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Neue Wege der Forschung
Der Erste WeltkriegHerausgegeben vonWolfgang Kruse
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;
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Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen,bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
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2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermglicht.Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Gedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem PapierPrinted in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26429-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhltlich:eBook (PDF): 978-3-534-73869-4eBook (epub): 978-3-534-73870-0
Inhalt
Wolfgang KruseEinleitung ................................................................................................ 7
I. Politische Sozialgeschichte
Gerald FeldmanDie Mobilisierung der Volkswirtschaften fr den Krieg....................... 18
Jrgen KockaKlassengesellschaftliche Tendenzen und Gegentendenzen: dasVerhltnis Land-Stadt, Generationen, Konfessionen und Min-derheiten ................................................................................................ 35
Susanne RouetteFrauenarbeit, Geschlechterverhltnisse und staatliche Politik .............. 51
Gerald Feldman, Eberhard Kolb, Reinhard RrupDie Massenbewegungen der Arbeiterschaft in Deutschland amEnde des Ersten Weltkrieges (1917 1920) ......................................... 83
II. Neue Militrgeschichte
Wilhelm DeistVerdeckter Militrstreik im Kriegsjahr 1918?..................................... 112
Bernhard UlrichMilitrgeschichte von unten. Anmerkungen zu ihren Ursprngen,Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert..................................... 131
Uta HinzFazit: Gefangen im Groen Krieg ....................................................... 165
6 Inhalt
III. Politische Kulturgeschichte
Wolfgang KruseDie Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des ErstenWeltkrieges. Entstehungszusammenhnge, Grenzen und ideolo-gische Strukturen................................................................................. 180
Bernd HppaufRume der Destruktion und Konstruktion von Raum. Landschaft,Sehen, Raum und der Erste Weltkrieg ................................................ 197
Ute DanielInformelle Kommunikation und Propaganda in der deutschenKriegsgesellschaft ............................................................................... 217
Anne SchmidtEntwicklungen in der politischen Bildsprache .................................... 232
Auswahlbibliographie ......................................................................... 255
Autoren................................................................................................ 256
Wolfgang Kruse
Einleitung
Der Erste Weltkrieg war schon immer und wird auch noch auf unabseh-bare Zeit eine Herausforderung fr die Geschichtswissenschaft bleiben.1Diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) hatnicht nur, obwohl ihr Zentrum in Europa lag, die ganze Welt erfasst,sondern ihre Gesellschaften auch auf allen Ebenen, von der Wirtschaftber die soziale Ordnung und die politische Herrschaft bis hin zur Kul-tur, so tiefgehend durchdrungen und geprgt, dass kaum eine Entwick-lung der folgenden Jahrzehnte ohne Bezug darauf erklrt werden kann.Nicht nur der Untergang der regierenden Monarchien und ihrer Imperienin Europa war eine unmittelbare Folge des Ersten Weltkrieges. Auch dietotalitren Bewegungen, Ideologien und Herrschaftsordnungen des 20.Jahrhunderts nahmen hier ihren Ausgang, ebenso wie der moderneWohlfahrtsstaat, die moderne Kunst und, mit der Russischen Revolutionund dem Eintritt der USA in die Weltpolitik seit 1917, die Blockkon-frontation zwischen den Supermchten in der zweiten Jahrhunderthlfte.Dazwischen erscheint es schlielich kaum mglich, den Aufstieg desNationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ohne die Folgen desersten globalen Krieges auch nur ansatzweise zu verstehen und zu erkl-ren.Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Literatur
ber den Ersten Weltkrieg ungeheure Dimensionen angenommen hatund selbst fr Experten kaum noch berschaubar ist. Die Wege der For-schung folgen jedoch Pfaden, die von den Konjunkturen allgemeinerergeschichtswissenschaftlicher wie ffentlicher Interessen, Fragestellun-gen, Konzepte und Schwerpunktsetzungen geprgt werden und so klare-re Strukturen gewinnen. Auch die Forschung zum Ersten Weltkriegspiegelt so eine Entwicklung wider, die von der gerade in Deutschlandlange besonders deutlich ausgeprgten Dominanz der Politikgeschichte2ber den Ende der 1960er Jahre beginnenden Siegeszug der Sozial- undGesellschaftsgeschichte bis zum aktuellen Interesse an kulturgeschicht-lichen Themen und Perspektiven fhrt. Die hier prsentierte Textaus-wahl hat sich vom Titel der Reihe leiten lassen und die neuen, sozial-und kulturgeschichtlich geprgten Wege der Forschung jenseits der tra-ditionellen Politikgeschichte in den Mittelpunkt gerckt; allerdings, demgenuin politischen Charakter eines modernen, nationalstaatlichen Krie-ges entsprechend, jeweils doch unter politischen Vorzeichen. Im engerenSinne politische Themen dagegen, nicht zuletzt die gerade wieder aufs
8 Einleitung
Neue Geschichtswissenschaft und ffentlichkeit beschftigende Kriegs-schuldfrage3, bleiben so ausgeschlossen. Ergnzend wurde dagegen mitden soldatischen Kriegserfahrungen ein spezifisch militrgeschichtlichesForschungsfeld aufgenommen, das sich in der letzten Zeit unter demEinfluss der historischen Friedensforschung und in Verbindung mitsozial- und kulturgeschichtlichen Anstzen von der lange anhaltendenDominanz einer klassischen, an Schlachten und Kriegsstrategien orien-tierten Militrgeschichtsschreibung emanzipiert hat.4Eine zweite, die hier prsentierte Auswahl wichtiger Forschungstexte
anleitende Vorentscheidung liegt in der Konzentration auf Arbeiten zumDeutschen Reich, wobei einige Beitrge auch den europischen Ver-gleich einbeziehen. Diese vielleicht etwas altmodisch erscheinende,nationalstaatliche Perspektive weist gleichwohl eine Reihe von Vortei-len auf: Sie vereinfacht nicht nur die Auswahl und macht es leichter, derVerlagsvorgabe entsprechend, nur deutschsprachige Texte abzudrucken.Vielmehr ist mit dieser Beschrnkung auch die Hoffnung verbunden,durch das Ensemble der abgedruckten Texte zum durchaus zentralendeutschen Beispiel einen insgesamt stimmigeren Gesamteindruck desErsten Weltkrieges im Lichte der neueren Forschung entwerfen zu kn-nen, als dies bei einer national bergreifenden Auswahl mglich gewe-sen wre. Der Nachteil, dabei neben den vielen anderen nationalen Fl-len und den immer noch eher wenigen Vergleichsstudien5 auch die neue-ren globalgeschichtlichen Perspektiven auf diesen ersten wahrhaft glo-balen Krieg der Weltgeschichte auszuschlieen6, musste dafr in Kaufgenommen werden.Die einzelnen, im Folgenden kurz vorgestellten und eingeordneten
Beitrge werden hier unverndert, teilweise allerdings mit kleinen Kr-zungen und Ergnzungen in den Anmerkungen abgedruckt.
Politische SozialgeschichteDie Sammlung beginnt mit Beitrgen zur politischen Sozialgeschichtedes Ersten Weltkrieges, wie sie seit den ausgehenden 1960er Jahrenzunehmend in den Mittelpunkt der Forschung gerckt ist. Am Anfangsteht ein Aufsatz des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman ausdem Jahre 2002, der jedoch deutlich auf die Anfnge wirtschafts- undsozialgeschichtlicher Forschung in den 1960er Jahren zurckweist.Feldmann verffentlichte 1966 seine Dissertation ber die spannungs-reichen Kooperationsformen zwischen Armee, Industrie und Arbeiter-schaft in der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges, dieseitdem zu einem Klassiker der Weltkriegsforschung geworden ist.7Aufbauend auf seinen weiteren Forschungen ber die deutsche Inflati-onsgesellschaft in der Kriegs- und Nachkriegszeit8, zieht Feldman hier
Einleitung 9
gewissermaen Bilanz: Er arbeitet die wesentlichen Strukturmerkmaleder deutschen Kriegswirtschaft heraus und ordnet sie in vergleichend inden internationalen Zusammenhang ein. Der folgende Beitrag ist einKapitel aus Jrgen Kockas bahnbrechender Untersuchung ber die deut-sche Klassengesellschaft im Krieg aus dem Jahre 1973.9 Diese Arbeitwar nicht nur in methodisch-konzeptioneller Hinsicht vorbildlich freine theoriegeleitete Sozialgeschichtsschreibung, sie hat auch inhaltlichdie weitere Erforschung der Kriegsgesellschaft in vieler Hinsicht ange-leitet. Kocka geht dabei von einem marxistischem Klassenkonzept aus,das er jedoch nicht als Schlssel zur Wahrheit betrachtet, sondern als einidealtypisches Modell, an dem die realen, empirisch feststellbaren Ent-wicklungen der Kriegsgesellschaft gemessen und genauer bestimmtwerden knnen. In den Binnenstrukturen und Gegenstzen der abhngigBeschftigten auf der einen, der Produktionsmittelbesitzer auf der ande-ren Seite kann er dabei eine immer deutlichere Ausprgung klassenge-sellschaftlicher Verhltnisse feststellen, whrend vor allem die sich ver-selbstndigende Rolle des Staates, aber auch andere Entwicklungen nachKockas Ergebnissen nicht den Vorgaben des marxistischen Modellsentsprachen. Die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Revolution1918 lagen demnach nicht einfach in der Zunahmen klassengesellschaft-licher Gegenstze und Konflikte, sondern auch in der um sich greifen-den Ablehnung eines Obrigkeitsstaates, der immer weitere Bereiche vonWirtschaft und Gesellschaft zu organisieren versuchte, davon jedochzunehmend berfordert war und wachsende Ablehnung in weiten Teilender Gesellschaft hervorrief. In diesem Gesamtkontext behandelt das hierabgedruckte Kapitel gesellschaftliche Spannungs- und Konfliktfelder,die mit genuin klassengesellschaftlichen Strukturen nicht deckungs-gleich waren und in der weiteren Erforschung der Kriegsgesellschafteine wichtige Rolle gespielt haben: Stadt und Land, Generationen undKonfessionen, Front und Heimat sowie Mehrheitsgesellschaft und Min-derheiten, wobei vor allem auch der im Krieg nachhaltig verstrkte An-tisemitismus herausgearbeitet wird.10Der dritte Text zur politischen Sozialgeschichte greift mit der Rolle
der Frauen und den Geschlechterbeziehungen in der Kriegsgesellschaftein weiteres Themenfeld jenseits der sozialen Klassenbeziehungen auf.Er stammt von der leider viel zu frh verstorbenen Historikerin SusanneRouette und ist ursprnglich fr einen Lehrtext der FernUniversitt inHagen geschrieben worden, der 1997 auch als Buch verffentlicht wor-den ist.11 Whrend der Erste Weltkrieg mit seiner Mobilisierung derFrauen an der Heimatfront lange als ein wesentlicher Ansto zur Ent-wicklung von Frauenerwerbsarbeit und gesellschaftspolitischer Emanzi-pation gewertet wurde, hat fr Deutschland an erster Stelle die Untersu-
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chung von Ute Daniel ber Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaftein ganz anderes Bild gezeichnet, in dem vor allem die Zumutungen deskriegfhrenden Staates und die vielfltigen Widerstndigkeiten der (Ar-beiter-) Frauen hervortreten.12 Der Beitrag von Rouette stellt die Ergeb-nisse dieser Forschungen vor, ordnet sie zugleich aber in einem allge-meineren, geschlechtergeschichtlichen und europisch vergleichendenKontext ein.Es folgt als vierter Text in dieser Abteilung ein Beitrag, der die Ent-
stehung und Entwicklung der revolutionren Bewegungen in der deut-schen Arbeiterschaft der Jahre 1917-1920 analysiert, die aus den Kriegs-erfahrungen entstanden sind, im November 1918 die kriegfhrende Mo-narchie umgestrzt haben und in der Folgezeit den Versuch unternah-men, die Gesellschaft zu demokratisieren und zu sozialisieren. Zusam-men mit Gerald Feldman haben diesen Aufsatz aus dem Jahre 1972 zweifhrende Vertreter der Rteforschung in Deutschland verfasst, EberhardKolb und Reinhard Rrup. In den grundlegenden Untersuchungen berdie Rtebewegung war zuvor insbesondere deutlich geworden, dass dieklassische Vorstellung, in der Revolution 1918/19 sei es um die Alterna-tive zwischen parlamentarischer Demokratie und bolschewistischer Dik-tatur gegangen, angesichts der zuerst sozialdemokratischen, reformori-entierten Haltung der groen Mehrheit der Rte nicht mehr haltbar er-schien.13 Neben der Verortung der Massenbewegungen in der Kriegsge-sellschaft und ihrer Periodisierung im Prozess der Revolution arbeitetdieser Beitrag vor allem auch die fr die weitere Forschungsentwicklunggrundlegende Vorstellung heraus, dass mit den Rten anfangs eine wei-tergehende Demokratisierung der Weimarer Republik mglich gewesenwre, als dies von einer zgerlichen, legalistisch orientierten sozialde-mokratischen Revolutionsfhrung umgesetzt wurde.14
Neue MilitrgeschichteWhrend die klassische Form der politischen Sozialgeschichte sich inwesentlichen auf die Heimatfront konzentrierte, entwickelten sich anihren Rndern Versuche, auch die Kriegserfahrungen der Soldaten zuerforschen. Diese Erfahrungen hatten lange im Schatten einflussreicherMythen und Deutungsmuster gestanden, wie sie im politischen Kontextder Dolchstolegende mit ihrem Bild vom im Felde unbesiegtenHeer sowie im literarischen Kontext der vielfltigen Kriegsromane mitihrer Beschwrung der Schtzengrabenfreundschaft und der Ausbil-dung moderner Mnnlichkeit in den Stahlgewittern des industrialisier-ten Krieges propagiert worden waren.15 Die geschichtswissenschaftlicheErforschung der realen soldatischen Kriegserfahrungen des Ersten Welt-krieges fhrte zu ganz anderen Erkenntnissen, in denen Leid und Schre-
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cken des modernen Krieges, schroffe soziale Gegenstze und Missstn-de in der Armee, Abstumpfung und Verzweiflung, aber auch Verweige-rung und Aufbegehren immer deutlicher hervortraten.16 Dabei konnteteilweise auf Forschungsarbeiten aus den 1920er Jahren zurckgegriffenwerden, die im Zusammenhang der politischen Auseinandersetzungenber die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs von 1918 entstandenwaren.17 Der erste hier abgedruckte Beitrag aus dem Jahre 1992, verf-fentlicht in einem einflussreichen Sammelband zum Programm einerMilitrgeschichte von unten18, greift diese Fragestellungen erneut auf.Er stammt von dem ehemals leitenden Historiker am Militrgeschichtli-chen Forschungsamt der Bundeswehr, Wilhelm Deist, der fr den Som-mer und Herbst 1918 einen verdeckten Militrstreik unter den deut-schen Soldaten an der Westfront feststellt und ihre Verweigerung in dieallgemeineren Verhltnisse, Stimmungen und Zusammenhnge im deut-schen Heer einordnet. Es handelt sich dabei um die gekrzte und berar-beitete Fassung eines ursprnglich bereits 1986 erschienenen Aufsat-zes.19An zweiter Stelle folgt ein Aufsatz des Berliner Historikers Bernd
Ulrich, der in seiner Dissertation ber die Augenzeugen des ErstenWeltkrieges einen grundlegenden Beitrag zur methodischen und inhalt-lichen Bearbeitung der zentralen Quellengattung fr die Erforschungsoldatischer Kriegserfahrungen geleistet hat: der Feldpostbriefe, diewhrend des Ersten Weltkrieges zu Milliarden zwischen Front und Hei-mat hin und her geschickt wurden.20 Der hier abgedruckte Aufsatz ausdem Jahre 1996 versucht, die mit ihrer Erforschung verbundene Per-spektive von unten in ihren verschiedenen, politisch keineswegs ein-deutigen Zusammenhngen zu verorten und, davon ausgehend, jenseitsnaiver Authentizittserwartungen Wege zum kritischen Umgang mit denFeldpostbriefen als Grundlage einer soldatischen Erfahrungsgeschichtedes Ersten Weltkrieges zu weisen. Zentral dafr war schlielich einThema, das lange von der historischen Forschung vernachlssigt wordenist, obwohl Millionen Soldaten davon existentiell betroffen waren: dieKriegsgefangenschaft.21 Bei dem hier abgedruckten Beitrag handelt essich um die zusammenfassenden Schlussbemerkungen der 2006 verf-fentlichten Dsseldorfer Dissertation von Uta Hinz ber die kriegsge-fangenen auslndischen Soldaten, die whrend des Ersten Weltkriegesund teilweise auch darber hinaus zu Millionen in deutschem Gewahr-sam waren. Aufgezeigt wird darin vor allem das Spannungsverhltniszwischen dem Bemhen, trotz aller berforderungen die vlkerrechtli-chen Bestimmungen einzuhalten auf der einen Seite, und den Entwick-lungstendenzen und Zwngen des zunehmen totalen Krieges, die insbe-sondere im Bereich der Ernhrung und des Arbeitszwangs immer deutli-
12 Einleitung
cher vlkerrechtswidrige, ausbeuterische Zge annahmen, auf der ande-ren Seite.
Politische KulturgeschichteDie kulturgeschichtliche Erforschung des Ersten Weltkrieges ist inDeutschland vor allem aus zwei unterschiedlichen Wurzeln hervorge-gangen. Zum einen hat sie sich aus der Sozialgeschichtsschreibung her-aus entwickelt, die im Zuge ihrer Erweiterung zur Gesellschaftsge-schichte dazu bergegangen ist, immer strker auch kulturelle Phno-mene, insbesondere Erfahrungen, Mentalitten und Verarbeitungen inihre Studien einzubeziehen; dies gilt etwa fr die hier abgedrucktenBeitrge von Wolfgang Kruse und Ute Daniel. Zum anderen hat sie, wiein den Beitrgen von Bernd Hppauf und Anne Schmidt deutlich wird,wesentliche Anste von Literatur- und Medienwissenschaftlern erhal-ten, die nicht nur die vielfltigen Kriegsromane untersucht, sondern baldauch andere historische Quellen in ihre Forschungen zum Kriegserlebnisdes Ersten Weltkrieges einbezogen haben.22Der erste hier abgedruckte, vom Herausgeber erstmals 1991 verffent-
lichte Beitrag steht im Schnittpunkt zweier Themen und Forschungsent-wicklungen: Zum einen handelt es sich dabei um die kritische Untersu-chung der Stimmungsentwicklung zu Beginn des Ersten Weltkrieges,die lange unhinterfragt im Zeichen des Propagandabildes einer einheitli-chen nationalen Kriegsbegeisterung gestanden hat. Nachdem fr Frank-reich Jean-Jacques Becker in einer groen Untersuchung dieses Bildnachhaltig relativiert hatte und auch fr Deutschland schon einige Lo-kalstudien andere Ergebnisse andeuteten23, steht dieser Aufsatz am An-fang einer Neuerforschung des deutschen Augusterlebnisses von 1914,die vielfltige, sozial und regional unterschiedliche, vielfach auch br-chige Stimmungslagen herausgearbeitet hat, unter denen die Kriegsbe-geisterung nur als eine, bald jedoch zum Mythos erhobene Ausprgunggelten kann.24 Zum anderen thematisiert der Beitrag die Entstehung derunter den Chiffren Geist von 1914 und Ideen von 1914 verbreitetenSinnstiftungen des Krieges, die schon lange und immer wieder das Inte-resse der Forschung geweckt haben.25 Sie werden hier vor allem aus denStrukturproblemen des Kaiserreichs und der gesellschaftspolitischenDynamik des Kriegsbeginns heraus erklrt, die den ideologisierten Ein-druck einer deutschen Neuordnung heraufbeschwor. Whrend dabei,hnlich wie in anderen Beitrgen, die politische Problematik der anti-westlich orientierten deutschen Selbstbestimmungsversuche des ErstenWeltkrieges betont wird, sind in der Folgezeit strker auch die darinenthaltenen Reformbestrebungen herausgearbeitet worden.26
Einleitung 13
Im zweiten Beitrag geht es um die Erfahrung des Ersten Weltkriegesmit seinen umfassenden technologischen Vernichtungsorgien als Er-schtterung und Zerstrung von Normen und Wertvorstellungen, diebislang als Grundlage der modernen Zivilisation erschienen waren.Nachdem zuerst angelschsische Literatur- und Kulturwissenschaftlerwie Paul Fussel und Eric J. Lead diese Destruktionserfahrungen und ihreVerarbeitung thematisiert hatten27, war es vor allem der in Sydney undNew York lehrende deutsche Literaturwissenschaftlicher Bernd Hp-pauf, der weiterfhrende Perspektiven auf die zivilisatorischen Dimensi-onen der Kriegserfahrung geworfen hat. Neben der Kriegsliteratur rckteso die Kriegsphotographie in den Fokus der Forschung, die spezifischenZeitwahrnehmungen des Krieges wurden von Hppauf ebenso themati-siert wie, in einem bahnbrechenden, vielfach abgedruckten Aufsatz, dieim Zeichen des industrialisierten Krieges neu entstehenden soldatischenMenschenbilder.28 Der hier abgedruckte, 1991 in einer weniger bekann-ten Literaturzeitschrift erschienene Beitrag rckt, dem spatial turn derKulturwissenschaft folgend, die Rume der technologischen Vernich-tung an der Westfront in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zugleichordnet er die neuere kulturgeschichtliche Erforschung der soldatischenKriegserfahrungen in allgemeinere, vom Zweifel an den Potentialen derModerne geprgte Forschungszusammenhnge ein.Die beiden folgenden Beitrge beziehen sich wieder vornehmlich auf
die Heimatfront, und sie konzentrieren sich dabei auf das fr einepolitische Kulturgeschichte zentrale Thema der Kriegspropaganda. UteDaniel geht in dem ersten, 1993 verffentlichten Beitrag, der aus einemKapitel ihrer Dissertation ber Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschafthervorgegangenen ist, von den informellen Kommunikationsstrukturenwie vor allem den Gerchten aus, mit denen die schlecht informiertenMenschen in der Heimat das Kriegsgeschehen zu fassen versuchten. Denenormen Ausbau der Propagandaapparate whrend des Krieges deutetsie vor diesem Hintergrund als Reaktion des Militrstaates zur Kontrolleund Steuerung einer immer kriegsgegnerischen Stimmungsentwicklung.Der abschlieende Beitrag von Anne Schmidt, 2006 als Exkurs imRahmen ihrer Bielefelder Dissertation ber die verschiedenen, traditio-nalistischen, modernistischen und reformistischen Formen staatlicherKommunikationspolitik im Ersten Weltkrieg erschienen, greift die neue-ren bildwissenschaftlichen Anstze in den Medien- und Kulturwissen-schaften auf und analysiert die visuellen Aspekte der deutschen Kriegs-propaganda. Die zunehmend in Bildform umgesetzten und propagiertenSinnstiftungen, Selbst- und Feindbilder des Krieges treten dabei in ihrerneuartigen, auf Massenwirksamkeit zielenden Qualitt hervor. Zugleichwird deutlich, wie sehr in der Propaganda des Ersten Weltkrieges Ent-
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wicklungen ihren Ausgang nahmen, von denen die totalitren Massen-bewegungen und Regime der folgenden Jahrzehnte nachhaltig geprgtwurden.Die neuesten, hier nicht mehr mit einem Beitrag vertretenen Wege der
Forschung zielen vor allem, das soll abschlieend angemerkt werden,auf die Untersuchung der deutschen Besatzungsherrschaft im ErstenWeltkrieg. Unter sozialgeschichtlichen Perspektiven geht es dabei umdie Ausbeutung der besetzten Gebiete und die Anfnge der Zwangsar-beit. Der kulturgeschichtliche Blick dagegen rckt, bisher insbesonderefr die deutsche Herrschaft in Mittel- und Osteuropa, die berlegen-heitsgefhle und Herrschaftsphantasien der Besatzer in den Mittel-punkt.29
Wir drfen gespannt sein, ob und wie die ffentliche Erinnerung an 100Jahre Erster Weltkrieg in den kommenden vier Jahren weitere neue We-ge der Forschung erffnen wird. Dafr kann es jedenfalls nicht falschsein, auch die bisherige Forschungsentwicklung im Blick zu behaltenund den Versuch zu unternehmen, mit neuen Fragen, Perspektiven undSchwerpunktsetzungen doch auch von ihren Erkenntnissen und Er-kenntnislcken auszugehen.
Anmerkungen
1 Zur Forschungsentwicklung vgl. Wolfgang J. Mommsen, Ders., Der groeKrieg und die Historiker. Neue Wege der Geschichtsschreibung ber den Ers-ten Weltkrieg, Essen 2002; Winter, Jay M. u. Antoine Prost (Hg.), The GreatWar in History. Debates and Controversies 1914 to the Present, Cambridge2005.
2 Vgl. fr den Ersten Weltkrieg Karl Dietrich Erdmann, Der Erste Weltkrieg(Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 18), Mnchen 1961; Pe-ter Graf Kielmannsegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankf./M.1968; mit neuer, allerdings teilweise dogmatischer gesellschaftsgeschichtli-cher Perspektive bereits Fritz Klein u. a., Deutschland im Ersten Weltkrieg, 3Bde., Leipzig 1968-70.
3 Vgl. zuletzt Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den ErstenWeltkrieg zog, Mnchen 2013 (Orig. London 2012); dagegen Mark Hewit-son, Germany and the Causes oft he First World War, Oxford u. New York2004; zur Forschungsentwicklung Wolfgang Jger, Historische Forschungund politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 ber den Aus-bruch des Ersten Weltkriegs, Gttingen 1984.
4 Vgl. einfhrend Thomas Khne und Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Mili-trgeschichte?, Paderborn u. a. 2000.
Einleitung 15
5 Vgl. etwa Sven Oliver Mller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Natio-nalismus in Deutschland und Grobritannien im Ersten Weltkrieg, Gttingen2002; Aribert Reimann, Der Groe Krieg der Sprachen. Untersuchungen zurhistorischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Welt-kries, Essen 2000; Thomas Raithel, Das Wunder der inneren Einheit. Stu-dien zur deutschen und franzsischen ffentlichkeit bei Beginn des ErstenWeltkrieges, Bonn 1996; Molthagen, Dietmar, Das Ende der Brgerlichkeit?Liverpooler und Hamburger Brgerfamilien im Ersten Weltkrieg, Gttingen2007.
6 Vgl. Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive,Wiesbaden 2010.
7 Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labour in Germany, 1914-1918,Princeton 1966 (dt. unter dem Titel: Armee, Industrie und Arbeiterschaft inDeutschland 1914-1918, Bonn u. Berlin 1985).
8 Ders., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the GermanInflation, Oxford 1993.
9 Jrgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte1914-1918, Gttingen 1973.
10 Vgl. zur weiteren Forschung beispielhaft Benjamin Ziemann, Front und Hei-mat. Lndliche Kriegserfahrungen im sdlichen Bayern 1914-1923, Essen1997; Boris Barth, Dolchstolegenden und politische Desintegration. DasTrauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933, Dssel-dorf 2003; Jacob Rosenthal, Die Ehre des jdischen Soldaten. Die Judenzh-lung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankf./M. u. New York 1997; Ul-rich Sieg, Jdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen,weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwrfe, Berlin 2001; AndrewDonson, Youth in the Fatherless Land. War, Pedagogy, Nationalism, and Au-thority in Germany, 1914-1918, Harvard 2010.
11 Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Groe Krieg 1914-1918,Frankfurt am Main 1997, S. 92-126.
12 Vgl. Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie undPolitik im Ersten Weltkrieg, Gttingen 1989; ferner Birte Kundrus, Krieger-frauen. Familienpolitik und Geschlechterverhltnisse im Ersten und ZweitenWeltkrieg, Hamburg 1995; allg. Margret R. Higonnet (Hg.), Behind theLines. Gender and the two World Wars, New Haven u. London 1987; KarenHagemann u. a. (Hg.), Heimat-Front. Militr und Geschlechterverhltnisse imZeitalter der Weltkriege, Frankf./M. u. New York 2002.
13 Vgl. den damaligen Forschungsstand zusammenfassend Reinhard Rrup,Rtebewegung und Revolution in Deutschland 1918/19, in: Neue PolitischeLiteratur, 12. Jg. 1967, S. 303-15; ders., Probleme der Revolution in Deutsch-land 1918/1919, Wiesbaden 1968; ferner die von der Kommission fr Ge-schichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien sowie dem Inter-nationalen Institut fr Sozialgeschichte in Amsterdam herausgegebene ReiheQuellen zur Geschichte der Rtebewegung in Deutschland 1918/19.