempörten Glaubenskämpfer ihren Frauendie Fingerkuppen ab: Das hatten sie nichterlaubt, Männerbesuch. Dann begannen sie,den Mädchen im Minirock, von denen es in

    Meter entfernten serbischen Frontlinie. Dortstehen die Einheiten der serbischen Armee,die ihn mit ihren Zielfernrohrgewehrenschon längst hätten erledigen können. Bisjetzt blieb es ruhig. Doch inzwischen hatauch Hodzic seine Fenster vernageln lassen.

    In Zenica, der viertgrößten Stadt Bosniens,65 Kilometer von Sarajevo entfernt, kochtees im letzten Jahr, zwischen Mai und August1994. Die extremistischen Heißsoorne. un-

    DIE DRITTE SEITEMITTWOCH, 14. JUNI 1995 / Nr. 15 296 J J I E J J i V l i 1 1J Ü 1J 1 1 JÜ DER TAGESSPIEGEL / SEITE 3

    '///'//in ' "̂IN SEINEM ATELIER, in der vierten Etage des gemeinsamen Hauses, ist Christo zumeist allein. Foto: Wolfgang Volz

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    HENNING SCHERF, der Bürgermeisterkandi-dat der Bremer SPD. Foto: dDa

    tan. „Der Reichstag,der Running Fence,Valley Curtain - dasalles sind unsereKinder", Jeanne-Claude spricht imZusammenhang mitden Projekten im-mer wieder von Ian-

    Jeanne-Claude vergißt nie,ob jemand für oder gegen

    das Reichstags-Projektgekämpft hat. Helmut Kohl

    wischt sie daher gern eins aus

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