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Deutsche Gaue in Mittelpolen Digitale Neuveröffentlichung Version 1.0 Oktober 2006 http://www.UpstreamVistula.org In Absprache und mit Genehmigung der Familie Breyer Erstveröffentlichung in: Ostdeutsche Heimathefte, Heft 4, 1935, Herausgegeben von Viktor Kauder, Verlag Günther Wolff, Plauen im Vogtland und in: Deutsche Monatshefte in Polen, Jahrgang 1 (11), Heft 10, April 1935 Albert Breyer

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Deutsche Gaue in Mittelpolen

Digitale Neuveröffentlichung

Version 1.0 Oktober 2006

http://www.UpstreamVistula.org

In Absprache und mit Genehmigung der Familie Breyer

Erstveröffentlichung in: Ostdeutsche Heimathefte, Heft 4, 1935, Herausgegeben von Viktor Kauder, Verlag Günther Wolff, Plauen im Vogtland und in: Deutsche Monatshefte in Polen, Jahrgang 1 (11), Heft 10, April 1935

Albert Breyer

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Digital Revision: Jutta Dennerlein Version 1.0 - Oktober 2006 www.UpstreamVistula.org

Die vorliegende digitale Neuveröffentlichung des Aufsatzes von Albert Breyer erfolgt

im Jahr 2006 mit der freundlichen Genehmigung der Nachkommen Albert Breyers.

Die Neuveröffentlichung basiert auf dem Text und den Bildern, die 1935 im Heft 4

der Ostdeutschen Heimathefte veröffentlicht wurde.

Die digitale Reproduktion der Bilder aus dieser Veröffentlichung erfolgte mit der

Unterstützung der Bibliothek des Herder-Instituts, Marburg unter Verwendung von

Sig. 36 III C 15

(www.uni-marburg.de/herder-institut).

Die ursprünglich drucktechnisch bedingte Anordnung der Bilder wurde leicht geän-

dert.

Seefeld, im Oktober 2006

Jutta Dennerlein

www.UpstreamVistula.org

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Inhalt

I. Einleitung ..................................................................................6

II. Die Weichselniederung...............................................................10

Landschaft.............................................................................................. 10

Siedlungen ............................................................................................. 11

Siedlungsgeschichte................................................................................. 14

Herkunft................................................................................................. 16

Schulwesen ............................................................................................ 17

Kirchenwesen.......................................................................................... 18

III. Das Dobriner Land ....................................................................20

Landschaft.............................................................................................. 20

Siedlungen ............................................................................................. 20

Siedlungsgeschichte................................................................................. 22

Herkunft................................................................................................. 24

Schulwesen ............................................................................................ 24

Kirchenwesen.......................................................................................... 25

IV. Die Kujawische Seenplatte .........................................................27

Landschaft.............................................................................................. 27

Siedlungen ............................................................................................. 27

Siedlungsgeschichte................................................................................. 30

Herkunft................................................................................................. 31

Schulwesen ............................................................................................ 32

Kirchenwesen.......................................................................................... 33

V. Der Warthebruch ......................................................................35

Landschaft.............................................................................................. 35

Siedlungen ............................................................................................. 35

Siedlungsgeschichte................................................................................. 36

Herkunft................................................................................................. 37

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Schulwesen ............................................................................................ 38

Kirchenwesen.......................................................................................... 38

VI. Das Kalischer Land....................................................................39

Landschaft.............................................................................................. 39

Siedlungen ............................................................................................. 39

Siedlungsgeschichte................................................................................. 41

Herkunft................................................................................................. 44

Schulwesen ............................................................................................ 44

Kirchenwesen.......................................................................................... 45

VII. Das Gostyniner Land...............................................................46

Landschaft.............................................................................................. 46

Siedlungen ............................................................................................. 46

Siedlungsgeschichte................................................................................. 47

Herkunft................................................................................................. 50

Schulwesen ............................................................................................ 50

Kirchenwesen.......................................................................................... 51

VIII. Das Lodzer Industriegebiet ......................................................53

Landschaft.............................................................................................. 53

Siedlungen ............................................................................................. 54

Siedlungsgeschichte der deutschen Dörfer................................................... 56

Siedlungsgeschichte der Städte ................................................................. 59

Herkunft der ländlichen Siedler .................................................................. 61

Herkunft der städtischen Siedler ................................................................ 62

Schulwesen ............................................................................................ 63

Kirchenwesen.......................................................................................... 66

Katholisches Deutschtum.......................................................................... 67

IX. Die Schwabensiedlungen bei Warschau ........................................68

Landschaft.............................................................................................. 68

Siedlungen ............................................................................................. 68

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Siedlungsgeschichte................................................................................. 69

Schulwesen ............................................................................................ 70

Kirchengeschichte.................................................................................... 71

X. Deutsche Sprachinseln in Einzellage ............................................73

Sprachinseln links der Weichsel ................................................................. 73

Preußische Gründungen rechts der Weichsel ................................................ 75

Private Gründungen rechts der Weichsel ..................................................... 75

Kirchenwesen.......................................................................................... 77

XI. Bialystok .................................................................................78

XII. Zusammenfassung .................................................................79

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Adolf Eichler gewidmet

"Was auch immer werde: Steh' zur Heimaterde, bleibe wurzelstark!" (Gutberlett)

I. EINLEITUNG

Ansehnliche Teile des gegenwärtigen mittelpolnischen Deutschtums, vor allem die

deutschen Niederungsdörfer unterhalb Włocławek, blicken auf eine reichlich drei-

hundertjährige Vergangenheit zurück. In den anderen Landstrichen ist das Deutsch-

tum hundert, zweihundert Jahre jünger, jedoch hat es überall eine ehrenvolle, ta-

tenreiche Geschichte hinter sich. Mannigfaltige Schicksalswege sind unsere

Vorfahren in diesem Lande gegangen. Bittere Rückschläge und freudiges Aufwärts-

streben wechselten nur zu oft einander ab. Führerlos, sich selbst überlassen, al-

lenthalben zersetzenden, volksfeindlichen Einflüssen preisgegeben, hat das mittel-

polnische Deutschtum trotzdem seine Volkskraft beinahe ungebrochen bis auf die

Gegenwart zu erhalten vermocht.

In zäher, hingebungsvoller Aufbauarbeit verstanden es unsere Vorfahren im Laufe

der Jahrhunderte ihrer deutschen Kulturaufgabe treu zu bleiben. Die polnischen

Starosten und Gutsbesitzer, die Regierung selbst werden kaum Reue darüber emp-

funden haben, dass sie deutsche Siedler ins Land rufen ließen. Die Wünsche und

Erwartungen der Kolonisatoren sind vollauf in Erfüllung gegangen. Freund und

Feind müssen restlos zugeben: die deutsche Arbeit in Stadt und Land ge-

reichte unserer Heimat zum Segen!

Die bisherigen Veröffentlichungen über das Deutschtum im ehemaligen

Kongresspolen behandelten in erster Linie seine allgemeine und Kirchengeschichte,

Statistik, erst wenige kleinere auch seine Volkskunde. Über die räumliche

Vertei lung des Deutschtums, die Boden und Wirtschaftsverhältnisse, den Einfluss

der Landschaft auf den Siedlungsgang, ihre Gestaltung durch den deutschen

Menschen, über Dorf- und Hausformen, Art und Herkunft der deutschen

Einwanderer – kurz: über die Siedlungsgeschichte und -geografie des

mittelpolnischen Deutschtums waren unsere bisherigen Kenntnisse gering.

Vorliegender Grundriss will nun diesem Mangel nach Möglichkeit abhelfen.

Der Kulturgeschichte, Kirchengeschichte, Statistik usw. ist "das Deutschtum Mittel-

polens" zunächst eine einheitliche Größe. Als solche behandeln es die meisten der

bisherigen Veröffentlichungen. Sofern bei ortgeschichtlichen Arbeiten Gliederungen

vorgenommen werden, geschehen sie meist nach den staatlichen oder kirchlichen

Verwaltungsgebieten, den Bezirken und Kirchspielen, deren Grenzen vom Stand-

punkt des Deutschtums aus vielfach künstlich und zufällig sind, deutsche Siedlun-

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gen verschiedener Art zusammenfassen und gleichartige trennen. Nur die Indust-

riestädte sind als selbständiger Lebenskörper anerkannt und allenfalls noch inner-

halb des bäuerlichen Deutschtums die Weichseldeutschen. Tritt man aber mit der

Fragestellung der Siedlungsgeographie an den Stoff heran, so zeigt sich, dass die

Gliederung in natürliche Landschaftsgruppen ein durchgehender Zug des Deutsch-

tums Mittelpolens ist. Diese Landschaften sind nicht nur als getrennte Siedlungs-

räume von einander abgehoben, sondern auch verschieden nach morphologischen

und bodenkundlichen Voraussetzungen und der dadurch bedingten Wirtschaftswei-

se, nach Alter und Geschichte der deutschen Besiedlung, Herkunft und Stammesart,

Mundart und volkskundlichem Gute der Kolonisten, nach Siedlungs- und Hausfor-

men und in manch anderer Hinsicht.

Die Grundlinien der landschaftlichen Gliederung sind im westlichen Mittelpolen

durch den Lauf der Weichsel und Warthe gegeben. Ihre breiten Stromtäler um-

schließen selbst zwei deutsche Gaue von ausgeprägter Eigenart: Weichselniede-

rung und Warthebruch. Das Landdreieck zwischen der Weichsel und der alten

reichsdeutschen Grenze bildet das Lipnoer oder Dobriner Land. Zwischen Weich-

sel und Warthe liegt die Kujawische Seenplatte. Ihre östliche Fortsetzung, der

Keil zwischen Weichsel und Bzura, enthält ein von den westlichen getrenntes deut-

sches Sprachinselgebiet, das wir als Gostyniner Land bezeichnen. Warthe und

Prosna begrenzen das Kalischer Land. Endlich liegt zwischen Warthe, Bzura und

Pilica das geschlossene Hauptgebiet des Deutschtums in Mittelpolen, das Lodzer

Industriegebiet. Die Schwabensiedlungen südlich von Warschau können

zu einer besonderen Gruppe zusammengefasst werden. Im folgenden werden die

Landschaften bei Wahrung des geographischen Zusammenhangs ungefähr in der

Reihenfolge behandelt, in der nach den bis jetzt bekannten Daten die deutsche Ko-

lonisation in ihnen einsetzte.

Die gleichen Schicksale im neuen Staate und innerhalb des polnischen Umvolkes,

die Zusammenfassung in der gleichen Kirche, der gegenseitige Menschenaustausch

usw. schaffen im Laufe der Entwicklung einen gemeinsamen Überbau über den ver-

schiedenen Grundformen der deutschen Gaue. Aber auch in diesem wirken die

landschaftlichen Eigentümlichkeiten, Siedlungs- und Wirtschaftsweise, Stammesart

usw. fort und bringen so Abwandlungen in das allgemeine Kulturbild des Deutsch-

tums. Die Darstellung der Gesamtentwicklung etwa im Kirchen- und Schulwesen

oder im politischen Leben, gehört nicht mehr zu den unmittelbaren Aufgaben der

vorliegenden Schrift, auch konnte ich, so verlockend es mitunter war, auf die Ge-

schicke des Mittelalterlichen Deutschtums im Gebiet von Mittelpolen nicht eingehen.

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Die Arbeit ist ein knapper Auszug aus einem in zwei Jahrzehnten gesammelten

Stoffe, die Quellen bilden in erster Linie die Archive in Warschau und in den ver-

schiedenen evangelischen Pfarrgemeinden. Es konnten darum viele wichtige Fragen

nur eine Andeutung erfahren. Belege und die Darstellung der Entwicklung im ein-

zelnen soll, so es Gottes Wille ist, in einer Reihe von Einzelbänden für die Land-

schaften gegeben werden. Als erster soll in nächster Zeit der Band über das Gosty-

niner Land erscheinen. Bei einer ersten Zusammenfassung des Stoffes, wie sie hier

vorliegt, werden natürlich im einzelnen auch Fehler nicht ausgeschlossen sein. Auf-

gabe weiterer eigener Arbeiten und solcher von befreundeter Seite wird es sein,

hier zu berichtigen und zu ergänzen. Dass stellenweise vorliegender Grundriss in

stilistischer Hinsicht nicht als formvollendet erscheinen mag, daran trägt neben an-

deren Ursachen auch der eng bemessene äußere Rahmen die Mitschuld. In diesem

Falle ersuche ich um freundliche Nachsicht.

Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Dr. W. Kuhn für seine brüderliche

Betreuung dieser meiner ersten heimatkundlichen Arbeit herzlich zu danken.

Die Arbeit soll aber nicht nur wissenschaftliche, sondern auch praktische Aufgaben

erfüllen. Vor allem soll sie unserer heranwachsenden Jugend Anregung und Hilfs-

mittel werden bei der Veranstaltung von Heimatabenden und Wanderungen. Ist es

doch erstes Gebot der Stunde, dass jeder bewusste Volksgenosse die Grundzüge

des Werdens und Wachsens seiner Volksgemeinschaft kennen lerne.

Indem ich diese knapp zusammengestellte Übersicht in den Aufklärungsdienst mei-

nes deutschen Volkes stelle, komme ich einer selbstverständlichen Pflicht gegen-

über Heimat und Volkstum nach, eingedenk der Mahnung unseres Heimatdichters,

Julian Will, "Für Dich, mein Volk"!"

Sompolno, im Februar 1935

Albert Breyer

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II. DIE WEICHSELNIEDERUNG

Landschaft

Zu den ältesten, an Eigenart reichsten Landschaften des deutschen Siedlungsgebie-

tes in Mittelpolen zählen unzweifelhaft die Niederungen der Weichsel, des Bug und

des Narew. Seit Jahrhunderten sitzen hier die "Niederunger" und führen mutig und

unverdrossen den harten Kampf mit dem launigen Strome.

Die sumpfigen Stromauen der Weichsel mit ihrem Durcheinander von Altwässern,

Sanddünen, Erlenbrüchen und Morästen stellen das eigentliche Siedlungsland der

Niederunger dar. Stellenweise erreichen sie eine Breite von 10 Kilometern. Frucht-

barer Schlick, den im Frühjahr, bisweilen auch im Sommer die aus ihren Ufern stei-

gende Weichsel hinterlässt, bedingt eine erhöhte Ertragfähigkeit des Bodens, die

mancherorten an die Verhältnisse des Nildeltas erinnert. Saftige Wiesen, prächtige

Weizenfelder, umfangreiche Pflaumengärten, doch auch strichweise stark versande-

te Ackerfluren, mit niedrigen Kopfweiden bestanden, mit Reihen von riesenhaften

Weichselpappeln durchsetzt, drücken der Weichsellandschaft ihr eigenartiges Ge-

präge auf. Zahlreiche Weidenrutenzäune, geräumige "Hocken" für das Weichselvieh

einschließend, das den ganzen Sommer über ohne besondere Aufsicht weidet, die

niedlichen Bänkchen zum Überschreiten der Zäune, die auf künstlich errichteten

Hügeln, den "Wurten", unter gemeinsamem Dach erbauten Wohn- und Wirtschafts-

gebäude und nicht zuletzt die schönen Firstfahnen – sind der Weichselniederung

sinnfällige Merkmale und Wahrzeichen. breitscheitlige, mächtige Schutzdeiche legen

beredtes Zeugnis ab von der Beharrlichkeit und dem sieghaften Mut der "Witzeldüt-

schen" im Kampf mit dem unbarmherzigen, wilden Strom.

Wie bange schlägt das Herz des Niederungers zur Zeit der Frühjahrsschneeschmel-

ze, in den bösen Tagen des Eisgangs auf der Weichsel! Auch des Sommers können

trübe Fluten fruchtbare Äcker überschwemmen, können Hab und Gut in die Tiefe

spülen. Allenthalben reißt der ungebändigte Strom mit gierigen Wellen breite Strei-

fen des schönsten Ackerbodens weg, vernichtet Obstgärten und Wiesen.

Schön ist eine Weichselwanderung an einem sonnigen Sommertag! An manchen

Stellen verengt sich das Urstromtal, steile Uferwände treten malerisch an die

Weichsel heran, an denen Reihen der stolzen Königskerze weithin leuchten. In rät-

selhafter Abgeschlossenheit tauchen vor dem Wanderer die mächtigen, baumbe-

standenen "Kämpen" inmitten des Stromlaufes auf. Still gluckst das strömende

Wasser. Schreiende Möwen gaukeln über dem blanken Spiegel dahin. Vom Ufer

setzt im schwankenden Kahn ein Weichselfischer ab und rudert hastig stromüber.

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Und plötzlich taucht ein behäbiger Berliner Kahn auf, schwer mit Getreide beladen,

und lässt sich von einer langen Reihe von Holzflößen begleiten. Munter rauscht ein

heller Personendampfer dahin und stört das duftige Landschaftsbild mit schmutzi-

gen Rauchschwaden.

Flussschiffer auf der Weichsel - Aufnahme: Anders

Siedlungen

Reichlich 300 Kilometer zieht sich die Kette der deutschen Niederungsdörfer weich-

selaufwärts. Bei Słońsk, in der Nähe des Solbades Ciechocinek beginnen sie und

reichen mit dem Weichseldorf Brzeście hart bis vor die Festung Demblin. Gegenüber

von Słońsk liegt am rechten Weichselufer das deutsche Dorf Lengden-Osiek. Von

hier aus reiht sich ununterbrochen ein Niederungsdorf an das andere bis nach Włoc-

ławek. Südlich dieser Stadt bei Modzerowo gehen die deutschen Siedlungen auf das

linke Ufer über und finden ihren Abschluss bei dem Dorfe Wólka Brwilska. In der

Umgegend von Plozk besteht eine Lücke. Südlicher, bei der Tokarer Kämpe beginnt

dann eine der größten geschlossenen Gruppen der Weichselsiedlungen: die I łówer

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deutsche Sprachinse l. 35 Kilometer lang, 5 Kilometer breit, umfasst sie an 40

Niederungsdörfer mit über 7000 Deutschen. Sogar polnische Sprachenkarten stellen

den deutschen Bevölkerungseinschlag dar. Südöstlich der Bzura, von Śladow bis

Cząstków hinauf läuft wieder ein breiter Streifen deutscher Weichseldörfer. Raisze-

wo, Świdry Nowe liegen bereits vor den Toren von Warschau. Auch im Bug- und

Narewtal finden wir zahlreiche deutsche Siedlungen, so die Kikoler Kämpe, Dąbro-

wa-Arciechowska, Sadoleś, Płatkownica. Südlich der Hauptstadt liegen zahlreiche

Niederungsdörfer in gefährdeter Abgeschlossenheit.

Im ganzen wohnen in 74 größeren und 200 kleineren Dörfern der Weichselniede-

rung an 25.000 Deutsche.

Typisches deutsches Bauernhaus der Weichselniederung aus Mniszek - Aufnahme: Anders

In Abhängigkeit von der Bodengestaltung finden wir entweder Streusiedlungen

(Einzelhöfe), besonders häufig in der Iłówer Sprachinsel oder das Marschhufen-

dorf, so nördlich von Włocławek und südlich von Warschau.

In der Bauart der Häuser herrscht der Blockbau. Gemauerte Häuser treten erst in

der letzten Zeit hier und da auf. Bei den Mennoniten des Dorfes Deutsch-Wymyśle

liegen sämtliche Gebäude unter einem Dach. Das Wohnhaus wird grundsätzlich we-

der von innen noch von außen getüncht, wodurch sich auf den ersten Blick das

deutsche Dorf von einem polnischen unterscheidet. Das aus sauberem Stroh herge-

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stellte Satteldach herrscht uneingeschränkt. Im Vergleich mit anderen Dächern

sieht es recht sauber und dicht anliegend aus. "Man kann darauf silberne Zehngro-

schenstücke zählen", sagt selbstbewusst der Weichseldeutsche von seinem "Treib-

dach", wie er es nennt. Die Baumeister und Hilfsarbeiter sind stets Deutsche, eben-

so die Dachdecker. Ehrensache des Zimmermannes ist es, die Wohnhaus- und

Scheunengiebel mit zierlichen, aus Holz geschnitzten "Dachfahnen" zu schmücken,

wobei selbstverständlich jede neue Fahne ein abweichendes Muster besitzen muss.

In Haus und Hof herrscht peinliche Sauberkeit, wie wir sie kaum bei einem anderen

deutschen Stamm in Mittelpolen antreffen. Blumengärten findet man vor jedem

Hause. Besondere Pflege lassen die Mennonitenfrauen ihren Gärten angedeihen

(Holland!).

Deutsche Bauern aus der Weichselniederung bei Włocławek beim Verladen von getrocknetem Obst - Aufnahme: Anders

Die Wirtschaftsweise ist in allen Niederungsdörfern die gleiche. Im Vordergrund

steht die Viehzucht, die Milchwirtschaft, dann kommt der Obstbau (Pflaumen, in

letzter Zeit Erdbeeren und Rhabarber), die "Kreide" eine Art Pflaumenmus und die

Obstdarre sind auf jeder Wirtschaft anzutreffen. An letzter Stelle steht der Anbau

von Körnerfrüchten und Kartoffeln. Das Handwerk ist so gut wie nicht vertreten. Als

geschickter Wirt verrichtet der Niederunger viele Ausbesserungsarbeiten an seinen

Werkzeugen selbst.

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Siedlungsgeschichte

Die erste deutsche Siedlung in der Weichselniederung und damit die erste neuzeitli-

che in Kongresspolen ist Słońsk. Wie urkundlich belegt, setzte der Bromberger

Starost, M. Smogolewski, im Jahre 1605 in den Stromauen unweit des Słońsker

Kastells 12 Holländer auf 25 Hufen an. Aus einer vierzig Jahre später ausgestellten

Gründungsurkunde für das Holländerdorf Słońsk-Piaski entnehmen wir die Ansied-

lungsbedingungen: Grund und Boden des neuangelegten Dorfes wurden den Hol-

ländern in vierzigjähriger Erbpacht übergeben. Jährlich zu St. Martin hatten sie ei-

nen Zins von 25 poln. Gulden von der Hufe an den Starosten zu zahlen. Dafür

waren sie von jeder Art Scharwerk, Hand- und Spanndienst befreit. Milchwaren und

Getreide durften sie an jedermann frei verkaufen. Freie Schulzenwahl und die damit

verbundene Dorfgerichtsbarkeit wurde ihnen verbürgt. Die Dorfgesetze wurden in

einer sauber geschriebenen "Willkür" niedergelegt. Von besonderem Wert in einem

katholischen Lande war, dass sie "także nabożeństwa zwyczajnego swego zażywać i

do innego przymuszenie być nie maja" (sie sollen ihre gewöhnlichen Gottesdienste

genießen und zu einem anderen nicht gezwungen werden.)

Um 1610 entstand Alt-Bógpomóż. Die königliche Güterbeschreibung vom Jahre

1616 stellte fest, dass "Holländer bereits auf den alten und neuerworbenen Grün-

den sitzen". 1625 wurde das Dorf Lentzen (Włęcz) gegründet. Der Starost von Be-

beren (Bobrowniki), A. Tulibowski, legte im Jahre 1630 das Niederungsdorf Neu-

Bógpomóż an. Um 1650 wurde in den Kirchenbüchern der evangelischen Gemeinde

zu Thorn neben Słońsk zum ersten Male auch das Dorf Woluszewo genannt. Bis

vor die Tore von Warschau drangen die Holländer vor. Laut einer erhaltenen Urkun-

de siedelten sich im Jahre 1629 auf der "Sächsischen Kämpe" einige Familien auf

136 Morgen Weichselboden an.

Nach 1650 ruhte die Siedlungstätigkeit der Weichseldeutschen. Die Wirren der

Schwedenkriege, der Kosakenaufstand, der nordische Krieg verheerten das polni-

sche Reich und unterbanden jegliche Kulturarbeit.

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Titelblatt einer "Willkür" aus dem Weichseldorf Lengden-Osiek, Kreis Lipno

Nach 1730 setzte in den Niederungsdörfern ein erneutes Weichselaufwärtsdringen

ein. Die alten Siedlungen, vor allem Słońsk und Bógpomóż, gaben ihren Menschen-

überschuss an zahlreiche Neugründungen ab, die rechts und links der Weichsel ent-

standen. Der Zeit nach verlief die Landnahme wie folgt: 1731 ließen sich auf den an

die Weichsel stoßenden Ländereien des Gutes Osiek, das dem Grundherrn J. Mi-

lewski gehörte, 5 deutsche Bauern nieder und gründeten das Dorf Osieker Leng-

den. 1738 schloss der Bischof von Kujawien mit 12 Holländern, die "durch ihre

Wirtschaft auf überfluteten Böden gut bekannt sind" einen Ansetzungsvertrag für

das Dorf Psiarzewo (nachträglich Siarzewo) ab. Łengden-Witoszyn und

Wolfswinkel entstanden um 1740. Der Kronsmundschenk von Bolimow, Graf Ka-

simir Dombski, traf mit "arbeitsamen" Holländern im Jahre 1745 eine Vereinbarung,

laut der er ihnen 40 Hufen Wald und versumpfte Weichselauen, die im Bereiche

seiner Güter Domb und Dobiegniewo lagen, zur Urbarmachung freistellte. Ein Bru-

der des Grafen setzte 1749 auf der Antoniner Kämpe einige Holländerfamilien

an. Der bevollmächtigte Kommissarius des Bischofs von Kujawien, Probst Wolizki,

besiedelte im Jahre 1759 mit deutschen Bauern die Kämpe Tokary bei Plozk. Der

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Starost von Troszyn, Cichocki, ließ im selben Jahre die deutschen Niederungsdörfer

Deutsch-Troszyn und Borke entstehen. Der Grundherr von Szymanowski siedel-

te zu gleicher Zeit Holländer in Deutsch-Wiączemin an. Der Starost von Duni-

now, Kretkowski, tat das gleiche in Wistka Królewska. Der Gutsbesitzer Zabłocki

gründete zehn Jahre später das Dorf Sady; im selben Jahr setzte der Starost von

Kampinos das deutsche Dorf Wiersze an. 1773 entstand Bia łobrzegi bei Plozk.

1775 gründete der Erzbischof, Fürst Poniatowski, Rajschewo; die Brüder Hilsen

ließen im Jahre 1776 Kasan, die bekannte Mennonitensiedlung entstehen.

Deutsch-Wilkow ist eine Gründung des Starosten von Kampinos, die in das Jahr

1777 fällt. Bei der Stadt Neuhof lässt der Erzbischof Fürst Poniatowski 1782 die

Siedlungen Wiesendorf (Łączna) und Skierdy entstehen. 1786 wurde Dembina-

Holland bei Kasan gegründet.

Es ist eine ungemein rege Siedlungsbewegung, die sich hier in der zweiten Hälfte

des 18. Jahrhunderts abwickelte. Auch südlich von Warschau setzten sich auf zahl-

reichen Kämpen und auf überfluteten Weichselauen Deutsche fest. So auf den

Kämpen: Zawadowska, Okrzewska, Celejowska, Skurecka, Wolczańska und den

Holländereien von Kuźmin, Piotrków, Celejów. 1795 bestanden deutsche Schulen in

Wólka Turżyńska und Chinow.

Auf der Rydzyner Kämpe siedelten sich Deutsche um 1812 an. In den Niederungen

am Bug entstanden vor 1830 die Dörfer Sadoleś und Płatkownica. Nach 1830 an

der Weichsel südlich von Warschau Podole und Wicie. Nach 1850 suchte der Bevöl-

kerungsüberschuss der Niederung neue Siedlungsmöglichkeiten in den Sümpfen

und Wäldern des Lubliner Landes, vornehmlich jedoch in Wolhynien.

Herkunft

Die deutschen Einwanderer der Niederung, die in der Zeit von 1600 bis 1650 nach

Mittelpolen kamen, stammten zum größten Teil aus den weichselabwärts gelege-

nen, bereits im 16. Jahrhundert gegründeten Niederungsdörfern um Thorn, Brom-

berg, Kulm Schwetz, Graudenz, Neuenburg, Marienwerder, Dirschau und aus dem

Danziger großen und kleinen Werder. Die Kirchenbücher der evangelischen Ge-

meinde zu Thorn geben an, dass einzelne Familien auch aus Vor- und Hinter-

pommern, aus der Umgegend der Städte Schievelbein, Kolberg, Christenberg ka-

men.

Die Bewohner der nach 1750 entstandenen deutschen Weichseldörfer entstammen

zum allergrößten Teil den Altsiedlungen nördlich der Städte Włocławek und Thorn,

es sind echte Tochtersiedlungen. Die Kirchenbücher der Gemeinde Iłów nennen fol-

Albert Breyer: Deutsche Gaue in Mittelpolen 17 von 79

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gende Herkunftsorte und –gebiete (in der Reihenfolge weichselaufwärts mit Angabe

der Häufigkeit): Danziger Werder, Baldrum bei Marienwerder, Neuenburg, Montau

je eine Ortsangabe, Graudenz (4), Kulmsche Niederung (2), Bromberg, Flötenau,

Neidenburg, Amt Schoden, Bergbruch, Neuenort, Altendorf (3), Umgegend von

Thorn (6), Rudak, Dybower Kämpe, Grabowke, Sieczyn, Gurske, Nischewke (19),

Deutsch-Glinne (9), Słońsk (9), Neu-Ciechocinek (2), Woluschewo, Rybit,

Bógpomóż (5), Witoschiner Lengde, Liciszewo und Wielgie bei Lipno. Die deutschen

Bauern der Niederungsdörfer im Kirchspiel Neuhof entstammten nach Angabe der

Kirchenbücher den Dörfern Słońsk, Bógpomóż, Rybit, Osieker Lengde, Nessau bei

Thorn, Langenau bei Bromberg. Ein Teil kam aus der Umgegend von Rypin, aus den

Dörfern: Glowińsk, Jeziorki, Klośno und Wólka.

Schulwesen

Die ersten glaubwürdigen Nachrichten über das Schulwesen der Weichselniederung

verdanken wir den 1798 von Pastor Witthold zu Iłów und 1807 von Pastor Pastena-

zy in Lipno an die Superintendentur zu Plozk abgesandten Schulberichten. Danach

bestand die Schule zu Witoschin-Lengden seit 1765, die zu Bógpomóż seit 1770

und die zu Rybit seit 1780. Zur letzteren gehörten auch die Dörfer Mniszek, Star-

kowice Białobłoto. In Witoschin-Lengden besuchten die Schule 15 Kinder; der Leh-

rer mit Namen Kroll war von Beruf Tischler. In Bógpomóż gab es 24 Schüler, Lehrer

war der Schumacher Lau. In Rybit unterrichtete der Lehrer Lange 21 Kinder. In der

Gemeinde Iłów bestanden um 1798 folgende deutsch-evangelische Schulen: Borke

mit 38 Schülern, Troszyn mit 37, Gensemin [ = Jączemin = Wiączemin (Anmerkung

J.D.)] 34, Sady 22, Kasan 20, Sezymin 24. Auch in Famułki und Miszory werden

deutsche Schulen verzeichnet. 1795 bestand die Schule in dem südlich von War-

schau gelegenen Niederungsdorf Wólka Turzyńska.

Nach 1830 werden mit Unterstützung der Regierung viele Religionsschulen, später

Kantoratsschulen genannt, in Elementarschulen umgewandelt. Um 1842 bestanden

folgende Elementarschulen in: Bógpomóż, Osieker Lengden, Lengden Witoschin,

Rybit, Wolfswinkel, Lentzen, Modzerowo, Groß-Domb, Troszyn, Borki, Sady, Wy-

myśle, Wiączemin, Śladow. Neben diesen gab es noch zahlreiche Kantorate.

Um 1865 zählte die Weichselniederung nach Angabe von Busch 30 Elementarschu-

len und 22 Kantorate, die auf 13 Kirchspiele verteilt sind.

Diese Zahl der deutschen Schulen hielt sich ohne große Veränderung bis zum Welt-

krieg. Nur in der Gemeinde Iłów verschwanden einige Kantoratsschulen, wo nach

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1870 eine starke Auswanderung nach Wolhynien um sich griff. Im Visitationsbericht

des Generalsuperintendenten vom Jahre 1880 heißt es:

"Deutsche Schulen bestanden im selben Jahr 11, da ein Kantorat gänzlich

eingegangen ist und zwei andere kaum ihr Dasein fristen, da die Zahl der Pa-

rochianen abgenommen hat."

Zur Zeit des deutschen Landesschulverbandes, der im Weltkriege von den deut-

schen Besatzungsbehörden ins Leben gerufen wurde und bis 1919 bestand, der

jedoch nicht alle deutschen Schulen in der Weichselgegend hat erfassen können, da

viele Dorfbewohner 1918 kaum aus der russischen Verbannung zurückgekehrt wa-

ren und noch um das nackte Leben zu kämpfen hatten, bestanden 40 deutsche

Volksschulen. Laut amtlicher Zählung vom Jahre 1925 waren davon kaum 12 übrig-

geblieben. Auch diese sind seither teils gemischtsprachig, teils ganz polnisch ge-

worden.

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1800 12

1830 20

1865 52

1898 54

1919 40

1925 12

Kirchenwesen

Als Muttergemeinde der Weichselniederung kann die durch den Wojewoden von

Kujawisch-Brest, den Grafen Dombski, im Jahre 1775 gegründete evangelische

Gemeinde Iłów angesprochen werden. Ihr folgte im Jahre 1783 Nowy Dwór –

Neuhof. Zur preußischen Zeit entstanden die Gemeinden: Plozk 1804 und Wys-

zogród 1805; W łoc ławek 1821; die Gemeinden Gombin und Gostynin werden

1829 ins Leben gerufen. 1838 folgten ihnen Nieszawa und Ossówka, im selben

Jahr die Filialgemeinde Dobrzyń, zwei Jahre darauf die Filialgemeinden Sadoleś,

Jawor und Kozienice. Die Gemeinde Pil iza entstand 1837, ihre Filiale Stara-

Iwiczna 1842. Die Filialgemeinde Secymin ist 1846 gegründet; sie wird 1934

selbständig.

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Mit ganz geringen Ausnahmen betreuten die Weichselgemeinden stets volksnahe

Seelsorger, die die Liebe zum Worte Gottes auch mit der Treue zu dem ange-

stammten Volkstum zu verbinden wussten. Um die Jahrhundertwende machte sich

jedoch leider unter manchen Pastoren der Weichselgemeinden (Nowy Dwór, Plozk)

ein volksfremder Geist bemerkbar, der bis in die jüngste Gegenwart hinauf noch

gewisse Lebendigkeit zeigt.

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III. DAS DOBRINER LAND

Landschaft

Ein abwechslungsreiches Bild bietet dem Wanderer das schöne Land Dobrin. Zwi-

schen dem sanft welligen Gelände liegen verträumt dunkelblaue, verschwiegene

Rinnenseen. Weite Flächen goldgelber Weizenäcker, die von sauber gehaltenen Zu-

ckerrübenfeldern unterbrochen werden, kündigen uns ansehnlichen Großgrundbe-

sitz an. Die schmucken Wirtschaftsgebäude der Vorwerke weisen auf Wohlstand

hin. Freudig grüßen wir die zwischen den zahlreichen Gutsherrschaften liegenden

schönen deutschen Siedlungen. Wald suchen wir in der Gegend westlich von Rypin

und nördlich Lipno vergebens. Der fruchtbare Boden ist hier seit Jahrhunderten un-

ter den Pflug genommen worden. Nach Osten zu, wo Flugsandfelder und Wander-

dünen im Landschaftsbild auftauchen, treten strichweise auch dunkle Kiefernwälder

auf. Die Pinie des Nordens, der schweigsame Wacholderbaum, hält in den weltver-

gessenen Ödländereien getreue Wacht.

Die Oberflächengestaltung des Dobriner Landes ist nach den Untersuchungen von

Prof. Lenzewicz das Ergebnis der jüngsten Vereisung. Später haben Wind und flie-

ßendes Wasser umgestaltend gewirkt. Das Dobriner Land bietet uns somit das typi-

sche Bild einer jungen Moränenlandschaft. Chaotisch verteilte Endmoränenhügel,

durch teils stark versumpfte, teils vertorfte Schmelzwasserrinnen unterbrochen,

säumen prächtige Wiesen und weite Flächen ausgezeichneter Ackerfluren ein. An

manchen Stellen breiten sich vor den Endmoränenketten weite Sandfelder aus, die

vielfach zum Siedlungsland des deutschen Bauern wurden.

Siedlungen

Auf einer Fläche von annähernd 1900 km2, die im Norden von der Drewenz, im

Westen und Südwesten von der Weichsel, im Osten zum Teil von der Skrwa be-

grenzt wird, liegen meist zusammenhanglos 130 größere deutsche Dörfer mit einer

Bewohnerzahl von rund 21.000, weiters eingesiedelt in 230 kleineren oder größeren

polnischen Dörfern an 7000 Deutsche, insgesamt also 28.000 Deutsche. Größere

deutsche Sprachinseln, die aus mehreren deutschen Dörfern bestehen, finden wir

bei Brzeźno, Gnojno, Makowiska, Skrzypkowo, Elżanowo, Orłowo, Makowiec, Mi-

chalke, Oborki, Kierz, Kleszczyn, Boguchwała und Gozdy.

Die Lage der deutschen Siedlungen ist erdkundlich bedingt. Überall dort, wo sump-

fig-sandige Ödländereien, mit Bruch- oder Nadelwald bedeckt, sich über große Ge-

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biete hinzogen, sah man es gern, wenn sich willige deutsche Roder einfanden, die

Sumpf und Urwald in saftige Wiesen und lachende Ackerfluren verwandelten. In den

ersten Jahren, als den Einwanderern noch große Waldstrecken zur Verfügung stan-

den, konnten die besseren Böden ausgesucht werden. Darum liegen in der Regel

die alten deutschen Dörfer auf verhältnismäßig fruchtbarem Boden, vor allem im

Norden des Dobriner Landes. Anders steht es um die Dörfer südlich und teilweise

auch westlich von Lipno. Eindeutig kennzeichnen die Dorfnamen das sandig-

brüchige Gelände: Piaseczno (Sanddorf), Rumunki Głodowo (Hunger-Räumungen),

Białowieżyn (Weißhügel), Łazy (Brücher), Jeziorne Łąki (Seewiesen), Wiesendorf,

Olszowe Błoto (Erlensumpf), Kiełpiny (Schwanenbrutstätte), Zabieniec (Froschtüm-

pel), Chalinek (Sumpf), Oparcyska (Quelliger Ort). Dagegen treffen wir im Norden

auf fruchtbareren, wenn auch kaltgründigen Böden Dörfer mit folgenden bezeich-

nenden Namen: Sadłowo (Schmeerfeld), Kłośno (Aehrenfeld), Chlebowo (Brotdorf),

Schönwald, Dzierzno (Trogdorf), Podole (Podolien).

Als Dorfform herrscht die Streusiedlung, der Einzelhof vor. Die Natur der Bruch-

landschaften und Sandergebiete stand der Anlage von linearen Dorfformen hin-

dernd im Wege. Der Neusiedler wählte auf dem ihm zur Abräumung freigestellten

Gelände den günstigsten Punkt für die Anlage seines Gehöftes. Die nun einsetzende

Rodearbeit, das "Abräumen" der erworbenen Fläche von Baum, Strauch und Stei-

nen hat im Dobriner Lande die Dorfbezeichnung "Räumung", polnisch "rumunki"

heimisch gemacht. Sie ist auch im angrenzenden West- und Ostpreußen vertreten.

Bezeichnend dabei ist, dass die alten deutschen Dörfer diesen Doppelnamen nicht

besitzen. Im Dobriner Land kommt die Bezeichnung "rumunki" bei 39 Dörfern vor,

aber nicht alle sind heute noch deutsch. Manche haben ihre deutschen Insassen

durch Auswanderung nach Wolhynien verloren.

Neben dem Ackerbau ist infolge des großen Wiesenreichtums überall auch die Vieh-

zucht stark vertreten. Obstbau wird nicht getrieben. Die alten Häuser bergen unter

einem Dache Wohnhaus und Stallungen. Die Scheunen stehen besonders. Am

Dachgiebel finden wir die uns aus der Niederung bekannten Dachfahnen. Die Be-

sitzverhältnisse sind im allgemeinen gesund. In manchen Gegenden ist der Groß-

bauernstand zahlreich vertreten. Im Laufe der Zeit machte sich jedoch eine gewisse

Proletarisierung bemerkbar, die vor dem Weltkriege zur Sachsengängerei nach

Deutschland oder zur Auswanderung nach Nordamerika führte.

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Siedlungsgeschichte

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstehen im Norden des Dobriner Landes die ers-

ten deutschen Dörfer. Leider stehen uns keinerlei Gründungsurkunden aus der An-

fangszeit zur Verfügung. Mündliche Überlieferungen, zum Teil auch Angaben der

Kirchenarchive und Kirchenchroniken werfen einiges Licht auf diese wichtige Frage.

Um das Jahr 1700 legte der Grundherr von Wola drei deutsche Zinsdörfer an: Ma-

kowiska, Skomuch und Wnorzonkowo, in späterer Zeit Wawrzonkowo genannt.

Gleichzeitig entsteht im Nordosten von Rypin die Steusiedlung Michalke, das späte-

re Kirchendorf. Nach den Angaben des früheren Rypiner Pastors, des Verfassers der

Kirchenchronik, R. Gundlach, sollen im Jahre 1719 die Dörfer Oborki und Toma-

schewo deutsche Schulen begründet haben. 1720 folgen diesem Beispiel die west-

lich gelegenen deutschen Dörfer Kierz und Gaj. In Jeziorki, im Volksmund Seechen

genannt, wird 1725 eine Volksschule geschaffen. Die Holländereien Głowińsk, Zbo-

jenko und Obory besitzen im Jahre 1730 deutsche Volksschulen.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen die Dörfer: Białowieżyn, Ryszewek,

Witkowo, Kotowo, Reczyń, Bocheniec, Kleszczyn, Klein-Kretki, Iwany, Zduny, einige

Jahre später Schönwald-Jackowo, Wiesendorf, Gnojno, Czernie, Czarne Buden, Ta-

dajewo, Dębowiec bei Lipno.

Mit wenigen Ausnahmen sind polnische Grundbesitzer die treibende Kraft bei der

Entstehung der Neusiedlungen gewesen. So die Starosten Wysocki, Podoski, der

Kastellan Sierakowski u. a. Um 1780 werden angelegt: Łąkie, Makower Buden, To-

maszewo bei Lipno, Ełżanowo, Sumin, Jastrzębie Räumungen, Kołat, Piasieczno,

Chodorązek. Die Böden sind in den meisten Neugründungen dieser Zeit stark san-

dig.

Die preußische Regierung hat in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft im Dobriner Land

nicht kolonisiert. Eine Statistik aus dieser Zeit gibt die Zahl der deutschen zu 7239

an, die der Deutschen Dörfer zu 113.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kommt es nur hie und da noch zu Gründungen.

Trombin unweit Rypin und Głodowo-Rumunki soll nach mündlicher Überlieferung

um 1820 angelegt worden sein, Lubinek, Makowiec bei Lipno 1832, Boguchwała

1842, Płociczno 1844, Rumunki Barany 1845, Rumunki Adamowo 1850, Rumunki

Skudzawy 1860.

Nach dem Aufstand von 1863 tritt in der Siedlungstätigkeit der Deutschen ein Still-

stand ein. Fast restlos ist jetzt auch der sandige Boden des Dobriner Landes unter

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den Pflug genommen. Die Gutsbesitzer beginnen, auf ihren Gütern den Zuckerrü-

benbau einzuführen, betreiben neuartige Bewirtschaftung ihrer Ländereien. Die

Pachtverträge mit deutschen Dörfern werden vielfach nicht mehr erneuert. Der

Strom der deutschen Siedler geht nun ostwärts, in den Nachbarkreis Sierpz, teil-

weise in die Wälder Wolhyniens. Neue Tochtersiedlungen entstehen bei Aufteilung

der Güter Ojrzeń, Płociszewo, Siemiątkowo. Zum Teil entsteht in den alten Dörfern

eine Schicht von Landlosen. So setzte sich im Jahre 1870 das Dorf Barany aus 27

Landwirten und 20 Arbeiterfamilien zusammen; die letzteren fanden auf den Guts-

höfen, in Zuckerfabriken und Brennereien vorübergehend Arbeit.

Welch' auffällige Vergreifung der Siedlungstrieb bei den deutschen Bauern im

Dobriner Land erfahren hat, ist an der Aufteilung des Gutes Cety bei Rypin im Jahre

1905 zu ersehen. Das bodenständige Deutschtum konnte trotz materiellen

Wohlstands keine Landkäufer stellen. Eine deutsche Bauerngruppe aus dem Lubli-

ner Lande, pommerscher Stammesart, erwarb das Gut Cety und teilte es unter ihre

Stammesgenossen auf. Nach dem Weltkriege boten sich des öfteren Gelegenheiten

zum Landerwerb. Die deutschen Dorfbewohner haben sich nur in den seltensten

Fällen zum Kauf entschlossen.

Deutsche Schule in Makowisko, Kreis Lipno - Aufnahme: Breyer

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Herkunft

Es liegt nahe anzunehmen, dass die Deutschen aus West- und Ostpreußen ins Land

Dobrin kamen. Einer durch Pastor Rondthaler vertretenen Ansicht, es wären ihres

Glaubens wegen aus Großpolen vertriebene Deutsche, fehlen die überzeugenden

Beweise. Die in den deutschen Dörfern und Gemeinden Lipno und Rypin vorherr-

schende Mundart weist auf West- und Ostpreußen hin. Die Verwendung des alten

Königsberger und Thorner Gesangbuches, und vor allem die Herkunftsorte in den

Trauungs- und Sterbematrikeln der evangelischen Gemeinden zwischen 1785 und

1797 bestätigen dies ebenfalls. Es werden überwiegend west- und ostpreußische

Dorf- und Städtenamen genannt. In den Dörfern um Lipno ließen sich auch viele

Einwanderer aus der Niederung (Thorn, Graudenz, Neuenburg) nieder. Mitunter

werden auch pommersche Herkunftsorte genannt.

Schulwesen

Die erste beglaubigte Nachricht über eine Schulgründung besitzen wir aus Michalke

für das Jahr 1710. Im Jahre 1730 folgt ihr eine solche in Kłośno, 1745 in Tomasze-

wo, 1747 in den Wolschen Buden. Im Jahre 1765 entstehen zehn deutsche Volks-

schulen in: Kotowe, Kierz, Seedorf, Iwane, Rentsin, Zduny, Klein-Kretke, Grzęby,

Kleszczyn und Gaj. Bocheniec erhielt eine Schule im Jahre 1769, Ryszewek 1774,

Białowieżyn 1775, Witkowo 1776.

Ein bezeichnendes Licht wirft auf die Schulverhältnisse um die Wende des 18. Jahr-

hunderts eine von Pfarrer G.B. Moeller, Prediger zu Michalke, verfasste "Schul-

Tabelle", in der sämtliche damals bestehenden Volksschulen der Gemeinde Rypin

ausführlich beschrieben werden. Davon eine Kostprobe:

"Schule zu Iwane, adlich, besteht 42 Jahre. Grundherr: v. Podoski. Lehrer:

Johann Leopold Wittermann. Würde nach seiner Versicherung Fleiß zeigen,

sobald die Jugend nur zur Schule käme. Er scheint ein ordentliches Betragen

zu lieben. Gehalt: 7 Scheffel Roggen, 5 Scheffel Gerste, 1 Scheffel Erbsen,

Calende 2 Rthl., Gemeindegeld 2 Th., Schulgeld 30 fl., Festgeld 1 Rth., Akzi-

denzen 45 fl. 8 Fuder Holz. 15 Kinder gehen nicht zur Schule."

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Die Entwicklung des deutschen Schulwesens im Dobriner Land zeigt uns nachste-

hende Tafel

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1807 29

1865 49

1898 55

1918 47

1925 25

Kirchenwesen

Auf Grund des 1768 abgeschlossenen Warschauer Traktats, der den Andersgläubi-

gen völlige Religionsfreiheit sicherte, erteilte der Erbherr von Michalke, M. H. Ju-

nosza-Podoski, Burgherr von Dobrin, den Holländer-Dissidenten die Erlaubnis zum

Bau einer evangelischen Kirche. Das betreffende Schriftstück ist in der Reichsmatri-

kel unter dem 23. Juni 1778 eingetragen. (Hauptarchiv Warschau.) Hurtig gingen

die evangelischen Einwohner von Michalke und Umgegend an den Kirchenbau. Am

7. Trinitatissonntag wurde die hölzerne, mit Stroh gedeckte Kirche eingeweiht. Der

Pastor aus Thorn, Wilhelm Dietrich Wollmer, vollzog die Einweihung. Zwei Tage

dauerte die Feier. Die Kollekte betrug 100 Taler. Drei Jahre darauf schenkte der

Grundherr zum Unterhalt des Pastors steuerfrei ½ Hufe Land. Auch wurden in ei-

nem deutschen Schriftstück die Stolgebühren festgesetzt. Am 8. Juni 1785 unter-

schrieb der Burggraf Podoski die erste Vokation für den Pastor Albert Bocianowski.

Im Jahre 1888 wurde in Rypin eine Kirche errichtet und der Pfarrsitz nach dorthin

verlegt. Die Gemeinde Lipno entstand um 1780. Gründungsurkunden sind bisher

noch nicht gefunden worden. Es ist anzunehmen, dass die Gründung auf Betreiben

des Grundherrn A. Suminski von Białowieżyn erfolgte, da die Gemeinde anfänglich

an diesem Orte ihren Sitz hatte. Durch Verfügung der preußischen Kammer zu

Plozk wurde die Pfarrei dann im Jahre 1799 nach Lipno verlegt. Der erste Pastor, J.

Maske, blieb bis zu diesem Jahre. Ihm folgte Pastor Pstenacy.

Als der Strom der Auswanderer aus der Umgegend von Lipno und Rypin ostwärts

zog, und eine Reihe von deutschen Dörfern in der Nähe von Sierpz entstanden, kam

es im Jahre 1837 zur Errichtung der Gemeinde Sierpz. Der erste Pastor, G. Rosen-

thal, betreute die neugegründete Gemeinde 26 Jahre. Nach seinem Tode trat eine

Unterbrechung bis zum Jahre 1926 ein, in welcher Zeit die Pfarre von den Pastoren

der Nachbargemeinden verwaltet wurde. Kurz vor dem Weltkriege wurde eine Kir-

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che und ein Pfarrhaus erbaut. Seit 1927 wohnt in Sierpz ein ständiger Pastor. Im

Jahre 1927 bilden sich in der Gemeinde Ossówka zwei neue Filiale: Makowisko und

Brzozówka, denen 1930 Skrzypkowo folgte.

Evangelische Kirche in Michałki, Kreis Rypin, eines der ältesten deutschen Gotteshäuser in Kongresspolen - Aufnahme: Auerbach

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IV. DIE KUJAWISCHE SEENPLATTE

Landschaft

Der Warthe- und Bzurafluss im Süden, die Wilczyner, Suszewer und Powidzseen mit

ihren Abflussrinnen im Westen und Nordwesten bilden eine bestimmte Landschafts-

grenze für das kujawische Seengebiet. Im Osten und teilweise im Norden fehlen

klare Grenzlinien. Ungefähr können wir die Kette der Rinnenseen, die sich dem Lu-

biner See anschließen, als östliche Grenze ansehen.

Zahlreiche prächtige Rinnenseen geben dieser Landschaft ihr Gepräge. Zwischen

dem Orlesee und der Seengruppe um Brdow und Chodecz laufen charakteristische

Endmoränenzüge, die den Reiz der Landschaft erhöhen. Von unvergesslicher

Schönheit sind in Kujawien die herrlichen Tage vor der Ernte, wenn das reife Ge-

treide die Sense des Schnitters erwartet!

"Wie wallet in goldenen Ähren das Land,

Auf den Hügeln, zu Tal, an der Ebene Rand.

Wie schwillt es von Segen so wunderbar."

Auf den saftigen Wiesen türmen sich die schwarzen Torfstapel und spiegeln sich

gespensterhaft in den dunklen Tiefen der Wasserlöcher. Wald finden wir nur im

südlichen Teil der kujawischen Seenplatte. Dort treten auch die Dörfer zahlreicher

auf, im Gegensatz zum Norden bei Piotrków und Radziejów, wo auf der fetten

Sumpfschwarzerde Gutshöfe mit mächtigen Wirtschaftsgebäuden das Landschafts-

bild beherrschen.

Siedlungen

Das hervorstechende Merkmal der deutschen Siedlungen im waldigen Kujawien, wie

die geschichtliche Bezeichnung dieses Gebietes lautet, ist ihre Verstreuung über

eine weite Fläche. Wir finden hier wie kaum in einer anderen Landschaft zahlreiche

Kleindörfer und Weiler, auch viele Restdörfer, aus denen im Laufe der Zeit die deut-

schen Insassen abgewandert sind. Welchen völkischen Gefahren diese Kleinsiedlun-

gen ausgesetzt sind, leuchtet von selbst ein. An einer anderen Stelle wollen wir

darauf noch zurückkommen.

Auf einer Siedlungsfläche von 2100 km2 wohnen rund 25.000 Deutsche. In 350

Siedlungen von insgesamt 460 Dörfern leben nur kaum je zehn Deutsche. In den

Städten sitzen als Handwerker, Hausbesitzer, Handeltreibende an 1500 Deutsche,

die jedoch in starkem Maße ihrem Volkstum untreu geworden sind. Größere deut-

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sche Sprachinseln zählen wir 12 und zwar: die Koser, Dąbier, Wierzeliner, Pasie-

kaer, Neu-Renneberger, Butterholländer, Birkholländer, Rembower, Kamieniezer,

Großneudorfer, Łaniętaer und Zawadkaer. Von größeren Sprachinselgruppen seien

genannt: die Sompolnaer, Babiaker, Chodeczer, Biesiekierer, Rudzker.

Die Güte des Bodens in den einzelnen Dörfern ist verschieden. Die Siedlungen, die

in altpolnischer Zeit angelegt wurden, sitzen auf verhältnismäßig fruchtbaren Böden

und verfügen mancherorts über gute Wiesen. Die Sümpfe und Seen, die früher mit-

unter Verkehrshindernisse bildeten, sind ausgetrocknet und liefern nun guten

Brenntorf, der so manchem deutschen Landwirt zur ausgezeichneten

Einnahmequelle geworden ist. Der Körnerbau herrscht im landwirtschaftlichen

Betriebe vor. Der Viehzucht wird ebenfalls gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.

Die alten Straßendörfer mit ihrer Gewannflur wurden bald nach der Bauernbe-

freiung, etwa zwischen 1865 und 1875, verkoppelt. In vielen Dörfern entstanden

Ausbauten. Anderseits finden wir in manchen Gegenden die alte Dorfplanung noch

gut erhalten.

Charakteristisch für die meisten der deutschen Dörfer sind die Riegelscheunen,

eine Sonderbauart der pommerschen Siedler. Sämtliche Wohn- und Wirtschaftsge-

bäude wurden früher aus Bohlen errichtet. Die alten Wohnhäuser standen mit der

Giebelseite zur Straße. Seit etwa 50 Jahren trat der Lehmziegelbau, in manchen

Dörfern der Stampflehmbau an Stelle des Holzbaues, gegenwärtig werden gebrann-

te Ziegel bevorzugt.

Obst- und Gartenbau werden wenig gepflegt. Auch finden neuzeitliche Landwirt-

schaftsweisen nur langsam Eingang. Hingegen wird die Maschine im Wirtschaftsbe-

trieb gern gebraucht.

Seit preußischer Zeit siedelten sich in Kujawien auch einzelne deutsche Groß-

grundbesitzer an. Um 1850 nahm deren Zahl besonders in der Umgegend von Cho-

decz stark zu. Gegenwärtig sind die meisten deutschen Gutsbesitzer, mit einigen

löblichen Ausnahmen, vollständig im Polentum untergegangen.

In dieser Landschaft liegt die älteste Tuchmacherstadt in Mittelpolen: Dombie. Be-

reits 1798 wurde hier eine deutsche Tuchmacherinnung ins Leben gerufen. Bis hin-

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auf zum Jahre 1880 blühte das Tuchmachergewerbe1. Viele Jahrzehnte hindurch

bildeten die Deutschen die überwiegende Mehrzahl der Stadtbewohner. Der Auf-

schwung der Webindustrie in Lodz vernichtete den Handbetrieb. Die Tuchmacher

wurden in der ersten Zeit zur Abwanderung nach Russland, späterhin in das Lodzer

Industriegebiet gezwungen.

Ähnlich erging es den Tuchmacherstädten Babiak, Chodecz und Przedecz. Beson-

ders die letzte Stadt hatte bis zum Jahre 1830 eine starke Tuchmacherkolonie. Ge-

genwärtig ist jegliche Spur des Tuchmachergewerbes geschwunden. Nur die alten,

ebenerdigen, hölzernen, ziegelgedeckten Tuchmacherhäuser zeugen noch von der

verklungenen Zeit blühenden deutschen Handwerkslebens.

Kujawische Seenlandschaft bei dem Dorfe Zółwieniec, Kreis Konin - Aufnahme: Breyer

1 Siehe meinen Aufsatz "Die älteste Tuchmacherstadt in Mittelpolen" in "Deut. Wissensch. Ztschr. i.

Polen", Heft 29.

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Siedlungsgeschichte

Die erste deutsche Siedlung im kujawischen Seengebiet ist das Dorf Kamieniec mit

den umliegenden Ortschaften Sinki- und Koneck-Holland. Der Grundherr von Łowic-

zek, J. Kanigowski, Mundschenk von Wyszogród, schloss mit "ehrbaren" und "fleißi-

gen" Holländern im Jahre 1753 einen Ansetzungsvertrag auf 40 Jahre. Es entstand

eine geschlossene deutsche Sprachinsel, die im Laufe der Zeit an Landbesitz stark

zugenommen hat. Sie ist vorwiegend von Niederungern, zum Teil auch von

Pommern bewohnt.

Als zweite urkundlich belegte Siedlung ist das Dorf Przystronie anzusehen, das

1760 durch den Grundherrn des Gutes Mostki, K. Zakrzewski, angelegt wurde. Um

1770 wurde auf den dem Bischof von Kujawien gehörenden Gütern Orle die Hollän-

derei Bycz angelegt. Zu gleicher Zeit wurden folgende Dörfer gegründet: Gawrony,

Broniszewo, Kiejsze-Kölsch, Kaczyniec, Pasieka, Tymin, Sinogać, Lipia Góra, Oso-

wiec, Lubomyśle. Urkundlich sind belegt: Józefowo 1772, Lipiny 1777, Wierzelin

1777, Doły 1777, Grabina Wielka 1779, Psary 1779, Rzuchów-Holendry 1779, So-

bótka 1781, Nowa Wieś Wielka 1781, Dębina bei Dąbie 1782, Goczki Niem. 1784.

Rochów, Bytoń Hol. 1790 und Rochówek 1791, Skępe Hol. 1792. Um das Jahr 1795

bestanden auf der Kujawischen Seenplatte schon an 110 kleine deutsche Dörfer,

die nur selten zehn Wirte besaßen.

Zur preußischen Zeit entstanden 7 größere Schwabendörfer: Czarnocice,

Friedrichstal, Lilienfeld, Wilhelmstal, Rosental, Neu-Renneberg und Schwedelbach.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der deutschen Siedlungen

nur allmählich. Waren die Gründungen der altpolnischen Zeit räumlich klein, der

Siedlungsform nach Straßendörfer oder Weiler mit Gewannflur, so wurden die neue-

ren Dörfer, wo die geographischen Voraussetzungen es gestatteten, als Liniendörfer

angelegt, die bisweilen aus 20 bis 30 Wirtschaften bestanden. Als typische Beispiele

der Neudörfer seien Bodzia 1824, Morzyczyn 1840 Władysławow 1842, Pamiątka

1845, Marcinkowo 1850, Czarłatowo 1855, Mieczysławowo 1859, Biesiekiery 1866

angeführt.

Die Auswanderung nach Wolhynien und in das Cholmer Land hat die Siedlungstä-

tigkeit der Deutschen in Kujawien für viele Jahrzehnte unterbunden. Viele deutsche

Dörfer haben einen Großteil ihres Deutschtums verloren, manche sind völlig ent-

deutscht worden. Wüste, verlassene Friedhöfe und die Bauart der Häuser, zeugen

noch von den ehemaligen deutschen Dorfbewohnern.

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Nach 1890 griff eine starke Auswanderung nach Übersee um sich, die viele Hunder-

te von Kolonisten, Burschen und Mädchen, eine neue Heimat jenseits des Ozeans

finden lies. Nur vereinzelte fanden den Weg in die alte Heimat wieder.

Um die Jahrhundertwende werden in der Kamieniezer Sprachinsel einige deutsche

Streudörfer angelegt. Gleichzeitig entstehen durch Aufteilung von Gutsländereien

einige Neudörfer in der Kozer Sprachinsel. Nach dem Weltkrieg sind nur an einer

Stelle deutsche Landwirtschaften, die leider keinen dörflichen Charakter besitzen,

auf ehemaligem Gutsboden entstanden. Dafür ist aber in vielen Dörfern die Realtei-

lung im stillen Fortschreiten begriffen. Doch tritt sie vorderhand nicht so stark in

Erscheinung, wie in anderen Landschaften des deutschen Siedlungsraumes.

Herkunft

Die deutsche Landbevölkerung im waldigen Kujawien stammt mit nur kleinen Aus-

nahmen mittelbar, zum Teil auch unmittelbar aus Ostpommern. Vor reichlich 350

Jahren begannen nördlich der Netze polnische Starosten und Grundbesitzer

pommersche Bauern in ihren Wald- und Sumpfgebieten anzusiedeln. Wiederholt

wandte sich der deutsche Adel der Grenzgebiete Pommerns und der Neumark mit

Klagen wegen seiner flüchtig gewordenen Bauern an den Kurfürsten von Branden-

burg. Zahlreiche Beschwerden an den polnischen Königshof blieben ohne Erfolg.

Nach 1600 überschreiten die deutschen Siedler in breiter Front die Netze und drin-

gen in das angrenzende Waldgebiet ein. 1650 saßen deutsche Bauern bereits in der

Umgegend von Labischin, im Norden von Mogilno und Strelno. Aus diesen Landstri-

chen ging nun der Bevölkerungsüberschuss um 1750 in die Wälder und Sumpfge-

biete, zwischen den Seen Powidz und Lubień, in das Gebiet der Kujawischen Seen-

platte. In den meisten Dörfern Kujawiens wird auch gegenwärtig das pommersche

Platt gesprochen. Die Familiennamen der Siedler tragen ein stark pommersches

Gepräge. Gesang- und Gebetbücher stammen beinahe ausschließlich aus Alt-

Stettin. Das volkskundliche Gut, die Bauweise der Häuser und Scheunen ist rein

pommersch, ebenso die Wirtschaftsweise, der Volkstypus, die Handlungs- und

Denkart der Menschen. Die pommerschen Bauern sind ein echtes Kolonistenvolk.

Seit dreihundert Jahren wohnen sie in polnischer Umwelt und haben es trotzdem

verstanden, der angestammten Art, der Sprache und dem Glauben der Väter die

Treue zu halten. Im Vergleich mit anderen deutschen Stämmen zeigen sie viele

Züge der Rückständigkeit. Kein anderer Stamm besitzt jedoch einen derartig star-

ken Hang zum Boden, ist so bäuerlich. Als geschickter Roder und kluger Ackers-

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mann hat sich der Pommer, fälschlich "Kaschube" genannt, vorbehaltlos im mittel-

polnischen Raum bewährt2.

Schulwesen

Bei der Anlage einer neuen deutschen Siedlung mitten im Bruch und Urwald war es

geheiligte Sitte, ein Grundstück für Schule und Lehrer abstecken zu lassen. Darum

beginnt in den meisten Fällen mit der Geschichte des Dorfes auch die der Schule.

Allerdings liegt zwischen dem Entstehen des Dorfes und der Eröffnung der Schule

eine Spanne Zeit von zehn, ja zwanzig Jahren. Denn erst nachdem der Roder in

jahrelanger schwerer Waldarbeit Brot für seine Familie errungen hat, konnte er an

die Versorgung des Lehrers denken. Gewiss waren die Schulverhältnisse in der An-

fangszeit ja noch viele Jahrzehnte später noch recht einfach. Bedenkt man jedoch,

dass der polnische Mitnachbar von damals nur in den seltensten Fällen seinen Kin-

dern einen Schulunterricht angedeihen lassen konnte, so wiegt die opferwillige Be-

reitschaft der deutschen Ansiedler für ihre Schule doppelt.

Um das Jahr 1800 bestanden auf der Kujawischen Seenplatte an 42 deutsche

Volksschulen. Jedes größere Dorf besaß eine eigene Schule, die zuweilen 15 Morgen

steuer- und zinsfreies Land ihr eigen nannte. Kleinere Dörfer und Weiler unterhiel-

ten sehr oft gemeinsam einen Lehrer. Aus einer von Prediger Maske im Jahre 1808

gefertigten "Nachweisung von dem Zustand der Schulen und der darin jetzt vor-

handenen Lehrer in dem Kirchspiel der evang.-lutherischen Gemeinde zu Babiak"

entnehmen wir, dass in dieser Pfarre damals bereits 14 deutsche Schulen bestan-

den, davon waren seit 1800 3 neugegründet, eine blieb ungenannt. Über die dama-

ligen Schulverhältnisse gibt uns eine Stelle des Berichtes einen kleinen Begriff. Es

heißt darin wörtlich:

"Wüstung Smolnik, Gemeinde Dębie, Besitzer Friedensrichter und Kammer-

herr von Bielsky. Lehrer: Johann Christian Schmidt, geboren in Lutherau in

Sachsen. Erhält Roggen 6 Scheffel, Erbsen 1 Scheffel 8 Maß, ½ Fuder Heu,

Land ½ Morgen kulmisch. Wohnt im Hirtenhaus. Seit 16 Jahren Lehrer. Ist ein

ruhiger und sittsamer Mensch, allein seine Wissenschaften sind traurig, er lebt

jedoch hierin mit der Gemeinde in Einigkeit. Den ihm fehlenden Unterhalt ver-

dient er durch seine Schneiderprofession. Die Gemeinde ist zu klein und zu

arm, um aus ihren separaten Mitteln ein Schulhaus aufzubauen."

2 Siehe meinen Aufsatz in den "Deutsch. Monatsheften in Polen", Jahrg. I, Heft 2, "Die Herkunft der

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In der Folgezeit nahm die Zahl der Schulen zu, da noch eine ganze Reihe neuer

Siedlungen gegründet wurden. Der Versuch der Regierung, an Stelle der Religions-

schulen, die ausschließlich von deutschen Kindern besucht wurden, Elementarschu-

len zu eröffnen, die auch polnischen Kindern zugänglich sein sollten, misslang. Nach

1850 gab es nur rein deutsch-evangelische Elementar- oder Kantoratsschulen.

Durch die Auswanderung nach Wolhynien lösten sich zusammen mit den deutschen

Dorfschaften auch viele Schulen auf. Andere wurden durch die Abwanderung derart

geschwächt, dass sie nach einigen Jahren eingingen.

Folgende Vergleichstafel soll uns die Entwicklung des deutschen Schulwesens in

diesem Gebiet veranschaulichen:

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1800 42 1865 88 1898 77 1918 69 1925 8

Die katastrophale Lage des deutschen Schulwesens in der Gegenwart wird aus dem

Vergleich der zwei letzten Zahlen klar. Bei der großen Zersplitterung der deutschen

Siedlungen in Kujawien und ihrer geringen Bewohnerzahl konnte nur in den seltens-

ten Fällen die Zahl von 40 Schulkindern aufgebracht werden, die nach dem Gesetz

vom März 1919 für eine deutsche Klasse nötig ist. Gerade in Kujawien waren die

Kantoratsschulen besonders stark verbreitet, von den im Jahre 1898 angeführten

77 Schulen waren 63 Kantoratsschulen. Sie sind nach 1919 restlos verschwunden,

die Schulnot der deutschen Kinder ist dadurch ins Unermessliche gewachsen.

Im Kriegsjahr 1917 wurde in Sompolno eine private deutsche Mittelschule ins Leben

gerufen, die dem kujawischen ländlichen Deutschtum volle 17 Jahre treu gedient

und in dieser Zeit mannigfaltigen Anfeindungen und Benachteiligungen siegreich die

Stirn geboten hat. Infolge der polnischen Schulreform ist die Mittelschule vorläufig

in eine siebenklassige, private Volksschule umgestaltet worden.

Kirchenwesen

Die Muttergemeinde der Deutsch-Evangelischen auf der Kujawischen Seenplatte ist

das im Jahre 1798 gegründete Kirchspiel Babiak. Der Besitzer der Gutsherrschaft

deutschen Landbevölkerung auf der Kujawischen Seenplatte".

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Ozorzyn, Raczyński, trug sich mit dem Gedanken, eine deutsche Tuchweberstadt

anzulegen, wie dies in jener Zeit bei den polnischen Gutsbesitzern Mode war. Auch

entstanden auf seinen Gutsländereien einige deutsche Dörfer. Dies alles bewog ihn

zwecks [einer] erfolgreicheren Anlockung von deutschen Handwerkern und Acker-

leuten, zur "Stabilisierung" eines evangelischen "Kirchensystems" zu schreiten, das

er mit reichlichen Schenkungen bedachte. Der erste Pastor hieß J. G. Maske.

Zur preußischen Zeit im Jahre 1801, entstand das Kirchspiel Chodecz. Der Besit-

zer der Chodeczer Güter, Ig. Lipski, ließ sich von ähnlichen Beweggründen leiten

wie Raczyński. 1815 wurde in Chodecz eine gemauerte Kirche, Pfarr- und Küster-

haus errichtet. Anfänglich war die Stadt Kowal zum kirchlichen Mittelpunkt auserse-

hen gewesen, dort sollte noch zur Preußenzeit eine evangelische Kirche erbaut wer-

den, wozu der preußische König sogar 500 Thaler geschenkt hatte.

In Przedecz gab die Gründung einer Tuchmachersiedlung den Anlass zum Entste-

hen einer evangelischen Gemeinde im Jahre 1827.

Die Gemeinde Sompolno, deren Grund eigentlich zur Preußenzeit gelegt wurde,

führt ihre Standesamtsbücher erst seit 1840. Der Bau der Kirche wurde im Jahre

1849 beendet.

Die Filialgemeinde Maś laki (Butterholland), zum Kirchensprengel Konin gehörend,

ist 1832 gegründet worden.

Alle Gemeinden im Gebiet des waldigen Kujawiens sind und waren rein ländliche.

Die Stadtbewohner bilden nur einen verschwindend kleinen Bruchteil der Evangeli-

schen.

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V. DER WARTHEBRUCH

Landschaft

Das Berlin-Warschauer Urstromtal, in dem gegenwärtig die Warthe träge ihre Was-

ser wälzt, ist stellenweise kaum breiter als 3 Kilometer. Das Flusstal ist meist offen.

Nur in der Gegend zwischen den Städten Koło und Konin bedecken dichte Erlen-

und Pappelbestände die fruchtbare, stellenweise jedoch auch sandige Talsohle.

Noch vor 150 Jahren war das Urstromtal siedlungsfeindliches Gebiet. Altwässer,

Moräste, hohe Sandbänke, von undurchdringlichen Sträuchern und Schlingpflanzen

bedeckt, wimmelten von Wasservögeln. Damals wie heute übergossen im Frühjahr

trübe Fluten das ganze Urstromtal, wenn auch nicht mit so verheerender Wirkung

wie bei der Weichsel. Hier wie dort hinterlässt das Frühjahrswasser den für den

Wiesenwachs erwünschten Schlick. So sieht der Wanderer heute prächtige Wiesen

im "Bruche", wie die Warthetallandschaft allgemein genannt wird. Das fröhliche

Gezwitscher der reichen Vogelwelt belebt die Stille dieser eigenartigen Landschaft.

Siedlungen

Auf einer Strecke von 130 Kilometern, von der ehemaligen preußischen Grenze an

bis nach Leśnik südlich der Stadt Uniejów, sind mit größeren und kleineren Unter-

brechungen 63 deutsche größere Dörfer aneinander gereiht, die eine Bevölkerungs-

zahl von 7000 Seelen besitzen. Außerdem wohnen in 105 polnischen Bruchdörfern

oder vereinsamten deutschen Kleinsiedlungen etwa 4000 Deutsche. Noch vor 40

Jahren besaßen einige Dörfer ihre alten deutschen Namen wie Sophiental, Fried-

richsfeld, Ludwigslust, Ingelfingen, Adelhof.

Die Besitzverhältnisse sind in den meisten Bruchdörfern gut. Die wohlhabendsten

deutschen Siedlungen liegen westlich der Stadt Konin. Im Vordergrund des Land-

wirtschaftlichen Betriebes steht die Vieh- und Geflügelzucht. Große Wiesenstücke

werden für gutes Geld verpachtet. Auf den höher gelegenen Feldern baut man Ge-

treide und Kartoffeln an, dort befinden sich auch meist in Streulage die Wirtschaf-

ten. Manchmal nehmen die Dörfer eine Uferlage an, so in Daniszew, Leszcze, Paprot

Hol., Młyny, Piekarskie und Stawki. Der Schlickboden oder "Letten", wie ihn die

"Brücher" (spottweise auch "Wasserpatscher" geheißen) nennen, erfordert zum

Pflügen starke Pferde. Die Ernteerträge sind dementsprechend hoch. Das Vieh wei-

det man hier in "Koppeln" und nicht in "Hocken", wie der Weichseldeutsche sagen

würde.

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Im Häuserbau nimmt der Ziegelbau in letzter Zeit überhand. Die Riegelscheunen

der Leśniker Sprachinsel bezeugen nebst der Mundart die pommersche Herkunft der

Siedler. Die bei Konin gelegenen Dörfer haben alte Bohlenscheunen oder neuzeitli-

chen Bretterbeschlag.

Siedlungsgeschichte

Um 1750 begann die deutsche Besiedelung des mittelpolnischen Warthebruchs. Die

erste urkundlich nachweisbare Bruchsiedlung ist das Wenglewer Holland, das 1767

auf den Ländereien des Gutes Sławsk angelegt wurde, deren Eigentümer der Land-

richter S. Leszczyc-Zielonawski war. Gleichzeitig entstanden im Bereich der Guts-

herrschaft Sławsk die Holländereien Rumin, Kolno und Sławsk. Die weiter östlich

liegenden Bruchdörfer Briesener Hol., Paprot Hol., Drążyn Hol. und Tury Hol. wur-

den um 1775 gegründet. 1781 bestätigt der König Stanislaus August Poniatowski

die Gerechtsame der im Schlüssel Chelmno, Eigentum des Erzbischofs von Gnesen,

gelegenen Holländerei Majdany. Die Majdany gegenüberliegenden deutschen Dörfer

Police, Daniszew und Leszcze entstanden um 1785. Die große Leśniker Sprachinsel

südlich von Uniejów wurde laut Urkunde im Jahre 1796 gegründet. Die Kolonisten

bezahlten dem Gutsbesitzer Milewski bei der Übernahme von 10 Hufen Waldland

189 Thaler Grundgeld. 1792 siedelten sich deutsche Bauern in Czyste, Kaczka und

Machnówka an.

Im Jahre 1845 entstehen in der Leśniker Sprachinsel auf sumpfig-sandigem Boden

die deutschen Dörfer Józefow, Młyny, Łęg, Nowa Kaczka und Rosengarten. Sämtli-

che Dörfer sind "im Walde, auf verstrauchten Orten, auf Moorboden, Hütungen und

Ödland angelegt worden", wie es in einem Gerichtsurteil heißt. Im 19. Jahrhundert

kam es hin und wieder zur Gründung von Neudörfern, so Neu-Czarkow im Jahre

1835. Die Auswanderung nach Wolhynien hat viele, besonders auf schlechtem Bo-

den angesetzte Dörfer entvölkert.

Die in den Städten Zagórów, Konin und Koło nach 1818 eingewanderten Tuchma-

cher und Weber, die sich bis 1870 recht und schlecht behaupten konnten, sind un-

ter dem Zwange der Verhältnisse zu anderen Erwerbszweigen übergegangen. Die

meisten haben die angestammte Volksart restlos abgestreift und sind bisweilen zu

eifrigen Bannerträgern des Polentums geworden, dadurch einen tiefen Zwiespalt in

die vor Jahrzehnten geschlossene Kirchen- und Volksgemeinschaft hineintragend.

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Deutsches Bauernhaus aus Timmingen, Kreis Koło - Aufnahme: Breyer

Herkunft

Die Siedler des Mittelpolnischen Warthebruchs kamen vorwiegend aus dem Oder-,

Netze- und westlichen Warthebruche. Die Umgegend von Landsberg a. W., Son-

nenburg, Driesen werden in den Kirchenbüchern öfters genannt. Die Brücher waren

also Leute, die mit Sumpfwald und brüchigem Wiesengelände umzugehen wussten,

"wasserbaukundige" Männer. Vor dem Kriege gab es unter ihnen erfahrene Schiffer

und Schiffbauer, die polnisches Getreide aus der Gegend von Koło und Konin auf

Oderkähnen nach Deutschland brachten. Sie sprechen auch gegenwärtig ein mär-

kisch gefärbtes Platt. In vielen Dörfern hat bereits ein volkstümliches Hochdeutsch

Platz gegriffen.

Die Bewohner der Leśniker Sprachinsel stammen aus dem Netzegau und sprechen

die pommersche Mundart.

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Schulwesen

Die alten Bruchdörfer besaßen von vornherein deutsche Volksschulen. Bei der

Landnahme wurde stets ein bestimmtes Stück Land für die Schule freigegeben.

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1800 10 1865 22 1898 24 1919 24 1925 4

Kirchenwesen

Das erste evangelische Kirchspiel wurde nach langen Verhandlungen mit den Regie-

rungsstellen im Jahre 1826 in Konin gegründet. Bis an den damaligen Statthalter

von Polen, den Großfürsten Konstantin Konstantinowitsch, wandten sich tapfere

Lutheraner von Konin um rechtliche Unterstützung. Der erste Prediger, A. Kegler,

stammte aus Eckartsberg in Thüringen. Die Gemeinde Zagórów ist aus einem 1833

gegründeten Filial 1858 zum selbständigen Kirchspiel erhoben worden. Das im

Warthebruch gelegene Filial Lissewo-Peisern entstand 1858. Die Gemeinde Koło,

anfänglich ein Filial von Turek, ist im Jahre 1903 selbständig geworden. Seit 1882

besitzt sie ihre eigene Kirche.

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VI. DAS KALISCHER LAND

Landschaft

Südlich der Städte Zagórów und Konin zieht sich eine sumpfig-sandige Ebene hin,

die streifenweise von kümmerlichen Kieferwäldern unterbrochen wird. Erlenbrüche

und Kopfweidenreihen an Abflussgräben umgeben magere, vertorfte Wiesen. Sand-

hügel, ertragarme Ackerfelder, Flugsandflächen wechseln miteinander ab. Das

Blickfeld in dieser halboffenen Landschaft ist beschränkt. Heller, feinkörniger Sand

ist das auffallendste Merkmal der weltabgeschiedenen, stillen, verträumten Gegend.

Auch die Namen der Dörfer deuten auf die sandige Beschaffenheit der Landschaft:

Białe Błoto, Bielawki, Biała, Biała Panieńska, Białobrzegi, Łazy, Borowiec, Grądy,

Mokre, Bagno3. Der Waldreichtum ließ in früheren Jahrhunderten Glashütten und

Eisenhämmer entstehen, wie dies aus den Dorfnamen Huta Stara, Huta Nowa, Huta

Trąbczyńska, Huta Lukomska, Huta, Prażuchy, Kużnica, Huta bei Prażuchy zu erse-

hen ist.

20 Kilometer nördlich von Kalisch ändert sich beinahe plötzlich das Landschaftsbild.

Eine fruchtbare Ebene, reich mit Gutshöfen durchsetzt, völlig waldlos, öffnet sich

den Blicken des Wanderers. Hier finden wir mit Ausnahme von zwei im 20. Jahr-

hundert entstandenen Dörfern keine Spur deutscher Siedlungen.

Siedlungen

Die deutschen Dörfer des Kalischer Landes liegen auf einer Fläche von reichlich

1000 km2. Sie bilden ein verhältnismäßig geschlossenes Siedlungsgebiet, auf dem

rund 25.000 Deutsche schlesischen Stammes wohnen. Im Unterschied zu anderen

Landschaften finden wir hier einige Großdörfer mit einer Bevölkerung von über 500

Seelen. Das Dorf Łazińsk besitzt 757 Seelen, Borowiec 668, Obory 635, Białobłoty

588. In 26 großen Dörfern wohnen 9500 Deutsche, in weiteren 74 kleineren etwa

8000.

Die Bodengüte ist, wie bereits gesagt, weit unter mittel. In regenarmen Jahren sind

die Erträge an Körner- und Hackfrüchten gering. Es heißt dann, dass Brot nur zu

Weihnachten gegessen wird. An Markttagen bringen die deutschen Bauern an Stelle

3 Białe Błoto = Weißer Sumpf, Bielawki = das Weiße, Białobrzegi = Weiße Ufer, Łazy = Brücher,

Borowiec = Vertorfter Boden, (Grądy, Mokre, Bagno) = Sümpfe

Albert Breyer: Deutsche Gaue in Mittelpolen 40 von 79

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der mit Getreide gefüllten Säcke solche mit Kiefernzapfen. Um die Ackerbaufläche

zu vergrößern, wird der Flugsand Fuhre um Fuhre in die niedriger gelegenen brü-

chigen Wiesen gefahren.

Deutsche Bauersfrau pommerschen Stammes aus Gawrony, Kreis Konin - Aufnahme: Breyer

Die Übervölkerung ist stark. Sie führt in den meisten Fällen zur Realteilung der

Wirtschaften und zum Anwachsen eines starken Landproletariats. Die Sachsengän-

gerei war durch viele Jahrzehnte vor dem Kriege verbreitet. Noch nach dem Kriege

gingen im Frühjahr Hunderte von Burschen und Mädchen nach Deutschland auf

Landarbeit. Seit drei Jahren ist diese beinahe einzige Erwerbsquelle versiegt. Die

wirtschaftliche Not hat darum in vielen deutschen Dörfern ein unerträgliches Maß

Albert Breyer: Deutsche Gaue in Mittelpolen 41 von 79

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erreicht. Die Besitzverhältnisse sind ziemlich trostlos. Von den 805 Kirchenbeitrags-

zahlenden der Gemeinde Grodziec sind 101 Familien oder 13 von Hundert, landlos,

183 Familien oder 23 von Hundert besitzen typische Zwergwirtschaften von 1 bis 6

Morgen. In den Gemeinden Zagórów, Stawiszyn und Prażuchy liegen die Dinge kei-

nesfalls besser.

Im Hausbau herrscht überall der Bohlenbau vor, was bei dem großen Waldreich-

tum natürlich ist. Da die flachvertorften Wiesen in den meisten Fällen Raseneisen-

erz bergen, wird dieser Stein vielfach zum Bau von Wirtschaftsgebäuden, ja auch

Wohnhäusern gebraucht. In letzter Zeit kaufen jüdische Händler diese "Eisensteine"

auf und befördern sie nach den oberschlesischen Fabriken, wo daraus Kunstdünger

bereitet wird. Das Wohnhaus steht in den schlesischen Siedlungen stets besonders.

Die Wirtschaftsgebäude werden vielfach von Birkenhainen und Waldflecken umhegt.

Des brüchig-sandigen Geländes wegen herrscht mit nur geringen Ausnahmen die

Streusiedlung vor. Die Gehöfte liegen abseits der Dorfstraße, jedes besitzt einen

eigenen Zufahrtsweg.

Hin und wieder sind noch die letzten Spuren der alten Volkstracht anzutreffen. Die

Volkskunst ist bei den Schlesiern gut aufgehoben. Nur bei ihnen sind die schön ge-

schnitzten und geschmackvoll verzierten Grabbretter zu sehen. Volkstanz und -lied

sind noch lebendig. Das Volksleben empfing durch die Sachsengängerei stets neue

Antriebe, wenn auch nicht immer im guten Sinne. Eine Verbindung zum Lodzer In-

dustriegebiet besteht fast nicht.

Siedlungsgeschichte

Um 1740 drang der deutsche Siedler mit Axt und Spaten in die menschenentlege-

nen, seit Urzeiten unbebauten Landstriche des Kalischer Landes ein. 1746 schloss

der Besitzer des Gutes Trąbczyn, Paul von Kolno-Prusiński, mit ehrbaren Holländern

einen Erbpachtvertrag, auf Grund dessen die Waldungen und Wüstungen südlich

des Gutes Trąbczyn zur Urbarmachung überlassen wurden. Es entstand das Dorf

Łazińsk Holland. Der Kastellan von Sieradz, J. Wężyk, setzte im Jahre 1772 auf sei-

nen Gütern zu Grodziec vier deutsche Dörfer an: Borowiec, Konary, Grunde und

Wielołęka. Auf den Besitzungen des Gutes Ceków entstand nach 1770 eine ganze

Reihe von Holländereien, darunter das 1799 bereits 34 Landwirte auf 24 Hufen zäh-

lende Großdorf Prażuchy; 1775 wird Poroże gegründet. 1775 Zbiersk Holland und

Ciświca-Holland, 1778 Lipnica und Jarantów, 1780 Jaszczury und Zakrzyn. Der Be-

sitzer der Landgüter Piegonisko und Stoki, der Truchsess von Smoleńsk, M.

Wągrowski, der über umfangreiche Waldungen verfügte, legte 1782 die Hollände-

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reien Piegonisko, Sobiesęki und Stoki an. Das deutsche Dorf Kazimierka-Stara be-

sitzt eine Gründungsurkunde aus dem Jahre 1782; acht Jahre darauf entstand Ka-

zimierka-Nowa. Der Grundherr von Biskupice setzte 1784 in seinen westlich vom

Gute gelegenen Wäldern das Dorf Adlerholland oder Orlin an. Der Besitzer der Herr-

schaft Gadow, Edler Peter von Sokoła-Gałczyński, schloss 1784 mit ehrsamen Hol-

ländern einen Vertrag, da seine Wälder "weder jetzt noch in der Zukunft, irgend

einen Nutzen versprechen, das gleiche mit Berücksichtigung der erprobten Nutzun-

gen, welche Hauländer jeden erblichen Gütern bringen". Das neue Dorf heißt Ga-

dow-Holland. 1786 werden Zamęty und Danowiec gegründet. Der Starost von Adel-

nau, F. Stadnicki, setzte 1787 "auf dem grünen Walde" die Holländerei Białobłoty

an. Der Erbherr des Gutes Chocz, Prälat K. Lipski, überließ 1790 dem arbeitsamen

George Müller Wald zu Holländereien an der Oborer Grenze, wobei er sieben Frei-

jahre gewährte. Zwanzig Holländer verpflichtete sich der Annehmer in der neuen

Kolonie Józefów anzusetzen. Noch vor der letzten Teilung Polens war somit das

ganze Waldgebiet nördlich von Kalisch zwischen Prosna und Teleszyna von deut-

schen Siedlern erschlossen worden. Zahlreiche Rodungsinseln von größerem und

kleinerem Ausmaß durchsetzten stark das Waldland.

Im 19. Jahrhundert dauerte die Rodungsarbeit weiter an. Um die alten Dörfer ent-

stand hier und da ein Kranz von Tochtersiedlungen. So bei Prażuchy die deutschen

Dörfer Celestyny, Feliksów, Kotwasice, Niedżwiady, Annopol, Wygoda; in der Um-

gegend von Grodziec 1845 vom Gute Grabieniec aus die Kolonie Wojciechowo, spä-

ter Wycinki, Boberfeld, Michalinów, Łagiewniki, Sołomina. Seit der Bauernbefreiung

ruhte die Siedlungstätigkeit vollständig. Der sielungsfreie Raum ist nun erschöpft.

Die Nähe der preußischen Grenze bot dem Dorfnachwuchs Verdienstmöglichkeiten

im Reiche, langsam entwickelte sich die Sachsengängerei, die zur Sommerzeit viele

deutsche Ansiedlungen völlig entvölkerte. Die Abwanderung nach Wolhynien hat im

Kalischer Lande nicht so stark umgestaltend gewirkt, wie in anderen deutschen Ge-

genden. Kein Dorf wurde durch sie fühlbar geschwächt.

Im Kalischer Lande liegt die erste und älteste deutsche Industriestadt in Mittelpo-

len. Der Burgherr von Gnesen, M. H. von Górowo-Górowski, gründete im Jahre

1738 die Stadt W ładys ławow. Noch im selben Jahre entstand "das löbliche Hand-

werk der Züchner, Parchner und Leinweber in Władysławow". Bis auf die Gegenwart

hin hat sich das Deutschtum, wenn auch an Seelenzahl klein, allem wirtschaftlichen

Unbill zum Trotz tapfer gehalten.

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Evangelische Kirche in Babiak, Kreis Koło, erbaut 1823 - Aufnahme: Schindler

In Turek wanderten um 1826 deutsch-katholische Weber aus Böhmen ein, für de-

ren religiöse Bedürfnisse sogar ein katholischer Priester aus Böhmen angestellt

wurde. Gleichzeitig mit ihnen kamen Weber aus Sachsen, Westpreußen und Schle-

sien. Im ganzen kamen 56 von Hundert aus Deutsch-Böhmen, 26 von Hundert aus

Sachsen, 12 von Hundert aus Westpreußen und 6 von Hundert aus Preußisch-

Schlesien. 1828 wurde in Turek eine Weberzunft gegründet, die bis zur Gegenwart

besteht, obwohl sich die deutschen Zunftmitglieder bereits stark in der Minderheit

befinden.

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Die Stadt Kalisch wurde nach dem Brande vom Jahre 1793 durch die preußische

Regierung wiederaufgebaut und mit zahlreichen preußischen Beamten besiedelt.

Ihnen gesellten sich deutsche Handwerker, Kaufleute und Gewerbetreibende bei.

Nach 1831 verließen viele deutsche Unternehmer Kalisch, dennoch zählte es im

Jahre 1860 2405 Deutsche, 1913 - 2500 Evangelische, 1921 - nur noch 1297 Evan-

gelische. Weit über die Grenzen Mittelpolens war die 1816 begründete Kalischer

Tuchfabrik von Repphahn bekannt. Unweit von Kalisch, in Opatówek, gründete

Fiedler 1823 eine Feintuchfabrik.

Herkunft

Mit Ausnahme der Dörfer Józefów, Wielopole und eines Teils von Białobłoty, in de-

nen sich pommersche Bauern angesiedelt haben, ist die deutsche Bevölkerung des

Kalischer Landes schlesischer Herkunft. Uneingeschränkt herrscht mit gewissen

Abstufungen die schlesische Mundart vor. Sitte und Brauchtum, Volkskunst und -

lied sind von echt schlesischer Prägung. In den Kirchenbüchern der evangelischen

Gemeinden Grodziec, Stawiszyn und Zagórów werden als Herkunftsorte der Ein-

wanderer vor allem Dörfer angegeben in der Umgebung von: Bentschen, Neuto-

mischl, Grätz, Wollstein, Tirschtiegel, Zduny, Wreschen, Pudewitz, Krotoschin,

Kirch-Boruj, Militsch, Heinzenburg, Parchwitz, Wohlau, Brieg sich befinden. Alle die-

se Orte liegen im Bereich der schlesischen Mundart, im südlichen Posen und dem

angrenzenden Niederschlesien. Die Siedler kamen aus den im 17. und 18. Jahrhun-

dert entstandenen Neusiedlungen. Sie fanden in den waldig-sumpfigen Gebieten

des Kalischer Landes ähnliche Bodenverhältnisse, wie sie sie in ihrer Heimat um

Grätz, Neutomischl und Wollstein gewöhnt waren. Auf das Neutomischler Gebiet

weist auch der Hopfenbau hin, der in vielen Kalischer Kolonien bis zum Weltkriege

gepflegt wurde.

Auf andere Mundartgebiete weisen nur wenige Herkunftsangaben. Allein aus dem

angrenzenden Oderbruche stammte eine beschränkte Anzahl von Einwanderern,

aus der Umgegend von Landsberg a. W., Sonnenburg und Driesen.

Schulwesen

Ein von Pastor Grimm aus Stawischin für das Konsistorium in Posen im Jahre 1797

verfasster Bericht gibt deutsche Volksschulen in folgenden Holländerdörfern an:

Zbiersk, Prażuchy, Kosmowo, Dannowitz, Zamenty, Zakrzyń, Przespolew, Czachu-

lec, Grojetz und Mycielin. Mit den Schulen in Obory, Łazińsk, Białobłoty, Gadowskie

Hol. und Wierzchy, die damals auch schon bestanden, ergibt sich eine Gesamtzahl

von 15 deutschen Volksschulen. Die Arbeitsweise und die Besoldungsbedingungen

Albert Breyer: Deutsche Gaue in Mittelpolen 45 von 79

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der "Schulhalter" waren denen in anderen deutschen Siedlungsgebieten ähnlich.

Manche Schulen, wie in Adler-Holland, Łazińsk, Obory besaßen je 15, 18 und 22

Morgen Land. Neben dem Unterricht waren die wichtigsten Obliegenheiten des Leh-

rers das allsonntägliche Predigtvorlesen, das Taufen und Beerdigen. In der ersten

Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in den neuangelegten Tochtersiedlungen zur

Gründung von Religionsschulen. Der Bildungsstand der Lehrer blieb nach wie vor

sehr gering. Um 1870, nachdem das Warschauer deutsche Lehrerseminar seine

Zöglinge den deutschen Volksschulen zur Verfügung stellte, begann sich der Zu-

stand der Volksschulen langsam zu heben. Dennoch bildeten im Jahre 1898 die

Kantoratsschulen 74 von Hundert der gesamten deutschen Schulen.

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1797 15 1865 42 1898 37 1919 45 1925 24

Die große Bewohnerzahl der einzelnen deutschen Dörfer wirkte schulerhaltend.

Kirchenwesen

Die Muttergemeinde des Kalischer Landes ist die 1776 begründete in W ładys ła-

wow. Der erste Pastor, Martin Marggraf, bereiste von Władysławow aus nicht nur

das Kalischer, sondern auch beinahe das ganze kujawische Land. Vier Jahre später

erfolgte die Gründung des Kirchspiels in Stawiszyn. Die Lutheraner von Kalisch

ersuchen die Stadtbehörden im Jahr 1795 um die Anstellung eines evangelischen

Predigers. Pastor Karl Michael Sinell, der im selben Jahre das Amt antrat, wurde

zum tatsächlichen Gründer der Gemeinde. Zur preußischen Zeit entstand unter re-

ger Teilnahme des Grundherrn, des Grafen Stadnicki, die Gemeinde von Grodziec.

Der erste Seelsorger, D. Bergmann, stammte aus Fraustadt. In Prażuchy, das bis

dahin Pastor Grimm aus Stawiszyn betreut hatte, entstand 1808 unter tätiger Mit-

hilfe des Grundherrn, Celiński, Besitzers der Herrschaft Ceków, ein eigenes Kirch-

spiel. In Iwanowice gründete 1808 der Gutsherr Wężyk eine evangelische Ge-

meinde. 1818 wurde sie, da in Iwanowice der Blitz die Kirche einäscherte, nach

Sobiesęki übertragen. In der Weberstadt Turek kam es 1827 zur Gründung eines

Filials, dem 1845 die Entstehung einer selbständigen Gemeinde folgte. Dass bei der

Gründung von vier evangelischen Gemeinden die Großgrundbesitzer unmittelbar

Anteil nahmen, zeigt, wie wichtig die deutschen Siedler in Stadt und Land für den

polnischen Adel waren.

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VII. DAS GOSTYNINER LAND

Landschaft

Von eigenartiger Schönheit und oft bedrückender Schwermut ist der nördliche Teil

des Gostyniner Landes. Auf weiten Strecken begleiten uns ausgedehnte Kiefernwäl-

der, in deren Mitte weltvergessene deutsche Dörfer ihr ärmliches Dasein fristen.

Das Gelände ist an vielen Stellen mit kuppigen Endmoränen überstreut. Stille Rin-

nenseen beleben anmutig die herbe Landschaft. Allenthalben bleichen große Sand-

felder. Wanderdünen bedrohen den Bestand von Wiesen und Ackerfluren und stel-

len die Lebensmöglichkeit mancher Landwirtschaft in Frage. Angebaut werden

Roggen, Hafer, Kartoffeln. Brüchige, vertorfte Wiesen liefern karge Weide.

Ein ganz anderes Bild entfaltet sich im Süden des Gostyniner Landes. Der Wald ist

von der Bildfläche verschwunden. Prächtige Weizenfelder, üppige Zuckerrüben-

äcker, Großgrundbesitz mit rot leuchtenden Wirtschaftsgebäuden zeugen von der

Fruchtbarkeit des Geschiebemergelbodens. Zahlreiche Zuckerfabriken und Brenne-

reien geben der Landschaft einen industriellen Anstrich. Wohlgepflegte Straßen fal-

len angenehm auf. Die vereinzelten Dörfer sind meist wohlhabend und zeigen sau-

bere Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Freudig lernen wir in diesem Gebiet die

beiden schönen Schwabendörfer: Leonberg und Neu-Düttlingen kennen.

Siedlungen

Auf einer Fläche von 650 km2 wohnt eine deutsche Landbevölkerung von rund 6000

Seelen. Sie bildet drei größere Sprachinseln: im Nordosten der Stadt Gostynin die

größte, die Emilienheimer Sprachinsel, mit rund 3000 Deutschen; im Süden von

Gostynin die Neu-Düttlinger Insel mit 1300 Deutschen und südlich der Stadt Gom-

bin die Leonberger Schwabensiedlung mit annähernd 1700 Deutschen. Vereinzelt

liegen noch deutsche Siedlungen im Westen und Norden von Gostynin. Die Deut-

schen wohnen in 103 Dörfern, die mit Ausnahme der beiden großen Schwabensied-

lungen, verhältnismäßig klein sind. Die verbreitetste Dorfform ist das Liniendorf,

das zur Preußenzeit eingeführt wurde. Doch findet man auch noch das Straßendorf

in unveränderter Form. Die Häuser in den alten Dörfern sind aus Holz im Bohlenbau

errichtet. Die aus preußischer Zeit meist Fachwerkbauten. Sehenswert ist das schö-

ne Schwabendorf Leonberg mit seinen entwickelten Industrieanlagen. Zwei Fabri-

ken landwirtschaftlicher Maschinen und drei Motormühlen befinden sich im Besitz

und unter der Leitung der Leonberger deutschen Handwerker.

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Das städtische Deutschtum im Gostyniner Lande verliert von Jahr zu Jahr an Boden.

Nachdem das Tuchgewerbe verschwunden ist, haben sich die Nachkommen der

Tuchmacher, wenn sie sich nicht zur Auswanderung entschließen konnten, wirt-

schaftlich umstellen müssen. Die Berufsgliederung ist gegenwärtig eine völlig ande-

re als noch vor fünfzig Jahren. Die Deutschen sind jetzt meist kleine Ladenbesitzer,

Handwerker, Hausbesitzer, Beamte.

Deutsche Bauersfrau schlesischen Stammes aus Borowiec, Kreis Konin - Aufnahme: Breyer

Siedlungsgeschichte

Die ersten deutschen Siedler kamen um 1780 ins Gostyniner Land. Der Besitzer der

Starosteigüter Strzelze gründete aus grüner Wurzel die Holländerei Strzelze. Sei-

nem Beispiel folgten die Grundbesitzer von Sieraków und Sójki und setzten im Wal-

de die deutschen Siedlungen Sieraków-Holland und Wierzbie-Holland an. Nordöst-

lich von Gostynin legten auf sandigem Boden in den herrschaftlichen Wäldern des

Gutes Białe deutsche Kolonisten das Dorf Deutsch-Mocker an. Auf dem Balken einer

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alten Scheune ist noch die Jahreszahl 1796 eingeschnitten. Insgesamt entstehen

bis zur Jahrhundertwende 12 deutsche Rodesiedlungen, vorwiegend im Waldgebiet

um Gostynin.

Deutscher Bauer aus Karolew, Kreis Grójec - Aufnahme: Breyer

Zur preußischen Zeit gründete der neue Besitzer der Strzelzer Starosteigüter, der

Großkaufmann von Treskow, zehn mit vorwiegend märkischen Kolonisten besetzte

Walddörfer. Die preußische Domänenverwaltung setzte die Schwabendörfer Leon-

berg, Neu-Düttlingen, Nagold und Luisental an. Die beiden ersten besitzen

fruchtbaren Boden und haben sich im Laufe der Zeit gut entwickelt, die beiden

letzten haben seit 60 Jahren ihre schwäbischen Insassen durch Abwanderung

verloren. Bis zum Jahre 1835 dauerte die verhältnismäßig starke Einwanderung

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zum Jahre 1835 dauerte die verhältnismäßig starke Einwanderung deutscher Kolo-

nisten an. Dann verebbte langsam der Zustrom.

Die Bodengüte der neuangelegten deutschen Dörfer war recht gering. Die meisten

fristeten nur ein kümmerliches Dasein. Als die Kunde von billigem Pachtland kam,

das im Cholmer Lande und in Wolhynien reichlich vorhanden sein sollte, griffen vie-

le Hunderte zum Wanderstab. An fünfzig deutsche Dörfer gingen auf diese Weise

ein. In eben so vielen verminderte sich die Zahl der deutschen Wirte um mehr als

die Hälfte. Allmählich vernarbten die Wunden. Mit der Zeit entstanden auch hin und

wieder einige Neusiedlungen. Besonders starken Siedlungsdrang zeigen die Schwa-

bendörfer, ihr Siedlungsraum befindet sich in stetem Wachstum.

Im Gostyniner Lande spielte auch deutscher Großgrundbesitz eine wichtige

Rolle. In preußischer Zeit erwarb der Berliner Großkaufmann von Treskow vom

Starosten von Strzelze die Starosteigüter und –wälder für 300.000 poln. Gulden.

Seine Nachkommen hatten ihre Ländereien auf eine hohe Wirtschaftsstufe zu brin-

gen verstanden. Auf dem Gute Strzelze wurde 1839 die erste Zuckerfabrik des

Gostyniner Landes angelegt. Ein reichliches Jahrhundert lang zählten die Strzelzer

Güter zu den Musterbetrieben in Mittelpolen. 1925 erwarb sie die polnische Land-

wirtschaftsbank und teilte sie unter die polnische Landbevölkerung auf.

Die Güter der Starostei Duninow erwarb im Jahre 1829 der preußische Gerichtsrat

Baron Ike. Sie sind heute noch im Besitz seiner Nachkommen. Doch sind diese ka-

tholisch geworden und völlig verpolt.

Die Gutsherrschaft Lucień befand sich durch ein knappes Jahrhundert im Besitz

der Grafen von Lüttichau. 1896 ging sie in den Besitz des jüdischen Holzhändlers

Kogan über.

Neben der ländlichen ging im Gostyniner Lande auch die städtische Kolonisati-

on einher. Die kongresspolnische Regierung brachte 1821 deutsche Tuchmacher

und andere Handwerker in die Städte Gostynin und Gombin. Nach einigen Jahren

entstanden hier in besonderen Neustädten blühende Tuchmacherniederlassungen.

In Gostynin behauptete sich das Tuchgewerbe bis ins Zeitalter des mechanischen

Webstuhls, ja um 1870 blühte es noch kräftig. Um 1900 erdrückte der Maschinen-

betrieb den Handweber. In Gombin erlitt die Tuchmacherei durch die Revolution

von 1830 den Todesstoß. Gegenwärtig ist von dem ehemals blühenden deutschen

Zunftwesen keine Spur mehr vorhanden.

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Herkunft

Die ländlichen pommerschen Siedler der altpolnischen Zeit stammen zumeist aus

dem Netzegau, aus der Umgegend der Städte Margonin, Labischin, Schubin, Wir-

sitz. Manche kamen auch unmittelbar aus Pommern, ja aus Mecklenburg. Die Kolo-

nisten der von Treskow'schen Dörfer kamen aus dem Warthebruch, aus der Umge-

gend der Städte Küstrin und Landsberg a. W.

In den Schwabensiedlungen sitzen Kolonisten aus Württemberg, aus dem Amt Le-

onberg bei Stuttgart, aus Düttlingen und Nagold. Von anderen württembergischen

Orten seien genannt: Feiningen, Sündelfingen, Hirschlanden, Bennhausen, Gerlin-

gen.

Die Tuchmacher der Städte Gostynin und Gombin stammen überwiegend aus Rado-

lin, Labischin, Rogasen, Schönlanke, Jastrow, also aus den Tuchmacherstädten des

Netzegaues, zum Teil aus denen Pommerns. Diese Herkunftsangaben sind vorwie-

gend den Kirchenbüchern der evangelischen Gemeinden zu Gostynin und Gombin

entnommen.

Stammlich gliedert sich das ländliche Deutschtum im Gostyniner Lande in 57 von

Hundert Pommern, 40 von Hundert Schwaben und 3 von Hundert Märker.

Schulwesen

Die Gründung und Entwicklung des Schulwesens verlief nach den gleichen Gesetzen

wie in den anderen deutschen Landschaften. War auch die Rodezeit schwer und

kummervoll, die Einwanderer trugen dennoch Sorge um das Schul- und Bethaus.

Laut Angabe des Iłówer Pastors Witthold bestanden im Jahre 1800 bereits 11 deut-

sche Schulen mit einem regen Betrieb. Nach 1870 hat die wolhynische Auswande-

rung viele Schulgemeinden geschwächt oder völlig aufgelöst, reichlich die Hälfte

verschwand. Bezeichnend für das Gebiet ist, dass von 12 deutschen Schulen bei

Ausgang des 19. Jahrhunderts nur zwei Kantoratsschulen waren. Nach dem Welt-

krieg hat im Gostyniner Lande ähnlich wie in Kujawien die Streulage der deutschen

Gehöfte und die geringe Größe der deutschen Dörfer verheerend auf das deutsche

Schulwesen gewirkt.

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Jahr Zahl der deutschen Schulen und Kantorate

1800 11

1805 15

1840 22

1865 25

1898 12

1919 19

1925 6

Kirchenwesen

In den ersten Jahrzehnten nach dem Sesshaftwerden der deutschen Bauern im

Gostyniner Lande erfolgte ihre seelsorgerische Betreuung von der Gemeinde Iłów

aus. Darum stammen auch die ersten glaubwürdigen Nachrichten über das Gosty-

niner Land aus dem Iłówer Pfarrarchiv.

Dieser Zustand erfuhr eine Änderung als nach 1820 die kongresspolnische Regie-

rung in den königlichen Städten Gostynin und Gombin evangelische Tuchmacher

ansiedelte. Im Jahre 1824 wurde mit dem Kirchbau in Gostynin begonnen. Die

ehrwürdigen Ruinen des ehemaligen Starostenschlosses gaben einen Teil des Bau-

materials her. Den Wehrturm verwandelte man in einen Glockenturm, eine der al-

ten Schlossmauern diente als Ostwand der neuerbauten Kirche. Der erste Pastor,

der junge Predigtamtskandidat Karl Pastenacy, wurde am 1. September 1825 ge-

wählt.

Die Nachbargemeinde Gombin besaß bereits um 1800 einen eigenen Betsaal. Ein

Kantor und "Schulhalter" hielt Lesegottesdienst und unterrichtete die Kinder im

Glauben und der Sprache der Väter. Im Jahre 1829 wurde in Gombin die evangeli-

sche Kirche errichtet. Die Einweihung des neuerbauten Gotteshauses, verbunden

mit der Amtseinführung des ersten Seelsorgers fand am 3. Juni 1832 statt. Der

Sohn des Neuhofer Pastors Bando, Wilhelm Bando, hat 43 Jahre in der Gemeinde

Gombin gewirkt.

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Deutsches Bauernhaus in Dyndja, Kreis Gostynin - Aufnahme: Breyer

Die Filialgemeinde Kutno entstand erst 1827, obwohl zur Preußenzeit hier bereits

ein Bethaus errichtet worden war. 1879 erbaute die Gemeinde ein gemauertes

Kirchlein. Nach dem Weltkriege ist die Gemeindegliederzahl stark zusammenge-

schrumpft.

An der Weichsel befindet sich in schöner Lage die Kirche der evangelischen Ge-

meinde Nowa Wieś. Diese wurde 1843 vom Grundherrn von Duninow, dem Baron

von Ike, ins Leben gerufen. Das schmucke Kirchlein ist auf Kosten der Grundherr-

schaft Duninow erbaut worden, seine Einweihung fand am 3. April 1877 statt. Einen

eigenen Seelsorger erhielt die Gemeinde erst nach fast hundertjährigem Bestehen.

Es ist dies Pastor E. Kelm, der im Juli 1932 sein Amt antrat.

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VIII. DAS LODZER INDUSTRIEGEBIET

Landschaft

Das Lodzer Industriegebiet bildet die Kerngruppe des Deutschtums in Mittelpolen.

In groben Zügen lässt sich die Landschaft in drei Teile gliedern. Östlich von Lodz

liegt die sogenannte Lodzer Hochfläche mit einer Neigung nach Südost, von der

Wasserscheide zwischen Oder und Weichsel durchquert. Die Gegend ist verhältnis-

mäßig arm an Wald und Wiesen. Der Grundwasserspiegel liegt tief. Guter Roggen-

boden ist allenthalben zu finden, auch gedeihen die Kartoffeln vortrefflich. Zahlrei-

che Sommerfrischler gerade aus Lodzer deutschen Kreisen wählen diese

gesundgelegenen, nach dem Süden zu bereits etwas waldreichen Gegenden zum

Aufenthalt. Recht schwach ist auf der Lodzer Hochfläche der Großgrundbesitz ver-

treten. Überall kommt die Verbindung mit der Großstadt aufdringlich zum Vor-

schein.

Südlich dieser Landschaft bis hinab zur Piliza zieht sich ein sandiger Landstrich mit

vielen Kiefernwäldern hin. Die Dörfer haben hier ein ärmeres Aussehen, der Boden

liefert karge Erträge. Die Großstadt wirkt wirtschaftlich nicht mehr so fördernd ein

wie auf der Lodzer Hochfläche. Die deutschen Dörfer dieser Landschaft leben welt-

abgeschieden, von großen Wäldern umrahmt. Nur vereinzelt erscheinen hier die

vielfach ersehnten Sommergäste. Die Wege sind eintönig und sandig. Allgemein

liegt über der Landschaft eine eigenartige Schwermut. Nach dem Westen zu, bei

Petrikau und Rodomsko, wird die Gegend stellenweise abwechslungsreicher, der

Boden fruchtbarer, die Anzahl der Gutshöfe nimmt zu. Birkenhaine, mit Erlenbü-

schen bestandene Flussläufe bringen einen fröhlichen Zug in die Landschaft. Die

Bodengestaltung ist vorwiegend sanft-wellig, ohne jähe Übergänge. Hin und wieder

machen sich auffällig Fabrikgebäude bemerkbar.

Im Westen der Lodzer Hochfläche breitet sich bis an die Warthe eine völlig andere

Landschaft aus. Wanderdünen, Flugsandfelder, moorige Wiesen, weite Heideflä-

chen, zahlreiche Pappel- und Weidebestände bestimmen das Bild. Die Landschaft ist

stellenweise nur halboffen. Das Blickfeld beschränkt. Blaudunstige Fernsichten, wie

wir sie bei Neusulzfeld auf der Lodzer Hochfläche hatten, fehlen hier gänzlich. Die

Beimengung von Laubwald und Erlenbüschen zu den Kiefernwaldungen ist ebenfalls

eine Besonderheit dieses Gebiets. Das Wiesengelände tritt in den Vordergrund, so

besonders zwischen Lodz und den Städtchen Alexandrow und Konstantynow. Ein

Zug der Geschäftigkeit, des wirtschaftlichen Strebens prägt sich dieser Landschaft

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auf. Auf den Landstraßen herrscht ein anscheinend nie zur Ruhe kommender Perso-

nen- und Warenverkehr. Überall ist der Atem der Großstadt spürbar.

Schwabenhaus im Dorf Karlshof, Kreis Lowitsch - Aufnahme: Flath

Siedlungen

Auf einer Fläche von rund 6500 km2 siedeln an 180.000 Deutsche; davon wohnen

etwa 97.000 oder 54 von Hundert in den Städten, vor allem in Lodz, Pabianize,

Zgierz, Alexandrow, Konstantynow, Ozorkow, Tomaschow, Zduńska Wola, Brzeziny

und Bełchatow. Die übrigen 83.000 sind Landbewohner, die in 315 größeren deut-

schen Dörfern, und in 480 kleineren oder eingesiedelt in polnischen Dörfern sitzen.

Als Dorfform wiegt das Liniendorf vor, vereinzelt nur sind die im 18. Jahrhundert

angelegten Straßendörfer. In den schlesischen Dörfern herrscht die Streusiedlung

vor.

Größere deutsche Sprachinseln treffen wir bei Neusulzfeld, Königsbach, Grünberg,

Katarzynow, Budziszewice, Wykno, Jarosty, Stanisławów-Lipski, Danielew, Bełcha-

tow, Kleszczów, Pożdzienice, Stawek, Erywangrod, Zduńska Wola, Chorzeszow,

Konstantynow, Alexandrow, Huta Bardzińska, Dzierzanow, Tkaczewska, Góra, Kwil-

no, Biała, Anielin, Lindow an. Wirtschaftlich und geistig bildet Lodz für sämtliche

größeren oder kleineren Sprachinselgruppen den Mittelpunkt. Der Überschuss an

Dorfbevölkerung fand früher in den Industriestädten einigermaßen lohnende Be-

schäftigung. Die Auswanderung kam vor dem Weltkrieg kaum in Betracht. Gegen-

wärtig staut sich überall die Menge der Arbeitslosen. Kein Verein oder Amt sorgt für

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wirtschaftliche Aufklärung des deutschen Kolonisten. Seine Jugend wächst ohne

Hauswirtschaftsschulung, ohne Kenntnis der neuzeitlichen Landbebauungsmittel,

ohne Fortbildungsvereine auf, während seinem polnischen Nachbar die Zeit nicht

ausreicht, um alle sich ihm bietenden Fortbildungsmöglichkeiten auszunützen. Ei-

serner Fleiß und die größte Sparsamkeit und Genügsamkeit sind die einzigen Waf-

fen, die der deutschen Landbevölkerung die erfolgreiche Führung des Kampfes um

ihre wirtschaftliche Selbstbehauptung ermöglichen.

Deutsches Tuchmacherhaus in Zgierz

In den Städten äußert sich das kulturelle Leben auf mannigfache Weise, sei es in

zahlreichen Gesang- und Turnvereinen, sei es auf dem Gebiet der christlichen

Nächstenliebe durch Gründung und Unterhaltung von Krankenhäusern, Greisen-

und Waisenheimen. Die Opferwilligkeit für diese Anstalten ist lobend hervorzuhe-

ben. Ein Theaterverein will nach Möglichkeit für leichte Kunst Sorge tragen. Der

Lodzer Deutsche Schul- und Bildungsverein gehört mit zu den wichtigsten kulturel-

len Vereinen. Seine reichhaltige Bücherei, die sonstigen kulturellen Veranstaltun-

gen, Vortragsfolgen, Ausstellungen, machen ihn zum Mittelpunkt für das geistige

Deutschtum der Stadt Lodz und der umliegenden Städte, in denen er Zweigabtei-

lungen gegründet hat. Zum Schluss sei noch auf den Großgrundbesitz einiger

Lodzer Industrieller hingewiesen. Der bürgerliche Landbesitz hat von jeher (die

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Krakauer deutschen Bürger im Mittelalter) entdeutschend auf seine Besitzer ge-

wirkt. Diese Erscheinung ist auch im Lodzer Gebiet zu beobachten.

Die Nähe der Fabrikstädte bringt es mit sich, dass der Ackerbau bei guter Bewirt-

schaftung erhebliche Einkünfte bringt. Die Erzeugnisse der Milchwirtschaft finden

guten Absatz. Der Sommerfrischenbetrieb stellt in vielen deutschen Dörfern im Os-

ten und Westen von Lodz eine gute Einnahmequelle dar. Mitunter weckt dieses

Sichnähertreten von Stadt und Land volkstumserhaltende Kräfte. Anderseits hat

sich die enge Verbindung mit der Stadt vielfach schädlich auf Geist und Körper aus-

gewirkt. Hier tut volksaufklärende Arbeit bitter not. Die Realteilung in manchen

Vorstadtdörfern ist recht weit vorgeschritten. Bäuerliche Betriebe gehen durch eine

öfters ungesunde Bauplatzspekulation zugrunde. Je weiter vom Industriegebiet,

desto urwichtiger ist dann der deutsche Landmann, desto anziehendere, seelische

Eigenschaften kommen bei ihm zum Vorschein. Die Bauweise in der Nähe der Stadt

ist ganz von dieser abhängig. Meist herrscht Ziegelrohbau vor. In holzreichen Ge-

genden, bei Koluszki z. B., finden wir städtisch anmutende Wohnhäuser aus Holz.

In den Industriestädten sind im wirtschaftlichen Leben die Deutschen überall

tonangebend. Leider tritt die jüdische Bevormundung in manchen Fabrikbetrieben

seit langem fühlbar in Erscheinung. Besonders bei der Herstellung von allerlei ge-

ringen Webwaren ist der jüdische Fabrikationsanteil vorherrschend. In den letzten

Jahren wurden in manchen Großbetrieben krampfhafte Anstrengungen gemacht,

die seit jahrzehnten herrschenden deutschen Geschäfts- und Herstellungsmethoden

zu beseitigen. Nichtsdestoweniger ist es vergeblich, den deutschen Charakter des

Lodzer Industriegebiets hinwegleugnen zu wollen. In vielen Fällen scheitert jede

deutsche Gegenwehr and der rein geschäftsmäßigen Einstellung vieler deutscher

Großindustrieller. Führende Männer, vom Schlage eines Manufakturrats Leonhardt,

fehlen uns leider.

Auf kulturel lem Gebiet besitzt das Deutschtum des Lodzer Gebiets seine nationa-

len Schutzvereine; bei zunehmender volklicher Reife werden solche aber mit Natur-

notwendigkeit entstehen müssen. Gegenwärtig steht das Deutschtum auf allen Ge-

bieten unter starkem wirtschaftlichen Druck.

Siedlungsgeschichte der deutschen Dörfer

Die älteste Urkunde über die Gründung einer deutschen Holländerei besitzt auf Lod-

zer Boden das Dorf Ruda-Bugaj. Im Jahre 1782 urkundet der Legationsrat des

Kreises Inowłódź, V. Chobrzyński, Grund- und Erbherr von Groß-Brużyca,

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"nebst denen dazugehörigen und schon seit hundert und einigen Zehn Jahren

wüst liegenden Gründen als Pustkowiów, Wierzbny, Bugaja, Rudy und ande-

ren mehr verwachsenen Grundstücken, wovon meine Vorväter nebst mir

schon seit so lange vor erwähnter Zeit bis jetzt mit meiner Familie keine Vor-

teile bis zur gegenwärtigen Zeit genießen konnten. Dieser wegen wollen wir

diese Wüstverwachsenen Grundstücke urbar machen lassen und in nutzbare

Felder verwandeln und zwar durch folgende Holländer, als nämlich Gottfried

Arnold als Annehmer und neuen Schultze, Baltasar Arnold und Andreas

Schultze als Gerichtsleute".

Die Oberin der regulären Prämonstratenserinnen des Konvents zu Łęczyca, D.

Sokołowska, ging mit dem ehrbaren Gottlieb Kaczorowski "Der Holländischen

Ackerkunst Schulzen" und dem Schöffen Albert Aeckerlust im Jahre 1784 einen

Vertrag ein, laut dem sie die mit Wald und Gestrüpp bestandenen, keinen Nutzen

liefernden Ländereien des Gutes Chociszew an arbeitsame Holländer mit

siebenjähriger Freizeit in Erbpacht vergab. Es entstand auf diese Weise das

deutsche Dorf Pustkowa Góra.

Aus der "Gerechtsame des Etablissements der Colonie Brożyczka", die 1791 ver-

fasst wurde, entnehmen wir, dass der Domherr der Kathedralkirche zu Posen, A.

Reptowski, durch die nachlässige Bebauung des Ackerbodens von Seiten der ein-

heimischen Bauern

"genöthigt wurde, Fremdlinge ins Land zu ziehen, und unter sie einen ansehn-

lichen Theil des Waldes zu verteilen, damit sie durch fleißiges urbarmachen

Felder und Wiesen erweiterten, durch eine ordentliche Landwirtschaft den Na-

tional-Reichtum vermehrten und dadurch theils selbst einen erlaubten Gewinn

zögen, theils aber auch dem Eigentümer dieses Landes einen Theil des Ertra-

ges zufließen ließen."

Der Besitzer des Gutes Groß-Kały, J. Wyrzykowski, überlässt im Jahre 1796 an 18

Holländer das 17 Hufen große Stück Wald Grabieniec. Es sollte von ihnen ausgero-

det und mit den nötigen Gebäuden besetzt werden. Sie erhielten sieben Freijahre,

um ihre Wirtschaften in guten Stand zu bringen.

Um 1790 bestanden bereits die deutschen Dörfer: Słowik, Swędow, Dąbrowa, Mi-

leszki, Przanowice. Westlich von Łask legte der Gutsbesitzer J. Sulmierski die Hol-

länderei Paprotnia in Sumpf und Urwald an. Auf den Wäldern der Gutsherrschaft

Skoszewy wurden im Jahre 1795 drei Holländereien angelegt: Słogowiec, Boginia

und Głombie. Einige Jahre später entstanden in deren Nähe die Dörfer Plichtów und

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Laski. Vom Gute Małczew wurde Małczew-Holland 1796 gegründet, östlich davon

die Kolonie Gaj; 1795 die Holländereien Radogoszcz, Zabieniec, Rexul, Wożniki,

Karasica. Mitten im Gebiet des heutigen Lodz, das damals von Urwald bedeckt war,

legten deutsche Bauern 1798 die Holländerei Karkoszki an. Nach der preußischen

Karte von Gilly bestand sie aus drei Wirtschaften und bildete, ähnlich wie die an-

grenzende Holländerei Antoniew, eine Rodungsinsel mitten im Urwaldgebiet. Ur-

kundlich ist belegt, dass die Siedlung Antoniew-Holland in den Wäldern des Gutes

Stoki von dem Gutsbesitzer, A. Stokowski, im Jahre 1798 gegründet wurde.

Südlich von Pabjanize werden auf sandig-brüchigem Waldboden nach 1790 die Hol-

ländereien Rydzyny, Chechło, Modlica und Pawlikowice gegründet. Östlich von Brze-

ziny bestehen um 1795 die deutschen Dörfer Stefanow, Przyłęk und Kiełbasa. Im

Norden der Stadt Tomaszow wurde 1797 an den Wäldern des Gutes Jankow die

Holländerei Łączkowice angelegt, südlich davon Maksymow. In der Gegend südlich

von Koluszki wurde in dieser Zeit die Kolonie Katarzynow, Erazmow und Felicjanow

angesetzt. Zu gleicher Zeit geht nördlich von Bełchatow die Gründung der Dörfer

Kałduny, Rassy und Myszakow vor sich. 1795 entstehen östlich davon die Hollände-

reien Danielow und die Parzniewicer Buden. Im Osten der Stadt Radomsko werden

die deutschen Dörfer Feliksow, Zakrzew, Cieszątka, Starnia Huta, Waldholländerei

und Alte Glashüttener Holländerei angelegt. Bei Kamińsk finden wir die Holländerei

Majdany. Somit bestanden vor 1800, d.h. vor der preußischen Kolonisation, in der

nächsten Umgegend von Lodz 28 deutsche Dörfer. Südlich und östlich davon, bei

Petrikau, Tomaszow, Bełchatow und Brzeziny 21, insgesamt 49 Holländereien.

Die südpreußische Kriegs- und Domänenkammer gründete in der Zeit von 1800

bis 1805 folgende meist mit Schwaben bevölkerte Kolonien: im Domänenamt

Łaznów: Groembach, Grünberg, Neusulzfeld, Neu-Wionczyn, Wionczyn Górny,

Friedrichshagen, Wionczyn Dolny, Wilhelmswald; Domänenamt Tkaczew: Fried-

richsruhe, Kleingórne, Neu-Wüttemberg, Schöneich und Engelhardt; Domänenamt

Pabjanice: Königsbach, Effingshausen und Hochweiler. Neben der staatlichen Sied-

lung ging auch die private durch die einheimischen Grundherren einher. Um 1800

entstanden auf dem Gute Wojsławice bei Lask die deutschen Dörfer Hahnenfeld und

Zamłynie. Die Erb- und Grundfrau der Güter Bedoń, M. Tuchecka, gab im Jahre

1805 an 29 Kolonisten auf mit Wald verwachsenen Stücken 30 Hufen kulmischen

Maßes aus. Zur Zeit des Großherzogtums Warschau strömten aus den benach-

barten Provinzen Preußens, angelockt durch vielverheißende Einwanderungsgesetze

ganze Scharen von Rodern in die Urwälder Mittelpolens. Bei Radomsko wurden

1809 die deutschen Dörfer Elźbietów, Teodorów und Florentynow angelegt. Weiter-

hin entstanden Michaelsfeld 1810, Zakowice 1805, Dziepulć, Huta Bradzińska und

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Karolinow bei Łęczyca 1811, Adamow Stary 1815, Łurzczanowice, Kleszczów,

Wykno, Ciosny, Lipianki, Władisławow, Szymanow 1818, Leosin, Stamirowice 1819,

Teolin 1820, Neu-Adamow 1828, Bechcice 1836, Łobudzice 1837, Budziszewicer

Sprachinsel 1839 bis 1845, Warszewice, Natolin, Kaźmierów und Rossenów bei

Zgierz 1840, Karolew bei Lodz, Poręby, Zduny, Ogrodziska bei Zd.-Wola 1842,

Dzierzanow und Józefów 1843, Albertów, Reginów 1845, Lindow 1860, Leopoldow

1863, Kaźmierzow 1864, Trupianka 1865, Michałow 1878, Turobowice 1890. Diese

Angaben umfassen nur einen kleinen Teil der deutschen Siedlungen im Lodzer In-

dustriegebiet.

Die Beschaffenheit des Ackerlandes ist in sämtlichen deutschen Dörfern gering,

meist sind es ausgelaugte Sandböden, moorige Wiesen, mit Steinen reichlich über-

säte Flächen. Ein Blick auf die Karte belehrt, dass ein großer Teil der deutschen

Siedlungen an ausgedehnte Privat- und Kronwälder grenzen, z.B. Paprozkie Hol.,

Poręby, Hahnenfelde, Rydzyny, Zosjówka, Grünberg, Justynów, Wilhelmswalde,

Zakowice, Tkaczewska Góra, Słowik, Słotwiny, Leosin, Swędow, Wiączyn, Janinow,

Moszczenica. Diese Randlage ist ein Beweis mehr dafür, dass sie auf schlechten

Böden angesetzt wurden in Gegenden, wo vor 100-150 Jahren die Waldrodung

nicht lohnend war. Auf den fruchtbaren Grundmoränenböden nördlich von Ozorkow

werden wir deutsche Siedlungen vergebens suchen. Hier wurde bereits im 13. und

14. Jahrhundert der Waldboden unter den Pflug genommen, die grasreichen Wiesen

für die Viehzucht ausgenützt.

Siedlungsgeschichte der Städte

Die Mutter der Tuchmacherstädte im Lodzer Industriebezirk ist die Stadt Ozorkow.

Ihre Gründung durch den Gutsbesitzer Starzyński geschah im Jahre 1813. Nach

Verlauf von drei Jahren erwirkte der Grundherr die Erhebung des Dorfes Ozorkow

zur Stadt; 1820 wohnten in ihr bereits 294 Tuchmacher, 4 Tuchscherer und 1 Fär-

ber.

Diesem Beispiele folgte der Besitzer der Güter Groß-Brużyca, P. Bratuszewski, und

ließ auf sandigem, von großen Wäldern umgebenen Orte die Tuchmachersiedlung

Alexandrow aus grüner Wurzel entstehen.

In der "königlichen Stadt" Zgierz ließen sich im Jahre 1819 deutsche Tuchmacher

nieder. In der Zeit von 1821 bis 1826 siedelten sich 225 Tuchmachermeister an. In

einem amtlichen Bericht vom Jahre 1825 lesen wir über die Entwicklung dieser

Stadt:

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"Zgierz, das 1815 aus einigen Dutzend armseliger Holzhäuser bestand, in de-

nen eine Gesamtbevölkerung von 558 Köpfen wohnte, besitzt gegenwärtig ei-

nige hundert gemauerte Häuser und einige zehn Holzhäuser, in denen an

ortsansässiger Bevölkerung 633 Seelen, an ortsfremder 2740 wohnen."

Im selben Jahr hat Zgierz nach Russland 709.187 Ellen Tuch versandt.

Der Grundherr der Güter Zabice, Rszew, Bechcice und Okołowice, N. Krzywiec,

gründete auf den Ländereien des Gutes Zabice die Tuchmachersiedlung Konstan-

tynow. Drei Bürger aus Ozorkow: Wegner, Henning und Freymark, schlossen am

8. Februar 1821 mit dem Gutsbesitzer Krzywiec den Ansetzungsvertrag. In kurzer

Zeit wurden in Konstantynow an 60 Tuchmacherfamilien wohnhaft, ein großer Teil

von ihnen kam unmittelbar aus Züllichau. In den vierziger Jahren siedelten sich in

der Stadt auch katholische Weber aus Böhmen an.

Graf A. Ostrowski, Besitzer des Städtchens Ujazd und der angrenzenden Wälder,

ließ im Jahre 1821 deutsche Tuchmacher aus Grünberg kommen und legte den

Grund der Stadt Tomaszow.

Die Entstehung von Zduńska Wola ist das Verdienst des Grundbesitzers Złotnicki;

er ließ um 1818 sächsische und böhmische Weber nach seinen Besitzungen kom-

men, verteilte ihnen zur Errichtung von Wohnhäusern unentgeltlich Bauplätze,

schenkte Holz aus seinen Wäldern und Ziegel aus der eigenen Ziegelei. 1825 gelang

es ihm bei dem Besuch des Kaisers Alexander I. in der neuerbauten Siedlung die

Bestätigung der Stadtrechte zu erlangen.

In Pabjanice erschienen die ersten deutschen Tuchmacher um 1820. In den

nachfolgenden Jahren ist die Zahl der zugewanderten Tuchmacher gering. Um 1825

kamen die ersten Baumwollweber aus Sachsen. Von segensreicher Bedeutung wird

1826 die Einwanderung des aus Reichenau in Sachsen stammenden Baumwollfabri-

kanten Gottlieb Krusche.

In Brzeziny saßen bereits zur preußischen Zeit einzelne deutsche Tuchmacher.

Ihre Zahl stieg, nachdem die Besitzerin der Stadt, Fürstin Ogińska, im Jahre 1816

den Tuchmachern eine Reihe von Ansiedlungsvergünstigungen einräumte. 1818

arbeiteten bereits 80 Tuchmachermeister, sie besaßen eine Walkmühle in Rochna.

Als letzte in dieser Reihe trat trat die gegenwärtig größte Fabrikstadt des Bezirks

auf: Lodz. Der stärkere Zustrom von Tuchmachern und anderen Handwerkern be-

gann hier mit dem Jahre 1825. Dabei ist die gleichzeitige Einwanderung von Baum-

wollwebern wichtig, die in den Jahren 1828 und 1829 die der Tuchmacher zwei-

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und fünffach übersteigt. Somit erhielt die Baumwollweberei schon in den Grün-

dungsjahren das Übergewicht. Der Wojewodschaftskommissar R. Rembieliński

widmete der Stadt Lodz besondere Aufmerksamkeit. Alljährlich verbrachte er in

dieser seiner Lieblingsstadt einige Wochen, wobei er an deren Auf- und Ausbau re-

ge Teilnahme zeigte. Zum Industriepionier auf dem Gebiete der Stadt Lodz wurde

der aus Kolmar (Prov. Posen) stammende Schönfärber Karl Gottlieb Sänger. Be-

sondere Verdienste um die Entwicklung der Lodzer Industrie erwarb sich auch der

Chemnitzer Baumwollspinnereiunternehmer Christian Friedrich Wendisch. Rem-

bieliński schreibt über ihn:

"Er war einer der fähigsten, wirtschaftlichsten, fleißigsten und ehrlichsten Fab-

rikanten der Wojewodschaft Masovien."

Andere Vorkämpfer der Anfangszeit sind: Titus Kopisch, Karl Gottfried May und

Ludwig Geyer. Die weitere Entwicklung der Textilindustrie darzustellen ist nicht un-

sere Aufgabe4.

Welch nachhaltigen Eindruck auf die Zeitgenossen die plötzliche Entstehung zahlrei-

cher Fabrikstädte machte, dafür ein Zitat aus jener Zeit:

"Unsere Fabrikindustrie geht mit gigantischen Schritten vorwärts. Unter unse-

ren Augen sind eine Reihe von Städten entstanden, die bis 8000 Einwohner

zählen, da wo noch vor 8 Jahren einige armselige Hütten zwischen Morast, to-

tem Sand und Gestrüpp standen."

Dr. F. Bielschowsky sagt im Schlusswort ihres Buches über die Textilindustrie des

Lodzer Rayons:

"Die Lodzer Textilindustrie ist die Schöpfung deutscher Kultur, deutschen

Geistes, sie ruht auch heute noch zum größten Teil in deutschen Händen; so-

weit ist ihre Geschichte die Geschichte der Kultivierung des slawischen Ostens

durch die Germanen."

Herkunft der ländlichen Siedler

Auf Lodzer Gebiet treffen sich eigentlich fünf deutsche Stämme. Aus dem Norden

kamen die Pommern, ein Stamm, dem das Urbarmachen von Bruch und Wald seit

Jahrhunderten im Blute steckt. Aus dem westen wanderten die Schlesier ein, land-

4 Siehe meinen Beitrag bei Dr. K. Lück "Deutsche Aufbaukräfte i. d. Entwicklung Polens", S. 331-362.

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läufig "Hockerlinge" genannt. Zur preußischen Zeit wurden Schwaben und Pfälzer

angesiedelt. Nach 1830 kamen Hessen ins Land.

Die drei letzten Stämme gründeten Stammsiedlungen, da sie unmittelbar aus

Deutschland nach Polen kamen. Die Pommern und Schlesier schufen Tochtersied-

lungen, denn sie stammten zum überwiegenden Teil aus den bereits in früheren

Jahrzehnten in Mittelpolen gegründeten Holländereien. Die Pommern kamen meist

aus Kujawien, die Schlesier aus dem Kalischer Land. Nur Vereinzelte wanderten

unmittelbar aus Pommern, der Neumark und Schlesien ein.

Ein beträchtlicher Teil der Pommern war im Posenschen und dem Netzegau be-

heimatet. Es werden in den Kirchenbüchern folgende Städte genannt: Kolmar,

Wongrowitz, Rogasen, Schocken, Znin, Santomischel, Margonin, Gembitz-Hol.,

Bromberg. Die Schlesier kamen aus der Umgegend der Städte Meseritz, Neutomi-

schel, Grätz, Birnbaum. Die Schwaben gaben als Herkunftsorte an in Württem-

berg: Dessenhausen, Wassenbach, Keiningsbinger, Gumbelscheier, Winterlingen,

Schweigheim, Hochheim, Oberacker; in Bayern: Lachen und Gersbach; in Baden:

Oberwacker und Auerbach. Die Pfälzer kamen aus Zollingen, Domsessel, Altweiler,

Betzdorf; die Hessen aus Komrad, Keltingen, Niedergosse, Elbenrod und Eirdorf.

Diese Ortsangaben sind keinesfalls erschöpfend, sie sollen nur Anhaltspunkte ge-

ben. Die Mundarten sind, besonders in der Nähe der Stadt Lodz, vollständig ver-

schwunden. Überall wird ein volkstümliches Hochdeutsch gesprochen. In der Um-

gegend von Koluschki ist bei den alten Kolonisten noch die pommersche Mundart im

Gebrauch. Schwäbisch wird nur noch in Königsbach gesprochen. Das Schlesische ist

westlich von Lodz bis Zduńska Wola und hinauf nach Westen noch überall lebendig.

Herkunft der städtischen Siedler

Unter den eingewanderten Tuchmachern überwogen die Schlesier, sie blieben aus

diesem Grunde auch in der Folgezeit tonangebend. Jedoch kamen aus dem Netze-

gau in die nördlich von Lodz gelegenen Städte auch Tuchmacher pommerschen

Stammes. Die Weber waren überwiegend Deutschböhmen und Sachsen, nur ver-

einzelt trifft man unter ihnen evangelische Schlesier. Neben den Tuchmachern,

Baumwoll- und Leinwebern finden sich in den Neustädten Vertreter verschiedener

Erwerbszweige, angefangen vom Großkaufmann, vom "Chirurgen" (Arzt), Apothe-

ker bis hinunter zum Nachtwächter und Schornsteinfeger.

Als Beispiel seien die Tuchmachermeister in Alexandrow angeführt. Aus ihrem

Stammbuch geht hervor, dass in der Zeit von 1822 bis 1843 249 Tuchmacher an-

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sässig wurden. Ihre Herkunftsorte sind folgende: Grünberg 32, Züllichau 31,

Schwersenz 22, Zaborowo 20, Obersitzko 19, Lobsens 18, Kalisch 15, Meseritz 10,

Zielenziz 10, Schönlanke 9, Lissa 8, Ostrowo, Dombie und Birnbaum mit je 7, Fes-

tenberg, Schwiebus, Labischin und Oschatz je 6, Tirschtiegel 5, Jastrow, Steinau,

Czarnikau und Schorne je 4, Gurau, Troppau, Königswalde und Zduny je 3. Je 2

wanderten ein aus: Bentschen, Koło, Chodecz, Ratibor, Schlawe, Rogasen, Wronke,

Namslau und Krossen. Je einer kam aus: Klein-Berlinchen, Markgrabowo, Bartschin,

Wollstein, Mächelburg, Leobschütz, Tempelberg, Greifenhagen, Retz, Pilau, Rothen-

burg, Schwetz, Callier, Triebau, Dobra, Wittenberg, Ohlau, Kurnik, Jutroschin, Sol-

dau, Fraustadt, Santomischel und Konstantynow.

Schulwesen

Der evangelische Pfarrer von Iłów, B.G. Witthold, gab uns in seiner "General-

Tabelle von dem Zustande aller Evangelischer Schulen, welche der Aufsicht des

Pfarrers anvertrauet im Jahre 1798" ein lückenloses Verzeichnis der Volksschulen

im Lodzer Gebiet. Danach bestanden folgende Schulen mit den Schülerzahlen: Sło-

wik 24, Groß-Bruzytz 35, Klein- Bruzytz 29, Radogoszcz und Kały 36, Dombrowa

Hol. 6, Swendow 30, Głogowietz 13, Mileschke 33, Domrasin 6; im Schulverzeichnis

des Jahres 1805 finden wir ergänzend noch Schulen in Chociszew, Jankower Hol.,

Katarzinow, Felicjanow und Grasmow. Seit 1792 bestand die deutsche Schule in

Paprotnia Hol. bei Zduńska Wola.

Um 1805 befanden sich also in der Umgegend von Lodz 15 deutsche Volksschulen.

Dass die Schulmeister von damals keinesfalls seminarisch vorgebildete Volkserzie-

her waren, darf uns nicht wundernehmen. Auch im Mutterlande Deutschland waren

dies die wenigsten Dorflehrer. Trotzdem verwalteten sie ihr Amt nach bestem Wis-

sen und Gewissen.

Nach 1800 vergrößerte sich die Zahl der deutschen Schulen langsam. Vor allem

wurden deutsche Volksschulen in den neugegründeten Schwabendörfern angelegt;

ebenso in den Tuchmacherstädten: so Ozorkow 1820, Alexandrow und Brzeziny

1826, Zduńska Wola 1827, Pabjanice 1828, Tomaschow 1833, Zgierz 1834, Kon-

stantynow 1838. Wie schwer die Anfänge des deutschen Schulwesens in den neuen

Fabrikstädten waren, ersehen wir aus einem Bericht des Pastors Metzner an das

Konsistorium in Warschau (1828):

"Mangelhafter Zustand der Schulen, welche in den meisten neu entstandenen

Deutschen Pflanzstädten und Kolonien flüchtig errichtet und oft mit

abenteuerlichen und rohen oder der Erziehungskunst völlig fremden Lehrern

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erlichen und rohen oder der Erziehungskunst völlig fremden Lehrern besetzt

werden mussten."

Am Beispiel von Lodz lässt sich das Wachstum des deutschen Schulwesens verfol-

gen. Die zweite Volksschule erhielt Lodz im Jahre 1841; 1861 gab es 4 Elementar-

schulen, 1875 - 6, 1899 an 40, darunter aber nur 9 evangelische. In diesem Jahre

wurde der deutschen Schulnot durch Gründung von 6 Kantoraten, also privaten

Schulen, in der St. Trinitatisgemeinde und 5 Kantoraten in der St. Johannisgemein-

de teilweise abgeholfen. Diese Selbsthilfe der beiden größten evangelischen Ge-

meinden steht uns heute als leuchtendes Beispiel vor Augen. Ist in der Gegenwart

ein gleicher Opferwille vorhanden?

Im gesamten Lodzer Industriegebiet gab es 1865 bereits 115 deutsche Volksschu-

len, 1925 - 75, davon 50 mit deutscher Unterrichtssprache und 25 mit Deutsch als

Fach. Dass in den letzten zehn Jahren die Lage noch bedeutend ungünstiger gewor-

den ist, darüber zu schreiben erübrigt sich.

Jahr Zahl der deutschen Volksschu-len und Kantorate

1805 15

1865 115

1898 123

1919 129

1925 50

In der emporstrebenden Fabrikstadt Lodz wuchs zuerst das Bedürfnis nach einer

Mittelschule. 1843 wurde hier die erste deutsch-russische Kreisschule eröffnet,

an der Pastor Metzner den Religionsunterricht erteilte, woraus zu schließen ist, dass

Kinder deutscher Eltern diese Lehranstalt gewiss zahlreich besucht haben. Zwanzig

Jahre darauf gründete die russische Regierung in Lodz ein 7klassiges deutsches

Realgymnasium. Direktor wurde Adolf von Grofe, ein Deutschbalte. Die Schülerzahl

betrug 279. Nach dreijährigem Bestehen wurde diese erste deutsche Mittelschule in

eine höhere Gewerbeschule mit ausschließlich russischer Unterrichtssprache umge-

wandelt. Welch schwerer Schlag dem bodenständigen Deutschtum dadurch versetzt

wurde, ist aus der jahrzehntelangen Führerlosigkeit des Deutschtums in Mittelpolen

klar zu ersehen. Es stünde besser um Kirche und Volk, wenn das erste deutsche

Realgymnasium uns erhalten geblieben wäre.

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Im Jahre 1878 gründete Frl. Remus eine deutsche fünfstufige Volksschule, die 1879

in eine 4klassige Mittelschule umgebaut wurde und deren Leiterinposten von da ab

Frl. Rothert übernahm. Seit 1905 ist die Schule zu einer Vollanstalt ausgebaut wor-

den. 1928 beging das Rothertsche Mädchengymnasium das Fest seines fünfzigjäh-

rigen Bestehens.

Nach der russischen Revolution am 7. Dezember 1907, fand sich in Lodz ein Kreis

operfreudiger Männer zu einem deutschen Gymnasial- und Realschulverein zusam-

men. 1908 erwarb dieser das Privatgymnasium von Braun, das nur teilweise deut-

sche Unterrichtssprache hatte. Nach völliger Umgestaltung des Lehrplans - es wur-

de der Typus des Frankfurter Reformgymnasiums durchgeführt - zog im September

1910 das Gymnasium in das neue schmucke Schulgebäude ein.

"So war ein Werk geschaffen, das für die in Lodz wohnenden Bürger deutscher

Zunge ein herrliches Denkmal ihrer Opferwilligkeit und Treue für alle Zeiten

bedeuten wird."

Das deutsche Mädchengymnasium entstand aus dem zur Kriegszeit gegründeten

"Luisen-Lyzeum".

Das staatliche Lehrerseminar mit deutscher Unterrichtssprache in Lodz hat im Laufe

der Zeit manchen Wandel durchmachen müssen. 1866 wurde es in Warschau als

"Pädagogische Kurse" ins Leben gerufen. Seit 1871 verlor es langsam den anfäng-

lich deutschen Charakter. 1911 wurde es nach Lodz gebracht, wo die deutsche Um-

gebung auf die jungen Lehramtskandidaten wohltuend wirkte. In den letzten Jahren

hat das Lodzer deutsche Seminar die zweite volkliche Rückentwicklung über sich

ergehen lassen müssen, heute steht es vor der völligen Auflösung.

1924 ging die deutsche Mädchenmittelschule von Frl. Schnelke ein; das nämliche

Geschick traf zwei Jahre zuvor das private Progymnasium von K. Weigelt.

In Pabjanice sah die Zeit des Weltkrieges den langgehegten Wunsch nach einer

deutschen Mittelschule in Erfüllung gehen. Im Oktober 1916 öffnete das deutsche

Progymnasium seine Pforten. Allem Unbill der Zeit zum Trotz ist es dem inzwischen

zu einer Vollanstalt aufgerückten Gymnasium gelungen, sich zu behaupten. Vor

zwei Jahren konnte es in sein eigenes schmuckes Gebäude einziehen.

Das im Herbst 1917 eröffnete deutsche Progymnasium zu Zgierz musste nach elf-

jährigem tapferen Ringen wieder geschlossen werden.

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Vier deutsche Gymnasien nennt das Deutschtum im Lodzer Gebiet sein eigen. Möge

das gütige Schicksal diese Pfanzstätten deutschen Volkstums glücklich behüten!

Kirchenwesen

Im Lodzer Gebiet ist als Muttergemeinde Groß-Bruzyca anzusprechen. Der den

eingewanderten deutschen Bauern wohlgesinnte Grundherr R. Bratuszewski

schenkte der neugegründeten evangelischen Gemeinde zum ewigen Eigentum 3

Hufen Land. Im Oktober 1801 bestätigte das Südpreußische Konsistorium zu War-

schau das neue Kirchspiel. Es setzte sich ausschließlich aus bäuerlichen Elementen

zusammen, recht bezeichnend für die Anfänge der deutschen Kolonisation auf Lod-

zer Boden.

Für die in der Umgegend von Łask gelegenen deutschen Dörfer gründete im Jahre

1809 das Warschauer Konsistorium eine evangelische Gemeinde mit dem Mittel-

punkt in der Stadt Łask. Bis zum Jahre 1824 besaß sie eigene Seelsorger. 1831

wurde sie Filial der neuentstandenen Gemeinde zu Zduńska Wola.

Die Einwanderung der Tuchmacher in die damalige Masovische und Kalischer Woj-

wodschaften führte zur Entstehung von zehn neuen evangelischen Kirchensprengeln

in einem Zeitraum von knapp sieben Jahren. Die kongresspolnische Regierung un-

terstützt den Bau von evangelischen Gotteshäusern mit Geld und Naturalien, setzte

den Pfarrern und Kantoren aus dem Staatssäckel Gehälter aus.

In zeitlicher Reihenfolge gingen die Gemeindegründungen wie folgt vor sich: Beł-

chatow 1820, Zgierz 1824, Ozorkow 1826, Brzeziny und Lodz 1826, Pabjanice,

Petrikau und Alexandrów 1827 (übertragen aus Brużyca), Konstantynow und Rawa

1829, Tomaszow 1830, Zduńska Wola 1831, Lowitsch 1836, Neusulzfeld 1838,

Kleszczów 1847, die Filiale Poddębice 1838, Huta Bardzińska 1839, Dziepulć 1841,

Czenstochau 1846, Łęczyca 1848, Poździenice 1857, Kamocin 1873, knapp sechzig

Jahre nach den Anfängen der Stadt entstand in Lodz 1884 die St. Johannisgemein-

de. Das Filial Radomsko entstand im Kriegsjahr 1917. Nach dem Weltkrieg werden

die Gemeinden zu Ruda Pabjanicka 1927, die Lodzer St. Matthäigemeinde 1929,

Lodz-Radogoszcz 1932, sowie die Filiale Andrzejów 1925, Groembach 1928 ins Le-

ben gerufen.

Die Kerngruppe des evangelischen Kirchenwesens in Mittelpolen bildet das Lodzer

Gebiet mit seinen 18 selbständigen Gemeinden und 9 Filialen. Unser deutsches

Volkstum ist darum auf Gedeih und Verderb an die evangelische Kirche gebunden.

Diese Grundtatsache darf nimmer aus den Augen gelassen werden.

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Katholisches Deutschtum

Unter den schlesischen Einwanderern in Stadt und Land befand sich ein ansehnli-

cher Hundertsatz von Deutschkatholiken, besonders unter den aus Böhmen er-

schienenen Webern. Einen gewissen Teil von Katholiken brachte in der ersten Hälfte

des 19. Jahrhunderts auch die schwäbische ländliche Kolonisation mit sich. Die zeit-

geschichtlich letzte deutsche Stammsiedlung in Mittelpolen ist das von katholischen

Bauern aus dem Unterland der Mannheimer Gegend um 1850 gegründete Dorf

Srebrna bei Konstantynow. Durch völkische Mischehen und den völligen Ausfall der

deutschen Seelsorge droht diesem schwäbischen Dorf der völkische Untergang.

Ähnlich liegen die Verhältnisse in den meisten deutsch-katholischen Siedlungen.

"Das gibt zu denken übrig, auch den Bauern und Handwerkern. der protestan-

tische Glaube, so heißt es dann, ist doch der deutsche Glaube!" Und weiter:

"der deutsche Protestantismus und das katholische Polentum hatten in Mittel-

polen reiche Ernte." (H. Slapa)

Im Weltkriege hat sich besondere Verdienste um die Weckung und Organisierung

des katholischen Deutschtums in Mittelpolen der Militärpfarrer S. Brettle erworben.

In der Nachkriegszeit ist es gelungen, einige seiner Rettungsvorschläge in die Tat

umzusetzen. Der Verein der deutschsprechenden Katholiken entfaltet unter den

Lodzer Katholiken eine segensreiche Tätigkeit. Es ist jedoch trotz der opfervollsten

Bemühungen den Deutschkatholiken bis jetzt nicht geglückt, einen deutsche Seel-

sorger zu bekommen. Stets sind die Priester Angehörige eines fremden Volkstums.

In zahlreichen deutschkatholischen Kirchengesangvereinen in Lodz, Pabjanice, Kon-

stantynow und Zduńska Wola erfährt das deutsche Kirchenlied eifrige Pflege. Leider

ist es weder in Lodz noch anderswo den Deutschen gelungen, in den besitz einer

eigenen Kirche zu kommen, obwohl gerade der Opfersinn für kirchenbauliche Zwe-

cke bei ihnen recht ausgeprägt war. Eigene deutschkatholische Schulen gab es nur

zur Besatzungszeit im Weltkriege.

Schätzungsweise ist die Zahl der deutschen Katholiken mit 25.000 anzugeben. Da-

von entfallen auf Lodz 11.000, Pabjanice 3000, Konstantynow 1000, Zduńska Wola

mit den umliegenden Dörfern 5000; in den dörflichen Siedlungen: Xawerow 1000,

Srebrna 400, Mileszki 500, Lindow und Natolin bei Czenstochau 600. In der Umge-

gend von Lowitsch, auch im Kalischer Lande mitten unter den deutsch-

evangelischen Bauernfamilien sitzen einzelne deutsch-katholische Landleute, die

bereits zum größten Teil in fortschreitender Entdeutschung sich befinden.

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IX. DIE SCHWABENSIEDLUNGEN BEI WARSCHAU

Landschaft

Eine waldlose, eintönige Landschaft breitet sich südlich von Warschau aus. Ein un-

freundliches Vorstadtbild begleitet viele Kilometer lang die belebten Kunststraßen

nach Radom und Rawa. Gärtnereien, riesige Kohlfelder, die schmutzigen Lehmgru-

ben der der zahlreichen Ziegeleien, Fabrikgebäude wechseln in bunter Reihenfolge.

Ab und zu steht vereinsamt ein schmuckes Landhaus, das in dieser Vorstadtland-

schaft fremd wirkt. Weiter nach dem Süden zu treffen wir kleine Gutshöfe, einzelne

Bauernwirtschaften und proletarisierte Dörfer. Überall ist der Hauch der Großstadt

zu spüren.

Siedlungen

Südlich der Großstadt liegen auf einer Fläche von 100 km2 an 30 schwäbische Dör-

fer mit einer Bevölkerungszahl von 3000 Seelen. Den Mittelpunkt bildet das Kirch-

dorf Alt-Ilvisheim (Stara Iwiczna), ein charakteristisches Liniendorf, wie sämtliche

schwäbischen Siedlungen.

Der Boden ist vorwiegend leicht sandig. Bei ausgiebiger Düngung, die die Nähe der

Stadt ermöglicht, lohnt der Anbau von Kartoffeln. Besonders sind die Frühkartoffeln

seit der Einwanderungszeit eine wichtige Handelsware für den Warschauer Markt.

Mit besonderer Sorgfalt und viel Geschick geht der Schwabe an ihren Anbau. Für

Obstbau ist wenig Neigung vorhanden. Die einzelnen Hofstellen betragen je eine

Hufe, weniger häufig sind die Stellen zu zwanzig Morgen. Mitunter ist die Realtei-

lung weit fortgeschritten. Die Nähe der Großstadt lässt ein zahlreiches Landproleta-

riat nicht aufkommen. Im Gegenteil. Viele werden der anstrengenden Landarbeit

überdrüssig. Sie verkaufen ihre Wirtschaften und probieren ihr Glück im Handel

oder Gewerbe der Großstadt. Wir finden in Warschau zahlreiche Fleischer, Gastwir-

te, Kraftwagenbesitzer, Bäcker und Schneider, deren Wiege in den Schwabendör-

fern gestanden hat. Einzelne haben bereits vor dem Kriege höhere Schulen besucht

und bekleiden gegenwärtig wichtige Posten in der Verwaltung der Banken und in

Regierungs- und Privatämtern. Die Verbindung nach den Heimatdörfern wird be-

wusst aufrecht erhalten.

Leider hat seit dreißig Jahren in diesen Schwabendörfern eine starke Entdeutschung

eingesetzt. Nur noch die Alten sprechen untereinander schwäbisch und hoch-

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deutsch. Die Jugend beherrscht mit geringen Ausnahmen die Muttersprache nicht

mehr.

Hof und Wirtschaftsgebäude sind nach fränkischem Muster angeordnet. In den alten

Wohnhäusern fällt auf, dass der Pferdestall unmittelbar an die Küche grenzt, denn

seinen Pferden widmet der Schwabe viel Aufmerksamkeit. Das Gehöft wird sauber

gehalten, die Zäune sind überall in Ordnung. Wir treffen vorwiegend Ziegelbauten

an mit Ausnahme der geräumigen hölzernen Scheunen. Typisch für die Warschauer

Schwaben sind die eigenartigen "Ressorwagen", die sich zur Beförderung von Ge-

müse ganz besonders eignen und ihrer eingebauten Federn wegen große Verbrei-

tung gefunden haben.

In Alt-Ilvisheim selbst besteht eine Molkerei auf genossenschaftlicher Grundlage,

und eine Spar- und Darlehnskasse.

Einen guten Eindruck macht der wohlgepflegte Dorffriedhof.

Siedlungsgeschichte

Den Bemühungen des preußischen Werbekommissars von Nothardt, dessen Sitz

sich in Oehringen befand, ist es zu verdanken, dass um 1801 auf den verstrauchten

Ländereien des Domänenamtes Leszno Wola vier schwäbische Dörfer: Alt-Ilvisheim,

Neu-Ilvisheim, Ludwigsburg und Schwiningen entstanden sind. Die Mehrzahl der

Siedler stammte aus Franken, aus dem Orte Ilvisheim. Die Lebensbedingungen der

Anfangsjahre waren recht schwer, wie das aus einem Schreiben eines Kundschaf-

ters aus Schwaben hervorgeht.

"Es habe ihm gar nicht da gefallen, es seien kleine Örtchen bei Warschau, in

jedem können 12-15 polnische Bauern wohnen, mit denen die Teutschen nicht

mal reden können. Die raten es keinem Menschen, hineinzuziehen, sie haben

das, was sie hineingebracht, schon eingebüßt; sie haben bis zur Ernte fast

nichts zu essen. Für Professionisten sei da gar nichts zu machen; die Juden

treiben alles."

Dicht vor den Toren Warschaus wurde das Dorf Szopy Niemieckie gegründet. Im

Domänenamt Potycz entstand das schwäbische Rodungsdorf Kanstadt, gegenwärtig

Kąty, aus dem jedoch die schwäbischen Siedler bald wieder fortgezogen sind. Au-

ßerdem nahmen die preußischen Behörden zahlreiche Einsiedlungen in polnische

Dörfer vor. Meist kamen die schwäbischen Familien auf wüste Bauernhöfe. Im gan-

zen fanden so zur preußischen Zeit 6 Neugründungen und 18 Einsiedlungen statt.

In der Zeit des Herzogtums Warschau wanderten aus ihnen viele Schwaben nach

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Bessarabien und Cherson aus, wo sie sich in den von der russischen Regierung an-

gelegten Dörfern Glückstal, Kassel, Johannestal, Paris, Malojaroslawetz usw. nie-

derließen.

In den nächstfolgenden Jahrzehnten hört jedoch die Einwanderung der Schwaben

nicht auf. Es meldeten sich vorwiegend begüterte Bauern, die 1000 und mehr Taler

Barvermögen besaßen. Aus privaten Händen wurden kleine Landgüter erworben

und aufgeteilt. Auf diese Weise entstanden die Dörfer: Laski, von den Schwaben

Storchnest genannt, Ludwinow, genannt Krapenest, Opacz, Chyliczki-Hilitz, Gorz-

kiewki.

Nach 1860 hörte der Zustrom auf. Die Verbindungen mit der alten Heimat stockten

und schwanden langsam. Die aufstrebende Großstadt saugte den Dorfnachwuchs

an sich und unterband die Siedlungstätigkeit. Die Auswanderung nach Wolhynien

war gering. Bezeichnend jedoch ist, dass die preußische Ansiedlungskommission

um 1908 einige schwäbische Familien aus Alt-Ilvisheim zur Umsiedlung ins Posen-

sche bewog. Hier sprachen bei den Schwaben bewusst völkische Beweggründe mit.

Angesichts der damals umsichgreifenden Entdeutschung sahen diese braven Män-

ner im Wegzug die alleinige Rettung vor dem völkischen Untergang.

Nördlich von Warschau entstand nach 1830 das Schwabendorf Dziekanow. Um

1890 wurde in seiner Nähe die Tochtersiedlung Łomianki Górne angelegt, wobei

sich auch Alt-Ilvisheimer Schwaben beteiligten. Das Schwabendorf Gonzig-Gąski ist

um 1830 durch Ankauf und Aufteilung eines privaten Gutes entstanden. In der Um-

gegend des Dorfes Gonzig drangen die Schwaben in die Dörfer Hornigi, Watraszew,

Martynow und Piaseczno ein.

Schulwesen

Um 1810 entstand in Alt_ilvisheim eine deutsche Volksschule. Um die Mitte des 19.

Jahrhunderts wurden deutsche Kantoratsschulen in Juljanow, Grabow und Józefos-

ław gegründet. Nach Busch bestanden 1865 deutsche Schulen in Alt-Ilvisheim, Jul-

janow und Kąty-Kanstadt. In der schwäbischen Sprachinsel Gonzig südlich von Pia-

seczno befanden sich deutsche Schulen in Gonzig-Gąski und Warka. Im Jahre 1898

bestanden sämtliche Volksschulen noch, aber bereits als staatliche Elementarschu-

len. Zur Zeit des deutschen Landesschulverbandes entstand die sechste deutsche

Volksschule in Góra Kalwarja. Nach 1919 wurden sämtliche deutsche Volksschulen

geschlossen. Die Kinder aus dem Kirchdorf Alt-Ilvisheim - Stara Iwiczna und den

umliegenden Dörfern kamen in die polnische Stadtschule in Piaseczno. Die anderen

deutschen Schulen, so in Gonzig, Szulec, Warka, Kąty erhielten polnische Unter-

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richtssprache. Erfreulich ist bei der großen Schulnot, dass viele Eltern bemüht sind,

ihren Kindern privaten deutschen Unterricht angedeihen zu lassen, wofür sie den

polnischen Lehrern entsprechende Zahlungen zu leisten haben.

Jahr Zahl der deutschen Schulen und Kantorate

1865 5

1898 5

1919 6

1925 0

Kirchengeschichte

In den ersten Jahrzehnten nach der Ansiedlung geschah die religiöse Pflege der

Schwabendörfer durch die evangelisch-lutherischen Pastoren in Warschau. Unter

den eingewanderten überwogen die aus Württemberg, Baden und Franken stam-

menden Lutheraner. Die Pfälzer gehörten meist dem reformierten Bekenntnis an.

1837 schritt der evangelische Besitzer der Gutsherrschaft Pil iza, der Prinz Adam

von Württemberg, zur Gründung einer evangelischen Gemeinde. Er schenkte eine

steinerne Kapelle, für den künftigen Pastor 30 Morgen Land und freie Hütung. 1843

ließ er ein gemauertes Pfarrhaus und ein Küsterhaus nebst Wirtschaftsgebäuden

errichten. Bei der Wahl eines Pastors beanspruchte der Gründer das Präsentations-

recht.

Im zweiten Jahr ihres Bestehens erhielt die neugegründete Gemeinde einen Pfarrer

in der Person des Pastors David Bergemann, der 1849 von hier aus nach Marjampol

ging. Sein Nachfolger wurde Karl Wilhelm Hilkner.

Die Gemeinde in Pil iza setzt sich zum größten Teil aus Schwaben zusammen, die

in Gonzig, Warka, Watraszewm Hornigi wohnen. Bis zum Jahre 1929 geschah von

hier aus die Betreuung der Schwabendörfer um Alt-Ilvisheim. 1843 entstand eine

Filialgemeinde in Alt-Ilvisheim, vierzehn Jahre darauf wurde sie selbständig. Leider

bekam sie des großen Pastorenmangels in der Vorkriegszeit wegen erst 1929 ihren

eigenen Seelsorger, obwohl bereits 1898 eine schmucke Backsteinkirche erbaut

worden war.

Ein Sechstel der Gemeindeglieder bilden die Reformierten, die im sechsgliedrigen

Kirchenkollegium zwei Sitze haben. Vier mal im Jahre hält für sie ein Pastor der

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Warschauer reformierten Gemeinde in der Alt-Ilvisheimer Kirche Abendmahlsgot-

tesdienst in deutscher Sprache ab.

Bis 1900 wurden sämtliche Amtshandlungen in den Gemeinden Alt-Ilvisheim und

Piliza in deutscher Sprache abgehalten; polnische Gottesdienste für eine kleine An-

zahl von Gemeindegliedern fanden nur an den hohen Festtagen statt. Nach 1905

dringt die polnische Sprache vor. Hier wiederholt sich das gleiche traurige Bild wie

in anderen Gemeinden. Die Alten lieben und schätzen die Muttersprache, die Ju-

gend, besonders die weibliche, neigt entscheidend zur fremden Volksart und Spra-

che. Mit vollem Bewusstsein wurde gerade in Alt-Ilvisheim der Entdeutschungsvor-

gang von den maßgebenden Stellen gefördert. In der letzten Zeit sind

zweisprachige gemeinsame Gottesdienste zur Regel geworden, d.h. entweder ist die

Liturgie polnisch und die Predigt deutsch oder umgekehrt. Der Kirchengesang ist

gleichzeitig deutsch und polnisch.

Unter den eingewanderten Schwaben bekannte sich ein Teil zur katholischen Kir-

che. Viele Jahrzehnte hindurch wurden für sie in der Kirche zu Raszyn deutsche

Gottesdienste abgehalten. Seit 1905 hat diese Betreuung aufgehört. Ein Teil der

katholischen Schwaben ist daraufhin evangelisch geworden (Missionskirche?).

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X. DEUTSCHE SPRACHINSELN IN EINZELLAGE

Sprachinseln links der Weichsel

Die Schwabensiedlungen östlich der Stadt Łowicz (Lowitsch): Bednary, Gongolin,

Skowroda, Kompina, Osiek, wurden 1817 von der Verwaltung der Güter des Fürs-

tentums Lowitsch angelegt. Die aus Württemberg, Hessen-Darmstadt und der Pfalz

stammenden Siedler legten teils neue Dörfer wie in Bednary und Gongolin an, teils

entstanden Einsiedlungen auf wüsten Bauernstellen in polnischen Dörfern. 1842

entstand auf abgeholzten Ländereien der dem Fürsten Radziwill gehörenden Guts-

herrschaft Nieborów das Schwabendorf Karlshof. Bezeichnend ist, dass das

Deutschtum sich nur in den drei Neudörfern Bednary Niemieckie, Gongolin Niemie-

cki und Karlshof bis auf die Gegenwart verhältnismäßig gut gehalten hat. Die Ein-

siedlungen in polnischen Dörfern sind verschwunden.

In der Umgegend der Fabrikstadt Żyrardow liegen einige deutsche Restdörfer, die

nahe vor der endgültigen Auflösung stehen. Es sind Gründungen des Grafen Felix

von Lubienski, der um 1800 in seinen umfangreichen Wäldern, die zum Gute Guzow

gehörten, zehn deutsche Rodungsdörfer anlegte. Zum Teil trugen sie wohlklingende

deutsche Namen wie: Marienfeld, Heinrichsdorf, Benenard, Felixdorf, Josephhof; die

übrigen hießen: Teklin, Zader-Buden, Babsche Buden oder Bieganow und Antoniew.

Das schwäbische Dorf Moritzin ist 1840 angelegt worden.

Die deutsche Sprachinsel Karolew, Kreis Grójez, ist von dem deutschen Gutsbesit-

zer Karl Wohlhübner um 1825 angelegt worden. Anfänglich befand sich auf dem

gegenwärtigen Dorfgrunde eine Glashütte. Nachdem die Umgegend abgeholzt war,

legte der Gutsherr eine deutsche Gutsarbeitersiedlung an. Einige Jahre früher wur-

de vom Gute Petrykozy das deutsche Dorf Petrykozy-Holland gegründet. Um 1900

entstanden durch Aufteilung des Gutes Konie die deutschen Dörfer Józefow und

Wólka Załęska. Seit 1872 besteht die evangelische Filialgemeinde Karolew. Die

deutschen Dörfer Lindow, Zimnica und Grzegorzewice sind durch die Auswanderung

nach Wolhynien stark entvölkert worden.

In der Umgegend der Gutsherrschaft B łędow, Kreis Grójez, entstanden um 1790

die deutschen Rodungsdörfer Józefow, Przyluski, Chodnow und Kazimierz. Um 1825

siedelte der Gutsbesitzer von Błędow neben seinem Vorwerk deutsche Tuchmacher

und Weber an. Es entstand eine blühende Handwerkerstadt, die jedoch 1870 von

der Bildfläche verschwand, da der Besitzer der großen Leinwandfabrik in Żyrardow

sämtliche Tuchmacher und Weber unter Zusicherung von günstigen Arbeitsbedin-

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gungen nach seiner Fabrik brachte. Aus den deutschen Dörfern der Umgegend von

Błędow wanderten die meisten Dorfinsassen um 1875 nach Wolhynien ab. Gegen-

wärtig befindet sich diese Sprachinsel in fortschreitender Auflösung.

In der Umgegend der Stadt Rawa liegen einige deutsche Sprachinseln: Südlich der

Bahnstation Skierniewice finden wir die um 1800 gegründeten deutschen Dörfer

Frankenfeld – Franciszkow und Strobów. Stanisławów – Studzianki mit den umlie-

genden Dörfern ist durch Auswanderung nach Wolhynien in seinem Bestand stark

gefährdet. Ähnliche traurige Verhältnisse finden wir in der Sprachinsel Teklin mit

Stanisławów-Lipski, der ebenfalls die wolhynische Auswanderung die Lebensmög-

lichkeit genommen hat.

Erfreulicher steht es in der um 1840 entstandenen Budziszewicer Sprachinsel. Sie

ist von zwei Seiten von Wäldern umgeben, und diese Schutzlage ermöglichte bis

vor kurzem eine gedeihliche Entwicklung der sechs deutschen Rodungsdörfer; sie

begünstigte sogar die deutsche Einsiedlung in die umliegenden polnischen Dörfer.

So ist es möglich geworden, für zwei deutsche Volksschulen die durch das Gesetz

geforderte Zahl von 40 deutschen Schulkindern aufzubringen.

Die um 1802 gegründeten Schwabendörfer Erdmannsweiler-Kochanow und Birken-

feld-Brzozow nahmen eine günstige Entwicklung. In den letzten Jahrzehnten mach-

te sich jedoch eine starke Überbevölkerung bemerkbar, die zu unerwünschter Real-

teilung führt. Auswanderungsmöglichkeiten sind nicht vorhanden.

Südlich der Stadt Radom entstanden um 1815 die pommerschen Dörfer Pelagjów

und Sołtykow, die bis auf die Gegenwart ihren völkischen Besitz erhalten haben.

Nach 1870 kam es östlich von Radom, zwischen der Stadt Zwoleń und der Weichsel

zur Gründung der deutschen Siedlungen Polesie, Leokadja, Pojąkow. Trotz völliger

Abgeschlossenheit hält sich hier das Deutschtum. Eine deutsche Volksschule be-

steht nicht. Das Bethaus bildet den Mittelpunkt des geistigen Lebens dieser verein-

samten Sprachinsel.

Zur evangelischen Gemeinde Kielze gehört die 40 km nördlich gelegene deutsche

Sprachinsel Antonielew, die um 1830 durch Aufteilung des Gutes Łopuszno entstan-

den ist. Die Kolonisten dieses und einiger kleinerer Nachbardörfer sind schlesischen

Stammes. Der Boden ist von sandiger Beschaffenheit. Die Sachsengängerei gab den

Menschen früher einige Lebensmöglichkeit. Heute ist sie nur noch nach Posen ge-

richtet.

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Preußische Gründungen rechts der Weichsel

Schröttersdorf-Maszewo ist die erste, bereits 1797 gegründete preußische Ko-

lonie, in der auf 247 Hufen 149 Familien mit einer Seelenzahl von 913 angesetzt

wurden. Trotz fortdauernder Auswanderung leidet dieses Großdorf gegenwärtig

stark an Übervölkerung. Die aus Württembergern und Mecklenburgern bestehende

Bevölkerung hat ihre stammliche Eigenart zum größten Teil eingebüßt. Im Dorf wird

ein volkstümliches Hochdeutsch gesprochen. Es hat eine dreiklassige gemischtspra-

chige Volksschule.

In Güntersruhm-Dzierzązna befinden sich noch drei Viertel der Dorfflur in deut-

schen Händen. Die Leute sprechen schwäbisch. Im Dorfe ist eine polnische Volks-

schule, in der einige Stunden wöchentlich Deutschunterricht erteilt wird.

In Agnesenau-Biele-Brzeźnica, einem rein schwäbischen Dorfe, wohnen zur

Hälfte wohlhabende deutsche Landwirte. Die schwäbische Mundart ist immer noch

im Gebrauch. Der Ort hat eine gemischtsprachige Schule mit einem deutschen Leh-

rer.

In Luisenhuld-Cieszkowo, das zu drei Vierteln von Schwaben bewohnt wird,

besteht keine deutsche Schule. Die Jugend spricht hier mit Vorliebe polnisch. Die

Besitzverhältnisse sind zufriedenstellend.

Königsdorf-Wiciejewo zählt kaum noch die Hälfte deutscher Landbesitzer. Das

Deutschtum geht zurück. Es besitzt keine deutsche Volksschule.

Eine vorteilhafte Entwicklung nahm die Königshulder (Groß Paproć) Sprachinsel,

die vorwiegend von mecklenburgischen Kolonisten besiedelt wurde. Sie besteht aus

vier zusammenhängenden Dörfern: Königshuld, Luisenau, Wilhelmsdorf und Meck-

lenburg. Ungeschmälert hat sie ihren anfänglichen Landbesitz erhalten. Im Dorfe

befindet sich eine evangelische Kirche und eine gemischtsprachige Volksschule.

Die übrigen zehn zur preußischen Zeit gegründeten Dörfer, meist kleine Ansiedlun-

gen, haben zum größten Teil ihre deutschen Besitzer durch Abwanderung verloren.

Private Gründungen rechts der Weichsel

Östlich der Stadt Sierpc liegt das um 1800 entstandene pommersche Dorf Soko ło-

wy Kąt. Die beiden angrenzenden, von Weichseldeutschen angelegten und be-

wohnten Einzelhof-Dörfer Łaszewo und Siemiątkowo wurden um 1870 gegrün-

det. Der Boden ist überall sandig-brüchig.

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Die deutsche Sprachinsel Kicin, die aus den Einzelhof-Dörfern Kicin, Wola Wod-

zyńska, Lipowiec, Grabowiec, Rzeszotko, Halinin, Trzpiały besteht und von Weich-

seldeutschen besiedelt ist, entstand um 1820. Durch Auswanderung nach Wolhy-

nien und Übersee hat sie starke Einbuße erlitten. Sie besitzt keine deutsche

Volksschule. Um 1860 siedelten hier auch Mennoniten.

Das am Flusse Lydynia gelegene pommersche Dorf Lipiny ist um 1820 angelegt. Die

von Niederungern bewohnten Neusiedlungen Wola Młocka und Płociszewo entstan-

den um 1860. Der Boden ist sandig, Wiesen sind reichlich vorhanden. Die ehemals

deutsche Volksschule hat jetzt polnische Unterrichtssprache.

Am Flusse Wkra liegen die 1820 gegründeten Niederungsdörfer Błędowo, Brzezinki,

Jeziorna.

In den Flußauen des Bug liegt die bereits genannte Sprachinsel Sadoleś-

P łatkownica, ebenfalls von Niederungern bewohnt. Sie entstand 1830. Im Jahre

1841 wurde Sadoleś-Płatkownica zur evangelischen Filialgemeinde erhoben.

Im Norden von Warschau befinden sich auf sumpfig-sandigem Gelände zwei

Sprachinseln: die Nadbieler, die aus den Dörfern Nadbiel, Ręczaje Niem., Bana-

chowizna und Grabie besteht, und die Stanislawower, mit den Dörfern Stanis-

ławów, Alexandrowo, Michałow, Augustówek, Brzeziny, Tomaszow. Die Bevölkerung

ist überwiegend niederungisch mit kleinem pommerschen Einschlag. Die Auswande-

rung nach Wolhynien hat viele deutsche Siedlungen verschwinden lassen.

Am Zusammenfluss von Bug und Narew liegt im Überflutungsgebiet die Sprachinsel

Dombrowa-Arciechowska mit einigen deutschen Niederungsdörfern. Flussauf-

wärts am Narew befindet sich am Großmoor Pulwy die Nurer Sprachinsel mit den

Dörfern: Nury, Wincentowo, Grodziczno, Marjanowo und Grądy Polewne. In beiden

Sprachinseln herrscht die Einzelhofsiedlung vor. Die Viehzucht steht im Vorder-

grund der Landwirtschaft. Die Dombrowaer Sprachinsel besitzt eine private deut-

sche Volksschule, die Nurer eine gemischtsprachige.

Oestlich der Stadt Mińsk-Mazowiecki liegen weltabgeschieden die Niederungerdörfer

Pełeczanka und Mrozy, die um 1860 angelegt wurden.

Östlich der Stadt Łukow befinden sich die um 1870 gegründeten Niederungerkolo-

nien Łazy und Alexandrow. Westlich von Siedlec liegt das Dorf Łączki.

Das um 1790 gegründete Franzdorf, östlich der Stadt Garwolin, dessen Siedler zum

Teil Teerbrenner und Pottaschesieder waren, hat sich bereits um 1860 zu verpolen

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begonnen. Gegenwärtig spricht kein Mensch mehr deutsch. Auch finden zahlreiche

religiöse Mischehen statt.

Kirchenwesen

Außerhalb der großen deutschen Gaue liegen völlig vereinzelt einzelne evangelische

Kirchengemeinden, deren Bereich sich über einige politische Kreise erstreckt. Der

Sitz der Pfarrgemeinde befindet sich stets in einer größeren Stadt, wo eine evange-

lische Beamtenschaft oder gewerbe- und handeltreibende Glaubensgenossen wohn-

haft sind. Dies ist der Fall in Radom Kielze; beide Gemeinden sind 1830 entstanden.

Die Gemeinde Wiskitki-Żyrardow, die anfänglich für deutsche Tuchmacher und zum

Teil deutsche Landbewohner im Jahre 1805 durch den Gutsherrn Graf Lubinski ins

Leben gerufen wurde, verlegte 1898 ihren Pfarrsitz nach der aufstrebenden Fabrik-

stadt Żyrardow. In Wieluń kam es unter großen Schwierigkeiten 1820 zur Entste-

hung einer evangelischen Gemeinde für die geringe Anzahl der evangelischen

Stadtbewohner und die in näherer und weiterer Umgebung wohnenden deutschen

Kolonisten. In der Wojewodschaft Kielze entstehen die Filiale: Piliza 1851, Dombro-

wa 1854. Nach dem Weltkrieg entstand 1922 in Sosnowiec eine neue evangelische

Stadtgemeinde, die jedoch einen starken polnischen Einschlag besitzt. 1924 wurde

die Filialgemeinde Zawierzie gegründet, die ebenfalls aus Bewohnern der Industrie-

stadt Zawierzie und Umgegend besteht. In der Wojewodschaft Kielze kommt es

1928 zur Gründung der Filialgemeinde Przeczów.

Rechts der Weichsel liegt die älteste evangelisch-lutherische Gemeinde in Mittelpo-

len. Es ist dies die 1650 gegründete Gemeinde Wengrow. Der polnisch-

evangelische Fürst Radziwill siedelte in der auf seinen Besitztümern gelegenen

Stadt Wengrow deutsche Tuchmacher aus Schlesien an, die unter dem Zwang der

nach 1648 eingetretenen Kirchenverhältnisse ihre Heimat haben verlassen müssen.

Bis zum Jahre 1767 betreuten die Wengrower Pastoren die evangelische Gemeinde

in Warschau, wobei sie mancherlei an Verfolgungen und Not haben erdulden müs-

sen. Mit dem Jahr 1775 wurde die Warschauer evangelisch-augsburgische Gemein-

de selbständig.

Zu preußischer Zeit entstanden die Gemeinden Königshuld (Paproć-Duża) 1800,

Suwałki 1802, Plozk 1804. In späteren Jahren: Łomza 1820, Prasznysz 1823, Pul-

tusk 1843. An Filialgemeinden: Lipiny 1820, Mława 1832, Płońsk 1840, Nasielsk

1843, Łaszewo-Siemiątkowo 1933.

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XI. BIALYSTOK

Die gegenwärtige Fabrikstadt Bialystok war in der Zeit der Teilungen Polens Eigen-

tum des Hetman Branicki. Seine Erben verkauften 1802 die Stadt an den preußi-

schen König 270.970 Taler, der sie nach dem Wiener Kongress wieder für 200.000

Rubel an den russischen Zaren Alexander I. abtrat. In preußischer Zeit erwählte

man Bialystok zum Verwaltungsmittelpunkt der neuen Provinz Neuostpreußen. Da-

mals siedelten sich in Bialystok und den umliegenden Städtchen viele deutsche

Handwerker an, zu denen sich nach 1812 sächsische Weber und Tuchmacher ge-

sellten. Seit 1796 besteht am Orte eine evangelische Gemeinde.

Nach Errichtung der Zollgrenze zwischen Kongresspolen und Russland 1834 nahm

die Webindustrie in Bialystok einen starken Aufschwung. Viele begüterte Fabrikun-

ternehmer aus Sachsen, Österreich, vornehmlich aber aus Kongresspolen, ließen

sich in Bialystok und Umgegend nieder. Die riesigen russischen Absatzgebiete, nach

denen die Waren zollfrei ausgeführt wurden, begünstigten die rasche Entwicklung

des Fabrikwesens.

Um 1890 machte sich jedoch eine deutliche Rückentwicklung des deutschen Fabrik-

besitzes bemerkbar. Der jüdische Wettbewerb, der billige und schlechte Warensor-

ten auf den Markt warf, begann die deutschen Erzeugnisse zu verdrängen. Im Kir-

chen- und ganz besonders im Schulwesen wirkte sich die rücksichtslose russische

Entdeutschungspolitik vernichtend aus. Die Zahl der Deutschen schrumpfte zu-

sammen.

Der Weltkrieg hat das Wirtschaftsleben des Bialystoker Deutschtums vollends ver-

nichtet. Von 20 deutschen Großbetrieben der Vorkriegszeit, die sich der jüdischen

Konkurrenz gegenüber behauptet hatten, ist gegenwärtig nur ein einziger erhalten

geblieben. Die anderen befinden sich teils in jüdischen Händen, teils ragen die Fab-

rikgebäude als Ruinen zum Himmel empor. Die abziehenden russischen Heere ha-

ben die deutschen Fabrikgebäude gesprengt oder verbrannt.

Die Zahl der evangelischen Gemeindeglieder von Bialystok und Umgegend, die vor

dem Kriege 8500 betrug, beläuft sich gegenwärtig auf knapp 3000. Das im Welt-

kriege gegründete deutsche Gymnasium war nur von kurzer Lebensdauer. Eine

deutsche Volksschule besteht seit einigen Jahren nicht mehr.

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XII. ZUSAMMENFASSUNG

In den von uns behandelten acht Hauptlandschaften wohnen in mehr oder minder

geschlossenem Verbande (die Entfernungen zwischen den einzelnen Siedlungen

übersteigen kaum 5 Kilometer) auf einer Gesamtfläche von 12.200 km2 rund

300.000 Deutsche in Stadt und Land. Außerdem leben in den einzeln abgespreng-

ten und weit zerstreuten Sprachinseln und Sprachinselgruppen, vor allem des rech-

ten Weichselufers, rund 25.000 Deutsche. Somit ergibt sich als Gesamtzahl

der Deutschen in Mittelpolen, das Cholmer und Lubliner Land, wie auch den

Nordzipfel der Wojewodschaft Bialystok bei Suwalki nicht mitgerechnet, 325.000

Seelen. Davon entfallen auf die Stadtbevölkerung 30 von Hundert, auf die Land-

bevölkerung 70 von Hundert. Größere deutsche Dorfsiedlungen mit einer Bevölke-

rung von 1000 bis 50 Seelen, finden wir in den acht aufgezählten Landschaften

671, kleinere mit einer Seelenzahl unter 50, deutschen Einsiedlungen in polnische

Dörfer mitgerechnet, 1514.

Die stammliche Gliederung der deutschen Landbevölkerung für ganz Mittelpolen ist

folgende: Pommern 36 von Hundert, Niederunger 28 von Hundert, Schlesier 28 von

Hundert, Südwestdeutsche 8 von Hundert. Die städtische deutsche Bevölkerung ist

im Lodzer Industriegebiet vorwiegend schlesischer Abstammung, in einzelnen west-

lichen Städten mit Einschlag von Obersachsen. Die ehemaligen Tuchmacherstädte

im Gostyniner Lande und im Norden des Lodzer Industriegebiets besitzen eine ü-

berwiegend pommersche Bevölkerung.

Die konfessionelle Gliederung des Deutschtums in Mittelpolen stellt sich folgender-

maßen dar: Lutheraner 90,29 von Hundert, Reformierte 0,28 von Hundert, Baptis-

ten 1,42 von Hundert, Mennoniten 0,21 von Hundert, Katholiken 5,68 von Hundert,

verschiedene Sektierer 2,12 von Hundert.