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S110 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 Offene Frakturen am Unterschenkel mit ausgedehnten Lazerationen, Depe- riostierung und möglicherweise inkom- pletter Deckungsmöglichkeit des Kno- chens (Typ-IIIB-Tibiafrakturen nach Gustilo [6]) sowie Begleitverletzungen an den Gefäßen (Typ-IIIC-Tibiafraktu- ren) stellen den erstversorgenden Un- fallchirurgen oft vor eine sehr schwieri- ge Entscheidung: Versuch des funktionellen Gliedmaßen- erhalts oder primäre Amputation. Der anatomische und funktionelle Glied- maßenerhalt ist in solchen Fällen ein hoch gestecktes Ziel für Patient und Ope- rateur, darf aber nicht zur Zielfixierung führen, wenn gleichzeitig alle anderen Aspekte zurückgestellt werden. Die großen Erfolge der Wiederher- stellungs- und Replantationschirurgie der vergangenen Jahrzehnte und deren publizistische Verbreitung führten dazu, dass sich nicht nur medizinische Laien allzu oft von der irrigen Vorstellung leiten lassen, es sei alles zu jedem Zeitpunkt replantier- oder rekonstruierbar. Demgegenüber haftet der Amputa- tion einer zerstörten und gebrauchsun- fähigen Extremität ein unberechtigt hoch ausgeprägtes „Negativimage“ an. Allzu oft werden damit Vorstellungen von „Niederlage“ (aus der Sicht des Arz- tes) und „Verstümmelung“ (aus der Sicht des betroffenen Patienten) assoziiert. Die Gefahren, die in einer zu spät gestellten Indikation zur Amputation liegen, sind: verlängerte stationäre Liegezeiten, vielfach notwendige Revisionseingriffe, wiederholte Krankenhauseinweisungen, Komplikationen (u. a. septische und Pseudarthrosenbildungen), erschwerte Stumpfdeckung, schlechteres funktionelles Ergebnis, unvermeidbare spätere Amputation, signifikant höhere Behandlungs- und Folgekosten, längere Arbeitsunfähigkeitszeiten, höhere Grade der Erwerbsfähigkeits- minderung, emotionale, psychosoziale und finan- zielle Verarmung, psychologische Gliedmaßenfixierung, sozioökonomische und medikolegale Folgen, Sepsis, Multiorganversagen und sogar Tod. Viele Autoren haben auf diese Gefahren verwiesen [1, 2, 4, 5, 7, 17]. Demgegenüber stehen die guten Re- habilitationserfolge bei jungen Patien- ten mit primären Amputationen [3, 12]. Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S110–S116 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Gunther O.Hofmann · Oliver Gonschorek · Volker Bühren BG-Unfallklinik Murnau Indikationen zur primären Amputation bei Unterschenkelfraktur Prof. Dr. Dr. Gunther O. Hofmann Abteilung für rekonstruktive und septische Unfallchirurgie, BG-Unfallklinik Murnau, Prof.-Küntscher-Straße 8, 82418 Murnau (E-Mail:[email protected], Tel.: 08841-482454, Fax: 08841-482117) Zusammenfassung Die Entscheidung für oder gegen eine pri- märe Amputation, für oder gegen einen pri- mären Erhaltungsversuch beim Vorliegen ei- ner offenen Unterschenkelfraktur mit Be- gleitverletzungen im Sinn der IIIB/IIIC-Klassi- fikation nach Gustilo ist sehr schwer.Die vor- handenen Scores können die prinzipielle Richtungsvorgabe erleichtern. Die definitive Entscheidung im Einzelfall bleibt klinisch in- dividuell und patientenspezifisch. Ziel muss der Gliedmaßenerhalt sein, die Amputation sollte der Ausnahmefall bleiben. Es besteht u. E. kein Unterschied zwischen primärer und verzögert primärer Amputation. Erkennbare prognostische Unterschiede ergeben sich erst zwischen den Gruppen primär und ver- zögert primär einerseits und sekundär und tertiär andererseits. Schlüsselwörter Unterschenkelfraktur · Begleitverletzungen · Amputation

Indikationen zur primären Amputation bei Unterschenkelfraktur

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S110 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Offene Frakturen am Unterschenkelmit ausgedehnten Lazerationen, Depe-riostierung und möglicherweise inkom-pletter Deckungsmöglichkeit des Kno-chens (Typ-IIIB-Tibiafrakturen nachGustilo [6]) sowie Begleitverletzungenan den Gefäßen (Typ-IIIC-Tibiafraktu-ren) stellen den erstversorgenden Un-fallchirurgen oft vor eine sehr schwieri-ge Entscheidung:

∑ Versuch des funktionellen Gliedmaßen-erhalts oder

∑ primäre Amputation.

Der anatomische und funktionelle Glied-maßenerhalt ist in solchen Fällen einhoch gestecktes Ziel für Patient und Ope-rateur, darf aber nicht zur Zielfixierungführen, wenn gleichzeitig alle anderenAspekte zurückgestellt werden.

Die großen Erfolge der Wiederher-stellungs- und Replantationschirurgieder vergangenen Jahrzehnte und derenpublizistische Verbreitung führten dazu,dass sich nicht nur medizinische Laienallzu oft von der irrigen Vorstellung leitenlassen, es sei alles zu jedem Zeitpunktreplantier- oder rekonstruierbar.

Demgegenüber haftet der Amputa-tion einer zerstörten und gebrauchsun-fähigen Extremität ein unberechtigthoch ausgeprägtes „Negativimage“ an.Allzu oft werden damit Vorstellungenvon „Niederlage“ (aus der Sicht des Arz-tes) und „Verstümmelung“ (aus der Sichtdes betroffenen Patienten) assoziiert.

Die Gefahren, die in einer zu spätgestellten Indikation zur Amputationliegen, sind:

∑ verlängerte stationäre Liegezeiten,∑ vielfach notwendige Revisionseingriffe,∑ wiederholte Krankenhauseinweisungen,∑ Komplikationen (u. a. septische und

Pseudarthrosenbildungen),∑ erschwerte Stumpfdeckung,∑ schlechteres funktionelles Ergebnis,∑ unvermeidbare spätere Amputation,∑ signifikant höhere Behandlungs- und

Folgekosten,∑ längere Arbeitsunfähigkeitszeiten,∑ höhere Grade der Erwerbsfähigkeits-

minderung,∑ emotionale, psychosoziale und finan-

zielle Verarmung,∑ psychologische Gliedmaßenfixierung,∑ sozioökonomische und medikolegale

Folgen,∑ Sepsis,∑ Multiorganversagen und sogar∑ Tod.

Viele Autoren haben auf diese Gefahrenverwiesen [1, 2, 4, 5, 7, 17].

Demgegenüber stehen die guten Re-habilitationserfolge bei jungen Patien-ten mit primären Amputationen [3, 12].

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S110–S116 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Gunther O. Hofmann · Oliver Gonschorek · Volker BührenBG-Unfallklinik Murnau

Indikationen zur primären Amputation bei Unterschenkelfraktur

Prof. Dr. Dr. Gunther O. HofmannAbteilung für rekonstruktive und septische Unfallchirurgie,BG-Unfallklinik Murnau,Prof.-Küntscher-Straße 8, 82418 Murnau(E-Mail: [email protected],Tel.: 08841-482454, Fax: 08841-482117)

Zusammenfassung

Die Entscheidung für oder gegen eine pri-märe Amputation, für oder gegen einen pri-mären Erhaltungsversuch beim Vorliegen ei-ner offenen Unterschenkelfraktur mit Be-gleitverletzungen im Sinn der IIIB/IIIC-Klassi-fikation nach Gustilo ist sehr schwer. Die vor-handenen Scores können die prinzipielleRichtungsvorgabe erleichtern. Die definitiveEntscheidung im Einzelfall bleibt klinisch in-dividuell und patientenspezifisch. Ziel mussder Gliedmaßenerhalt sein, die Amputationsollte der Ausnahmefall bleiben. Es bestehtu. E. kein Unterschied zwischen primärer undverzögert primärer Amputation. Erkennbareprognostische Unterschiede ergeben sicherst zwischen den Gruppen primär und ver-zögert primär einerseits und sekundär undtertiär andererseits.

Schlüsselwörter

Unterschenkelfraktur · Begleitverletzungen ·Amputation

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S111

Definition des Amputationszeitpunkts

Den Zeitpunkt einer traumaverursach-ten Gliedmaßenamputation definierenwir in Abhängigkeit von der Zeitspannezwischen dem Unfallereignis und derAmputation wie folgt:

∑ primär: durch Unfall oder bis zu 24 hnach dem Trauma

∑ verzögert primär: 2.–7.Tag nach demTrauma

∑ sekundär: 2.–6.Woche nach dem Trauma∑ tertiär: >6.Woche nach dem Trauma

Konkret auf die offenen IIIB/IIIC-Tibia-frakturen angewandt, bedeutet dies(Abb. 1): Bei einer primären Amputationscheidet aufgrund der Verletzungs-schwere jeder Konstruktionsversuch apriori aus. Die betroffene Gliedmaßewird binnen 24 h nach dem Unfall ge-opfert, wenn sie nicht schon durch dasUnfallereignis selbst abgetrennt wurde,eine Replantation ausscheidet und diechirurgische Behandlung sich auf dieStumpfversorgung beschränkt.

Bei der verzögert primären oder se-kundären Amputation wird zunächstein Rekonstruktionsversuch unternom-men. Dieser erweist sich in der Früh-phase nach dem Unfallereignis, meistaufgrund ischämischer und infektiöserProbleme, als nicht Erfolg versprechend.In Abhängigkeit vom Gesamtzustanddes Verletzten wird die geschädigte Ex-tremität innerhalb von 6 Wochen nachdem Trauma amputiert.

Bei der tertiären Amputation ge-lingt der Gliedmaßenerhalt, und dieWundheilung wird abgeschlossen. Esstellt sich ein mehr oder weniger anato-misch und funktionell befriedigendesResultat ein. Im weiteren Verlauf kommtes jedoch zur Ausbildung einer chroni-schen Osteitis. Nach meist zahlreichenRevisionen wird im weiteren Verlaufdoch noch der Entschluss zur Amputa-tion gefasst. Oftmals bleibt ein soma-tisch, psychisch, sozial und finanziell ru-inierter Patient zurück.

Entwicklung prädiktiver Scores

Ziel muss es also sein, einen Entschei-dungsalgorithmus zu entwickeln, der,aufbauend auf objektiv erfassbaren Kri-terien, bei schweren Verletzungen derunteren Extremität zum frühestmög-lichen Zeitpunkt eine Richtungsentschei-dung zwischen der Chance zum Glied-maßenerhalt oder der Notwendigkeitzur Amputation ermöglicht.

Lange und Lange et al. [13, 14] liste-ten bereits 1985 jene Parameter auf, wel-chen eine Bedeutung als Prognosefakto-ren zukommt, ohne jedoch eine semi-quantitative Wertung der einzelnen Pa-rameter und ein Scoring vorzunehmen(Tabelle 1). Bemerkenswert ist, dass sieschon die ipsilaterale Fußverletzung miteinbezogen und auch die Lokalisa-tion einer begleitenden Gefäßverletzungsowie den Abriss des N. tibialis als we-sentlichen Prognosefaktor herausstell-ten.

G. O. Hofmann · O. Gonschorek · V. Bühren

Lower leg amputation following severe open fractures

Abstract

The decision on whether or not to perform aprimary amputation following severe openlower leg fractures and injuries is a very diffi-cult one to make.The scores available can of-fer some assistance, but the definitive deci-sion on what course is correct is an individ-ual matter in each patient. Reconstruction isalways the primary aim in trauma surgery,with amputation reserved for exceptionalcases.There is no difference in the prognosisfor outcome between primary and delayedprimary amputation, but the prognosis is no-ticeably worse for secondary than for prima-ry amputations.

Keywords

Lower leg fractures · Soft tissue injuries ·Amputation

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S110–S116 © Springer-Verlag 2001

Offene Unterschenkelfraktur

Rekonstruktionsversuch Amputation primär

Amputation sekundär

Amputation tertiär

III B / III C

dauerhafter Erfolg

Gliedmaßenerhalt

?

Abb. 1 � Zeitliche Ebenen der Amputationsindikation bei offenen IIIB-/IIIC-Tibiafrakturen,primär/verzögert primär: Gliedmaßenerhalt a priori unmöglich, sekundär: Erhaltungsversuch in derFrühphase aufgrund von Ischämie oder Infekt gescheitert, tertiär: Erhaltung zunächst erfolgreich,im weiteren Verlauf durch chronische Osteitis kompliziert

1. Predictive-salvage-Index (PSI)Der älteste Score ist der von Howe et al.[10] 1987 vorgestellte PSI (Tabelle 2).Dabei werden die Faktoren Gefäßverlet-zung, Knochenverletzung, Muskelverlet-zung und Zeitspanne zwischen Traumaund operativer Versorgung berücksich-tigt. Andere wesentliche Faktoren, dieallgemein in Tabelle 1 aufgeführt wur-den, bleiben jedoch unberücksichtigt.

2. Hannover-fracture-Skala (HFS)Die HFS (Tabelle 3), von Südkamp et al.[19] 1989 publiziert, kommt einer um-fassenden Bewertung der Gesamtsitua-tion des Verletzten schon wesentlichnäher. Neben den schon im PSI erfasstenFaktoren werden zusätzlich Nervenlä-sion, Kontaminationsgrad und Begleit-verletzungen berücksichtigt, Letzteresallerdings nur im Sinn einer Diskrimina-

tion zwischen Monotrauma und Poly-traumen verschiedenen Grads. Andereentscheidende, prädiktive Parameterwie z. B. Begleitverletzungen am ipsila-teralen Fuß oder dezidierte Stellung-nahmen zu Verletzungen von N. tibialisund A. tibialis posterior bleiben unbe-achtet.

3. Mangled-extremity-severity-Score(MESS)Helfet et al. [8] stellten 1980, aufbauendauf einer retro- und prospektivenUntersuchung, den MESS (Tabelle 4)auf. Als Entscheidungskriterien dienendabei knöcherne und Weichteilverlet-zung, Ischämiezeit, Schock und Patien-tenalter. Anhand einer aufsteigendenPunkteskalierung wurde ein „Cut off“festgelegt, ab dem eine angeblich100%ige Zuverlässigkeit (≥ 7 Punkte)

für die prospektive Festlegung der Am-putationsnotwendigkeit definiert wurde.

4. NISSSA-ScoreMcNamara et al. [16] publizierten 1994eine retrospektive Evaluation des MESS-Scores. Aufbauend auf ihren Erfahrun-gen schlugen sie eine Modifikation desMESS, den NISSSA-Score (Tabelle 5) vor.Wesentliche Ergänzung zum MESS isteine Mitberücksichtigung von Nerven-verletzungen.

Das Problem aller Scores ist, dass keinereine 100%ige Zuverlässigkeit in Sensiti-vität und Spezifität garantiert.Das heißt,es besteht bei jedem Score ein Restrisikofür eine „falsch indizierte Erhaltung“und für eine „falsch indizierte Amputa-tion“ mit allen sich daraus ergebendenmedizinischen und juristischen Proble-men.

Seekamp et al. [18] analysierten ret-ro- und prospektiv vergleichend die Sen-sitivität und die Spezifität der 4 oben ge-nannten Scores (Tabelle 6). Dabei zeig-ten sich erhebliche Unterschiede zwi-schen den einzelnen Scores. Das bedeu-ted, dass die Anwendung eines semi-quantitativen, metrischen Scores denerstbehandelnden Unfallchirurgen nichtvon der verantwortungsvollen Aufgabeentbindet, in jedem Einzelfall individuelldie Gesamtsituation des Verletzten zuanalysieren und ggf. dem einen oder an-deren Aspekt ein größeres Gewicht ein-zuräumen als der Score vorsieht.

Entscheidung über Erhaltungoder Amputation

In der Praxis hat sich an unserer Klinikfolgendes Vorgehen bewährt: Nach An-wendung eines oder mehrerer Scoresliegt ein Punktewert fest. Im Unterschiedzu anderen Gruppen definieren wir je-doch keinen festen Cut-off-Wert, son-dern lassen eine gewisse Bandbreite der klinischen Beurteilung offen. EineSchlüsselrolle nimmt dabei der Verlet-zungsstatus von A. tibialis posterior undN. tibialis ein (Abb. 2). Bei offensicht-licher Zerstörung des Nervs und Vorlie-gen einer Gefäßverletzung mit einerwarmen Ischämiezeit von ≥6 h bestehtu. E. „absolute Amputationsindikation“.Eine „relative Amputationsindikation“innerhalb der oben erwähnten Band-breite muss dann diskutiert werden,wenn von den folgenden Kriterien 2 vor-liegen:

S112 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

Tabelle 1Entscheidungsparameter für oder gegen Gliedmaßenerhalt, nach Lange undLange et al. [13, 14]

Patient Extremität Rahmenbedingungen

Alter Unfallmechanismus Begleitverletzungen

Grunderkrankung Frakturart Schock (Schwere und Dauer)(z. B. Diabetes) Weichteilschaden

Erwerbstätigkeit Neurologischer Status Kontaminationsgrad

Persönliche und Ipsilaterale Fußverletzung Operationszeitpunktfamiliäre Aspekte Knochendurchblutung im diaphysären Bereich Warme Ischämiezeit

nach RekonstruktionGefäßverletzung (Lokalisation)

Tabelle 2Predictive-salvage-Index (PSI), Amputationsscore nach Howe et al. [10]

Scorewert Variable Punkte

A Stelle der ArterienverletzungSuprapopliteal 1Popliteal 2Infrapopliteal 3

B Grad der KnochenverletzungLeicht 1Mittel 2Schwer 3

C Grad der MuskelverletzungLeicht 1Mittel 2Schwer 3

D Zeitspanne zwischen Verletzung und Ankunft im Operationssaal<6 h 06–12 h 2<12 h 4

∑ Patient ist polytraumatisiert∑ schwere Mitverletzung des gleichseitigen

Fußes∑ protrahierter Schock

Wenn amputiert werden muss, erfolgtdie Festlegung der Amputationshöhenach den Erfordernissen des Einzelfallsso sparsam wie möglich unter klinischerBewertung von Haut, Muskeln, Kno-chen, Gefäßen und Nerven. TechnischeUntersuchungsverfahren besitzen, abge-sehen vom gelegentlichen Einsatz derDuplexsonographie, für diese Entschei-dung nur nachrangige Bedeutung.

Vergleichende Ergebnisse nach primärer Amputation oder Gliedmaßenerhalt

Unsere eigenen vorliegenden und dieaus der Literatur verfügbaren Ergeb-nisse unterstreichen die Problematik derEntscheidung zwischen Amputation undErhalt.

Knopp et al. [11] untersuchten in einerSammelstudie die Lebensqualität nachoffenen Unterschenkelbrüchen Typ IIInach Gustilo. Sie kamen zu dem Ergeb-nis, dass Patienten mit Typ-IIIB/IIIC-Frakturen und solche nach Amputatio-nen signifikant mehr Probleme angabenals Patienten nach Typ-I/II-Frakturen.Die Unterschiede zwischen Patientender Gruppe IIIB und IIIC bzw. nach Am-putation waren dagegen nicht signifi-kant.Hinsichtlich der eingeschätzten Le-bensqualität erreichten die Patientenmit Gliedmaßenerhalt nach IIIB/IIIC-Frakturen kein besseres Ergebnis als diePatienten, bei denen eine primäre Am-putation durchgeführt worden war.

Lerner et al. [15] verglichen 3 ver-schiedene Szenarien des Behandlungs-ergebnissses:

∑ persistierende Pseudarthrose∑ Amputation∑ chronische Osteitis.

Mobilität,Aktivität und allgemeines Be-finden unterschieden sich bei den pri-mär amputierten Patienten nicht vondenen mit persistierender Pseudarthro-se. Beide Gruppen waren signifikant bes-ser als die Patienten, bei denen der Aus-heilungszustand eine chronische Oste-itis hinterließ. Das bedeutet, dass einGliedmaßenerhaltungsversuch,der letzt-endlich dem Patienten kein anderes Er-

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S113

Tabelle 3Hannover-fracture-Skala (HFS), nach Südkamp et al. [19]

Skalenwert Variable Punkte

A FrakturFrakturtyp A 1Frakturtyp B 2Frakturtyp C 4KnochenverlustKeiner 0<2 cm 1>2 cm 2

B Weichteile [Haut (Wunde, Kontusion, tiefe Abrasion)]Keine 0<1/4 Zirkumferenz 11/4–1/2 Zirkumferenz 21/2–3/4 Zirkumferenz 3<3/4 Zirkumferenz 4HautdefektKeiner 0<1/4 Zirkumferenz 11/4–1/2 Zirkumferenz 21/2–3/4 Zirkumferenz 3<3/4 Zirkumferenz 4Tiefe Weichteile (Muskel, Sehnen, Gelenkkapsel, Ligamente), Kontusion, DefektKeiner 0<1/4 Zirkumferenz 11/4–1/2 Zirkumferenz 21/2–3/4 Zirkumferenz 3<3/4 Zirkumferenz 4AmputationKeine 0Subtotale Guillotine 1Subtotale Crash 2Totale Guillotine 3Totale Crash 4

C DurchblutungNormal 0Inkomplette Ischämie (Kapillarpuls +) 1Komplette Ischämie<4 h 24–8 h 3>8h 4

D NervenPalmar-plantar Sensibilität: ja 0Nein 1Finger-Zehen-Motorik: ja 0Nein 1

E FremdkörperkontaminationKeine 0Wenige 1Massiv 2Bakterielle KontaminationKein Nachweis 0Aerob, 1 Keimart 2>1 Keimart 3Anaerob 2Areob-anaerob 4

F BegleitverletzungenMonotrauma, PTS 1 0PTS 2 1PTS 3 2PTS 4 4

G Im Fall eines Weichteilscores >2,Operationsbeginn6–12 h 1> 12 h 3

S114 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

Tabelle 4Mangled-extremity-severity-Score (MESS), Amputationsscore nach Helfet et al. [8]

Typ Eigenschaften Verletzungen Punkte

Skelett-Weichteil-Gruppe1 Niedrige Energie Stichwunde, einfache verschlossene Brüche, kleinkalibrige Schusswunden 12 Mittlere Energie Offene oder Mehrfachbrüche, Luxation, mäßige Quetschungsverletzungen 23 Hohe Energie Schusswunde (aus der Nähe), Schusswunde (hohe Geschwindigkeit) 34 Massive Quetschung Holzfällen, Eisenbahn, Ölbohrunfall 4

Schockgruppe1 Normotone Hämodynamik Blutdruck am Unfallort und im Operationssaal stabil 02 Vorübergehend hypoton Blutdruck am Unfallort instabil, spricht aber auf i.-v.-Flüssigkeit an 13 Längerfristig hypoton Systolischer Blutdruck am Unfallort <90 mmHg, spricht nur im Operationssaal 2

auf i.-v.-Flüssigkeit an

Ischämiegruppe1 Kein Puls in der Gliedmaße ohne Anzeichen von Ischämie 0a

2 Leicht Niedriger Puls ohne Anzeichen von Ischämie 1a

3 Mittel Kein Dopplerpuls, träge Wiederauffüllung der Kapillaren, Parästhesie, 2a

verringerte motorische Aktivität4 Fortgeschritten Ohne Puls, kühl, paralysiert und gefühllos ohne Wiederauffüllung der Kapillaren 3a

Altersgruppe1 <30 Jahre 02 30–50 Jahre 13 >50 Jahre 2

a Punkte verdoppeln, falls Ischämiedauer 6 h übersteigt

Tabelle 5NISSSA-Amputationsscore (NISSSA: nerves, ischemia, soft tissue, skeleton, shock, age), nach McNamara et al. [16]

Art der Verletzung Schweregrad der Verletzung Punkte Beschreibung

Nervenverletzung (N) Sensal 0 Keine Verletzung wichtiger NervenDorsal 1 Tiefe oder oberflächliche peronäale oder femorale NervenverletzungPlantar, teilweise 2 Tibiale Nervenverletzunga

Plantar, vollständig 3 Verletzung des Ischiasnervsa

Ischämie (I) Kein 0 Gute–ordentliche Pulse, keine IschämieLeicht 1b Verringerte Pulse, Durchblutung normalMittel 2b Kein(e) Pulse, verlängerte Wiederauffüllung der Kapillaren, Dopplerpuls vorhandenSchwer 3b Kein Puls, kühl, ischämisch, kein Dopplerpuls

Weichteile/Kontamination (S) Niedrig 0 Minimale–keine Weichteilquetschung, keine KontaminationMittel 1 Mäßige Weichteilverletzung, Schusswunde (niedrige Geschwindigkeit),

mäßige Kontamination, minimale QuetschungHoch 2 Mäßige Quetschung, Knochenfreilegung, Schusswunde (hohe Geschwindigkeit),

mäßige Weichteilverletzung, kann Weichteilgewebelappen erforderlich machen,beträchtliche Kontamination

Schwer 3 Massive Quetschung, landwirtschaftliche Verletzung, ernste Knochenfreilegung,schwere Kontamination, erfordert Weichteilgewebelappen

Skelett (S) Niedrige Energie 0 Spiralbruch, Schrägbruch, keine–geringe VerlagerungMittlere Energie 1 Transversalbruch, minimale Knochensplitterung, kleinkalibrige SchusswundeHohe Energie 2 Mäßige Verlagerung, mäßige Knochensplitterung,

Schusswunde (hohe Geschwindigkeit), schmetterlingsförmige(s) Bruchstück(e)Sehr hohe Energie F Segmentär, schwere Knochensplitterung, Knochenverlust

Schock (S) Normoton 0 Blutdruck normal, systolisch immer >90 mmHgVorübergehend hypoton 1 Vorübergehende Hypotonie im Feld oder medizinischen NotfallzentrumAnhaltend hypoton 2 Anhaltende Hypotonie trotz Flüssigkeitsgabe

Alter (A) Jung 0 <30 JahreMittel 1 30–50 JahreAlt 2 >50 Jahre

a Nervenverletzung laut Beurteilung in der Notfallsituationb Bei Ischämie > 6 h den Score verdoppeln

gebnis bringt als die Ausbildung einerchronischen Osteitis mit einem mögli-cherweise lebenslangen Verlauf, sicher-lich nicht die bessere Alternative gegen-über einer primär vorgenommenen Am-putation sowie einer frühzeitigen end-oprothetischen Versorgung und Rehabi-litation darstellt.

Unseren eigenen Ergebnisse [9] be-stätigen dies deutlich (Tabelle 7). Dereinzige Vorteil der später amputiertenPatienten liegt in der geringeren Anzahlder notwendig gewordenen Nachopera-tionen. Die primär amputierten Patien-ten zeigen eine höhere Rate an Stumpf-korrektureingriffen als die später am-putierten Patienten. Dagegen werdenhinsichtlich der Parameter „Prothesen-tragefähigkeit“ und „Gehfähigkeit“ beiden primär amputierten Patienten deut-lich bessere Ergebnisse erhalten als beiden sekundär und tertiär amputiertenPatienten.

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S115

Tabelle 6Vergleich der prädiktiven Wertigkeit von 4 verschiedenen Scores, nach Seekampet al. [18]

Score Sensitivität Spezifität

PSI (Predictive-salvage-Index) 0,57 0,94HFS (Hannover-fracture-Skala) 0,91 0,71MESS (Mangled-extremity-severity-Score) 0,59 0,97NISSSA (modifizierter MESS) 0,78 0,88

Tabelle 7Traumabedingte Amputationen an der unteren Extremität, UnfallkrankenhausMurnau: 1.1.1980–31.12.1995, n = 205, aktuelle Auswertunga, n = 114

Amputation Primär Sekundär Tertiär

n 33 26 55Voroperationen vor Amputation – 3,2 8,4Nachoperationen (Stumpfkorrekturen) 2,5 1,8 0,7Prothesentragfähigkeit 91% 73% 84%Gehfähigkeit 61% 38% 49%

aPromotion Michael Herold [9], Weilheim

Abb. 2 � Schlüsselrolle von A. tibialis posterior und N. tibialis bei den

I0-Tibia-IIIB/IIIC-Verletzungen

S116 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

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