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Vortragsskript v. Michael Maurer, Stuttgarter Zeitung, bei den Medientagen 2012 der Evangelischen Akademie Bad Boll.
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Medientage Bad Boll, 19./20. Oktober 2012:
Wem sollen wir glauben – Journalisten, Bloggern, Bürgern?
Die Perspektive der Print‐Medien
Michael Maurer, Stuttgarter Zeitung
Eigentlich ist es ja eine einfache Frage: Wem sollen wir glauben – Journalisten, Bloggern, Bürgern?
Denn darauf gibt es vordergründig eine einfache Antwort: Allen natürlich, aber vor allem den
Journalisten. Und hier insbesondere jenen der Tageszeitungen! Warum? – Print kauft man alles ab.
(Chart 1) Werbekampagne des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger
Damit wäre ich dann auch bereits am Ende meines Referats angekommen.
Ja, wenn’s denn so einfach wäre. Aber wie so oft spiegelt natürlich auch hier ein plakativer
Werbeslogan nur einen Teil der Wahrheit wider. Einen großen zwar, aber nicht den ganzen.
Tatsächlich ist es so, dass die Print‐Marken nach wie vor in puncto Vertrauen die höchsten
Zustimmungsraten unter allen Mediengattungen haben.
Aber wir müssen viel härter dafür arbeiten als früher, um dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Und
wir stehen viel stärker unter Beobachtung als früher. Beides hängt ganz unmittelbar mit einem völlig
veränderten Medienumfeld zusammen, wie ich ihnen gerne zeigen würde.
Wem sollen wir glauben? So lautet der Titel dieser Medientage. Jetzt bin ich zugegebener Maßen
kein Experte in Sachen Glauben. Obwohl ich auf die Erfahrung von etlichen Jahren als Dom‐
Ministrant in Rottenburg verweisen kann. Das ist zwar jetzt, von Bad Boll aus gesehen, die andere
Fakultät. Aber im Zeichen der Ökumene würde das schon auch gelten, vermute ich.
Aber davon abgesehen ist der Begriff „glauben“ im Journalismus auch nicht das Maß aller Dinge, im
Gegenteil, manchmal ist er sogar schädlich. Wer zu sehr an sein Thema, an seinen Artikel glaubt, der
läuft Gefahr, das Vertrauen seiner Leser zu verlieren. Weil er womöglich nicht mehr objektiv genug
ist. „Der Glaube gehört in die Kirche“, habe ich als Volontär bei der gewiss nicht Kirchen‐fernen
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Schwäbischen Zeitung in Leutkirch gelernt. Ziel der Redakteure muss es dagegen sein, dass die Leser
ihrer Arbeit, ihrer Recherche, ihren Texten vertrauen.
Was ist der Unterschied? Unter Glauben versteht man zumeist eine Wahrscheinlichkeitsvermutung.
Glauben in diesem Sinne bedeutet, dass ein Sachverhalt hypothetisch für wahr gehalten wird.
Andererseits unterscheidet sich Glauben von Wissen, das als wahre und gerechtfertigte Meinung
verstanden werden kann. Glauben im alltäglichen Sprachgebrauch ist also eine Vermutung oder
Hypothese, welche die Wahrheit des vermuteten Sachverhalts zwar annimmt, aber zugleich die
Möglichkeit einer Widerlegung offen lässt. Vertrauen dagegen ist die subjektive Überzeugung von
der Richtigkeit, der Wahrheit beziehungsweise der Redlichkeit von Handlungen, Einsichten und
Aussagen.
Klingt einleuchtend, oder? Ist aber nicht von mir, sondern ist aus Wikipedia zusammengebastelt. Also
aus der Quelle, über die ich gegenüber unseren Redakteuren und freien Mitarbeitern immer sage,
dass sie keine Quelle für journalistische Texte sein kann. Weil ich eben kaum nachprüfen kann, von
wem die Informationen dort stammen. Schon gar nicht kann ich es angesichts des Zeitdrucks, unter
dem viele Artikel für eine Tageszeitung entstehen. Ich muss also in der täglichen Arbeit auf Quellen
zurückgreifen, denen ich selber grundsätzlich vertrauen kann.
Aber Wikipedia ist auch ein Paradebeispiel für das Grundthema dieses Seminars. Die frei zugängliche
Datenbank steht sinnbildlich für die Verlockungen, die das Netz auch für professionelle Journalisten
parat hat. Alles, was ich mir früher mühsam über Archive, Lexika oder Fachliteratur zusammen
suchen musste, liegt nun sozusagen auf der Straße. Ich muss es nur noch einsammeln. Und zwar egal
zu welchem Thema, egal zu welcher Person.
Doch damit ist es ja nicht getan. Wenn ich meinen Beruf ernst nehme, muss ich meine gesamten
handwerklichen Fähigkeiten dazu einsetzen, um die Glaubwürdigkeit dieser auf der Straße liegenden
Information nachzuprüfen. Wenn ich meinen Beruf ernst nehme, muss ich womöglich genauso viel
Zeit in die Überprüfung der Information stecken, wie ich früher für deren Beschaffung benötigt habe.
Wie gesagt: Wenn ich meinen Beruf ernst nehme.
Und exakt darin liegt die große Herausforderung für professionelle Journalisten. Nämlich nicht der
Verlockung zu erliegen, sondern seine Arbeit gewissenhaft zu erledigen. Denn damit steht und fällt
die Qualität des Produktes und darin entscheidet sich dann auch, ob uns das Publikum vertraut oder
nicht.
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Um beim Beispiel zu bleiben: Ich habe Ihnen jetzt offen erzählt, dass ich eine Passage aus Wikipedia
zitiert habe. Ungeprüft in diesem Fall, denn es klang ja auch schlüssig. Werden Sie nun vermuten,
dass ich Ihnen weitere Versatzstücke aus dem Netz unterjubeln werde? Und vertrauen Sie mir, dass
ich das dann auch ehrlich zugebe? Oder wenn ich es nicht erwähnt hätte, jemand aus dem Publikum
hätte aber sagen wir aus Lust und Laune, aus Langeweile hoffentlich nicht, nebenher den Begriff
„Glauben“ gegoogelt und wäre mir dabei auf die Schliche gekommen: Würden Sie mir dann auch nur
eine weitere These abnehmen?
Vertrauen würden Sie meinen Informationen wohl nicht mehr, allenfalls würden Sie diese vielleicht
noch glauben – also im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsvermutung. Aber eine gute Basis wäre das
nicht mehr für Sie und für mich. Und es ist ganz sicher keine gute Basis für die Beziehung zwischen
Zeitung und Leser.
Diese Vertrauensbasis ist jedoch für Printprodukte im Allgemeinen und für Tageszeitungen im
Besonderen entscheidend im Hinblick auf ihre Wettbewerbsfähigkeit. Wenn unsere Leser in Stuttgart
und der Region die Stuttgarter Zeitung eines Tages als nicht mehr vertrauenswürdig betrachten
würden, dann hätten wir sowohl ein Problem mit unserem Image als auch ein noch größeres
Problem mit unseren Verkaufszahlen. Vertrauen ist also für die Marke Print ein existenziell wichtiges
Attribut.
Momentan ist diese Vertrauens‐Beziehung noch weitgehend intakt. Bei allen Untersuchungen zum
Thema Glaubwürdigkeit stehen die Print‐Produkte ganz oben. Selbst bei denjenigen, sie sie kaum
mehr lesen.
Chart 2
In der aktuellen JIM‐Studie, einer Basisstudie zum Umgang der 12‐ bis 19‐Jährigen in Deutschland mit
den Medien, wurden die Jugendlichen gefragt: „Stell dir vor, du wirst im Radio, im Fernsehen, in
Tageszeitungen oder im Internet über ein und dasselbe Ereignis informiert, die Berichte
widersprechen sich aber beziehungsweise sind voneinander verschieden. Wem würdest du am
ehesten glauben: dem Radio, dem Fernsehen, dem Internet oder der Tageszeitung?“ Immerhin 40
Prozent der 12‐ bis 19‐Jährigen, die ganz überwiegend ja keine Zeitungsleser sind, haben daraufhin
geantwortet: der Tageszeitung würde ich am ehesten glauben. Auf den Plätzen dahinter folgen
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Fernsehen, Radio und ganz am Schluss, mit 14 Prozent, liegt das Internet. Also jenes Medium, das in
der Mediennutzung von Jugendlichen unbestritten die größte Rolle spielt. Interessant dabei ist, dass
das Vertrauen in die Seriosität der Tageszeitung mit steigendem Alter wächst.
Und egal wohin sie blicken, der Befund ist immer derselbe. Das Europäische Institut für angewandtes
Kundenmanagement in München hat herausgefunden, dass „Anzeigen in Print‐Kundenmagazinen als
wesentlich glaubwürdiger eingestuft werden als Anzeigen auf Online‐Plattformen“. Gleichzeitig sagt
das Institut: „Print‐Kundenmagazine weisen bessere Werte in der Glaubwürdigkeit, in der
Aufmerksamkeit und in der Nachhaltigkeit auf als Online‐Kundenmagazine.“
Eine aktuelle Studie aus den USA zeigt, dass 60 Prozent der Amerikaner auf eine traditionelle
Nachrichtenquelle zurückgreifen, wenn sie eine „Breaking News“ verifizieren wollen. Traditionelle
Quelle heißt in diesem Fall Zeitung oder Fernseh‐Nachrichtensender. Aber eben nicht Internet, denn
auch in den USA ist der Aspekt Glaubwürdigkeit offensichtlich eher mit der New York Times
verbunden als etwa mit der Online‐Zeitung Huffington Post.
In Deutschland wirbt der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger damit, dass „Printmedien
hinsichtlich des ihnen entgegengebrachten Vertrauens an der Spitze aller klassischen
Mediengattungen“ liegen. Die Absicht ist klar: wenn das Medium an sich seriös und
vertrauenswürdig ist, dann erhöht das natürlich auch die Wertigkeit der Anzeigen, die darin
geschaltet sind. Das Vertrauen in die redaktionellen Inhalte färbt also auf die Werbung ab. Das wird
an dieser Untersuchung hier deutlich:
Chart 3
Und frisch herausgekommen ist gerade das Jahrbuch „Zeitungen 2012“ des Bundesverbands
Deutscher Zeitungsverleger, das sich ebenfalls mit dem Thema Vertrauen und Glaubwürdigkeit
befasst, diesmal aber explizit für Tageszeitungen.
Chart 4
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So weit, so gut also. Wem sollen wir vertrauen? Den Print‐Journalisten natürlich. Könnte man
meinen.
Chart 5
Denn es ist wie bei so vielem: der Blick in die Vergangenheit, in der sich die Print‐Medien dieses
Vertrauen erarbeitet haben, hilft nicht weiter, so schön er auch ist. Wenn wir in die Zukunft schauen,
dann ist völlig klar, dass wir uns als Tageszeitung in der veränderten digitalen Medienwelt nicht auf
den Werten ausruhen können, die wir uns in den analogen Zeiten erworben haben. Tradition ist
schließlich nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme. Stammt übrigens auch
nicht von mir, aber ich erspare mir einen Quellenhinweis, weil der Satz schon so vielen Dichtern und
Denkern zugeschrieben wird.
Die Glaubwürdigkeit der Informationen einer Tageszeitung war früher sozusagen gesetzt. Meistens
jedenfalls. Heute wird diese Glaubwürdigkeit immer öfter in Zweifel gezogen, manchmal zu Recht, oft
aber zu Unrecht. Deshalb ist es unsere Aufgabe, noch stärker als bisher auf die Stimmigkeit unserer
Recherche zu achten und noch stärker dieses Element „Vertrauen“ als Unterscheidungsmerkmal
herauszustellen. Wir sind schon lange nicht mehr das aktuellste Medium auf dem Markt. Wir sind
auch nicht das Medium mit dem quantitativ größten Angebot. Der Platz auf einer Zeitungsseite ist
endlich, der Speicherplatz im Internet ist es nicht. Wir können auch nicht mit multimedialen
Gimmicks aufwarten. Deshalb brauchen wir andere Nutzen‐Versprechen, also zum Beispiel Qualität
statt Quantität. Gründlichkeit statt Schnelligkeit.
Wenn wir über unsere Perspektiven als Printmedium reden, dann muss uns klar sein, dass wir es mit
einer Leserschaft zu tun haben, die in immer größerem Maße an der digitalen Welt teil hat, sich darin
informiert, ja an deren Strukturen und Inhalten mitarbeitet. Dies hat für Zeitungsmacher eine ganze
Reihe von Konsequenzen. Ich möchte hier nur die drei wichtigsten anführen:
1. Das Internet ist für uns in vielen Fällen zu einer Art Kontrollinstanz geworden, vor der wir
bestehen müssen. Jedenfalls dann, wenn es um eine ernsthafte Auseinandersetzung geht
und nicht um bloße Polemik. Die bekannteste dieser Kontrollinstanzen ist sicher Bildblog. Ein
ähnlich institutionalisiertes Stuttgarter‐Zeitung‐Blog gibt es zwar nicht, jedenfalls ist mir
keines bekannt, dennoch werden unsere Artikel auf allen möglichen Sites mit Kommentaren
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versehen, wir werden auf ergänzende Informationen hingewiesen oder es werden uns Fehler
angekreidet. Was wir davon mitbekommen, nehmen wir ernst und reagieren darauf, wenn es
notwendig ist.
2. Wir beziehen soziale Netzwerke, Blogs und andere nachrichtliche Angebote im Netz in
unsere Recherchen mit ein. Sie sind für unsere tägliche Arbeit eine Quelle wie viele andere
auch, das heißt aber gleichzeitig, dass wir ihren Wahrheitsgehalt überprüfen müssen. Nur
weil jemand glaubt, für eine gerechte Sache zu kämpfen, müssen seine Informationen ja
nicht zwangsläufig richtig sein.
3. Wir bewegen uns natürlich selber als Redaktion, als Marke im Internet, sowohl mit unserer
Website als auch in diversen sozialen Netzwerken, sowie auf anderen digitalen Kanälen. Wir
erreichen damit Zielgruppen, die wir mit der Zeitung längst nicht mehr erreichen – und die
wir wohl auch nie mehr vom Mehrwert eines gedruckten Produktes werden überzeugen
können. Wir können hier aber auch mit unseren Lesern oder besser: Usern direkt
kommunizieren, unsere Inhalte präsentieren und diskutieren, aber auch Ideen und Hinweise
einsammeln. Ein neues Projekt, das wir demnächst starten, ist, dass wir auf unserer
Facebook‐Seite unsere Planungen für die Seite 2 der Stuttgarter Zeitung, das Tagesthema,
offen legen und zur Diskussion darüber einladen. Entscheiden muss am Ende natürlich die
Redaktion, diese Verantwortung kann uns keiner abnehmen. Aber wir eröffnen hier ein
weiteres Forum zur Mitsprache.
Zusammengefasst heißt dies alles: Je mehr Informationen in anderen Nachrichtenwelten zur
Verfügung stehen, desto größer sind die Anforderungen der Leser an ein Leitmedium wie die
Tageszeitung. Der Leser weiß vieles, er kann vieles selber nachprüfen, er hat seine eigenen Quellen,
etwa in sozialen Netzwerken, und ist folglich dem Nachrichtenlieferanten Tageszeitung – überspitzt
ausgedrückt – nicht mehr so hilflos ausgesetzt wie er es vielleicht früher war.
Er misst also seinen Nachrichtenstand mit dem der Zeitung. Er stellt seine subjektive Bewertung von
Ereignissen der Bewertung durch unsere Redakteure gegenüber. Das ist für uns nicht immer einfach,
weil in dieser Konstellation natürlich oft eine umfassende Recherche der Redaktion auf ein leidliches
Halbwissen des Lesers trifft. Manchmal, ganz selten, mag es auch andersherum sein. Aber im
Grundsatz stimme ich hier dem Apple‐Gründer Steve Jobs zu. Jobs, der zweifellos der digitalen Welt
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näher stand als der analogen, hat in seiner Biografie geschrieben: „Wir können uns bei Nachrichten ja
nicht auf Blogger verlassen. Wir brauchen richtige Berichterstattung und redaktionelle Übersicht
mehr denn je.“
Die meisten unserer Leser scheinen dies ähnlich zu sehen. Und ich kann Ihnen diese ganz spezielle
Leser‐Zeitung‐Konstellation an einem aktuellen Beispiel veranschaulichen. Nämlich an den
Ergebnissen einer quantitativen und qualitativen Marktforschung, die wir bei der Stuttgarter Zeitung
in diesem Sommer gemacht haben. Sie sehen an diesem Chart, was die Leser heutzutage von einer
Tageszeitung generell erwarten:
Chart 5
Wir haben dann gefragt, wie sehr diese Erwartung ganz konkret durch die Stuttgarter Zeitung
eingelöst wird. Das Ergebnis kann ich Ihnen hier nicht im Detail vorlegen, weil es sich dabei um
sensible, interne Daten handelt. Aber ich kann zumindest sagen, dass wir im Hinblick auf die Punkte
objektive Berichterstattung oder Kompetenz noch etwas Luft nach oben haben. Bei zwei Aspekten
also, die Vertrauen beim Leser schaffen, wenn sie erfüllt werden. Und die Misstrauen hervorrufen,
wenn sie aus der Sicht des Lesers nicht erfüllt werden.
Ich behaupte auch, dass dieser Befund so oder so ähnlich bei jeder anderen Tageszeitung heraus
käme. Denn an diesem Ergebnis ist wenig Stuttgart‐spezifisches, wenngleich natürlich ein gewisses
Bahnhofsprojekt uns ein paar Sonderfaktoren eingebrockt hat. Aber davon abgesehen haben es alle
Redaktionen mit einer Leserschaft zu tun, die sich ihr beim Informationsstand oft ebenbürtig wähnt –
und deren Ansprüche an Ausgewogenheit und Klarheit deshalb höher sind als früher. Ein paar Zitate
aus der qualitativen Marktforschung, also aus Gruppendiskussionen, verdeutlichen dies:
„Eine Zeitung darf nicht manipulieren und nicht verfälschen. Sie soll ihre Leser nicht lenken.“
Oder: „Eine Tageszeitung sollte sachlich sein, ich will keine Manipulation. Ich will nicht das
Gefühl haben, in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden.“
Oder: „Ich will keine wertende Sprache in den Artikeln. Die Zeitung darf eine Meinung haben,
aber sie soll mich nicht beeinflussen.“
Und obwohl den Lesern klar ist, dass es Objektivität in Reinform auch in einer Zeitung nie geben
kann, erwarten sie dennoch eine möglichst große Annäherung daran. Sie sagen einerseits: „Das sind
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ja auch Menschen mit einer Meinung, die das schreiben.“ Sie bestehen aber andererseits darauf: „Ich
will mir selbst meine Meinung bilden.“
Als Redakteur ziehe ich daraus den Schluss, dass die Leser mittlerweile wohl an jeder Ecke des Netzes
mit Meinungen und Stimmungen überzogen werden. So sehr, dass sie sich von einem Produkt wie
der Tageszeitung, für das sie notabene auch ordentlich Geld ausgeben, eine Art Kontrastprogramm
erwarten. Dieses Kontrastprogramm heißt eben Objektivität und Kompetenz – und beide zusammen
schaffen am Ende Vertrauen.
Erst wenn es uns gelingt, diese Grundvoraussetzung zu erfüllen, haben wir als Tageszeitung im
Verhältnis zu unseren Lesern eine Basis geschaffen, auf der wir die anderen Vorteile der Tageszeitung
überhaupt ausspielen können. Also etwa Hintergrund, Analyse, überraschende Themen, gut
geschriebene Reportagen und Porträts, klare Kommentare, eine überzeugende Lokal‐ und
Regionalberichterstattung.
Es gibt sicher viele einzelne Faktoren, an denen sich die Antwort auf die Frage: „Wem sollen wir
glauben?“ Oder besser: „Wem sollen wir vertrauen?“ entscheiden wird. Die Qualität einer Redaktion,
die Qualität ihrer Recherche ist wie gerade ausgeführt sicher der wichtigste Aspekt. Es gibt aber noch
einen anderen Aspekt, der enorm an Bedeutung gewonnen hat: Nämlich die Transparenz unserer
Arbeit. Für uns als Printjournalisten ist entscheidend, mehr als früher dem Leser gegenüber deutlich
zu machen, was wir tun, wie wir es tun und auch: warum wir es tun. Warum wir welche Positionen
vertreten.
Dazu gehört dann auch das klare Bekenntnis, was wir können und was wir nicht können. Wo die
Grenzen unserer Möglichkeiten der Berichterstattung liegen. Wo die Grenzen auch unserer
Kompetenz sind. Wir können es uns heute nicht mehr erlauben, aus hermetisch abgeschotteten
Redaktionen heraus – und das meine ich jetzt keineswegs nur in Bezug auf die Gebäude – die Leser
täglich mit 32 oder 36 Seiten Gedrucktem zu beglücken. Wir müssen uns öffnen, denn das Prinzip der
Teilnahme am Entstehungsprozess und der Rezeption eines journalistischen Produktes ist zwar im
Netz entstanden, aber es hat längst auf alle anderen Vertriebskanäle übergegriffen. Auch auf die
Abonnement‐Zeitung.
Was heißt nun Offenheit oder Transparenz ganz konkret? Wie können wir das Vertrauen unserer
Leserinnen und Leser in den Wahrheitsgehalt unserer Nachrichten und Analysen weiter hoch halten?
Zunächst ganz profan dadurch, dass wir die Grundregeln unseres Handwerks wieder stärker in den
Vordergrund stellen. Die Tageszeitungen in Deutschland haben in den vergangenen Jahren in dem
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Maße, wie ihre Rolle als Transporteure aktueller Nachrichten zurück gegangen ist, ihre Rolle als
Produzenten eines täglichen Magazins ausgebaut.
Dabei sind journalistische Stilformen teils bewusst, teils unbewusst vermischt worden. Und vielleicht
haben wir die Schraube etwas überdreht. Vielleicht haben wir in dem Bemühen, unsere Texte immer
hintergründiger, immer wissender anzulegen, die Fakten manchmal in den Hintergrund treten lassen.
Ich will jetzt den Großmeistern der Branche nicht zu nahe treten, aber wenn wir eben nicht in
Seehofers Modelleisenbahn‐Keller gestanden haben, wenn wir nicht in Voßkuhles Küche Gemüse
geschnippelt haben – dann sollten wir auch nicht so tun als ob es so gewesen wäre.
Wir Journalisten sitzen manchmal auch auf einem verdammt hohen moralischen Ross – und dann ist
es doppelt bitter, wenn beispielsweise in journalistischen Organisationen die Abrechnungen nicht
stimmen. Etwas mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung in eigener Sache könnten also das
Vertrauen in den Berufsstand insgesamt durchaus stärken.
Das Vertrauen wird aber auch dadurch gestärkt, dass wir deutlich machen, wo unsere
Handwerkskunst endet. Ich habe vorhin gesagt, dass Informationen aus dem Netz genauso überprüft
werden müssen wie alle anderen Quellen. Das geht jedoch nicht immer.
Ein Beispiel: Bei den Revolutionen in den arabischen Ländern und vor allem aktuell im syrischen
Bürgerkrieg ist ganz offensichtlich, wie schnell dieser hehre Anspruch der Kontrolle, des Gegen‐
Checkens ins Leere läuft. Kein Mensch kann all die Tweets oder Youtube‐Schnipsel verifizieren, die
uns aus Libyen, Ägypten oder Syrien erreichen. Wir können sie aber auch nicht ignorieren. Denn
zumindest einen Teil der Wahrheit erzählen sie uns schon. Wir müssen also unsere Zweifel dort
deutlich machen, wo wir sie hegen.
Oder nehmen wir China. Der chinesische Blogger Zhang Wen hat vor Kurzem in einem Interview mit
der Stuttgarter Zeitung gesagt: „Im digitalen Zeitalter ist es viel schwieriger, die Verbreitung von
Informationen zu verhindern.“ Dies hätten ihm auch Zensurbeamte in seinem Land gesagt. Doch auf
der anderen Seite ist es für uns als Redaktionen genauso schwierig, die Unmenge von Blogs auf ihre
Seriosität zu überprüfen. Zhang Wen ist fast schon eine Institution – aber was ist mit all den
anderen?
Auch hier dürfen wir als Vertreter der klassischen Medien nicht so tun, als könnten wir dies alles
durchschauen. Wir müssen das als gesichert wiedergeben, was wir aufgrund unserer Recherchen
guten Gewissens für gesichert halten. Und wir müssen dort deutlich sichtbar ein Fragezeichen setzen,
wo wir auch nicht tiefer dringen können.
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Vieles von dem, was ich über meine eigene Branche sage, gilt natürlich genauso oder sogar noch
stärker für alle anderen Formen von Journalismus, vor allem für jene im Netz. Doch ich halte wenig
davon, mit dem Hinweis auf die Unzulänglichkeiten anderer die eigenen Fehler zu rechtfertigen oder
diese klein zu reden. Denn wie gesagt: die Herausforderung besteht für Printprodukte, für
Tageszeitung in dieser veränderten Konkurrenzsituation darin, die eigene Qualität herauszustreichen
sowie die Erfahrung und die Kompetenz von großen, guten Redaktionen auszuspielen.
Das heißt, in der Informationsflut starke Akzente zu setzen, Aufklärung zu leisten, Position zu
beziehen und nicht zuletzt auch mit unerwarteten oder überraschenden Themen zu punkten.
Schließlich ist es der Vorteil einer Zeitung, dass ich hier ein geschlossenes Informations‐ und
Unterhaltungspaket finde und mir nicht die Einzelteile zusammensuchen muss.
Und die Zeitung hat es zweifellos verdient, dass man ihr vertraut, dass man ihre Informationen für
glaubwürdig hält. Jedenfalls dann, wenn sich ihre Redaktionen des hohen Gutes bewusst sind, mit
dem sie da umgehen und wenn die Redaktionen alles dafür tun, dieses Gut zu verteidigen. Auch
wenn der Satz von Theodor Wolff, dem Chefredakteur des früheren „Berliner Tagblatts“, nach wie
vor Gültigkeit hat. Ein Leitsatz von Theodor Wolff, nach dem eine der renommiertesten
Auszeichnungen für Journalisten in Deutschland benannt ist, lautete: „Über jeder Wahrheit schwebt
ein letztes Vielleicht.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Bad Boll, 20. Oktober 2012