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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Herrscher am Ende Die verschollenen Tonbänder des Politbüros Von Lydia Heller und Johannes Nichelmann Produktion: Deutschlandfunk 2020 Redaktion: Tina Klopp Erstsendung: Freitag, 25.09.2020, 20:05-21:00 Uhr Regie: Johannes Nichelmann Es sprach: Thomas Bading Ton und Technik: Martin Eichberg und Hermann Leppich Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

Herrscher am Ende Die verschollenen Tonbänder des Politbüros … · 2020. 9. 18. · Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Herrscher am Ende – Die verschollenen

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature

Herrscher am Ende –

Die verschollenen Tonbänder des Politbüros

Von Lydia Heller und Johannes Nichelmann

Produktion: Deutschlandfunk 2020

Redaktion: Tina Klopp

Erstsendung: Freitag, 25.09.2020, 20:05-21:00 Uhr

Regie: Johannes Nichelmann

Es sprach: Thomas Bading

Ton und Technik: Martin Eichberg und Hermann Leppich

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Peter Kirschey Es war wie alles immer kurios in dieser Zeit. Kurios und abenteuerlich. Bin ein strammer Parteisoldat gewesen. Auch wenn man so dagesessen hat, mit dem Kopf geschüttelt hat, aber ich habe alles so hingenommen, wie es gelaufen ist.

Erzähler 20. Januar 1990. Ost-Berlin. Genosse (erbost) Wer hat der Arbeiterklasse Deutschlands die größte

Niederlage ihrer Geschichte beigebracht? Ihr! Ihr! Und kein anderer!

(Schlägt dreimal auf den Tisch) Weil Ihr diese Grundgesetze des Sozialismus nicht zur Anwendung gebracht habt! Wir haben doch keinen Sozialismus gemacht! Da brauchen wir nicht mehr zu diskutieren! (Wirft Blätter durch die Luft)

Erzähler Fünfzehn Mitglieder und Kandidaten des gestürzten Politbüros der SED treten vor ein parteiinternes Gremium. Es soll entscheiden, ob sie aus der Partei ausgeschlossen werden sollen. Haben sie den Sozialismus verraten?

Peter Kirschey Schiedskommission, das war ja das oberste Gericht, wenn man

so will, der Partei. Naja, in der Situation, niemand wusste Bescheid, wie es weitergeht. Alle hatten Angst, jetzt bricht nicht nur die DDR, sondern auch die Partei zusammen. Es sollte irgendwie irgendwas gerettet werden.

G. Schabowski Soll ich auf diese Frage antworten oder was soll ich machen? Genosse Ich habe an den geglaubt, weil ich nichts von ihm gewusst habe! Erzähler Kein Protokoll, keine Fotos. Aber ein Tonbandgerät läuft mit. Inge Lange Ich war 1945 achtzehn Jahre. Und die Partei war mein Leben. Genosse Nun ist die Partei fast tot. Erzähler Knapp dreißig Jahre später entdecken Historiker das

Material wieder.

Es erzählt vom Zerfall der Macht. Von Stunden, in denen die Idee eines großen gemeinsamen Ziels Stück für Stück zerfällt.

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Mückenberger Als Parteipferd, was macht man? Genosse Sag mal?! Mückenberger Ich weiß, dass das verkehrt war. Genosse Habt Ihr nur gemacht, was der Erich gesagt hat? Habt Ihr

überhaupt keine Meinung gehabt im Politbüro? Jeder sagt hier, was der Erich gesagt hat, haben wir gemacht. Hat der Euch gezwungen? Das gibt’s doch überhaupt nicht! Das glaubt Euch doch kein Mensch mehr.

Ansage Herrscher am Ende

Die verschollenen Tonbänder des Politbüros

Ein Feature von Lydia Heller und Johannes Nichelmann

Erzähler Der 20. Januar 1990 ist ein Samstag. Die Berliner Mauer ist

seit 72 Tagen offen. Pünktlich verlässt der Journalist Peter Kirschey seine Wohnung.

Peter Kirschey Erstmal war es kalt. Erzähler Er braucht nur fünf Minuten bis zu dem Ort, an dem ab 9 Uhr

30 die Schiedskommission jener Partei tagt, die in den vergangenen vierzig Jahren die DDR regiert hat.

Peter Kirschey Es war ein ganz sauberes, aber biederes Hotel. Und alle waren – alle – irgendwo wahnsinnig aufgeregt. Alle wussten, jetzt muss irgendwas geschehen, was die Partei irgendwie stärkt.

Erzähler In zwei Monaten, am 18. März, sollen die ersten freien

Volkskammerwahlen stattfinden. Die SED nennt sich seit ein paar Wochen SED-PDS. Gerd-Rüdiger Stephan ist Historiker und arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ende 2018 erhält er einen Anruf aus dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, der Parteizentrale der LINKEN: Es sei eine Kiste mit Tonbändern gefunden worden, mit der Aufschrift: „SK“. Schiedskommission.

G.-R. Stephan Die waren… ein bisschen verschollen.

Erzähler Bis jetzt. Vier Tonbänder, 13 Stunden, zwölf Minuten und 32 Sekunden Laufzeit.

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G.-R. Stephan Sie selber wollten sich stabilisieren. Das konnten sie eigentlich nur, indem diese Schuldfrage stärker benannt wird und die Schuldigen auch in dieser Form zur Rechenschaft gezogen werden. Man wollte sozusagen dem Wahlvolk gegenüber dokumentieren, dass man sich von dieser Form von Machtausübung trennen will. Sich davon abgrenzt.

Erzähler Ranghohe und prominente Genossen sind schon seit Dezember aus der SED ausgeschlossen: Erich Honecker, ehemals Generalsekretär und noch vor dem Mauerfall gestürzt, Stasi-Chef Erich Mielke oder Günter Mittag, als Wirtschaftssekretär zuständig für die Planwirtschaft.

Am 20. Januar geht es um andere Köpfe. Auch um bekannte Namen. Wie Egon Krenz, Günther Schabowski oder Joachim Herrmann.

G.-R. Stephan Jetzt kommt noch dazu, es läuft parallel die

Parteivorstandssitzung und da geht es wieder um die Frage, sein oder nicht sein.

Erzähler Die Partei auflösen oder weitermachen. Gut möglich, dass

es am Ende des Tages keine Partei mehr gibt, aus der man jemanden ausschließen könnte. Der neue Vorstand tagt nur wenige Häuser von der Schiedskommission entfernt.

G.-R. Stephan Also das ist die Nachfolgeeinrichtung einer sehr zweifelhaften

Institution innerhalb der SED, das ist die Zentrale Parteikontrollkommission. Die wurde in den Wendezeiten Schiedskommission. Schiedskommissionen gibt es auch in den anderen Parteien. Kennt man ja auch bei spektakulären Ausschlussverfahren und Ähnliches.

Erzähler Der Journalist Peter Kirschey ist als stiller Beobachter

gekommen. Damals ist er 46 Jahre alt. Er arbeitet für das Parteiblatt „Neues Deutschland“, war vorher Auslandskorrespondent der Zeitung „junge Welt“.

Peter Kirschey Als ich darein geraten bin, das war wirklich Zufall. Normalerweise

macht das jede Partei unter sich aus und lässt da niemanden eigentlich reingucken. Einfach nur gefragt, wie ist es? Ich will nicht berichterstatten, keine Sensation, nichts. Einfach nur… kann ich da nicht als stiller Zuhörer irgendwo einfach in der Ecke sitzen?

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Erzähler Stühle stehen um einen langen Tisch, es gibt Kaffee und Wasser. Die Schiedskommission zählt 19 Mitglieder. Frauen und Männer aus der Parteibasis. Gewählt auf dem letzten Sonderparteitag. Sie kommen aus der ganzen Republik. Was sie vereint, ist der Glauben an den Sozialismus und das Entsetzen über das, was gerade um sie herum geschieht.

Peter Kirschey Also, wenn ich mich jetzt erinnere. Ein Mikrofon. Dann standen

zwischendurch nochmal so zwei, die man dann so auf dem Tisch hin und her geschoben hat…

G. Wieland Also die Reihenfolge ist Euch bekannt? Peter Kirschey ...und bei Günther Wieland stand noch ein Mikrofon. G. Wieland Wir können noch nicht eine Pause machen. Wir müssen erstmal

ein oder zwei gehört haben. G.-R. Stephan Es gab natürlich die Profis in der Schiedskommission. Das ist der

Staatsanwalt Wieland, der der Vorsitzender der Schiedskommission ist. Aber auch mit politischer Gewandtheit. Das ist ja auch interessant. Der ist Spezialist für NS-Verbrechen. Und den holt man als Vorsitzenden der Schiedskommission. Der ist sozusagen der spiritus rector dieser Sitzung.

Erzähler Für die Ausschlussverfahren gibt es Spielregeln. Wenige

Wochen zuvor sind den 15 verbleibenden Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros Schreiben zugegangen. Mit Fragen zu ihrer Verantwortung innerhalb von Partei und Staatsführung. Und:

G. Wieland Eine letzte Frage, die wir allen gestellt haben. Wie stehst Du zur

Inanspruchnahme von Privilegien? Erzähler Die Vorgeladenen haben 30 Minuten, ihre Antwortschreiben

persönlich vor der Kommission zu verteidigen und weitere Fragen zu beantworten. Ausschluss im Akkord.

Peter Kirschey Dann ringsum saßen alle anderen und der Delinquent sozusagen

am anderen Ende des Tisches. Na, fangen wir mal an. Also ich glaube Margarete Müller war

eine der ersten. Sie ist Kandidatin gewesen. Sie war für Landwirtschaft zuständig.

G. Wieland So, nimm bitte hier Platz. Da am Mikrofon hast Du Gelegenheit…

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Erzähler Margarete Müller, 59 Jahre alt. Seit 1963 war sie Mitglied des Zentralkomitees der SED und Kandidatin des Politbüros. Das heißt, sie nahm an den Sitzungen teil, war aber nicht stimmberechtigt. Sie ist die Einzige an der Parteispitze, die ihr Geld als Werktätige verdiente. Als Leiterin einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.

Ihre schriftliche Antwort ist bei der Schiedskommission nie eingegangen.

G. Wieland So, nun hast Du sicherlich auch keinen Durchschlag mit? M. Müller Nein, ich muss ehrlich sagen, ich bin ein bisschen aufgeregt

gewesen, ich habe das alles zu Hause liegen lassen. Aber von der Sache her, kann ich das ja so sagen, wie ich das geschrieben habe. Also, ich habe ungefahr so geschrieben, dass ich bis 3. Dezember Mitglied in der Parteiführung war und auch deshalb die ganze Schuld, die entstanden ist, in unserer Partei, mit auf mich nehmen und meinen Anteil dafür tragen muss. Ich muss sagen, dass ich aufgrund der straffen Parteidisziplin, die wir oder uns so anerzogen war, mich einfach vielleicht nicht getraut oder auch nicht den Mut gefasst, irgendwas Eigenstandiges zu unternehmen, um Veranderungen herbeizuführen. Heute, ich weiß, dass gerade in den letzten zwei, drei Jahren draußen viele Probleme aufgetreten sind, und ich hatte in der Zeit eigentlich mehr sagen müssen, und die Schuld muß ich auf mich nehmen, dass ich das nicht getan habe oder nicht immer in dem Maße getan habe, wie es notwendig gewesen ware.

Genosse Hast du während dieser gesamten Zeit mal die Idee gehabt, für

die Ausfüllung dieses Amtes, nicht in der LPG, sondern im Politbüro, genügend Kompetenz zu besitzen?

Genosse Die will ich gleich ergänzen die Frage. G. Wieland Ja, tut das. Genosse Oder ist dir die Idee nicht gekommen? Kann ja sein. Genosse Wir sollten uns heute für meine Begriffe nicht in Kleinigkeiten

verlieren. Es geht um die Beurteilung der Mitglieder des Politbüros und die Arbeit. Nach unserer damaligen Struktur im Staate hatte das Politbüro die fast absolute Moglichkeit, auf alle gesellschaftlichen Prozesse Einfluss zu nehmen, und hat sie geleitet und geführt. Es war das Machtinstrument, das praktisch diese gesamte gesellschaftliche Entwicklung geleitet hat. Nach unserem Statut auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus, seiner schopferischen Anwendung und Weiterentwicklung führt und leitet die Partei die Gesellschaft zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft usw.

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G. Wieland (liest) Entsprechend dem Statut der SED. Gegen Subjektivismus, Missachtung des Kollektivs…

Erzähler Das Statut der SED vereint sämtliche Gebote für Mitglieder

der Partei zum richtigen Leben im Sozialismus. G. Wieland (liest) … und gegen Versuch anzukämpfen, die Kritik zu

unterdrücken. Peter Kirschey Das Statut das war sehr wichtig, ja. Sich daran zu halten, sich

daran zu orientieren. Weil ja dieses Grundprinzip, dieses Grundprinzip Lenins, die Einheit der Partei, habe ich wirklich auch gelernt. Auswendig gelernt zum Teil.

Genosse Können wir das nochmal ganz kurz hören? Das letzte? Die

Punkte: „Kollektivitat“? G. Wieland Ja, ah… (liest) „gegen den Versuch der Missachtung des

Kollektivs. Gegen Egoismus und Schönfärberei aufzutreten“. Genosse Gegen das Statut zu verstoßen. Erzähler Der Historiker Gerd-Rüdiger Stephan: G.-R. Stephan Dieser Kodex, wenn man das so will, des Marxismus-Leninismus

und dieses Parteienverständnis. Also man macht das, was die Führung beschließt. Das wird durchgeführt. Und dann gibt es auch keinen Zweifel daran. Dann gibt es auch keine nachgeordnete Diskussion dazu. Nur mal so als Beispiel, ne. Wenn sie das dann mal aus dem Ding rausdrehen, kommen sie eigentlich rasch wieder in die Struktur rein, die sie eigentlich damit abschaffen wollen. Indem sie sagen, Du hättest dagegen monieren sollen, aber da steht ja eigentlich drin, Du musst den Beschlüssen folgen, ne.

Peter Kirschey Das kriegt man sozusagen mit der Muttermilch anerzogen, dass

die Partei immer recht hat. Und dann ist es eigentlich klar. Genosse Nichts vom Sozialismus haben wir angewandt. Alles unterdrückt

durch subjektive Maßnahmen. Wer hat die Verantwortung, die volle, dafür? Wieso konntet ihr so ein Statut verfassen, überhaupt nie daran interessiert sein, die Grundgesetze des Sozialismus zur Anwendung zu bringen? Das ist doch eine solche Inkompetenz. Dass es für mich nur ein Entschluss geben kann. Wenn wir die nicht sofort alle ausschließen, kompromittiert sich die gesamte Partei. Das verzeiht Euch niemand!

M. Müller Ähm… G. Wieland Lass mich nur einen Satz anfügen. Siehst Du das heute auch

so?

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M. Müller Sicher. Man hat ja nun langsam Zeit doch ein bisschen zu grübeln. Aber was zu den Privilegien. Ich war Mitglied in der Jagdgesellschaft Lübbersdorf. Das Jagdgebiet, man hatte mir ein Hegegebiet von 200 Hektar Bruch und Wiese gegeben, wo ich jagen konnte. Ich habe dort keine besonderen Futtermittel oder Bedingungen gehabt. Und ich bin so jagen gegangen, wie ich eben konnte. Äh… 1974/75 kam die Forst an und sagte, wir würden gerne dort etwas bauen, was du da nutzen kannst. Ich habe mich erst gestraubt, ich habe gesagt, ich mochte das nicht, weil ich ja, das ist eine halbe Stunde vom Dorf weggewesen, ich sage, ich habe das hier, ich komme da auch so hin. Na ja, aber die haben ein bisschen darauf gedrückt, es ist dann auch gemacht worden.

Peter Kirschey Das war ja die Zeit davor, wo alle über Wandlitz berichteten.

Über Privilegien. Und dann wurde wieder ein Haus entdeckt, wo goldene Schlösser waren.

Erzähler In Wandlitz bei Berlin lebten die Mitglieder des SED-

Politbüros. Abgeschottet und bewacht in einer Waldsiedlung. Dort hatten sie unter anderem die Möglichkeit West-Ware einzukaufen - und nicht mitzubekommen, wie das Leben außerhalb dieser Welt verlief.

G.-R. Stephan Die Meisten im Westen haben sich totgelacht, als sie die Bilder

da gesehen haben von irgendwelchen Armaturen, die zwanzig Jahre alt waren und im Osten haben sie das Heulen bekommen, weil sie da an so einem Plastehahn hängen und der ist auch noch mit so Isolierband gekittet. Dass das, was da sozusagen emotional dann durchschlägt.

Genosse Deine Position, dir ist das Forsthaus „aufgedrangt“ worden –

hattest du es nicht genommen. Das ist mein Standpunkt. Genossin Du sagtest, 200 Hektar Jagdgebiet wurden dir zur Verfügung

gestellt. M. Müller Hegegebiet, genau wie jeder normale andere Jäger, das ist ein

Hegegebiet. Genossin Nur für ein Jagdkollektiv? M. Müller Innerhalb des Jagdkollektives. Das ist keine Staatsjagd und

nichts Anderes gewesen. Das ist innerhalb des Jagdgebietes ein Hegegebiet gewesen.

Genossin Welcher Personenkreis ist denn da jagen gegangen?

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M. Müller Für mich hatten sie das, also praktisch ein bisschen personengebunden. Um 150 bis 200 Hektar. Da gehen manchmal zwei oder drei. Aber weil ich ja nun nicht immer so gehen konnte.

G. Wieland Gut, hier kommt ein Antrag. Genosse Genossen, ich glaube, wir können aufhören zu diskutieren. Ich

stelle den Antrag, die Genossin Müller wegen Inkompetenz und grober Verletzung des Statuts der Partei aus der Partei auszuschließen.

G. Wieland Gut, Genossin. M. Müller Ich mochte aber sagen, ich werde trotzdem der Sache der Partei

treu bleiben, weil ich ja mein ganzes Leben für die Partei gearbeitet habe.

Genosse (flüstert) Mit welchem Ergebnis? M. Müller Ich habe alles andere zurückgestellt. Erzähler Abstimmung. G. Wieland Gut, Genossin. Wer dafür ist, die Parteimitgliedschaft der

Margarete Müller hiermit zu beenden, den bitte ich ums Handzeichen.

Erzähler Es heben sich neunzehn Hände. G. Wieland Darf ich erstmal feststellen, gibt es Gegenstimmen? Enthält sich

jemand der Stimme? Das ist nicht der Fall. Genossin Schönheit, nimmst Du es entgegen? So, damit hat sich das für Dich erledigt.

M. Müller (atmet tief ein) Ich möchte trotzdem sagen, ich werde

weiterarbeiten, so, wie es in meinen Kräften steht. (verkneift sich die Tränen)

G. Wieland Joa. Das nehmen wir zur Kenntnis. So… M. Müller Bin ich frei, ja? (traurig) Wiedersehen. G. Wieland Mal noch nicht den Nächsten reinrufen. (Gemurmel) G.-R. Stephan Das ist natürlich eine Methode, die da angewendet worden ist,

das ist ja die alte Methode. Ne? Du setzt die dahin und andere Spielregeln. Aber das ist ja wie ein Prozess. So hätten sie es mit anderen gemacht und so wird es jetzt mit ihnen gemacht.

G. Wieland Ich sage, es war sicherlich nicht die glücklichste Lösung, dass

man eine der Blödesten zum Anfang hat.

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Erzähler Es tritt vor: Günter Schabowski, der Mann, der auf der berühmten Pressekonferenz vom 09. November 1989 die unverzügliche Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR ankündigte, hat mit seiner Familie auch in Wandlitz gelebt.

G. Schabowski Genossen, also, wenn ich hore, dass ich über 100 000 Mark oder

für meine Familie dort ausgegeben habe, dann muss ich sagen, ich muss das zur Kenntnis nehmen, aber das ist ja mehr, als ich im Jahr verdient habe. Ich habe nicht so viel verdient im Jahr. Und ich staune selber darüber, wie das zustande gekommen sein sollte. Dass die Summe sicherlich großer ist als, sagen wir mal, bei dieser oder jener anderen Familie, hangt auch damit zusammen, dass wir eine relativ große Familie sind. Wir sind fünf Personen und haben auch entsprechend mehr, also sicherlich mehr ausgegeben für bestimmte Dinge. Und ich habe davon meiner Frau erzählt. Meine Frau war betroffen davon und sie hat bestatigt, sie hat mir bestatigt, dass sie also großere Einkaufe dort gemacht hat in der letzten Phase. Und ich habe sie gefragt, was sie gekauft hat, und sie hat zu mir gesagt, sie habe – also in der Annahme, in der sicheren Annahme, weil ich ihr das ja schon vorher angekündigt hatte, dass wir Wandlitz verlassen werden – dort auch eine Reihe von Sachen für unsere Familie gekauft, von denen ich heute sagen muss, dass wir sie zum Teil dringend brauchen. Ja, also wir sind wie gesagt, eine fünfkopfige Familie. Sie hat in großerem Maße dort auch Bettwasche gekauft, wie sie mir sagt.

G.-R. Stephan Dass man natürlich auch merkt, dass der von lebenspraktischen

Dingen keine Ahnung hat, aber er muss jetzt dreißig Mal Bettwäsche kaufen, weil das ja mit dem Waschen sonst schwierig wird.

G. Schabowski Wo ich also für einmal Beziehen in der Woche also fünfmal

abgeben muss. Ich bekomme in vier Wochen, also im günstigen Falle, die Wasche wieder, das sind also bis zwanzigmal zum Beziehen.

Genossen Jetzt geht mir der Hut hoch. Wir waren sechs Kinder zu Hause. Mein Vater war Bergmann auf dem Schacht.

G. Schabowski (brüllt) Ich sage das ja nicht zur Rechtfertigung! Ich sage das ja

nicht zur Rechtfertigung! Ich sage, dass solch eine Überlegung mit eine Rolle gespielt hat. Soll ich auf diese Frage antworten oder was soll ich machen?

Genosse Man, man, man. Zum Kotzen! G. Wieland So, liebe Genossen! Erzähler Der Beobachter Peter Kirschey:

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Peter Kirschey Da heizte sich die Stimmung auf. Manche saßen da und waren fassungslos. Mir ist besonders in Erinnerung geblieben Joachim Herrmann. Der war ja für Agitation und Propaganda zuständig. Also wenn man so will, mein Chef im weitesten Sinne.

J. Herrmann Und ah… das ist eine… dazu muss ich sagen… dass im

Politbüro… es keine vollen Informationen und auch keine… Peter Kirschey Dann sah ich diesen Mann dort sitzen und der hat sowas von

gestottert und zusammenhanglos erzählt. Also da kam nichts. Er hat wirklich Sätze formuliert, wo man sich wirklich festhalten musste.

J. Herrmann …kann ich nicht sagen. Genosse Genosse Herrmann, hast Du daran geglaubt, warst Du

überzeugt, dass das richtig ist, was über die Medien, durch Dich verantwortet, gelaufen ist? Das sind klare Fragen.

J. Herrmann Jawohl. Also der Widerspruch bestand in dem, dass man

gewusst hat, dass sich die Tatsachen, die in den Medien veröffentlicht wurden, mit den Stimmungen in der Bevölkerung ah…ah… nicht in Übereinstimmung befunden haben. Und ich habe…

Genosse (Zwischenruf) Also habt Ihr bewusst gelogen! J. Herrmann Nein! Nicht bewusst… ah… Genosse Natürlich! Was ist das denn dann anderes? J. Herrmann Ja, es muss ja so herauskommen. Ich will nur vorher sagen. Erzähler Einen Tag vor dem Zusammentreffen zwischen Joachim

Herrmann und der Schiedskommission berichtet das „Neue Deutschland“ von einem, Zitat: „infamen Auftritt des früheren Mediendiktators“. Er habe zugegeben, dass er der Tageszeitung bis ins letzte Detail Texte diktiert habe. Er hätte von einer „Art Zensur“ gesprochen. Aber auch von einer „Art Selbstzensur“. Peter Kirschey hat in der Redaktion gearbeitet.

Peter Kirschey Ja und da ist eigentlich klar, wir haben beim ND jeden Tag

diskutiert. Also es ist nicht so, dass es keine Diskussionen gab. Wir haben beim ND jeden Tag diskutiert, was für einen Schwachsinn wir wieder geschrieben haben. Aber wir haben eben nichts geändert. Bloß es gibt immer den Punkt, wann hätte man anfangen sollen?

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J. Herrmann Wenn wir in den Massenmedien von der Erfolgspropaganda! Ich nenne diesen Begriff hier mal, weil das war ein stehender Begriff! Wenn wir davon abgehen und dem Gegner Raum geben, ich muss das jetzt so zitieren, wie sich das heute zwar eigenartig anhört.

G. Wieland Darfste! Genossin Ich erwarte keine Beantwortung mehr. Ich möchte beantragen

Joachim Herrmann aus unserer Partei auszuschließen. Erzähler Einstimmig angenommen. G. Wieland Seid Ihr damit einverstanden? (Pause) Genosse Immer noch unehrlich zu sich selbst. Genosse Was haben die denn für eine miese Rolle gespielt! Das gibt’s

doch überhaupt nicht. G. Wieland Das geht natürlich unter die Haut, wem wir da mal ausgeliefert

waren. Um es mal deutlich zu formulieren. Schlimm. So, wir hatten für 13 Uhr das Mittagessen bestellt und dabei

bleiben wir. Genossin Schönheit, würdest Du? Ne, Moment! Hier gibt’s noch was.

Genosse Ich habe nur eine Bitte. Also hier erschien gerade, vielleicht ist er

nicht allen Genossen bekannt, der Peter Mosch. G.-R. Stephan Parallel zu der Schiedskommission lief die Sitzung des

Parteivorstandes. Erzähler Ein Genosse ist in das Hotel gekommen. Er will einen

Zwischenstand abgeben. G.-R. Stephan Wenn sie sich aufgelöst hätte, hätten sie auch das Verfahren

damit der Schiedskommission beenden können. Wäre ja dann obsolet geworden, ne.

Genosse Ja, das ist sehr gut. G. Wieland So, Peter! Wir hätten den Wunsch, dass Du uns mal kurz

informierst, wie es da drüben aussieht. Peter Mosch Das kann ich auch nur kurz machen. Ihr müsst verstehen,

Genossen, ich bin da drüben eben nur kurz rausgerannt. Wie ist die Lage zu skizzieren? (unverständlich)

Erzähler Er sagt, dass er sich kurzfassen müsse und nur rasch

hinübergerannt sei. Es hätte viele Diskussionsbeiträge gegeben.

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Peter Mosch Und aus der Sorge heraus, ist es nicht besser, wenn wir uns auflösen, damit wir dem Erneuerungsprozess nicht im Wege stehen. Dann haben nochmal zwei, drei Genossen geredet mit klaren Bekenntnissen für nicht auflösen!

Erzähler Noch weiß niemand, wie es weitergehen soll.

Also tagt die Schiedskommission nach dem Mittagessen weiter. Als nächstes an der Reihe: Alfred Neumann.

G. Wieland Ein Wort zu Alfred Neumann. Erzähler 80 Jahre alt. G. Wieland Der ist nun noch ein bisschen alter. Ähm… er hatte mich Anfang

der Woche angerufen. Ne, geschrieben hat er. Ist ja egal. Jedenfalls wissen lassen, dass er sich außer Stande sieht zu kommen, weil er alleinstehend ist. Jetzt den Umzug aus Wandlitz zu bewerkstelligen hat. Er hat aber dann in der Schiedskommission angerufen und gesagt, ne, also er will das also weghaben, er kommt.

A. Neumann Worin besteht der Konflikt, den ich allein im Kopf auszutragen

habe? Erzähler 35 Jahre lang gehörte Alfred Neumann den obersten

Parteigremien an. Er berichtet davon, dass er zwar die Verfehlungen seiner Genossinnen und Genossen gesehen habe, aber allein nichts habe ausrichten können.

A. Neumann …die Ohren der anderen zu öffnen.

Genosse Wenn ich alleine nichts erreiche, dann muss ich doch Verbündete suchen!

A. Neumann Ja, das sagt Ihr heute unter anderen Gesichtspunkten! Genosse Mensch, das kann doch nicht wahr sein. A. Neumann Aber es ist wahr. Aber es ist wahr… ich… Genosse Wieso denn? Erklär das mal! Genosse Das kann doch keiner begreifen! A. Neumann Ja, Ihr seht das unter einem anderen Gesichtswinkel.

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G.-R. Stephan Das war eben zum Beispiel diese Unterordnung des eigenen Interesses unter kollektive Interessen, das heißt, diese Beschlusstreue. Das allerschlimmste ist, wenn man sich gegen die eigene Partei wendet, das spielt ja schon seit den Kriegstagen und Widerstandstagen eine große Rolle. Und das wurde ja immer so fortgesetzt. Auch unter Zeiten, wo das dann überhaupt nicht mehr zeitgemäß war und zu nichts mehr führte!

Genosse Entschuldige… ich muss nochmal was sagen. Ne… Genossin Es ist eine Frage auch der Achtung des Alters. Und eine Frage

der Würde, jemanden ausreden zu lassen. Bitte Genossen. Genosse Ah… (stohnt) G. Wieland So, also rede zu Ende. A. Neumann Also ich will mal ein Beispiel nennen. Ich war in der

ökonomischen Kommission, die zum X. Parteitag die Direktive ausarbeitete. Mittag kommt mit seinem Vorschlag: 45 000 Roboter. War ja bekannt. Ich sage ihm und sage in der Kommission, 45 000 Roboter, dafür gibt es gar nicht die Investitionsmittel. Das reicht doch nicht, wenn jeder Roboter 120 000 Mark hat, können wir diese Summe gar nicht aufbringen. Was war das Endergebnis? Die 45 000 Roboter kamen hinein, und die Definition, was Roboter sind, wurde geändert. Aber das hat doch mit mir nichts zu tun, das wurde doch auf eine andere Weise gemacht.

G. Wieland Gut, das glaube ich dir, dass du das gemacht hast. Aber,

Genosse Neumann, jetzt geht es nicht darum. Du bist einer der längsten mit im Politbüro. Du hast, wie du selber sagst, damit die politische Verantwortung für das, was dieses Kollektiv gemacht hat. Und aus diesem Grunde hat der Genosse da hinten den Antrag gestellt, dass wir heute deine Parteimitgliedschaft beenden.

Peter Kirschey Aber, wenn eben jemand kommt, der nun, weiß nicht, 40, 60

Jahre Mitglied der Partei war und der nun so abrupt ausgeschlossen wird von heute auf morgen da. Und da hat man schon geschluckt. Hat man ein sehr ambivalentes Verhältnis gehabt zu der Situation. Obwohl vom Prinzip her war man überzeugt, das ist der einzig mögliche Schritt.

G. Wieland Hast Du zu dem Antrag was zu sagen? A. Neumann Ja, ich sage noch mal, ich bin 60 Jahre in der Partei. Dass man

in 60 Jahren, und ich habe erlebt, ich war in Frankreich verhaftet gewesen, bin nach der Beendigung bzw. im Februar rausgekommen aus dem Zuchthaus Brandenburg, bin sofort bei der ersten Berührung übergelaufen, da gibt es Zeugen, musste bis 1947, Juli, in der Sowjetunion in Kriegsgefangenschaft

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bleiben, bin zurückgekommen, habe angefangen zu arbeiten. Die Amerikaner haben mich 1948 verhaftet, weil ich am 100. Jahrestag der großen bürgerlichen Revolution die schwarz-rot-goldene Fahne rausgehängt habe. Und ich rede gar nicht von Frankreich, dass mich die Vichy-Regierung auch ins Gefängnis gesteckt hat und da haben sie mich dann an die Deutschen ausgeliefert. Ich meine, man soll doch mal alles im Zusammenhang sehen.

Erzähler Bei der Abstimmung gibt es drei Enthaltungen. Die anderen

sind für den Ausschluss. A. Neumann Also, ich danke. Auf Wiedersehen. Genosse Hach, ja. G. Wieland Aber ich habe nur eine Bitte, liebe Genossinnen und Genossen,

dass ihr gerade das, was ihr jetzt in dieser letzten Stunde hier miterlebt habt, soweit euch das möglich ist auch an die Parteibasis herantragt. Denn bei all denen, die mir hier Briefe geschrieben haben – alle raus! Ich verstehe ja diese Empörung. Aber ich war darauf eingestellt, was hier heute auf uns zukommt, insbesondere auch bei Ali Neumann. Und es ist leicht, über den Tisch wegzurufen: Ihr müsst auch den Ali Neumann ausschließen. Wie gesagt, ich kenne ihn seit 35 Jahren. Ich weiß, welche Rolle er als Erster Sekretär in dieser Stadt gespielt hat. Aber das ändert nichts an der Verantwortung, die solche Leute gehabt haben. Bloß wie gesagt, bringt das auch der Parteibasis bei, dass wir es uns weiß Gott nicht leichtgemacht haben. Ja, machen wir Pause. Viertelstunde würde ich sagen. (Pause)

(ruft) Ich würde sage, viel schwerer kann es nun nicht mehr

werden. Erzähler Die ehemaligen Herrscher müssen im Vorraum warten.

Teilweise mehrere Stunden lang. Bis die Tür aufgeht und die Genossin Schönheit mitteilt, wer als Nächstes an der Reihe ist.

Peter Kirschey Die Politbüro-Leute haben sich dann untereinander getroffen und

haben sozusagen mit Fassungslosigkeit reagiert. Und von den Schiedskommissionsleuten, hatte ich den Eindruck, die haben einen Bogen um sie gemacht, um nicht jetzt noch einmal in Gespräche zu geraten, über Sinn und Unsinn dieser Ausschlussveranstaltung und hatten natürlich auch viele Mitgefühl und wollten schon deshalb nicht in deren Kontakt kommen.

G. Wieland So, Genossin Schönheit, würdest Du dann den Siegfried Lorenz reinholen?

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Schönheit Und die Genossin Bischoff mit, ja? Erzähler Der Genosse Lorenz kommt in Begleitung. G.-R. Stephan Lorenz war erster SED-Bezirkssekretär, also der Parteichef des

Bezirks Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, und hatte vor allen Dingen überhaupt keine Privilegien.

S. Lorenz Ich habe und ich habe das in meiner Stellungnahme zum

Ausdruck gebracht, auf wichtige, für meine Begriffe und aus der damaligen Sicht, ich sehe das heute bedeutend schärfer, auf wichtige Probleme versucht aufmerksam zu machen.

G. Wieland Aber wir sind uns einig? Für die Zeit von 86 bis 89 trägst Du

mit… S. Lorenz Ja! G. Wieland …die politische Verantwortung. S. Lorenz Ja! Ja! Ja! G. Wieland So, liebe Genossinnen und Genossen, wir haben… (Fade) Erzähler Im Fall Lorenz kommt alles anders. Eine Genossin stellt den

Antrag, dass er in der Partei verbleiben dürfe. Sein Handeln im Politbüro sei nicht ganz so verwerflich gewesen.

G.-R. Stephan Die Schiedskommission ist vor sich selbst entsetzt und muss

erstmal unterbrechen, weil sie das ja irgendwie jetzt schwierig finden. Dann gucken sie sich aber alle in die Augen und sagen, naja, der hat, war ja dann aber doch ein überzeugender Auftritt und der hat ja nichts am Stecken, sozusagen, was man uns jetzt vorwerfen kann.

G. Wieland Es gibt jetzt einen Antrag der Genossin Moritz. G.-R. Stephan Das war ja sogar nicht schlecht, das so zu vermakeln und zu

sagen, naja, den Kollegen Lorenz, der war ja da, der hat ja da nachgewiesen, dass er sich da was zu Schulden hat kommen lassen, aber nicht so schlimm, dass man ihn ausschließen muss. Den haben wir dann auch drin gelassen. Ne. Für so eine pluralistisch mehr ausgerichtete Politik war das ja nicht so verkehrt.

Erzähler Eine Stimme für den Ausschluss. Fünf Enthaltungen. Zwölf

Stimmen dafür, dass Lorenz bleiben darf. G. Wieland Ihr habt beide das Abstimmungsergebnis der

Schiedskommission gehört.

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Erzähler Es ist später geworden als gedacht. Genosse Ich müsste mal anrufen zu Hause eigentlich. Erzähler Und es liegen noch einige Gespräche vor ihnen. Die

Genossin Schiele müsste eigentlich nach Hause. Ihr letzter Zug fährt gegen 19 Uhr.

G. Wieland Ja, bitte! Genossin Die Genossin Schiele hat ein paar persönliche Probleme. Sie

müsste eigentlich schon seit zwei Stunden hier fort sein. Wir wissen ja, wie lange das noch geht.

Genosse Ja, dann kann sie ja doch gleich gehen. G. Wieland Könnte auch noch mit Abendbrot essen. Genossin Wie lange schätzt Ihr denn noch ein? G. Wieland Du, also Egon Krenz, das dauert noch lange. Also, ich würde

sagen, Genossin Schiele, da keine falsche Bescheidenheit. Erzähler Der Zeitplan gerät aus den Fugen. Gerd-Rüdiger Stephan: G.-R. Stephan Dass das vielleicht sogar ein Ding der Unmöglichkeit ist, in einer

halben Stunde so eine Bewertung vorzunehmen in dem Kontext. Aber, wie gesagt, wenn man nicht mal weiß, ob man als Partei noch existiert, muss man natürlich sehen, dass man das dann doch vielleicht noch mit zu Wege bringt. Aber an sich ist das natürlich ein völlig falscher Ansatz.

Genosse Genossen! Genossen! Erzähler Am Abend gibt es Neuigkeiten aus dem Parteivorstand. Genossen Hier gibt es zwei Dokumente, die sind hergebracht worden, die

momentan im Parteivorstand diskutiert werden. Noch als Entwürfe, die zur Diskussion stehen.

Erzähler Jetzt erfährt die Schiedskommission, ob sie am Ende alle

ohne Partei dastehen. Genosse …im Moment in der Diskussion! Genosse Also geht’s nicht mehr um die Auflosung? Hor‘ ich das richtig? Genosse Na, sonst kannst Du solche Dinge ja nicht einbringen! Musst Du

ja existieren! Genosse Mensch, Du! Ne!

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Erzähler Es geht weiter. Horst Dohlus, Heinz Keßler, Werner Jarowinsky, Erich Mückenberger, Kurt Hager, Werner Walde – sie alle müssen ihr Parteibuch abgeben. Um kurz vor Mitternacht ruft die Genossin Schönheit die Genossin Inge Lange herein. Insgesamt 16 Jahre war sie Kandidatin des Politbüros, ohne Stimmrecht. Zuständig für Frauenfragen.

Inge Lange Bitte, ja. Hm… G. Wieland Genossin Lange, du hast in deine Stellungnahme

reingeschrieben, nur um den Preis des Ausschlusses ware es moglich gewesen, zu opponieren (jemand hustet)…

Erzähler zu opponieren… G. Wieland …gegen das, was sich da in der Parteiführung tat. Die Richtigkeit

dessen will ich ohne weiteres akzeptieren. Ich habe aber die Frage, hast du dich mit diesem Problem einmal ernsthaft auseinandergesetzt?

Inge Lange Oh, ja. Doch, in den letzten zwei Jahren auf alle Fälle. Vorher

nicht, aber in den letzten zwei Jahren habe ich das getan. Und eigentlich also doch gescheut, was dann folgen wird, weil ich auch davon ausging, wem nützt es?

K. Lange-Müller (belustigt) Wem nützt es? Inge Lange Du fliegst raus, todsicher. Und es ändert sich am Zustand nichts. Erzähler Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ist die Tochter von

Inge Lange. Sie hört dieses Tonband zum ersten Mal.

K. Lange-Müller Ich denke mal, dass sie das auch noch wollte. Also diese Demütigung ausgeschlossen zu werden, die wollte sie sich irgendwie auch noch gönnen.

(zündet sich eine Zigarette an) Genosse Also ich weiß nicht, ich könnte sicherlich damit sicher nicht leben. Inge Lange Ja, ich kann mir ja nicht das Leben nehmen. Genosse Doch… Nein, nein! Aber sich zu bekennen… K. Lange-Müller Eigentlich war sie kein theatralischer Mensch. Wie man schon an

diesen mageren und auch sehr ungefähren Auskünften hört, sie wird ja nie konkret, an keiner einzigen Stelle, ne. Diese Formelsprache, Parolen-Rhetorik, das hatte sie wirklich verinnerlicht. Ganz egal, ob es um Krümel auf dem Tisch ging

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oder um irgendwelche Missstände, zu denen man sie befragte oder von denen man versuchte ihr zu erzählen, dann lautete die stereotype Antwort eigentlich immer: Das kann gar nicht sein! Wenn das stimmte, was Du da erzählst, dann wüssten die Genossen das doch.

Erzähler In der Schule wurde Katja Lange-Müller jeden Tag daran

erinnert, dass ihre Mutter eine Parteifunktionärin ist. Tatsächlich war sie aber vor allem eines: abwesend.

K. Lange-Müller Es hat sie uns auch schon, als wir ganz klein waren, immer

gesagt, dass sie ja schließlich um den Weltfrieden bemüht und dass das ja wohl wichtiger ist, auch für uns. Das haben wir als Kinder klaglos akzeptiert. Klar ist der Weltfrieden wichtiger.

Erzähler Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter brach 1976

endgültig ab, nachdem Katja Lange-Müller sich für den ausgewiesenen Wolf Biermann einsetzte. 1984 reiste sie aus der DDR aus. Die Mutter konzentrierte sich weiterhin auf die Arbeit.

Inge Lange Das war einfach kompliziert und sonntags und sonnabends hat

man gesessen und den Berg von Vorlagen durchgeackert, von denen man eben oft am Ende nicht mehr wusste, was man am Anfang gelesen hat, weil es einfach nicht zu verdauen war, das war auch der ganze Stil der Arbeit.

K. Lange-Müller Sie hatte schon so eine, so eine gewisse Gescheitheit. Aber sie

war keine gebildete Person. Und von ökonomischen Belangen verstand sie ganz sicher nichts.

Genosse Und das ist die schwere Mitschuld! Wir machen uns das nicht

leicht hier. Wenn man schließlich dann sagt, aufgrund dieser Sache kann ich nur den Antrag stellen, Ausschluss aus der Partei. Um diese Sache sauber abzuarbeiten. Auch vor unserem Volk.

Inge Lange Ja, ich würde mir wünschen Mitglied der Partei bleiben zu

können. Aber wenn die Kommission zu dieser Überzeugung kommt, dann muss ich das akzeptieren.

(Pause) Ich war 1945 achtzehn Jahre. Und die Partei war mein Leben. K. Lange-Müller Ja, die Wahrheit! Also die Partei war ihr Leben. Das kann man…

ich denke… anders habe ich sie auch nicht kennengelernt. Genossin …auch wenn Sie 60 Jahre Mitglied der Partei sind, das tut mir

sehr weh. Ich fast bin 27 Jahre, ich bin auch mit 18 in die Partei. Aber Ehrlichkeit zum Statut setze ich eigentlich voraus.

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Inge Lange Nun gut. Trotzdem habe ich für die Frauen einiges gemacht. Genosse Sicher, ja. Inge Lange Ich denke zum Beispiel an den Paragraphen 218. Erzähler 1972 verabschiedete die Volkskammer der DDR das „Gesetz

über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ – innerhalb von zwölf Wochen durften Frauen nun selbst über einen Abbruch entscheiden. Zuvor war es eine Kommission, die darüber befand.

Inge Lange Um ihn durchzusetzen habe ich dreimal Anlauf genommen. Katja Lange Eigentlich viermal. Genosse Genossin Lange… Inge Lange Das war nicht einfach! Und schließlich haben wir es geschafft.

Und vieles andere mehr. Aber das, also, entbindet ich nicht alles dessen, was ich hier beschuldigt werde, mit Recht beschuldigt werde. Ich akzeptiere den Antrag auf Ausschluss.

Katja Lange Ja, sie hätte dem zuvorkommen können. Aber ich denke, sie

wollte sich irgendwie auch stellen. Es wäre ja einfacher gewesen und sicherlich auch feiger, zu sagen, gehe ich von mir aus. Macht Euren Kram alleine. Das hat sie nicht gemacht und natürlich hat sie nochmal auf ihr nochmal wichtigstes Verdienst hingewiesen und da bin ich nun wirklich ziemlich sicher. Also ohne ihr insistierendes und wiederholtes sich Einsetzen für die Abschaffung des Paragraphen 218 wäre der entweder viel später abgeschafft worden, sogar auch später als in der Bundesrepublik Deutschland. Wo er ja so einhellig auch immer noch nicht abgeschafft ist. Ja, da kann sie sich die Schürze schon mal glattstreichen. Das war ja schon mal was! (Zigarette anzünden)

Äh… jetzt erst, wo ich alter und vielleicht auch einen anderen

Raum in den Blick nehme, kann ich mir ein paar Sachen eher erklären ohne sie entschuldigen zu können oder zu wollen.

Erzähler 15 Stimmen für den Ausschluss. G. Wieland So, gibt es Gegenstimmen? Gibt es Stimmenthaltungen? Eine

Stimmenthaltung. Du hast gehört. (Reißverschluss schließt sich)

Erzähler Inge Lange schließt ihre Handtasche und erhebt sich. Genossin Inge!

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Peter Kirschey Da das für alle unvorstellbar war, was da passierte. Sie wussten, es endet mit dem Ausschluss. Vorstellbar war es nicht. Vorstellbar war es nicht und insofern ging alles über die Emotionen.

Inge Lange Auf Wiedersehen! Genossen Auf Wiedersehen. G. Wieland So! Es ist jetzt schon 20 Minuten her, seitdem die Genossin

Boehme Geburtstag hat. Ich möchte wenigstens diese Gelegenheit nutzen, um Dir recht herzlich zum Geburtstag zu gratulieren.

(Applaus) Seid Ihr einverstanden, dass wir nunmehr den Genossen Krenz

hereinbitten? Einverstanden? Genossin Schönheit! Genosse 00:20 Uhr tatsächlich. Guten Morgen. G. Wieland So, bitteschön. Nimm dort Platz, wo das Mikrofon ist. Wir

müssen uns zunächst bei Dir entschuldigen, dass Du solange warten musstest.

Egon Krenz Ihr habt ja auch solange sitzen müssen. G. Wieland Wie, bitte? Egon Krenz Ihr habt ja auch solange sitzen müssen. G. Wieland Ja, niemand von uns hatte natürlich erwartet… Erzähler Egon Krenz. Nach der Absetzung des 25 Jahre älteren Erich

Honeckers im Oktober 1989 wurde er dessen Nachfolger als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED. Zum ersten Mann im Staat. Vorher leitete er mehrere Jahre lang die Jugendorganisation der SED, die Freie Deutsche Jugend. Er gilt als ein Ziehsohn Honeckers.

Egon Krenz Genossen, ich war in einer nicht einfachen Lage. Ich war viele Jahre der Jüngste in diesem Politbüro und bin in dieses Politbüro eingetreten mit der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun, in Überzeugung davon, dass etwas Gutes gemacht wurde, eine richtige Politik zum Wohle des Volkes. Und es war ein Politbüro, in dem zum damaligen Zeitpunkt über zwei Drittel Genossen waren, die Erfahrungen im antifaschistischen Widerstandskampf hatten, die teilweise meine Väter sein konnten.

G.-R. Stephan Es ist ja immer diese Geschichte, die da auch erzählt wird, dass Leute, die auch schon ausscheiden wollten, dass sagen auch einige, dass sie immer auch von Honecker oder auch von

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bestimmten Kontexten im Politbüro dazu genötigt wurden weiterzumachen. Obwohl sie Rentner wurden und sagten, jetzt könnte ich ja in Rente gehen, nein, auf Dich können wir nicht verzichten, weil das natürlich auch zum Teil eine Frage der Sicherheit der Gewährsmänner war. Man hatte erstmal schon die Leichen im Keller und man konnte sozusagen sicher sein, die verändern sich nicht mehr in ihren charakterlichen Dingen, wenn die dann 65, 70 oder 75 waren. Das ist jetzt so von dem Hintergrund.

Egon Krenz Von denen ich nicht gewusst habe, dass sie neben der Arbeit, die sie leisten, ein Privatleben führen, das völlig anders ist. Das ist zwar ein Punkt, mit dem muss ich leben, dass mir das keiner glaubt.

Genossin Das war für mich eine schlimme Atmosphäre hier, so altgediente Genossen aus der Partei auszuschließen. Ich möchte aber sagen, Genosse Krenz, du bist gerade in meiner Generation eine Symbolfigur für uns. Ich spreche jetzt, Ihr wisst, in Mecklenburg geschieht manches später. Du hattest einen unwahrscheinlichen Kredit bei uns, bei meinen Genossen. Und wir haben uns heute untereinander ausgetauscht. Und als diese Wende herbeigeführt wurde und Du dieses ausgesprochen hast, habe ich all meine Hoffnungen in Dich gesetzt und habe versucht, auch die Genossen, die gezweifelt haben, zu überzeugen. Ich bin aber leider von Tag zu Tag enttäuscht worden. Und bin auch bei den Genossen unglaubwürdig geworden, dass ich so ein Vertrauen in Dich gesetzt habe.

Genossin Ich habe nicht eine Nacht mehr schlafen können. Ich habe

Spinnen und sonst etwas gesehen, weil jeden Tag ein Genosse kam mit Tränen in den Augen und hat gesagt, also mit dieser Situation, mit Wandlitz und allem, das hätte Genosse Krenz verhindern können. Das hat er nicht getan. Er hat uns so geschädigt! Und ah… diese Emotionen gehen mir trotz dieser langen Zeit immer wieder durch und durch. Und dieser Vorwurf…

Erzähler Seit Sommer treten die Genossen der Parteibasis zu

massenweise aus. Geben ihr Parteibuch zurück, einige verbrennen es. Ende Januar 1990 haben etwa 900 Tausend Mitglieder der SED den Rücken gekehrt.

Genosse (brüllt) So sieht es hier unten aus. Wir haben überhaupt keine

Mitglieder mehr! Ich weiß gar nicht, wovon Ihr redet noch! Erzähler Es gibt vier Stimmen gegen den Ausschluss von Egon

Krenz. Drei Enthaltungen und neun Stimmen dafür. Egon Krenz Ich habe vorhin gesagt, ich werde um die Mitgliedschaft in

meiner Partei kämpfen, auch wenn ich an die Öffentlichkeit gehe. G. Wieland Aber wir bitten Dich natürlich…

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Egon Krenz Ich habe nur mal eine Frage, ja? G. Wieland Ja, natürlich. Egon Krenz Gab es hier jemanden in diesem Rahmen, der die Absetzung

Erich Honeckers gefordert hat? Genossin Ja, in unserer Grundorganisation. Allerdings ohne

Entscheidungsrecht. Egon Krenz Also ich kenne keinen Brief oder keinen Antrag. Genosse Ja, dann ist er nicht angekommen. Genossin Aber, sag mal bitte, meinst Du diese Frage wirklich ernst? Egon Krenz Ja, ich meine sie ernst. Genosse Genosse Krenz, weil du jetzt eben diese Frage ganz konkret

gestellt hast, sie hat mich wirklich getroffen. Ich habe doch nicht gewusst, wie es aussieht im Politbüro. Ich habe nicht gewusst, wie es aussieht im Zentralkomitee. In den Zeitungen, im Fernsehen usw. war das der größte Mann. (wird laut) Ich habe an den geglaubt.

Egon Krenz Ja, ja. Ich auch. Genosse Ich habe an den geglaubt, weil ich nichts von ihm gewusst habe! Egon Krenz Ich bin genauso betrogen. Genosse Ich habe gesagt es gab Betrogene und es gab auch betrogene

Betrüger und dann gab es die ganz unten, die von alldem nichts wussten.

Egon Krenz Ist richtig, ja. (Gemurmel)

Erzähler Egon Krenz steht auf und verlässt den Raum. Egon Krenz Also, auf Wiedersehen! Genosse Mann! Das kann doch nicht wahr sein. G. Wieland Ja, macht mal eine ganz kurze Pause. Erzähler Zwei Uhr nachts. G. Wieland Holt Ihr sie alle rein?

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Erzähler Gerhard Schürer, 69, ist der letzte, der sich jetzt vor der Schiedskommission verantworten muss. Er war Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Die Genossinnen und Genossen nehmen sich noch knapp 25 Minuten Zeit.

Genosse Wir sind im Verlaufe der Beratungen gestern Abend und heute

Nacht im Grunde zu der Einschätzung gekommen, dass das Politbüro zu prinzipiellen Fragen unserer Wirtschaftspolitik inkompetent war. Könntest Du das bestätigen? Als erste Frage.

G. Schürer (atmet schwer, Pause)

Ja. Peter Kirschey Jeder, jeder hatte von sich aus gesagt, es kann nicht sein, dass

mit so viel Inkompetenz ein Staat geführt wird. Erzähler Dann beendet der Vorsitzende Günther Wieland die Tagung

der Schiedskommission. Peter Kirschey Nun war der Mann natürlich auch schon sehr angegriffen

gesundheitlich. Also der musste fast rausgetragen werden. Also er war sehr krank.

Erzähler Peter Kirschey hatte den Konferenzraum des Hotels gegen 9 Uhr 30 am Morgen betreten. Um drei Uhr nachts verlässt er ihn wieder. Hinter ihm liegen ein ganzer Tag und eine halbe Nacht.

Peter Kirschey Ich wollte nur nach Hause. Ich habe ja hier nur fünf Minuten

Fußweg. Ich wollte nur nach Hause und habe, glaube ich, einen Cognac getrunken und bin dann ins Bett gegangen. Da haben wir nur gesagt, es ist folgerichtig, dass dieser Staat zu Ende geht. Aber das haben wir logisch begriffen. Aber mit dem Gefühl natürlich noch lange nicht. Ich hatte auch so ein kleines Reportage-Gerät mit und habe das alles aufgenommen, aber habe das hinterher alles weggeschmissen, weil ich so entsetzt war über das, was dort nachher geschehen war. War emotional nicht zu verkraften.

Erzähler Die Schiedskommission fragte nach der Verantwortung des

Politbüros für das Scheitern von Partei und Staat. Empörte sich über die Doppelmoral seiner Mitglieder. Beschuldigte sie, zum Ende des Sozialismus beigetragen zu haben.

Was die Schiedskommission nicht fragte? Warum hat sich dieser Staat mit Gewalt, einer Mauer und einem Spitzelsystem gegen seine Bürgerinnen und Bürger gestellt?

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K. Lange-Müller Die drücken sich im Grunde genommen genauso schwammig und unkonkret aus, wie die Beschuldigten. Ja, das fällt auf.

Als alle am Verlieren waren stellte man fest, dass es gar keine

Regeln gab für dieses Spiel. Erzähler Die Versuche einiger Genossen, nachträglich doch wieder in

die Partei aufgenommen zu werden, scheitern. Ende der Aufnahmen.

Zehn Sekunden Stille. Dann beginnt ein Lied. Vielleicht ein Zufall:

Ich bin ein Mann ohne Überzeugung. Ich bin ein Mann, der nicht weiß Wie man einen Widerspruch verkauft.

Du kommst und gehst, Du kommst und gehst.

Absage: Herrscher am Ende – Die verschollenen Tonbänder des Politbüros

Ein Feature von Lydia Heller und Johannes Nichelmann Mit: Gerd-Rüdiger Stephan, Katja Lange-Müller

und Peter Kirschey Erzähler: Thomas Bading

Ton: Martin Eichberg und Hermann Leppich

Regie: Johannes Nichelmann Redaktion: Tina Klopp

Eine Produktion des Deutschlandfunks 2020 ©