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HEGEL-STUDIEN / BAND...HEGEL-STUDIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste herausgegeben von walter jaeschke

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  • HEGEL-STUDIEN / BAND 45

  • HEGEL-STUDIEN

    In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste

    herausgegeben von

    walter jae schke und ludwig s ie p

    band 45

    2010

    felix meiner verlaghamburg

  • © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. ISSN 0073-1578

    Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nach drucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Ver-vielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrück-lich gestat ten. Satz: Marcel Simon-Gadhof. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Münzer“, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei ge-bleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

  • INHALT

    TEXTE UND DOKUMENTE

    E rn st - O t to O nnasc h

    Ein neuer Brief Hegels an die Gebrüder Ramann in Erfurt ................. 11

    MISZELLE

    Pete r K r i e g e l

    Eine Schwester tritt aus dem Schatten. Überlegungen zu einer neuen Studie über Christiane Hegel ................................................... 19

    ABHANDLUNGEN

    B i rg i t Sandkaule n

    „Die Seele ist der existierende Begriff.“ Herausforderungen philosophischer Anthropologie ........................................................... 35

    B e nno Z ab e l

    Fichtes Recht und Hegels Staat. Anmerkungen zu einer philosophischen Debatte des Deutschen Idealismus ............................. 51

    Ste phan K ra f t

    Hegel, das Unterhaltungslustspiel und das Ende der Kunst. Zur Rezension von Ernst Raupachs Lustspiel „Die Bekehrten“ und zur Stellung der modernen Komödie in Hegels Ästhetik .............. 81

  • 6 Inhalt

    C h r i stoph e B outon

    Die helle Nacht des Nichts. Zeit und Negativität bei Hegel und Heidegger. ......................................................................... 103

    LITERATURBERICHTE UND KRITIK

    Mariafi lomena Anzalone: Volontà e soggettività nel giovane Hegel. [Wille und Subjektivität beim jungen Hegel.] (Maria Letiza Pelosi, Napoli) .................................................................... 125

    Klaus Vieweg / Wolfgang Welsch (Hgg.): Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne (Rainer Adolphi, Berlin) ........................................................................... 129

    Ryosuke Ohashi: Die Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre. Hegel und die Phänomenoetik der Compassion (Eveline Ciofl ec, Bucharest) ............. 142

    Francesca Iannelli: Oltre Antigone. Figure della soggettività nella „Fenome-nologia dello spirito“ di G. W. F. Hegel. [Über Antigone hinaus. Gestal-tungen der Subjektivität in Hegels „Phänomenologie des Geistes“.] (Gabriella Baptist, Cagliari) ...................................................................... 146

    Erzsébet Rózsa: Hegels Konzeption praktischer Individualität. Von der „Phänomenologie des Geistes“ zum enzyklopädischen System (Kai-Uwe Hoffmann, Berlin) ................................................................... 148

    Chong-Fuk Lau: Hegels Urteilskritik. Systematische Untersuchungen zum Grundproblem der spekulativen Logik (Lucia Ziglioli, Pavia) ............ 154

    Italo Testa: La natura del riconoscimento. Riconoscimento naturale e ontologia sociale in Hegel (1801–1806). [Die Natur der Anerkennung. Natürliche Anerkennung und Sozialontologie bei Hegel (1801–1806).] (Filippo Ranchio, Venezia / Frankfurt a. M.) ........................................................... 158

    Luigi Ruggiu / Italo Testa (Eds.): Lo Spazio Sociale della Ragione. Da Hegel in Avanti. [Social Space of Reason. From Hegel onwards.] (Eleonora Montuschi, London) ................................................................ 163

    Takeshi Gonza: Hegel ni okeru Risei, Kokka, Rekishi. [Vernunft, Staat und Geschichte bei Hegel.] (Keiji Sayama, Sapporo) ........................................ 166

    William E. Conklin: Hegel’s Laws. The Legitimacy of a Modern Legal Order (Alfredo Bergés, Bochum) ........................................................................ 169

  • Inhalt 7

    Hans-Christoph Schmidt am Busch: Religiöse Hingabe oder soziale Freiheit. Die saint-simonistische Theorie und die Hegelsche Sozialphilosophie (Wolfgang M. Schröder, Tübingen) ........................................................... 174

    Alberto L. Siani (Ed.): G. W. F. Hegel: L’Arte nell’Enciclopedia. [Die Kunst in der Enzyklopädie.] (Markus Ophälders, Milano) ....................................... 176

    Annemarie Gethmann-Siefert / Lu De Vos / Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hgg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste (Niklas Hebing, Bochum) ........................................................................ 181

    Annemarie Gethmann-Siefert / Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hgg.): Zwischen Philosophie und Kunstgeschichte. Beiträge zur Begründung der Kunstgeschichtsforschung bei Hegel und im Hegelianismus (Annika Döring, Bochum) ........................................................................ 186

    Holger Gutschmidt: Vernunfteinsicht und Glaube. Hegels These zum Bewusstsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801 (Wolfgang M. Schröder, Tübingen) ............................................................................................... 189

    Franco Biasutti: Momenti della fi losofi a hegeliana. Ethos, Arte, Religione, Storia. [Momente der Hegelschen Philosophie. Ethos, Kunst, Religion, Geschichte.] (Gabriella Baptist, Cagliari) ................................................... 191

    Angelica Nuzzo (Ed.): Hegel and the Analytic Tradition (Elena Ficara, Berlin) ..... 193

    Martin Hundt (Hg.): Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, der Deutschen und der Deutsch-Französischen Jahrbücher (1837–1844). 3 Bände (Michael Quante, Münster) ...................................................................... 197

    Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte. Kommentar von Michael Quante (Andreas Arndt, Berlin) ................................................................ 202

    Klaus-M. Kodalle / Tilman Reitz (Hgg.): Bruno Bauer (1809–1882). Ein „Partisan des Weltgeistes“? (Andreas Arndt, Berlin) .............................. 208

    Birgit Sandkaulen / Volker Gerhard / Walter Jaeschke (Hgg.): Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels (Volker Rühle, Hildesheim / Madrid) .................................................................... 214

    Wolfgang Janke: Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre (Patrick Tschirner, Hagen) ......... 220

    Giuseppe Cantillo / Giannino Di Tommaso / Vincenzo Vitiello (Eds.): Logica ed esperienza. Studi in ricordo di Leo Lugarini. [Logik und Erfahrung. Studien zum Gedenken an Leo Lugarini.] (Christian Belli, Roma) ............ 226

  • 8 Inhalt

    B IBLIOGRAPHIE

    Abhandlungen zur Hegel-Forschung 2009Zusammenstellung und Redaktion: H olg e r G l i nka ( B oc h um ) ............................................................. 231

    Nachträge zum Berichtszeitraum 2006 .............................................................. 252Nachtrag zum Berichtszeitraum 2007 ................................................................ 259Nachträge zum Berichtszeitraum 2008 .............................................................. 272

    Autoren ............................................................................................................. 285

    Siglenverzeichnis ............................................................................................... 9

  • SIGLEN

    AA Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der König-lich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff.

    AA Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wis-senschaften herausgegeben von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings und Hermann Zeltner. Stuttgart 1976 ff.

    B Briefe von und an Hegel. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister und Rolf Flechsig bzw. Friedhelm Nicolin. Hamburg 1960–1981.

    GA Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Herausgegeben von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 ff.

    GW Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rhei-nisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff.

    KFSA Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Pader-born / München / Wien 1958 ff.

    KGA Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Berlin / New York 1980 ff.

    SW Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke. Herausgege-ben von K. F. A. Schelling. Stuttgart und Augsburg 1856–1861.

    TWA Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970.

    V Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen. Ausgewählte Nach-schriften und Manuskripte. Hamburg 1983 ff.

    W Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832–1845.

  • TEXTE UND DOKUMENTE

    e nr st - ot to onnasc h

    EIN NEUER BRIEF HEGELS AN DIE GEBRÜDER RAMANN IN ERFURT*

    Vor kurzem hat mein Kollege Erik-Jan Bos einen verschollenen Brief von Des-cartes an Marin Mersenne in der Bibliothek des Haverford College (Pennsylvania, USA) wiederaufgefunden.1 Er wies mich darauf hin, daß sich in der Briefsamm-lung von Charles Roberts (1846–1902), die dieser bei seinem Tode seiner Alma Mater vermacht hatte, vermutlich auch ein Brief Hegels befände. Meine Nach-forschungen führten zu dem Fund eines bislang tatsächlich unbekannten Briefs Hegels an die Brüder Ramann in Erfurt.2

    Der Brief betrifft eine Weinbestellung bei der Firma Ramann in Erfurt. Be-trieben wurde die Weinhandlung von Christian Heinrich (1764–1816), später zusammen mit seinem Bruder Ephraim Ramann. Offenbar hat die Firma Ra-mann die Korrespondenz mit ihren Kunden bestens aufbewahrt, denn im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts taucht eine beträchtliche Anzahl von Briefen der großen Dichter und Denker aus Weimar und Jena im Manuskript- und An-tiquariatshandel auf, wie etwa Briefe von und an Goethe,3 Wieland, Schiller, aber auch von Schelling4 oder den Brüdern Schlegel. Diese Briefe dürften alle

    Hegel-Studien 45 (2010) · © Felix Meiner Verlag · ISSN 0073-1587

    * Diese Untersuchung ist zustande gekommen dank der Unterstützung des Autors durch die Niederländische Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO). Besonders danke ich Herrn Prof. Dr. Michael Franz (Tübingen) und Frau PD Dr. Annette Sell (Bochum, Hegel-Archiv) für ihre hilfreichen Hinweise.

    1 Siehe z. B.: New York Times. 25. Februar 2010. C1. – Erik-Jan Bos, Two Unpublished Letters of René Descartes: On the Printing of the Meditations and the Groningen Affair, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 92 (2010), 290–302.

    2 Der Brief befi ndet sich in der Charles Roberts Autograph Letters Collection. Ich danke dem Head of Special Collections des Haverford College, John F. Anderies, für die überaus freundliche Zusammenarbeit sowie für die Erlaubnis, den Brief hier mitteilen und abdrucken zu dürfen.

    3 Goethe hat zwischen 1798 und 1826 bei den Erfurtern Wein, Champagner und andere Spi-rituosen eingekauft, davon verzeichnet die Datenbank der Klassik Stiftung Weimar zwischen 1798 und 1826 25 Briefe von Goethe, und zwischen 1800 und 1816 43 Briefe an Goethe.

    4 Zwischen Oktober und Dezember 1802 sind von Schelling fünf Briefe belegt. – Siehe: Schelling: AA. Briefe 2. Briefwechsel 1800–1802. Herausgegeben von Thomas Kisser. Stuttgart-

  • 12 E nr st - O t to O nnasc h

    aus dem Firmenarchiv stammen. Überliefert ist nämlich, daß bald nach dem Tode Goethes verschiedene Zeitungen darüber berichteten, daß die Erfurter Weinhandlung „eine große Sammlung Goethebriefe besitze“, die alsdann „von Geschäftsfreunden und anderen Bekannten des Weinhauses erbettelt“5 wurden. Wie viele solcher Briefe die Weinhandlung besaß, läßt sich aus der Tatsache ermessen, daß die Firma 1900 noch einen kleinen Prospekt drucken kann, in dem „etliche Weinbestellungen der Weimarer Dichter abgedruckt und facsimi-liert“6 sind.

    Es läßt sich nicht mehr feststellen, von wem Charles Roberts den hier mit-geteilten Brief erstanden hat. Es liegt aber auf der Hand, daß auch er aus dem Archiv der Firma Ramann stammt. Wie aus dem englischsprachigen Eintrag in Blei auf der Adreßseite hervorgeht, hat Roberts den Brief vermutlich für 20 Mark erstanden.

    Auch von Hegel sind eine beträchtliche Anzahl Briefe an den Erfurter Wein-händler erhalten.7 In der Hoffmeister-Ausgabe der Briefe Hegels sind im ersten Band drei Briefe vom 8. August 1801 (Nr. 30), 25. Mai 1802 (Nr. 35) und vom 2. Juli 1802 (Nr. 36) überliefert;8 im 4. Band werden noch vier weitere Brie-fe vom 5. April 1803 (Nr. 36a), 28. November 1803 (Nr. 43a), 9. Februar 1806 (Nr. 58a, nur belegt) und vom 18. August 1806 (Nr. 67a) nachgetragen.9 Sicher nicht zu unrecht bezeichnet Georg Lasson diese Briefe als ein „amüsantes Ge-genstück“ zu den philosophischen Briefen Hegels. Sie zeigen uns Hegel in besseren fi nanziellen Verhältnissen. Zum einen deshalb, weil französische Weine damals erheblich teurer waren als deutsche. Zum anderen, weil die ca. 70 Liter Bordeauxwein, die Hegel in dem hier vorgestellten Brief bestellt, zwei Mona-te später, d. h. Ende November, bereits weggetrunken sind. Am 28. November 1803 ordert Hegel in Erfurt nämlich einen halben Eimer bzw. etwa 35 Liter französischen Weißwein (Brief 43a). Wegen der plötzlichen Umstellung von Rot- auf Weißwein könnte man sogar vermuten, daß es vor dieser November-bestellung noch eine Bestellung gibt, die diesen Wechsel motiviert.

    Bad Cannstatt 2010. – Der editorische Bericht zu den Ramann-Briefen ist extrem knapp und bietet keine Hintergrundinformationen. Ebensowenig fi nden sich in den Anmerkungen inhalt-liche Mitteilungen zu den Briefen.

    5 Siehe dazu: Hans Werner Rothe: Goethes Erfurter Weinlieferant und vom Erfurter Weinbau. – In: Das Weinblatt. Neustadt. 43/44 (1949), 262–265.

    6 Siehe dazu den Bericht von Ernst Müller in: Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschich-te. Berlin. 13 (1906), 2, 591–603; hier: 593. – Ich habe die kleine Broschüre leider nicht konsultie-ren können. Die einzigen Exemplare befi nden sich meines Wissens in der Universitätsbibliothek von Erfurt, Standort FB Gotha, Sign. Buch 4º 00172/04 (Magazin), sowie der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, Sign. G 1710 (Magazin), ein weiteres Exemplar ibid., Sign. 2695.

    7 Ein frühester Bericht über zwei solcher Briefe stammt von: Georg Lasson: Beiträge zur Hegel-Forschung. 2. Heft. Berlin 1910. 48 f.

    8 Siehe: Hegel: B 1, 63; 67 f. 9 Siehe: Hegel: B 4/2, 9; 12 f.

  • Ein neuer Brief Hegels an die Gebrüder Ramann in Erfurt 13

    In dem hier vorgestellten Brief vom 19. September 1803 bestellt Hegel ei-nen Eimer „Pontak“. Einen solchen Wein – und zwar ebenfalls einen Eimer – bestellte er auch im Vorjahr, nämlich am 2. Juli 1802 bei den Ramanns.10 Pontac ist die damalige Bezeichnung für einen tiefroten und auch sehr guten Bordeauxwein.

    Der Name Pontac ist ein Familienname, der bis ins 16. Jahrhundert zurück-geht, als Jean de Pontac (1488–1589) das heute so berühmte Château Haut-Bri-on gründet. Mit dem Wein- und Rebenhandel wurde die Familie Pontac bereits im 16. Jahrhundert steinreich. Auch die in Frankreich heute allerdings kaum noch angebaute tiefrote Rebsorte Pontac hat ihren Namen von dieser Familie. Bereits im 18. und 19. Jahrhundert ging der Anbau dieser Rebsorte stark zurück; die Pontac-Traube wird zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur noch als Zusatz verwendet, um Weine dunkler zu machen.

    Mit „Pontac“ (auch mit „k“ geschrieben) werden um 1800 in der Regel dunkle Bordeauxweine bezeichnet, besonders Weine aus dem Medoc sowie die schweren Rotweine aus dem Cahors.11 Um 1800 unterscheidet die deutsch-sprachige Weinliteratur Pontac und echten (veritable) Pontac. Der Weinkenner von 1800 schreibt dazu: „Pontac ist überhaupt der Name den verschiedene gedeckte rothe Weine in Frankreich führen. Aechter Pontac wird nur um den Ort desselben Namens gezogen. Er wurde sonst größtentheils für den Hof aufgekauft, und was davon übrigblieb, kauften die Engländer zu hohen Preisen begierig weg. Der Tonneau der besten Sorte gilt 2000 bis 2400 Livres.“ Nach diesem Weinführer folgt dem echten Pontac in Qualität der Medoc, dann der

    „Chateau Margaux …, hernach der Kahors, die dikste Sorte unter dem Pon-tac.“12 Echter Pontac war damals 3 bis 5 mal so teuer wie ein Haut-Brion.13 Ein anderes zeitgenössisches Wörterbuch der Warenkunde von 1806 schreibt: „Pontac nennt man aber in Frankreich überhaupt verschiedene gedeckte rothe Weine. Von diesen gibt es auch unter denen von Montauban in Quercy oft recht gute Sorten. Dieser wird in Barriques von 29 Veltes verkauft, hat einen ganz eigenthümlichen Geschmack, und geht über Bordeaux sehr viel nach England, Holland, Hamburg, Stettin u.s.w. Man schätzt ihn gewöhnlich um so höher, je dicker und gedeckter er von Farbe ist, und hält ihn überhaupt für einen gu-ten Magenwein, für sehr heilsam gegen Skorbut, Ruhr u. a. Uebel, daher er in

    10 Siehe: Hegel: B 1, 68 (Brief Nr. 36).11 Siehe: Johann Riem: Die Getränke der Menschen: oder Lehrbuch, sowohl die natürlichen, als auch

    künstlichen Getränke aller Art näher kennen zu lernen. Dresden 1800. 183.12 Siehe: Der Weinkenner. Ein Unterricht über Vaterland, Natur, Handel, Verbesserung und

    Verfälschung der Weine. Berlin 1800. 87 f. – Es ist nicht klar, ob es sich bei den Preisen um Groß-handelspreise oder Preise für den Endabnehmer handelt. Zum weiteren Vergleich kostete damals eine Flasche Champagner etwa einen Thaler.

    13 Siehe: Johann Riem. Die Getränke der Menschen … A. a. O. 181.

  • 14 E nr st - O t to O nnasc h

    Kriegszeiten vorzüglich stark für die Gegenden gesucht wird, wo Kriegsheere stehen.“14

    Bei Hegels Weinbestellung handelt es sich also um einen sehr guten Bor-deauxwein, aber nicht um einen echten Pontac, der damals in Erfurt vermut-lich auch nicht erhältlich war. Um die Jahrhundertwende wird freilich auch gefälschter Pontac gehandelt; ein dunkelroter Wein, versetzt mit Saft von Hei-delbeeren, Himbeeren und Holunderbeeren.15 Einen solchen Wein hat Hegel gewiß nicht bestellt. Denn, wie aus dem Brief vom 2. Juli 1802 (Nr. 36) hervor-geht, zahlte er für einen Eimer Pontac 26 Thaler, und das ist viel Geld, wofür man damals sehr guten Wein bekam. Man wird davon ausgehen dürfen, daß auch der Eimer, den Hegel in vorliegendem Brief bestellt, etwa gleichviel wird gekostet haben. Übrigens bestellte Hegel am 8. August 1801 einen Eimer Me-doc bei den Erfurtern für 24 Thaler (Brief Nr. 30), was nur 2 Thaler weniger ist, als er für den Pontac zahlte.

    Damals kostete eine Tonne echter Pontac 2400 Livres,16 das ist umgerechnet etwa 600 Thaler, womit ein solcher Wein auf etwa 54 Thaler pro Eimer käme (1 Tonne Wein ist ca. 800 Liter, bzw. ca. 11 Eimer von je ca. 70 Litern).17 Der erwähnte Margaux kostete die Hälfte eines echten bzw. veritablen Pontacs, was in etwa übereinstimmt mit der 1802 von Hegel bezahlten Summe für seinen Pontac.18 Hegel trank in Jena also nicht irgendwelchen, sondern sehr vorzügli-chen Bordeaux.

    In fast allen Briefen Hegels ist die Bezahlung für seinen Wein in irgendeiner

    14 Siehe: Gottfried Christian Bohns Waarenlager, oder Wörterbuch der Produkten- und Waarenkunde. Des wohlerfahrnen Kaufmanns zweyte Abtheilung. 1. Band. Herausgegeben von Gerhard Philipp Heinrich Norrmann. Hamburg 1805. 230. – Siehe auch: Ibid. Band 2. Hamburg 1806. Lemma: Pontac, 378. – Siehe ferner: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. 12. Band. Herausgegeben von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber. Leipzig 1824. Lemma: Bordeauxweine, 20: „Die schweren dicken Weine von Cahors führen in Teutschland gemeiniglich den Namen Pontac, aber der eigentliche Pontac wächst auf einem kleinen Districte um die Stadt Pontac, ist dunkel von Farbe, pikant von Geschmack, von sanftem Feuer und lieblichem Veilchengeruche; er kömt blos in den königli-chen Keller.“

    15 Siehe: Oekonomisch-technologische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte. Von Johann Georg Krünitz. 115. Theil. Berlin 1810. Lemma: Pontac, 101 f.

    16 Für eine Übersicht der damaligen Preise für französischen Wein siehe: Johann Riem: Die Getränke der Menschen … A. a. O. 180 f.

    17 Der Eimer ist ein Hohlmaß, das bis in die Antike zurückreicht, abgeleitet ist es von der Amphora. Zu den in Thüringen bzw. Erfurt verwendeten Hohlmaßen für Wein siehe: Münzen, Maße und Gewichte in Thüringen. Hilfsmittel zu den Beständen des Thüringischen Staatsarchivs Rudolstadt. Bearbeitet von Dr. Peter Langhof unter Mitwirkung von Jens Beger und Bernd Lip-pert. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt. Informationsheft 7. ³2006. 14.

    18 Nicht zum Vergleich, sondern nur als Beispiel kostet heute ein Chateau Margaux Grand Cru Classé aus dem Spitzenjahr 2005 etwa 1000 Euro; weniger gute Jahrgänge gibt es schon für 200 Euro (pro Flasche 0,7 Liter).

  • Ein neuer Brief Hegels an die Gebrüder Ramann in Erfurt 15

    Art und Weise immer ein Problem. Dasselbe Bild lassen übrigens auch die Briefe Goethes an den Erfurter Weinhandel erkennen. Auch er ließ anschreiben und zahlte oft abschlägig.19

    Hegels Ausgaben für Wein sind durchaus beträchtlich, besonders in Anbe-tracht seines ersten akademischen Gehalts in Jena, das 100 Thaler pro Jahr betrug (das war freilich zu wenig, um allein davon einen Haushalt bestreiten zu kön-nen).20 Daß er auch später noch beträchtliche Summen für seinen Wein ausgab, bestätigt sein Haushaltsbuch von 1811. Diesem zufolge gibt er in Nürnberg 100 Thaler an Wein aus, das sind fast ein Viertel der gesamten jährlichen Haushalts-kosten; nimmt man die anderen Genußmittel wie Kaffee und Schnupftabak mit hinzu – zusammen etwa 50 Thaler –, verbrauchte Hegel fast ein Drittel seines Gesamthaushalts – für 1811 waren das 479 Thaler – für Genußmittel.21

    Transkription und Papier

    Im folgenden liegt eine diplomatische Transkription des Briefes vor, wobei aus drucktechnischen Gründen das überstrichene m und n in mm bzw. nn aufge-löst ist. Antiquaschrift wird in der Transkription in serifenloser Schriftart dar-gestellt.

    Der Brief ist geschrieben auf gutem Papier (18,75 cm breit und 23,25 cm hoch). Dem Wasserzeichen zufolge stammt das Papier aus der Moschendorfer Mühle (Bayern bei Hof), die von Johann Albrecht Wunnerlich betrieben wurde. Hegels Gebrauch dieses Papiers ist für die Jenaer Zeit belegt.22

    Auf der Briefseite steht unten links in Blei und nicht von der Hand Hegels „G.W.F. Hegel, der grosse Philosoph“ darunter die Zahl „1092“. Die Zahl „250“ oben links ist ein Eintrag des Haverford College. Auf der Adreßseite fi ndet sich in Blei und in anderer Hand als auf der Briefseite der Eintrag „G.W.F. Hegel 20 marks“. Vermutlich handelt es sich hierbei um einen Eintrag von Charles Roberts, der das Blatt für 20 Mark erstanden haben könnte. Über „Gebrüder“ befi ndet sich ein Abdruck vermutlich eines Stempels mit den leserlichen Buch-staben „R¿¿¿KA“23, daneben eine rote vertikale Linie; auch dies sind später entstandene Vermerke.

    19 Siehe dazu: Jochen Klauß: Genie und Geld. Goethes Finanzen. München 2009. 147–150.20 Siehe die Gehaltsbewilligung vom 24. Juni 1806 in: Hegel: B 4/1, 93.21 Vgl. das Haushaltsbuch von 1811. – In: Ibid. 181–203; bes. 201.22 Siehe: Der handschriftliche Nachlaß Georg Wilhelm Friedrich Hegels und die Hegel-Bestände

    der Staatsbibliothek zu Berlin–Preußischer Kulturbesitz. Teil 2: Die Papiere und Wasserzeichen der Hegel-Manuskripte analytische Untersuchungen. Herausgegeben von Eva Ziesche und Dierk Schnitger. Wiesbaden 1995. 31 f.; 94.

    23 ¿= nicht eindeutig entzifferbarer Buchstabe

  • 16 E nr st - O t to O nnasc h

    Briefseite (vgl. Abb 1):

    1 Jena 19 Sept 18032 P.P.24

    3 Die Summe, die ich Ihnen mit einer neuen Bestellung25 zu überschicken 4 bereit gelegt hatte, ist durch eine unvorge-5 sehene Auslage so vermindert worden,6 daß ich auf eine andere Einnahme warte,7 um Ihnen einen grössern Belauff mit8 einemmal zu übermachen; und ersuche9 Sie mir wieder einen Eymer von dem Pon-10 tack, den ich das letzemal von Ihnen11 erhielt, mit der baldmöglichsten Fuhre26

    12 zu übersenden; ich werde diese oder13 die nächste Woche Ihnen alsdann einen14 Saldo überschicken können; ich bin15 mit aller Hochachtung16 dero27

    17 gehors. Diener18 D.28 Hegel

    Adreßseite (vgl. Abb. 2):

    Jena den.29 19. Sepbr 1803Doct.30 Hegel.

    An Die Herrn GebrüderRamannfrey in Erfurt

    24 P.P. ] Abk. für praemissis praemittendis [d. h. unter Vorausschickung des Vorauszuschicken-den, d. h. Anreden, Titel usw.]

    25 mit einer neuen Bestellung ] über der Zeile26 Fuhre ] wahrscheinliche Lesung27 dero ] möglich auch: dero.28 D. ] zeitgenössische Abk. für Doktor29 den. ] aufgelöste Kurznotation30 Doct. ] Abk. für Doktor

  • Ein neuer Brief Hegels an die Gebrüder Ramann in Erfurt 17

    Abb. 1: Briefseite, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Haverford College (Pennsylvania, USA)

  • 18 E nr st - O t to O nnasc h

    Abb. 3: Wasserzeichen

    Abb. 2: Adreßseite

  • MISZELLE

    p et e r k r i e g e l

    EINE SCHWESTER TRITT AUS DEM SCHATTEN

    Überlegungen zu einer neuen Studie über Christiane Hegel

    abstract: Christiane Hegel, H.s unmarried sister, suffered from mental disease in her later years; she committed suicide only a few month after H.s death. Her life, in the shadows of the celebrated philosopher, attracted the attention of interpreters like Derrida and Kimmerle, and unfortunately was the object of suspicious and fanciful stories. In her biography of Christiane, Alexandra Birkert destroys some of these fairy tales and gives us a reliable historical account of Christiane’s private and political life – always with respect to H.

    Alexandra Birkerts biographische Nachforschungen1 arbeiten sich an einer not-wendigen Paradoxie ab. Zum einen gilt es, Christiane Hegel (geb. 7. April 1773 Stuttgart, gest. 2. Februar 1832, Selbstmord in der Nagold bei Bad Teinach) als eigenständige Person darzustellen, ohne dabei ihr Leben nur in den Schatten ihres Bruders zu stellen. Andererseits würde ihr wohl niemand eine ausführliche Biographie widmen, wenn sie nicht die Schwester des Philosophen gewesen wäre. Das Verdienst dieses Buches besteht im wesentlichen darin, sich dieser Paradoxie wirklich gestellt zu haben.

    Dies ist aber für den bisherigen literarischen Umgang mit Christiane He-gel alles andere als selbstverständlich. Stigmatisierend und nicht ohne Wirkung schrieb Johannes Hoffmeister: „Das ganze Verhältnis zwischen Christiane Hegel und ihrem Bruder deutet auf einen sehr starken Geschwisterkomplex ihrerseits hin, der die Eifersucht auf Marie Hegel [1791–1855, Hegels Ehefrau, mit ihm verheiratet seit dem 15. Sept. 1811] und schließlich auch ihren Freitod kurz

    Hegel-Studien 45 (2010) · © Felix Meiner Verlag · ISSN 0073-1587

    1 Alexandra Birkert: Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800. Ost-fi ldern 2008. 349 S.

  • 20 Pete r K r i e g e l

    nach dem Tode des Bruders erklärt.“2 Hoffmeisters Rede von einem Geschwi-sterkomplex ist ganz auf die Abwertung Christiane Hegels abgestellt. Auch die Studie von Hans-Christian Lucas, der sich im philosophischen Umfeld von Jacques Derridas Buch über Hegel mit dem Titel Glas3 mit Christiane Hegel beschäftigte, kommt nicht wirklich von der Perspektive des Geschwisterkom-plexes los, der ganz eigene und dabei unhinterfragte biographische Erfordernis-se in die Welt setzt: „Trotz der durch den Bruder erzwungenen Distanz bleibt aber Christiane […] auf Hegel fi xiert. – Nach seinem Tod ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihrem Leben in der Nagold ein Ende setzt.“4 Aber anders als bei Hoffmeister wird Hegel nun negativ in den unhinterfragt übernommenen Geschwisterkomplex einbezogen. Es war 1974 Jacques Derrida, der anhand der Kritik der Behandlung der Familie innerhalb der Hegelschen Philosophie auf eine aufs Ganze gehende Kritik der spekulativen Philosophie Hegels abzielte. Derridas bewußt als randgängig entworfene, kritische Verfahrensweise akzentu-iert dabei im Rahmen der Kritik der Verwandtschaftsverhältnisse besonders die Schwester. Wenn Derrida die Schwester – in eine rhetorische Frage gekleidet – als „l’inconcevable“5, als das „Unbegreifl iche“6 bezeichnet, meint er damit, eine prinzipielle Grenze der Art von Vernunft aufzeigen zu können, die Hegel entwerfe. Nach Derrida bringt Hegel mit seiner Auffassung von der Schwester, die außerhalb des begehrenden Geschlechterverhältnisses als Person den Bruder anerkennt und von ihm anerkannt wird,7 eine verdeckte Alternative zu seiner eigenen systemtragenden Konzeption eines Kampfes um Anerkennung hervor: Die Anerkennung der Schwester als Andere des Anderen entziehe sich der In-stabilität jener Anerkennungsform, die auf einem permanenten Kampf beruhe8 und mit dem Anderen nur als sein entgegengesetztes Anderes in Beziehung trete. Aber Hegel verfolge demgegenüber nur seinen Systemgedanken weiter: Aus der Sicht von Derridas antisystematischer Strategie der Hegel-Kritik deuten sich dann einseitige Abhängigkeiten, um nicht zu sagen desaströse Folgen an: „Mit dem Bruder […] geht die Schwester ein positives, aber nicht natürliches Aner-kennungsverhältnis ein. Sie hängt von ihm in ihrem Fürsich ab.“9 Dabei hatte es bei Hegel selbst auf Gleichheit abzielend geheißen: Die „beyden Verhältnis-se [(1) von Mutter und Vater und (2) von Eltern und Kindern, P. K.] bleiben

    2 Siehe: B 2, 374.3 Paris 1974 (frz.), München 2006 (dt.).4 Siehe: Hans-Christian Lucas: Zwischen Antigone und Christiane. – In: Hegel-Jahrbuch 1984/85.

    431.5 Siehe: Jacques Derrida: Glas. Paris 1974. 170 (linke Spalte).6 Siehe: Jacques Derrida: Glas. München 2006. 168.7 Siehe: Hegel: GW 9, 246 f.8 Siehe: Jacques Derrida: Glas (1974), 168; Glas (2006), 166.9 Siehe: Jacques Derrida: Glas (1974), 184; Glas (2006), 182.

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    innerhalb des Uebergehens und der Ungleichheit der Seiten stehen, die an sie vertheilt sind. – Das unvermischte Verhältnis aber fi ndet zwischen Bruder und Schwester statt. Sie sind dasselbe Blut, das aber in ihnen in seine Ruhe und Gleichgewicht gekommen ist. Sie begehren daher einander nicht, noch ha-ben sie diß Fürsichseyn eins dem andern gegeben, noch empfangen, sondern sie sind freye Individualität gegeneinander.“10 Derridas Angriff auf Hegels System der Philosophie inszeniert sich auch als ein investigativ motivierter Übergang zur Heranziehung des Biographischen, um zu belegen, daß weder Hegel als Person noch die Subjektivität des Ganzen seiner Philosophie in der Lage seien, die von ihm selbst in Aussicht genommene reelle Anerkennung von Bruder und Schwester gegeneinander zu realisieren; damit wird implizit zum einen der Hegelschen Philosophie bestritten, daß es ihr wirklich ernst sei mit den freien Individualitäten, und zum anderen kommt der Griff ins Biographische dabei so konstruktiv und selbstgewiß daher, daß es sich nahelegt, diesen erst recht ge-genkritisch zu hinterfragen. Das gilt gerade auch angesichts der an sich immer brüchigen Einheit von Werk und Person, die Derrida trotzdem nicht davon abhält, Hegel aufgrund der Systemform seiner Philosophie unterschwellig ver-antwortlich zu machen für eine Fremdheit seiner Schwester gegenüber, welche Fremdheit sich dann nur als strukturell verfehlter Eingriff in deren Leben rea-lisieren kann. Eine Gegenkritik erweist sich als um so notwendiger, wenn man zudem bedenkt, daß Derrida in seiner Hegel-Kritik sich nicht unwesentlich von seiner Rekonstruktion des konkreten Bruder-Schwester-Verhältnisses zwi-schen Christiane und ihrem Bruder abhängig macht.

    Der gangbare und an sich legitime Weg, sich Hegel und seiner Schwester Christiane auch als historischen Individualitäten zu nähern, wird durch Derri-das Verfahren, das er selbst als eines der ‚Differance‘ vorstellt, mehr verstellt als geöffnet. Die Gestimmtheit der ‚Differance‘, sich gegen die fi xierten Identitäten der Differenz – auch des Geschlechterverhältnisses – geltend zu machen, schützt sie in Glas nicht davor, sich einer wie auch immer spielerischen, aber dennoch bestimmt werdenden, medialen Konsequenzmacherei zu bedienen, die sich in ihrer Notwendigkeit in fi ktive biographische Realitäten verläuft. Das bestätigt sich, wenn Heinz Kimmerle, Derrida folgend, mit Nachdruck hervorhebt, was im Resultat für das Verhältnis von Christiane zu ihrem Bruder zu gelten habe:

    „Das Geschlechtsverhältnis zwischen Mann und Frau [bei Hegel, P. K.] bleibt oppositionell. Das bestätigt sich in Hegels Umgang mit Christiane, die ihn be-dingungslos liebt, und die er deshalb innerlich und äußerlich auf Distanz zu halten sucht. Der gesamte Briefwechsel, der dies dokumentiert, ist in Glas ab-gedruckt.“11 Erstens fi ndet sich bei Derrida nur eine hinterfragbare Auswahl des

    10 Siehe: Hegel: GW 9, 247.11 Siehe: Heinz Kimmerle: Derrida zur Einführung. Hamburg 31992. 64.

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    angesprochenen Briefwechsels. Zweitens geschieht dies nicht kommentarlos: „Im November 1815 in einem Briefentwurf von Christiane an Hegel: ‚[…] ich habe Eure Hausordnung gestört, das ist mir sehr leid, nicht Euern Hausfrieden, dies beruhigt mich […].‘ Christiane läßt sich daraufhin nahe bei ihrem Vetter, dem Pfarrer Göriz, nieder.“12 Derrida selbst redet nicht direkt von einer durch Hegel erzwungenen Ferne Christianes, aber er legt dies durch die denkwürdig unkritische Komposition der zitierten Stelle mehr als nahe, indem das von ihm gebrauchte Wort „daraufhin“ jedenfalls ein solches Verständnis des Vertrieben-wordenseins kontextuell eher vorbereitet als dementiert. Kimmerle und Lu-cas nehmen dies im Sinne des besagten Zwanges einfach auf. Lucas hält dann Derridas Spur folgend dafür, daß Christianes unbegreifl iche, sich der Differenz entziehende Schwesterlichkeit für Hegel und seine Philosophie eine unbewußt wirkende Grenzziehung andeutet, die letztlich gegen Hegels „phallokratische Vernunft“13 gerichtet gewesen sei, wobei dann wieder unbestimmt auf die er-zwungene Ferne als Beleg zurückverwiesen werden kann. Solch ein zirkelhaftes Verfahren ermöglicht es weder über Vernunftmodelle zu streiten, noch nützt es der notwendigen Rekonstruktion von Biographien. Auch Heinz Kimmerle folgt nicht kritisch der Spur, was denn Derrida da überhaupt „dokumentiert“. All das Aufnehmen Derridas durch Lucas und Kimmerle weist hinter Derrida zurück auf den Geschwisterkomplex Hoffmeisters, der hier einer Umwertung gegen Hegel unterzogen wird, ohne daß er dabei von Derrida, Lucas oder Kim-merle daraufhin hinterfragt wird, ob es ihn denn überhaupt gegeben hat. So jedenfalls tritt die Beschäftigung mit Christiane Hegel nicht aus dem Schatten Hoffmeisters heraus. Dies ist um so mißlicher, als es nicht auszuschließen ist, daß negative Urteile über Christiane Hegel – sozusagen im Vorfeld des Geschwister-komplexes Hoffmeisters – zurückgehen auf eine, vielleicht sogar absichtsvolle Familientradition, die aber erst nach Hegels Tod einsetzte; nachweislich hatte Hoffmeister Kontakt mit den Nachfahren der Familie Hegels. Alexandra Birkert bietet jedenfalls eine kritische Erklärung für die negativen Urteile der Familie über Christiane nach ihrem Tod an, von der noch zu reden sein wird. Erst eine wirkliche biographische Forschung eröffnet den Weg zu Christiane Hegel. Da-mit soll dennoch nicht bestritten werden, daß dabei auch Hegel selbst kritisch in den Blick gerät, wie könnte es auch anders sein; aber gegen die zu problem-los eingängigen Konstruktionen und Traditionen des Geschwisterkomplexes gilt es sowohl Christiane als auch ihren Bruder freizusetzen (12; 250 f.). Auch die Diskussion der Beziehung zwischen Hegels Leben und Hegels Philosophie gewinnt dadurch, weil ihr das falsch psychologisierende Joch der bloßen Be-ziehungsunmittelbarkeit der versagenden Schwester oder des versagenden Bru-

    12 Siehe: Jacques Derrida: Glas (1974), 200; Glas (2006), 198.13 Siehe: Hans-Christian Lucas: Zwischen Antigone und Christiane. A. a. O. 436.

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    ders genommen wird. Das zu kommentierende Buch von Alexandra Birkert ist ein entscheidender Beitrag zur Klärung der Situation zwischen Christiane und Wilhelm, wie Hegel in seiner Familie genannt wurde. Alle, die sich demnächst – aus welcher Perspektive auch immer – mit Christiane Hegel und ihrem ei-genen sozialen Umfeld beschäftigen, werden an die Recherchen dieses Buches anknüpfen müssen.

    Daß Christiane Hegel in bezug auf ihren Bruder so betont als Schwester herausgestellt wird, hat seinen Grund darin, daß sie unverheiratet und kinder-los blieb. Das Verhältnis der Geschwister Hegel zueinander, zu denen noch der jüngere Bruder Ludwig (24. Mai 1776–1812 [in Rußland auf Seiten Napoleons und des württembergischen Königs gefallen]) gehörte, erhielt früh eine eigene tragische Qualität dadurch, daß am 20. September 1783 ihre Mutter einer Epi-demie zum Opfer fi el; sie starb an Typhus. Hans Friedrich Fulda sieht Christiane nun zur „Hausfrauen- und Ersatzmuttertätigkeit“14 gedrängt. Durch ihre „all-mählich neurotisch werdende[] geschäftige[] Fürsorglichkeit“15 habe sich dann jener Lebenslauf vorgezeichnet, der Christiane ganz auf ihren Bruder fi xiert habe. „So verschmilzt das Schicksal des Bruders in ihrem Erlebnishorizont mit dem eigenen, um Kindheit und Jugend betrogenen Leben, wird aber durch Hegels Erfolg zum grausamen Problem für sie. Sie wird manisch depressiv oder ‚gemütskrank‘, wie man sagte. … Aber man verkenne den grausamen Mechanis-mus nicht, der da am Werk ist: Im Jahr nach dem plötzlichen Tod ihres großen Bruders wird Christiane Hegel sich das Leben nehmen.“16 Solchen unkriti-schen Fortschreibungen des schon sattsam bekannten Geschwisterkomplexes widerspricht die Autorin zum einen umfassend durch die Rekonstruktion von Christiane Hegels Lebenslauf und ihres Selbstmordes und zum anderen insbe-sondere durch ein eigenes Kapitel über Christianes Krankheit (250–264; gegen Fulda: 251, 263). Im folgenden können nur einige wichtige Punkte der um-fassenden Rekonstruktion des Lebens von Christiane Hegel durch Alexandra Birkert hervorgehoben werden:

    Das Leben Christiane Hegels in Stuttgart 1773–1801 und 1821–1831

    Christiane Hegel war es zeitbedingt als Mädchen und Frau generell nicht mög-lich, eine offi zielle höhere Bildung zu erwerben. Um so erstaunlicher ist es, wenn sie als Erwachsene nicht nur in Hausarbeiten, wie Nähen und Stricken, Unterricht erteilt, um eine ökonomische Selbständigkeit zu erreichen, sondern

    14 Siehe: Hans Friedrich Fulda: G. W. F. Hegel. München 2003. 277; ebenso 30.15 Ibid. 277.16 Ibid. 277 f.

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    sie konnte auch so ausgezeichnet Latein und Französisch, daß sie insbesondere im Französischen Privatunterricht erteilte (266). Sie ist ihrem Geburtsort Stutt-gart so verbunden, daß sie vom August 1821 bis Dezember 1831 wieder dort lebte, bevor sie zu einer Kur nach Bad Teinach abreist. Karl Rosenkranz erzählt:

    „Sie hatte sich nie verheirathet. Einen ihrer wärmsten Verehrer, Gotthold, hatte sie aus vielleicht zu peinlichen Rücksichten ablehnen zu müssen geglaubt. Er war, ohne seine Liebe zu ihr je aufgegeben zu haben, fern von ihr unverheira-thet gestorben. […] Sie verfertigte viel Gedichte […]; einige derselben worin sie ihre Liebe irdisch begräbt, um sie in den ewigen Himmel der Erinnerung hinüberzuheben, sind wahrhaft schön. In ihren Gedichten liebte sie, wie ihr Bruder, den Schiller’schen Ton.“17 Die Gedichte sind nicht überliefert, obwohl es möglich wäre, daß einige – den damaligen Gepfl ogenheiten gemäß – an-onym gedruckt wurden. Alexandra Birkert ermittelt als den Verehrer – wenn auch aufgrund der unzureichenden Quellenlage nicht mit letzter Sicherheit – den Advokaten und Dichter Gotthold Stäudlin (1758–1796). Nachdem C. F. D. Schubart am 10.10.1791 gestorben war, übernahm Stäudlin seit Oktober 1792 als alleiniger Herausgeber dessen Vaterlandschronik, aber diese wurde im März 1793 vom Reichshofrat in Wien verboten. Dies entzog Stäudlin seine ökonomi-sche Lebensgrundlage; er wurde zwar nicht ausdrücklich des Landes verwiesen, obwohl die württembergische Regierung ihn ausdrücklich dazu aufforderte, aber nach dem Tod seines Vaters im Mai 1794 mußte er vor seinen Gläubigern fl iehen. Er hielt sich zunächst in dem Städtchen Nagold auf, also an dem Fluß, in dem Christiane Hegel 1832 Selbstmord beging. Versuche, von Lahr aus mit einer neuen Zeitschrift Klio Fuß zu fassen, scheiterten schon 1795. Im Septem-ber 1796 beging er Selbstmord in der Ill bei Straßburg. Sowohl das Verbot der Chronik als auch die Weigerung des Württembergischen Herzogs, in Stäudlins Fall einer Schuldenstundung zuzustimmen, haben politische Gründe. Gotthold Stäudlin war ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution. Die an-gesprochenen Familienrücksichten, die Christiane Hegel in dieser Rekonstruk-tion dazu brachten, ihren Verehrer abzuweisen, gehen am ehesten zurück auf die Polarisierungen, die Gotthold Stäudlins Fall in Stuttgart auslöste; einigen galt er als politisch diskreditiert und aufgrund seiner Schulden als jemand, der seine Familie ruinierte. Rosenkranz überliefert über Christiane Hegels Entscheidung, ihren Bewerber abzulehnen: „Seit dieser Zeit nagte ein tiefer Schmerz an ih-rem Leben […].“18 Hegel selbst hatte 1793 zu Stäudlin ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Stäudlin hatte – über Schiller – versucht, Hegel die Hofmeisterstel-le bei Charlotte von Kalb zu vermitteln, die dann Hölderlin antrat, während Hegel sich für die Schweiz entschied und Hofmeister in Bern wurde – eine

    17 Siehe: Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. Berlin 1844. 424 f.18 Siehe: Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. A. a. O. 425.

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    Stelle, die ihm sein Jugendfreund August Hauff (1772–1809) vermittelte. In diesem Stuttgarter Beziehungsgefl echt nun aber erscheint Christiane Hegel nicht nur als Privatperson, Tochter, Schwester, mögliche Braut etc., sondern auch als politischer Mensch. Als Justinus Kerner 1849 seine Lebenserinnerun-gen veröffentlichte, taucht darin Christiane Hegel als Kassiberschmugglerin für einen politischen Gefangenen auf der Festung Hohenasperg bei Ludwigsburg auf. Dieser Gefangene, der schon genannte August Hauff, der Vater des Dichters Wilhelm Hauff (1802–1827), dessen Patin dann Christiane Hegel wurde, war Anfang 1800 im Rahmen der sog. Jakobinerverfolgung in Württemberg inhaf-tiert worden. Auch wenn August Hauff schon im Mai 1800, dem Zeitpunkt, als der württembergische Herzog Friedrich I. vor den Franzosen aus Stuttgart fl oh, wieder freikam, verweist die Jakobinerverfolgung insgesamt darauf, daß es nach 1792, dem Beginn des 1. Koalitionskrieges gegen das revolutionäre Frankreich, das zur Republik wurde, im deutschen Südwesten Bestrebungen gab, auch Württemberg – im Schutz der französischen Außen- und Kriegspolitik – zur Republik, oder gemäßigter: zu einem Verfassungsstaat zu machen. Gleichzeitig aber markiert diese Jakobinerverfolgung das vorläufi ge Ende der Verfassungsbe-strebungen in Württemberg. Die Folgen für Christiane Hegel faßt die Autorin so zusammen: „Hegels tatkräftige Unterstützung der württembergischen Re-volutionäre im Spätsommer 1799 macht, mit Blick auf Christianes Lebensge-schichte, vor allem eines deutlich: Als sein Frankfurter Kurierdienst Ende März 1800 in der Stuttgarter Jakobineruntersuchung auffl og, geriet seine Schwester in eine äußerst schwierige Situation. Hier dürfte nicht nur das Initialerlebnis für Christianes spätere Psychose zu suchen sein, die sich bezeichnenderweise in der zwanghaften Vorstellung äußerte, als verschnürtes Postpaket verschickt zu werden. Hegels Engagement dürfte auch den letzten Ausschlag gegeben haben, dass Christiane im Spätsommer 1801 Stuttgart, ja Württemberg verließ. Sie war keineswegs die einzige, die sich damals mit Emigrationsgedanken trug […].“ (123) Die politische Haltung Christiane Hegels gilt es also in bezug auf das Verhältnis zu ihrem Bruder weiterzuverfolgen. Sie tritt damit aus dem Schatten des bloßen Schwesterseins, auf das von Hoffmeister bis Derrida vornehmlich abgehoben wird, heraus.

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    Exkurs: Hegel in Frankfurt und der revolutionäre Brief des Leutnants Penasse an Emmanuel Joseph Sieyès vom Spätsommer 1799

    Daß Hegels Name in den württembergischen Untersuchungsakten zur sog. Ja-kobinerverfolgung genannt wurde, war seit längerem – wenn auch kaum wahr-genommen – bekannt.19 Doch erst Alexandra Birkert gelingt es, den Kontext weiter aufzuklären. Carl Friedrich von Penasse (1773–1846), der mit Hegels Bruder Ludwig gleichzeitig Student an der Stuttgarter Carlsschule war und Jura studierte, trat 1797 in den württembergischen Militärdienst ein. In den Untersu-chungsprotokollen von 1800 gibt er an, „von je her eine Vorliebe vor demokra-tische Regierungsverfassungen“ (115) gehabt zu haben. Im Spätsommer 1799 hatte sich Penasse schriftlich an Sieyès gewandt, als dieser in das Direktorium eintrat; das war offi ziell Landesverrat und konnte nicht mit der normalen Post geschehen. In einem Brief vom 20. März 1800 an die Untersuchungskommissi-on faßt Penasse den Inhalt dieses Briefes an Sieyès kurz zusammen. Er sieht „den Geist der fränkischen Revolution, als auch das Sistem“ der fränkischen „Re-gierungsverfassung“ ganz darauf ausgerichtet, „dem alten RegierungsSistem auf immer den Krieg“ anzukündigen. Sieyès solle „den Hauptpunkt“ der franzö-sischen „Kriegsoperationen auf Teutschland“ legen und nicht auf Italien, denn

    „Schwaben“ sei als ein „durch seine Cultur, Charakter und kriegerischen Geist seiner Einwohner vorzüglicheres Land“ weit eher „zur Freiheit“ bestimmt; es sei bisher bloß „mit einer Abneigung gegen das fränkische undisziplinierte Heer beseelt“ (sämtliche Zitate 122). Im Grunde wird hier die Konzeption eines revolutionären Krieges vertreten, dabei muß man allerdings einbeziehen, daß auch gemäßigtere politische Optionen, die nicht auf eine Republik, sondern eher auf eine Art konstitutioneller Monarchie abzielten, wie sie im Umfeld der sich auf ein ‚altes Recht‘ berufenden Opposition der traditionellen Landstände gegen den württembergischen Herzog angedacht waren, auch auf französische Hilfe von außen angewiesen gewesen wären. Der Aufstieg Napoleons nach 1799 verabschiedete dann den republikanischen Revolutionskrieg zugunsten einer kriegerischen Konzeption von französischer Vorherrschaft, in der der bald ausgearbeitete Code Napoleon zwar wirksam war, aber nicht unbedingt i. S. einer Beförderung der freien Nationenbildung anderer. Napoleon rettete letztlich den württembergischen Herzog vor der Opposition im eigenen Lande und mach-te ihn 1806 auch zum König von Württemberg. Im Spätsommer 1799 hegte Penasse allerdings noch Pläne zu einer süddeutschen Republik. In einem Ver-hör Penasses, das um den 20. März 1800 stattfand, fällt dann Hegels Name. Um den Brief illegal und unerkannt nach Frankreich befördern zu können, sei er über einen Magister Hegel in Frankfurt geleitet worden. Daß Hegel, der selbst

    19 Siehe: Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flügel. Band 2. Hamburg 1988. 825.

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    mit den Verfassungsdebatten in Württemberg nach 1796 vertraut war und nur auf Anraten von bis heute unidentifi zierten Freunden davon abgehalten wurde, selbst publizistisch einzugreifen, etwa den Inhalt des von ihm weitergeleiteten Briefes nicht hätte gekannt haben sollen, erscheint mehr als unwahrscheinlich. Man muß sogar danach fragen, ob nicht etwa Penasse einer dieser politischen Freunde gewesen sei, zumindest waren der unbekannte politische Freundeskreis oder sogar die unbekannten politischen Freundeskreise Hegels in bezug auf Penasse so wenig konspirativ, daß ihm Hegels Name bekannt war. Man muß also erwägen, ob Hegel nicht selbst 1798–1800 Anhänger einer politischen Konzep-tion des revolutionären, republikanischen Krieges war, der in Deutschland, das für ihn kein Staat mehr war, eine unabhängige Staatsgründung anstoßen sollte. Das Original des Briefes von Penasse wurde bisher nicht aufgefunden; von einer möglichen, aber unwahrscheinlichen Antwort von Sieyès ist ebenfalls nichts be-kannt. Mit der Namensnennung Hegels erklärt sich dann aber auch, warum die Autorin Christiane Hegel in Sorge um ihren Bruder sieht; andere Verdächtige landeten als Gefangene des Herzogs nicht nur auf dem Hohenasperg, sondern wurden von ihm auf seiner Flucht im Mai 1800 aus Stuttgart mitgenommen. Erst der Frieden von Luneville 1801, der den Herzog zum Verbündeten der Franzosen machte, erzwang durch die Franzosen eine Amnestie aller politischen ‚Verbrechen‘ in Württemberg seit 1789.

    Christiane Hegels Leben zwischen 1801 und 1821 und ihr Aufenthalt in der Staatsirrenanstalt Zwiefalten 1820/21

    Von 1801 bis Juli 1814 war Christiane Hegel die Gouvernante der Kinder von Joseph von Berlichingen (1759–1832) und seiner Frau Sophie (1770–1807). Es handelte sich um fünf Töchter, die zwischen 1793 und 1803 geboren waren. Aus erhaltenen Antwortbriefen Hegels an seine Schwester von 1814 geht her-vor, „dass sie nicht bloß eine Untergebene“ (165) gewesen ist, sondern man habe ihr die Kinder „anvertraut“ (165), somit – schreibt Hegel an Christiane – war „[d]eine Stellung […] ein Amt, das Du nach Deinem eigenen Wissen und Gewissen zu verwalten“ (166) hattest, was insbesondere für die Zeit nach dem Tod der Mutter gegolten hat. Sie wurde so zu einer Art von Ersatzmutter, was Joseph von Berlichingen in einem späteren Dankschreiben an Christiane Hegel indirekt anerkennt: „Ich misskenne nicht, was Sie an den Kindern geleistet ha-ben; abgesehen von dem Wissenschaftlichen, haben Sie ihnen eine strenge Mo-ralität und unbefangene Heiterkeit beigebracht […].“ (163) Christiane Hegel war also nicht nur als Erzieherin tätig, sondern übernahm auch die Aufgaben einer Lehrerin, wozu u. a. die Grundlagen in Latein und Französisch gehörten. Sie war seit ihrer Stuttgarter Zeit mit den Problemen der Mädchenbildung

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    vertraut. 1786–1790 hatte Jakob Friedrich Abel (1751–1829), der an der Carls-schule Philosophieprofessor war und auch Hegel privat unterrichtete, öffent-liche Vorlesungen nur für Mädchen und Frauen gehalten, um wie er später in seinen Lebenserinnerungen schrieb, „Frauenzimmer von Stand eine höhere als die gewöhnliche Bildung zu geben.“ (44) Eingedenk dessen, daß Christiane Hegel noch in den 1820er Jahren in Stuttgart mit Abel in einem freundschaft-lichen Verhältnis stand, ist es alles andere als unwahrscheinlich, daß sie schon in ihrer Jugend auch seine Vorlesungen hörte; was dann aber auch die Grenzen dieser anvisierten Bildung aufzeigt, denn offi ziell akademisch gebildete Lehre-rinnen gab es noch nicht. Was die Beendigung des Arbeitsverhältnisses angeht, so schrieb Joseph von Berlichingen 1814 an Christiane Hegel: „Ihre Gesund-heit ist von der Art, dass ihr Anstrengung schädlich wird, daher kann das fernere Unterrichten der Kinder nicht mehr wohl Ihre Sache sein […].“ (173) Sie war also körperlich und geistig erschöpft, daran hatte auch die neue Stiefmutter im Hause Berlichingen ihren Anteil, dabei kamen auch Standesunterschiede zum Tragen. Insofern ist die Vertrauensstellung, die Christiane Hegel in der Familie von Joseph von Berlichingen einnahm und die dieser anerkannte, ein Glücks-fall für sie, da er ihr nun, was zwar üblich war, aber wozu er rein rechtlich nicht gezwungen gewesen wäre, eine Rente von 100 Gulden aussetzte. Dies ist eine Summe, die aber allein zum Leben nicht ausreicht. Christiane Hegel war zeitlebens darum bemüht, soweit ihr dies gesundheitlich möglich war, durch Lehrtätigkeiten selbst etwas zu verdienen; das war später in Aalen von 1815 bis 1820 so und auch nach 1821 in Stuttgart. Sonstige Einkünfte bezog sie aus ihrer Erbschaft. Je älter sie wurde, desto regelmäßiger und selbstverständlicher wurde sie durch Hegel unterstützt.

    Von Juli bis November 1815 kam es in Nürnberg zu einem letzten Wie-dersehen der Geschwister Hegel. Nachdem Christiane Hegel ihre Tätigkeit als Gouvernante aus gesundheitlichen Gründen hatte aufgeben müssen, bot Hegel ihr noch im April 1814 an, „auf immer“ (184) zu ihm und seiner Familie zu ziehen. Doch im Juli 1815 redet Hegel Niethammer gegenüber nur von einem

    „Besuch“ (184) Christianes. Zum einen war sie zu krank, um – wie zunächst geplant – der Familie Hegels mit ihren zwei kleinen Kindern eine Hilfe sein zu können, andererseits zeigte sich, wie weit sich die Geschwister zwischenzeitlich auseinandergelebt hatten. Alexandra Birkert macht dies nicht unwesentlich am Politischen deutlich. Christiane Hegels Aufenthalt in Nürnberg fällt zeitlich zu-sammen mit dem Höhepunkt des württembergischen Verfassungskampfes von 1815. Rosenkranz berichtet, daß sich bei Hegels Schwester „eine lebendige Theilnahme für die Württemberger Kammerverhandlungen“20 zeigte. Denkt man daran zurück, (1) daß die württembergische Opposition in den 1790er Jah-

    20 Siehe: Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Leben. A. a. O. 425.