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Begleitheſt Unterwegs Ein Schri eine Richtung

Ein Schritt eine Richtung Begleitheft€¦ · nen Produktion des englischen Künstlers Hamish Fulton werden im Pénitencier Werke von Francis Alÿs, Martina Gmür, Fischli & Weiss,

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Unterwegs: Ein Schritt eine Richtung

Laufen — ein alltäglicher Automatismus, der es erlaubt, Gipfel zu erklimmen und die Welt zu erkun-den. Das Marschieren, eine wesentliche Vorausset-zung der Freiheit, gilt darüber hinaus als Instrument der Mobilisierung zur Einforderung von Rechten. Seit den 1960er Jahren zählt es zu den künstleri-schen Ausdrucksformen.

Die thematische Ausstellung vereint Walliser, Schweizer sowie internationale Werke und Gegen-stände verschiedener Epochen und Disziplinen. Neben einer speziell für die Ausstellung entstande-nen Produktion des englischen Künstlers Hamish Fulton werden im Pénitencier Werke von Francis Alÿs, Martina Gmür, Fischli & Weiss, Douglas Gordon, Richard Long und Not Vital präsentiert. Vom Fussabdruck zur Grenzüberschreitung, vom Bergsteigen zur politischen Demonstration — der Fussmarsch setzt Körper und Geist in Gang: Einen Schritt machen bedeutet, eine Entscheidung zu treffen!

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Einführung

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Das Laufen als natürliches Fortbewegungsmittel hat Ihnen er-laubt, sich hier einzufinden, um das Thema «Laufen» unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten: demjenigen der Kunst und des Engagements. Ein roter Teppich, gewöhnlich für führende Persön-lichkeiten und andere Privilegierte reserviert, wurde unter Ihren Füssen ausgerollt. Im Gefängnis unterstreicht er einerseits farblich das Durchqueren des Raumes zu Fuss und verweist andererseits auf die Geschichte, die dieses Gebäude erzählt.

Auf der Fassade befindet sich ein monumentales Werk, das vom englischen Künstler Hamish Fulton speziell für diese Ausstellung konzipiert wurde. Unter dem Motto «No walk, no art» («Ohne Laufen keine Kunst») wendet Fulton das Laufen als vollwertiges künstle-risches Medium seit 1973 auf der ganzen Welt an. Im Gegensatz zur land art, die Eingriffe an geographischen Räumen vornimmt, liegt der Fokus seiner Arbeit auf dem Erleben der Landschaft bzw. auf Erfahrungen in der Landschaft und auf ihrer späteren visuellen Wiedergabe. Dabei ist er im Bewusstsein eines ökologischen Inte-resses darauf bedacht, die Umwelt möglichst intakt zu hinterlas-sen. Er verlegt oder verändert nichts auf seinem Weg. Sein einziger Eingriff besteht im Wandern und im Fotografieren. Seine grafische Komposition, die den Beginn der Ausstellung markiert, ist aus sei-nem einsamen Umherschlendern in den Tagen vor der Vernissage auf den Hügeln von Valeria und Tourbillon hervorgegangen. In der Art von einer Identitätskarte hält sie die Fakten dieser künstleri-schen Wanderung fest. Fulton arbeitet regelmässig in den Alpen und lernte das Wallis im Rahmen zweier Interventionen in Brig ken-nen: eine Installation im Aufzugsschacht einer Bank (1994) und ein Fussmarsch über das Spitzhörnli und den Simplonpass (2004).

Gegenüber sieht man Drahtzäune, die von Carlo Schmidt ih-rer Funktion beraubt worden sind, indem er sie in gelben Kunststoff einschloss und sie damit gewissermassen neutralisierte. Sie stam-men aus der Region von Leuk, wo sie zuvor von verschiedenen Fa-milien genutzt worden waren, um deren Landbesitz einzuzäunen.

Der rote Teppich führt Sie weiter zur Empfangstheke, wo Sie die Skulptur für einen Schuh von Uwe Max Jensen erwartet. Nehmen Sie bitte eine Karte mit und auch einen Stein, den Sie für die Dauer Ihres Rundgangs in Ihren Schuh schieben können (oder auch nicht). Zu Ihrer Linken sehen Sie mit Atelophobia von Stéphane Blumer eine Menschenmenge auf dem Platz Tahrir in Kairo während des Arabischen Frühlings 2011. Am Ende des Flurs befindet sich ein Ready-made von Sylvie Fleury: eine luxuriöse Schuhbürste als Accessoire teurer Hotels, das den Staub vom Gehen entfernt und dazu dient, den Schein zu wahren.

Steigen Sie nun die Treppe hoch. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Spaziergang!

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Erster Stock

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I. Einen Schritt machen

In einem ehemaligen Gefängnis eine Ausstel-lung über das Thema Laufen zu präsentieren, ist widersprüchlich. An diesem Ort der Gefangen-schaft und Freiheitbeschränkung war das Gehen nur unter Kontrolle und in engen Grenzen erlaubt, was jegliche individuelle und kollektive Mobilisie-rung verhinderte. Im Gegensatz dazu eröffnet im ersten Stock die Erkundung riesiger, endloser na-türlicher Gebiete neue Horizonte. Die Gefängnis-zellen bleiben geschlossen, um im Zentrum des Raumes der Bewegungsfreiheit, der poetischen Dimension des Gehens, dem körperlichen und emotionalen Erlebnis angesichts der Landschaft Platz einzuräumen.

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Erster Stock

Richard Long

Francis Alÿs

Geschlossen

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Ein Schritt eine Richtung

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Beim Eintreten werden wir uns unseres menschlichen Mas-ses bewusst. Zur Linken läuft in der Videoarbeit des Künstlers Guido van der Werve eine Figur (der Künstler selbst) vertrauens-voll über das finnländische Packeis, fünfzehn Meter vor einem 3’500 Tonnen schweren Eisbrecher. Zur Schönheit der Szene gesellt sich die Risikobereitschaft des Menschen,der bei jedem Schritt das Gleichgewicht zwischen dem Eis und dem Schiff, zwi-schen den natürlichen Elementen und der Maschine halten muss. Diese Videoarbeit setzt sich mit der Idee der Eröffnung neuer Wege oder des Aufbrechens des Bodens auseinander. Sie weist auf die Tatsache hin, dass sich jeder Schritt in eine gewählte Rich-tung zwangsläufig auf die Umwelt auswirkt. Kann ein Schritt «das Eis brechen», sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinn?

Hinter der Projektionswand deuten zwei Werke auf die Gren-zenlosigkeit der Welt hin. Der Wanderstock von Not Vital, der ei-nem Riesen gehören könnte, stellt ein Gegenstück zu Siebenmei-lenstiefel dar, mit denen man weite Distanzen zurücklegen und die Grenzen von Zeit und Raum verschieben kann. Er erinnert an Aristoteles, der im Gehen unterrichtete, oder Jean-Jacques Rous-seau, der unzählige Spaziergänge unternahm, um seine Gedan-ken in Bewegung zu setzen: «Ich kann nur im Gehen denken (...) mein Kopf geht nur mit meinen Füssen» (Bekenntnisse, 1764).

Richard Long bringt mit seinem Werk Alpine Line Vulkange-stein in die Räumlichkeiten des Museums ein. Die Skulptur be-steht aus Basaltstücken, die auf einer Wanderung in Buchs (SG) gesammelt wurden und aneinandergereiht eine neun Meter lange Linie bilden. Diese gleicht dem Negativabdruck einer Landschaft, in der die Spuren des Weges allerdings nicht identisch sind mit der während der Wanderung zurückgelegten Strecke. Geht man um diese Spuren eines fiktiven Weges herum, sollte man versu-chen, sich seiner Schritte bewusst zu werden und damit eine neue Form des Reiseberichts zu erfinden. Als bedeutender Vertreter der land art schafft Richard Long seit 1967 vergängliche Werke in der Natur. Er arbeitet möglichst ausserhalb des Ateliers, ähnlich dem Philosophen Nietzsche, der es vorzog, «im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden» (Die fröhliche Wissenschaft, 1901). Seine Arbeiten beste-hen aus Schlamm, Holz, Schnee oder Steinen, die in kreisförmi-ger oder linearer Anordnung das Gehen sichtbar machen.

Erster Stock

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Am anderen Ende des zentralen Raums bringt uns eine offen stehende Zelle abrupt zurück in die Welt der Gefangenschaft. In der Videoarbeit Albert’s Way sehen wir den Künstler Francis Alÿs in seinem Atelier von Mexiko City herumtigern. Es handelt sich um eine Anspielung an die «Wanderungen» des «Architekten des Dritten Reichs», Albert Speer, der während seiner 20-jährigen Ge-fangenschaft in Berlin Spandau unaufhaltsam seine Zelle durch-mass, wobei er sich mittels geografischer Werke und Reisefüh-rer, die er sich in der Bibliothek auslieh, vorstellte, er würde durch die ganze Welt reisen. Speer legte bis zu seiner Freilassung im Jahr 1966 mehr als 30’000 km zurück: Damals hatte er einen von Mexiko City 30 km entfernten (imaginären) Ort erreicht.

Die Wandermarkierungen am Ausgang der Zelle weisen den Weg zum zweiten Stock, den Sie über die kleine Treppe zu Ihrer Linken erreichen.

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Zweiter Stock

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Entdecken Sie am oberen Treppenende die sti-lisierte Bergwand des Comiczeichners Matthieu Berthod, die einen neuen Horizont eröffnet. Für dieses Werk, das die Geschichte eines Spazier-gängers vor einem fiktiven Alpenpanorama er-zählt, liess sich der Künstler von der Chronofoto-grafie Etienne-Jules Mareys inspirieren, welche im 19. Jahrhundert die Forschung über die Zerlegbar-keit der menschlichen Bewegungen begründete.

Auf Bergpfaden treffen zwei Menschentypen aufeinander: die Bergsteiger mit ihrem Erobe-rungsgeist und die Wanderer, die auf der Suche sind nach gut zugänglichen Landschaften und ge-sundheitlichem Nutzen. Auf diesem Stockwerk wird das Thema des Laufens unter dem Blickwinkel des körperlichen Einsatzes als der Grundvorausset-zung für jegliche Form des Gehens behandelt. Die vier geöffneten Zellen stehen für die ersten Kapitel der Ausstellung: «Markieren», «Riskieren» und «Er-obern/Stürzen».

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Zweiter Stock

Geschlossen

Markieren

Riskieren

Matthieu Berthod

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Markieren

Riskieren

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Erobern / Stürzen II I

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Zweiter Stock

Markieren

Die von einem Läufer hinterlassene Spur ist nicht nur der Beweis eines Durchschreitens oder einer Anwesenheit. Sie er-laubt ebenfalls, ein Territorium zu markieren oder Grenzen zu setzen. Das Verb «marschieren» stammt aus dem Altfränkischen *markôn (eine Fussspur hinterlassen) und geht auf die indoger-manische Wurzel *mark zurück, was so viel bedeutet wie «Gren-ze». Das Marschieren kann somit die Übernahme politischer Macht bedeuten oder einen Ort des Widerstands begründen. Welche Spuren und welchen Eindruck hinterlassen wohl weibli-che Nagelschuhe?

Die beiden mit Snow Management betitelten Fotografien von Jules Spinatsch zeigen Fuss-, Ski- und Pistenraupenspuren im Davoser Schnee und weisen auf das Weltwirtschaftsforum hin, das dort regelmässig stattfindet. Die Veranstaltung verleiht dem Ort Bedeutung, während das Gelände – trotz der von den Mäch-tigen der Welt hinterlassenen Spuren – die Illusion von Reinheit vermittelt. Es erinnert an «Mondlandschaften» und weist damit auf die Bedeutung des Schreitens in der Eroberung neuer Territo-rien hin. So symbolisieren die «Schritte auf dem Mond», in Anleh-nung an Hergés Comics, die Besitznahme durch den Menschen.

Dem fotogrammetrischen Bild, das von den mannigfachen Durchgängen der Archosauria des Vieux-Emosson (Finhaut, VS) vor mehr als 245 Millionen Jahren zeugt, wurde die Fotografie von Emile Gos gegenübergestellt, auf der bidirektionale Fuss-abdrücke zu sehen sind. Ungeachtet dieser Spuren bleibt die Er-oberung der Berge unberechenbar.

Ruhen Sie sich auf der Sitzbank vor der Zelle etwas aus und bewundern Sie die Skulptur von Valentin Carron. Das mehr-deutige Werk aus Glas, Gérard, ist ein Abguss seiner Füsse. Es bezieht sich auf Magrittes Modèle rouge (1935) und überrascht durch seine surreale Zusammenhangslosigkeit. Die durchlöcher-ten Socken legen Zehen und Füsse frei, die viel gelaufen zu sein scheinen. Die Prothesen erklären diesen Gedanken jedoch für ungültig, indem sie auf eine mögliche Behinderung oder Kriegs-verletzung hinweisen. Hyperrealismus und Konzeptsprache ver-einen sich hier und leiten eine für den Künstler typische sarkasti-sche Wende ein.

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Riskieren

Der Mensch neigt dazu, Grenzen zu setzen, um sie anschlie-ssend zu überschreiten und neue Territorien zu erkunden. In un-bekannten und zum Teil bedrohlichen Gegenden bringt er seinen Körper in Gefahr, um Landschaften entdecken zu können, die sei-ne Vorstellungskraft übersteigen. Am Ende des 18. Jahrhunderts erlangte der Berg einen neuen Status, was zur Entwicklung von Alpinismus und Tourismus führte, aber auch zur Entfaltung der Idee des «Sublimen» – ein Gefühl, das Wohlbehagen und Entset-zen verbindet.

Der Film des Künstlerduos Fischli & Weiss erinnert an eine tragikomische Höhen-Bummelei. In diesem Kontext hinterfragen eine Ratte und ein Bär die Zugehörigkeit zum Vaterland, die Wahl des Lebensraums, das Moment lebensbedrohlicher Situationen, aber auch Solidarität und Freundschaft – oder im Gegenteil Ver-rat und Auseinandersetzungen. Ihre Suche nimmt die Form eines Fussmarschs an, der sie mehrheitlich durch Walliser Landschaf-ten führt (Erdpyramiden von Euseigne, Matterhorn, Alteschglet-scher usw.). So geraten die beiden Kameraden in gefährliche Gegenden. Das Werk Der rechte Weg deutet ironisch darauf hin, dass unser Lebensweg nicht geradlinig verläuft und einzig die Ri-sikobereitschaft uns erlaubt, unseren Weg zu finden.

Als Antwort auf diesen Film setzen die stereoskopischen Aufnahmen der Gebrüder Jullien zwei Figuren auf dem Bos-son-Gletscher in der Nähe von Chamonix in Szene. Auf allen Vie-ren befinden sie sich auf einer Leiter, die über einen Spalt gelegt wurde, wobei in ihrem Gesicht eine unerschütterliche Entschlos-senheit geschrieben steht. Die vier Postkarten von Emil Nolde aus dem Ende des 19. Jahrhunderts zeigen Berge, die der Künst-ler personifizierte, indem er mit ihrem Namen spielte: Eine Seil-schaft flüchtet vor dem bedrohlichen Wesen des Schreckhorns, während eine Figur etwas naiv den Schutz eines roten Regen-schirms sucht.

In der zeitgenössischen Kunst versucht die Bergfotogra-fie stets, das oben genannte Gefühl des «Sublimen» – eine Mi-schung aus Wohlbehagen und Entsetzen – auf moderne Art und Weise auszudrücken: So lässt Axel Hütte jegliche Figuren außen vor, die es in ihrer Winzigkeit erlauben würden, ein Empfinden für Grössenverhältnisse zu entwickeln. Der dichte Nebel verhindert den touristischen Ausblick auf die Region des Furkapasses. Im geheimnisvollen Raum verbirgt sich das Motiv des Umherirrens und der Orientierungslosigkeit.

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Erobern/Stürzen I

Gegenüber beleuchten zwei Zellen das Thema Eroberung und Sturz. Während das Wandern in den Bergen immer stärker beeinflusst wird durch den Wunsch nach Leistung — es geht nicht nur um die Besteigung der Gipfel, sondern auch um die Ge-schwindigkeit der Besteigung (Patrouille des glaciers, Ultra Trail) — ist die Gefahr des Scheiterns nicht auszuschalten. Das Durch-haltevermögen und der Überlebensinstinkt können den körper-lichen Schmerz oder die durch Unterkühlung hervorgerufenen Körperschäden nicht beseitigen. Der Körper ist nicht unfehlbar und niemand ist sicher vor einem lebensgefährlichen Fehltritt. Im Kontext dieses Gedankens eines tödlichen Unfalls ist die Vi-trine des Söldners des Theodulpasses zu sehen. In ihr wer-den mit die ältesten menschlichen Überreste aus europäischen Gletschern aufbewahrt, die 1984 zufällig gefunden worden sind. Der «Söldner» — er wurde aufgrund der neben ihm aufgefunden Waffen so benannt — starb gegen 1600, als er den Theodulpass überquerte. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um einen Söldner, sondern um einen jungen Mann aus einer gehobenen sozialen Schicht. Seine Ausrüstung bestand unter anderen aus einem eleganten Schwert, einer Taschenpistole, einer faltbaren Rasierklinge, aus Münzen und einem Paar ungleicher Schuhe.

Der Rückgang von Gletschern im Rahmen der Klimaerwär-mung erlaubt heutzutage solche Entdeckungen. In diesem Kon-text ist die Aufnahme von Spencer Tunick, die 2007 von Green-peace organisiert wurde, als ein aussergewöhnliches Treffen auf dem Aletschgletscher zu sehen: Sechshundert Freiwillige posier-ten nackt auf der kalten Firnoberfläche, um auf den beschleu-nigten Gletscherschwund hinzuweisen. Diese beiden Exponate wurden im selben Raum zusammengeführt und vermitteln ein greifbares Verständnis für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers und der Landschaft — zumal der Gletscher ebenfalls als ein Organ betrachtet werden kann, das dringend Schutz bedarf.

Erobern/Stürzen II

Im nächsten Raum zeigen drei schwarz-weisse Fotografien von Daniel Schwartz den Aletschgletscher durch das Prisma einer Entdeckung aus dem Jahr 2012. In einer dokumentarischen Ge-genüberstellung werden drei Gletscheransichten von drei Ge-genständen begleitet — einem Gurt, einem Schuh und einem Feldstecher. Diese gehörten drei jungen Bergsteigern aus Kippel (Lötschental), die nach einer Expedition im Jahr 1926 vermisst wurden. Einen Tag nachdem der Künstler seine Luftaufnahmen machte, kamen die Überreste der drei jungen Wanderer zum Vor-schein.

Zweiter Stock

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Für die Schweiz stellt die Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865 durch den Engländer Edward Whymper und sei-ne Seilschaft einen Höhepunkt in der Geschichte des Alpinismus dar. Diese erfolgte nach der Gründung des ersten «Alpine Club» in England um 1857. Die beiden Lithografien, die nach Zeichnungen des Landschaftsmalers, sportlichen Reisenden und Alpinismus-liebhabers Gustave Doré realisiert wurden, zeigen gleichzeitig den Aufstieg zum Gipfel und den tödlichen Absturz von vier Mit-gliedern der Seilschaft in dem Augenblick, in dem das Seil reisst. Die Expedition Whympers hat auch Jelena Martinovic in Augen-schein genommen. Mit ihrer Kamera hat sie Hodlers grosses, von Doré inspiriertes Werk von 1894 gefilmt, das ursprünglich zwei Dioramen bilden sollte, jedoch auseinandergenommen wurde. Heutzutage wird es im Berner Alpinen Museum aufbewahrt.

Das Ereignis, das den modernen Alpinismus begründete, reicht jedoch weiter zurück: Es handelt sich um die Besteigung des Mont Blanc durch Horace-Bénédict de Saussure am 2. Au-gust 1787 — ein lokaler und internationaler Triumph. Der Moment, in dem Saussure den Gipfel betrat, wurde ebenso eifrig kommen-tiert wie der erste Schritt auf dem Mond durch Neil Armstrong im Jahr 1969. Der aquarellierte Stich von Henri L’Evêque und die Aquatinta eines anonymen Künstlers führen gemeinsam die zwei Höhepunkte des Genfer Mont Blanc-Durchbruchs vor Augen, über den in ganz Europa berichtet wurde — nämlich der Aufstieg und der Abstieg nach Chamonix. Sie illustrieren zugleich die am Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchliche Ausrüstung.

Diese Epoche markiert auf vielfältige Weise den Beginn der Modernität. Zwei Jahre nach der Erstbesteigung des Mont Blanc durch Saussure erfolgte in Paris der Sturm auf die Bastille (1789). Der Alpinismus und die Französische Revolution wurden in dieser Gefängniszelle gleichsam zusammengeführt, um den Bezug zwi-schen Eroberung der Gipfel und Gleichheitsstreben des Volkes aufzuzeigen. Dies geschah zu einer Zeit, in der die Bevölkerung es allmählich wagte, zu demonstrieren und so neue Rechte einzu-fordern. Die in der boulangistischen Zeitung La Bombe erschie-nene Karikatur des Illustrators Paul de Sémant gedenkt dieses revolutionären Sieges einhundert Jahre später. Die Trommel mit dem Wappen der Französischen Revolution hebt die Eroberung dieses zuvor unerreichbaren Symbols zusätzlich hervor.

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Dritter Stock

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II. Eine Wahl treffen

Laufen war lange Zeit das Merkmal eines nied-rigen sozialen Status. Während der zahlreichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts wurde das Lau-fen im Kontext von Demonstrationen dann zu ei-nem Werkzeug, mit dessen Hilfe Forderungen öffentlich geäußert werden konnten. Heute gilt das Demonstrieren auf der ganzen Welt als weit verbreitetes demokratisches Instrument, um auf Führungsschichten Druck auszuüben und gegen autoritäre Auswüchse zu kämpfen. Meistens sind es pazifistische Demonstrierende oder Protestie-rende, die sich aufmachen und sich für Unabhän-gigkeit, Demokratie, Menschenrechte oder Rede- und Meinungsfreiheit einsetzen.

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Dritter Stock

Video Box

Widersetzen

Gehorchen

Mobilisieren

Zum Schluss

Douglas Gordon

Joëlle Allet

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Engagieren

Vermittlungsecke

Thomas Flechtner

Joseph Beuys

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Engagieren

Die Videoarbeit Zapatos Magneticos (Magnetische Schuhe) von Francis Alÿs suggeriert, dass der Einsatz des Körpers auf der Strasse einen Ertrag erbringen kann. Die magnetischen Schuhe, mit denen der Künstler durch Havanna marschiert, ziehen klei-ne metallische Gegenstände an (Nägel, Münzen, Abfälle), die das Laufen erschweren. Trotzdem setzt er unbeirrt seinen Weg fort.

Rund um diesen ungewöhnlichen Spaziergänger themati-siert die Tapete — eine Replik des riesigen Bildes Il Quarto Stato (Der Vierte Stand) von Giuseppe Pellizza da Volpedo — den so-zialen Kampf und die Streiks in Italien am Anfang des 20. Jahr-hunderts. Der italienische Künstler verschreibt sich der marxisti-schen Denkweise, nach der sich die Kunst um die soziale Realität kümmern muss. In sogenanntem divisionistischen Stil setzt er sich mit dem Arbeiterstreik des piemontesischen Dorfs Volpe-do auseinander. Weder Banderolen noch Fahnen überbringen die politische Botschaft, sondern das entschiedene Vorschrei-ten der proletarischen Menschenmassen — wobei der Künstler jeden konkreten geschichtlichen Bezug vermeidet. Das Bild ist eine Allegorie der Armut und der Emanzipation des Volks nach der Gründung der Sozialistischen Partei Italiens im Jahr 1892.

In den 1970er Jahren griff Joseph Beuys dasselbe Bild in ei-nem fotografischen Selbstbildnis nochmals auf: in La Rivoluzione siamo Noi (Wir sind die Revolution), jedes Individuum trägt die Verantwortung für Veränderung, hinter dem «Ich» versteckt sich ein «Wir». Aus diesem Grund ist es wichtig, sich für die politische und künstlerische Weiterentwicklung der Gesellschaft einzuset-zen. Beuys’ Blick und Grösse verleihen den Eindruck, dass er vol-ler Tatendrang den Rahmen sprengen will und uns einladen wird, mit ihm zu marschieren.

In der Zeit, als sich Beuys besonders engagierte und sich un-ter anderem an der Gründung der Grünen Partei Deutschlands beteiligte, fanden zahlreiche Demonstrationen zum Naturschutz statt. Dieser ist aus den Fotografien ersichtlich, die Philippe Sch-mid im Wallis machte. Sie entstanden anlässlich eines Protests gegen die Atombombe (1962) und während einer Demonstration gegen den Bau der Walliser Autobahn (1978).

Folgen Sie dem Automaten und treten Sie ein in die Video Box, in der Sie das Werk der Filmemacherin Sylvie Cachin ent-decken können.

Dritter Stock

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Widersetzen

Mahatma Gandhis berühmter Salzmarsch (1930) hat mit den von Martin Luther King in den 1960er Jahren geführten gewaltlosen De-monstrationen die Idee des «sozialen Ungehorsams» gemein. In Anlehnung an die Theorie Henry David Thoreaus, eines amerikani-schen Schriftstellers des 19. Jahrhunderts, für den das Laufen ein Mittel war, die körperliche und mentale Freiheit zu würdigen, wird in diesem Teil der Ausstellung das Marschieren im Namen des Unge-horsams anhand von verschiedenen Gegenstände dargestellt.

Der in der Vitrine liegende und mit napoleonischen Motiven de-korierte Stock des Déserteurs erinnert an die Reisen von Charles-Frédéric Brun, dem «elsässischen Bettler», der aus unbekannten Gründen aus dem Elsass floh und sich im Wallis niederliess. Ein Vergleich mit dem Vagabond von Théophile Steinlen, der die No-velle von Maupassant illustrierte, lässt die Einsamkeit der Personen erkennen, die am Rande der Gesellschaft leben. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war die Landstreicherei gesetzlich verboten. Vagabunden wurden entweder gefangengenommen oder interniert.

Das Marschieren gilt als weit verbreitetes subversives Werk-zeug, um Grenzen zu überschreiten und die verschiedensten Ge-biete zu durchreisen; um Kategorien abzuschaffen, die ein Territori-um regulieren; um seinen Weg selber und unabhängig von etwaigen Hindernissen zu bestimmen. Als Louis Soutter aus dem Juras-ser Altersheim von Ballaigues weglief und bis ins Wallis wanderte, zeichnete er in einem Schulheft mit einer Feder und energischen, für diese Schaffensphase typischen Strichen eine Landschaft aus weitverzweigten Ästen. Als Hamish Fulton den Mount Everest (8’850 m) bestieg, schritt er mit einer tibetanischen Fahne – ein von der Republik China verbotenes Symbol – über die politische Grenze zwischen Nepal und Tibet. Das Werk Chomolungma (das tibetische Wort für Mount Everest) erhebt sich gegen die Zensur und kann als künstlerischer und politischer Akt des Ungehorsams interpretiert werden, der dem sakralen Bild des Kailash seinen Wert zurückgibt. In einem Interview von 2004 äusserte sich Fulton über die Notwen-digkeit «gegen oder für etwas zu marschieren».

Falls Ihr Fuss kribbelt und Sie das Werk von Christian Robert- Tissot in Verlegenheit bringt, setzen Sie Ihren Weg fort.

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Colonne Morris

Im 19. Jahrhundert entstanden die ersten wichtigen Studien über das Laufen. Im Bereich der Literatur publizierte Honoré de Balzac die Théorie de la démarche (1833), einige Jahre vor dem grundlegenden Text Walking (1862) von Henry David Tho-reau; im Bereich der medizinischen Wissenschaften analysierte Etienne-Jules Marey die menschliche Fortbewegung dank un-zähliger Chronofotografien, während Gilles de la Tourette im Spi-tal La Salpêtrière in Paris das Werk Etudes cliniques et physiolo-giques sur la marche (1886) veröffentlichte; in der visuellen Kunst leitete Auguste Rodin mit dem Schreitenden Mann (gegen 1900) eine wichtige Wende ein.

Die Litfaßsäule stammt aus einem Zeitalter, in dem die Stra-sse als Ort der Veränderungen schlechthin galt. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an trafen sich in Paris geschäftige Passanten, Händler und Schaulustige auf den breiten Bürgersteigen der Haussmannschen Boulevards und vor Werbeplakaten. Entde-cken Sie die Zeitungstitelseiten aus der Zeit um 1900, insbeson-dere die ausgewählten Karikaturen der zum Anarchismus nei-genden Zeitschrift L’Assiette au Beurre, für welche Théophile Steinlen zahlreiche Zeichnungen schuf.

In diesem Zusammenhang kommt dem Spaziergänger eine besondere Rolle zu. Sei es bei Gavarni oder Caillebotte, bei Poe oder Baudelaire: der inmitten von Menschenmengen herumspa-zierende Mann erscheint als eine allgegenwärtige Grossstadt-figur. Er treibt sich allein herum, beobachtet seine Umwelt und «botanisiert auf dem Asphalt». Den kapitalistischen Systemen, die solche Untätigkeit zutiefst verabscheuen, ist er zuwider.

Gehorchen

Das Herumspazieren verschwindet, sobald zerstörerische Ideologien zum Krieg führen. Statt als Ausdrucksmittel der Bevöl-kerung gegenüber Machthabern zu dienen, wird das Marschie-ren zu einem Instrument des Gehorsams und der Manipulation zugunsten von Armee und Diktaturen. Der Schock des Konflikts endet im Trauma, zuweilen mit Verlust der Mobilität, hier ausge-drückt als das Leiden des in der Videoarbeit von Douglas Gor-don sichtbaren Manns. Der Künstler bedient sich des Fragments eines medizinischen Films, in dem ein «Kriegszitterer» aus dem Ersten Weltkrieg zu sehen ist. Obwohl der Patient körperlich ge-sund scheint, kann er sich infolge seiner psychischen Versehrt-heit nicht mehr selbst auf den Beinen halten. Der verlangsam-te Filmabschnitt wiederholt ununterbrochen, was das Gefühl eines endlosen Kampfes verstärkt. Überdies wird der Film auf einen Bildschirm projiziert, der von einer Kolonne gestützt wird.

Dritter Stock

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Diese Art Krücke schafft eine Verbindung zu den Denkstützen von Joëlle Allet, welche das Thema zusätzlich beleuchten.

Aufgebrachte Menschenmassen und Volksbewegungen stellen für diejenigen, die Herr der Lage sein möchten, eine Be-drohung dar, wie es das Buch Psychologie des foules (1895) von Gustave Le Bon zeigt. Dies illustriert die Karikatur von Bruno Paul, in der drei Sozialklassentypen dargestellt werden («der Pö-bel, die Masse, das Volk»), die der Staat mittels Waffen und Mi-litärparaden kontrollieren möchte. Die regelmäßig Jahr für Jahr organisierten Festzüge (Musikgesellschaften, Fasnacht, religiöse Prozessionen) ähneln Militärparaden, wie in einer Fotografie der Feier zu Ehren des Heiligen Georg in Chermignon von Philippe Schmid ersichtlich. Die eigenartige Siderser Kinderfasnacht von 1959 erinnert uns daran, dass sich die Emanzipation der Frauen kontinuierlich neu erfinden muss, um bestehen zu bleiben.

Missbrauchen Herrscher ihre Macht, laufen andere an ihrer Stelle. Die Sänfte mit dem Wappen der Familie de Courten (Ende des 17. Jahrhunderts) gemahnt an die Zeit, als die soziale Hier-archisierung das Tragen von Personen legitimierte. Die zwei ne-benstehenden Werke erinnern an den Streik der Aluminiumfabrik von Chippis von 1917. Die Direktion hatte ihren Arbeitern verboten, an der Bewegung teilzunehmen. Die allgegenwärtige Todesfigur im aus der Reihe Danse Macabre stammenden Holzschnitt von Edmond Bille denunziert den Zynismus der Führer. Indem Bille das Werk La Ronde des prisonniers von Van Gogh zitiert, bezeich-net er die Fabrik als «Kriegsinstrument im Dienste des Deutschen Militarismus und Imperialismus». Die Vitrine Ex-Voto Homo Faber von Robert Ireland versucht, den Mangel an Bildern des ge-scheiterten Chippiser Streiks zu kompensieren. Seine Fäuste aus Aluminium symbolisieren den Arbeiterkampf und die Ohnmacht gegenüber dem Zwang zum Gehorsam.

Drehen Sie sich um und fühlen sich frei, zur bunten Wand hin-zugehen.

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Dritter Stock

Mobilisieren

Eine sich mobilisierende Menschenmenge drückt ihr Be-dürfnis nach Veränderung aus. Sie ist wie ein Körper, der sich in Bewegung setzt und so seine Position im Raum verändert. Ein Aufmarsch zur Wiederherstellung der Demokratie oder der Ge-rechtigkeit erfordert die Kraft der ganzen Gruppe*. Das Marschie-ren organisiert die Wut und kanalisiert Gewalt.

In der Schweiz stellt man sich häufig vor, dass Protestbewe-gungen oder Streiks unüblich seien. Gemeinsam mit der Neut-ralität und der direkten Demokratie charakterisiert das Bild eines von Konflikten verschonten Landes die nationale Geschichte. In Wirklichkeit gehören Streiks und Arbeiteraufstände seit dem 18. Jahrhundert zur Geschichte des Landes. L’Orateur von Eugène Gilliard stellt einen zu sozialistischen Ideen bekehrten intellek-tuellen Bürger dar, wie an seiner Kleidung und der roten Fahne im Hintergrund zu erkennen ist. Dieser richtet seine Worte von einem Rednerpult aus an eine dicht gedrängte Menschenmenge. Als Schöpfer von sozialen Bildern, wie beispielsweise La Grève, stand der Künstler gegen 1900 in direktem Kontakt zu den Arbei-terkreisen.

Um 1953, anlässlich des Bauernaufstands von Saxon, er-hoben sich die Schweizer Landwirte gegen den Import von aus-ländischen Früchten, die den Schweizer Markt übersättigten. Sie fielen über die Eisenbahngesellschaft her, setzten Wagen in Brand und verstreuten deren Inhalt auf die Gleise, um den Ver-kehr lahmzulegen. Der Aufruhr sorgte für Schlagzeilen, obwohl er weniger als 24 Stunden dauerte. Der Frauenstreik der Fabrik Rhodanus in Naters von 1991 dauerte nur eine Stunde. Die fronta-le Aufnahme von René Ritler zeigt vor allem italienische Grenz-gängerinnen, die, mit Bannern ausgerüstet, bei ihrem Arbeitsge-ber einen würdigeren Lohn beanspruchten.

Gegenüber verleiht die Installation von Javier Gonzalez der Mobilisierung einen Hauch von Poesie. Dieser Student der ECAV bat seine Kollegen, in ihrer Heimatstadt den Himmel zu fotogra-fieren. Die entstandenen Bilder wurden auf Plakate gedruckt. Die Gruppe lief dann in der Stadt Siders umher und demonstrierte für die Gleichheit des Himmels für alle. Mit diesem Werk hinterfragt der Künstler auf suggestive Art und Weise den Begriff der Grenze und die physischen und künstlerischen Migrationswege unserer Zeit.

* Die politische Partei En Marche!, die ein politisches Schlagwort aus den 1960er Jahren wiederaufnimmt und 2016 in Frankreich von Emmanuel Macron gegründet wurde, illustriert dieses Phänomen, obwohl das Marschieren im Grunde genommen nicht ausgeübt wird.

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Félix Vallotton (1865-1925), Die Demonstration, 1893Holzschnitt, 23 × 33.5 cmGenf, Abteilung für grafische Künste, Museen für Kunst und Geschichte© Musées d’art et d’histoire de Genève Photo: André Longchamp

Mit dem Druck von Félix Vallotton, in dem die flüchtenden Demonstranten womöglich einer Gefahr oder einer behördli-chen Repression aus dem Weg gehen, gelangen Sie zum Ab-schluss der Ausstellung. Die von hinten aus einer ungewöhn-lichen Perspektive dargestellte Menschenmenge löst sich auf. Ihr weiteres Bestehen ist unsicher. Eine weiss gekleidete Frau schiebt einen Kinderwagen, während ein alter Herr seinen Zy-linderhut verliert.

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Zum Abschluss

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Ihre Schritte führten Sie zu diesem letzten Raum, in dem die Idee illustriert wird, dass man beim Gehen in der Welt Spuren hinterlässt. Gla-ser Grat von Thomas Flechtner baut auf der Spur des Künstlers auf, die er auf einem verschneiten Berg in der Nähe von Thusis im Kanton Graubün-den zurückliess. Am Tag durchlief Fletchner die-ses Gebiet mit seinen Skiern und zeichnete so seine an das Werk Spiral Jetty des amerikanischen Künstlers Robert Smithson erinnernde Form. Bei Nacht, ausgerüstet mit einer Lichtquelle, folgte er seiner einem riesigen Fingerabdruck gleichenden Spur, um das Licht festzuhalten. Die Lichtwirkung erzielte er durch eine lange Belichtungszeit.

Je nach Kraft, mit der wir vorwärtsschreiten, kann der Boden unter unseren Füssen beben — sei es im eigentlichen wie im übertragenen Sinn. Eine Fotografie von Raymond Schmid zeigt die religi-öse Prozession, mit der man dem Walliser Erdbe-ben von 1946 ein Ende setzen wollte. Mitten in den Rebbergen wendet sich der Zug an Himmel und Erde. Zum Schluss verleiht der Seismograph von Rafael Lozano-Hemmer dem Thema eine neue und breitere Dimension. Diese Maschine spürt die Vibrationen der Erde sowie der Schritte der Besu-cher auf (mittels eines Kurvenschreibers). Sobald sich ein Beben bemerkbar macht, zeichnet sie das Bildnis des portugiesischen Philosophen Francisco Sanchez, genannt «der Skeptiker» und Autor des Werks Dass nichts gewusst wird (1576). Auch wenn das Endresultat immer dasselbe ist, entsteht es auf verschiedene Weise, denn der Seismograph hin-terlässt seine Spuren in zufälliger Reihenfolge.

Hängen Sie das Porträt an die Wand oder nehmen Sie es mit als Andenken an diesen Spaziergang!

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Programm

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Unterwegs: Ein Schritt eine Richtung Austellung von 3. Juni 2017 auf 7. Januar 2018 Le Pénitencier, Sion

3. Juni um 15.00 Uhr Kollektiver Fussmarsch mit Hamish FultonTreffpunkt auf der Place de la MajorieEinem breiten Publikum zugänglich, gratis

11. Juni, 13. August, 8. Oktober um 15.00 Uhr Land art-Spaziergang mit Séverine Debons,WanderleiterinEinem breiten Publikum zugänglich

25. Juli um 21.30 UhrFilmvorführung Selmavon Ava DuVernay im Rahmen des Open Air Cinéma auf der Place de la MajorieVerlängerte Öffnungszeiten im Pénitencier und im Kunstmuseum bis 21.30 Uhr

10. SeptemberFührung auf Französisch um 15.00 Uhr Führung auf Deutsch um 16.30 UhrCéline Eidenbenz,Ausstellungskommissarin

24. September um 15.00 UhrSpaziergang Körper & Landschaft mit Gregory Stauffer, Tänzer-Performer

6. Oktober um 19.00 UhrFilmvorführung La Parade (notre histoire) von Lionel Baierund Diskussionsrunde

1. Dezember um 19.00 Uhr DiskussionsabendLaufen, ein Risiko eingehen?

Führungen für Gruppen auf Anfrage. Rundgänge für Schulklassen aller Stufen.Infos und Anmeldungen: 027 606 47 [email protected] Infos:www.musees-valais.ch

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Konzept und Realisierung:Kunstmuseum Wallis Céline Eidenbenz (Direktion und Texte) Aurélie Fernandez (Koordinierung)Isabelle de le Court, Muriel Eschmann, Jeremy Gafas und Alexia Ryf (wissenschaftliche Zusammenarbeit)Valérie Marty und Laura Salamin (Inventar) Emilie Bruchez (Praktikantin)

ÜbersetzungMuriel Constantin Pitteloud (D)Jean-Marie Clarke (E)Robert Lindenberg (D)

FotografieAndré LongchampAnnik Wetter

Grafische GestaltungJohanne Roten & Louisa Gagliardi

DruckValmedia, Sion

Herausgegeben im Rahmen der Wechselausstellung Unterwegs: Ein Schritt eine Richtung

Unser Dank geht an:Naturmuseum WallisNicolas Kramar (Direktion)Hikmat Halabi (Inventar)

Geschichtsmuseum WallisPatrick Elsig (Direktion)Samuel Pont (Konservierung)Mélanie Mariéthoz (Administration)Fabienne Defayes, Sabine Frey (Inventar)

Lötschentaler MuseumThomas Antonietti (Konservierung)

Mediathek Wallis – Martinach Sylvie Délèze (Direktion) Mathieu Emonet (Information und Dokumentation)

Walliser KantonsmuseenDirektion und Administration

Pascal Ruedin (Direktion) Zita Broccard, Nathalie Huguet, Brigitte Zen-Ruffinen und Isabelle Racine (Administration) André Cherix und Emile Roduit (Logistik)Albert Stalder (Sicherheit)Fabien Lenzser (Praktikant)

Kommunikation und PromotionLine Dayer (Kommunikation) Joanna Vanay (Promotion und Marketing)

Sammlungen und TechnikRomaine Syburra (Verantwortliche) Marianne Heinen (Museologie) Dominique Bianco, Jean-Claude Brochellaz, Thierry Mertenat, Rodolphe Rauber und Alexandre de Torrenté (Technik) Muriel Pozzi (Fotothek)

Publika und KulturvermittlungJosé Coquin, Sylvie Delacroix, Bernadette Loretan Gatti, Chantal Rosset (Empfang) Ursina Balmer, Séverine Debons, Audrey Fumeaux, Jeremy Gafas, Fleur Heiniger, Laurence Laffargue, Anja Martinez, Alexia Ryf, Annick Vermot (Kulturver-mittlung & Führungen)

MediamatikJonathan Cotter (Verantwortlicher)Rémy Goujon (Lehrling)

Mit der Unterstützung von

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Eine Ausstellung desKunstmuseums WallisVon 3. Juni 2017 auf 7. Januar 2018 Le Pénitencier Rue des Châteaux 24, 1950 SittenDi — So : 11.00 — 17.00 (Juni bis September: 18.00)Schliessung um 16.00 am 24. und 31. Dezemberwww.musees-valais.ch

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