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Saner-Bissig, therapiekonzepte in der Physiotherapie (ISBN 9783131439918) © 2007 Georg Thieme Verlag Kapitel 1 1.1 Mr. Smith und die Zentralisation 1.2 Entwicklung der Richtlinien des Konzepts 1.3 Erweiterung der Mechanischen Diagnose und Therapie 2 4 10

Kapitel 1 - bilder.buecher.de · 1.2 Entwicklung der Richtlinien des Konzepts Wie sich das Phänomen der Zentralisation, das konzeptionelle Modell der Bandscheiben-verlagerung, McKenzies

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Saner-Bissig, therapiekonzepte in der Physiotherapie (ISBN 9783131439918) © 2007 Georg Thieme Verlag

Kapit el 1 1.1 Mr. Smith und die Zentralisation

1.2 Entwicklung der Richtlinien des Konzepts

1.3 Erweiterung der Mechanischen Diagnose und Therapie

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1.1 Mr. Smith und die ZentralisationEntsprechend dem Lehrplan für Physiotherapieder 50er-Jahre war McKenzie in Massage, Be-wegungsübungen und Elektrotherapie ausgebil-det worden. Schon früh lernte er über JenniferHickling, eine von Dr. James Cyriax in Manual-therapie ausgebildete britische Physiothera-peutin, das Konzept der spinal manipulative thera-py (SMT) kennen (McKenzie 2003).Spinal manipulative therapy setzte die Berufs-gruppe der Osteopathen schon seit Entstehen derOsteopathie im 19. Jahrhundert ein, um Patientenmit spinalen Schmerzen zu behandeln (Wiltse1991). Physiotherapeuten in Australien undNeuseeland verwandten SMT zur Behandlung vonRückenschmerzen seit etwa 1930 (Forster 1975).In Großbritannien kannten PhysiotherapeutenSMT durch die Mediziner James Mennell, JohnMennell und James Cyriax, die durch die Lehren

der Osteopathie beeinflusst waren. InsbesondereCyriax setzte sich für die Förderung der SMT ein.Dank seiner Position am St.-Thomas-Krankenhausin London wurde die manipulative Physiotherapiebekannter und galt als seriöse Therapie (Skiller1950). SMT, so wie Cyriax sie unterrichtete, wur-de in Neuseeland im Jahr 1953 eingeführt. Dazureiste Jennifer Hickling durch das ganze Land undführte die Verfahren vor. McKenzie besuchte eineReihe ihrer Vorlesungen und entwickelte Interessean den Behandlungsweisen, wie Cyriax sie vor-schlug (McKenzie 2003).Cyriaxs Lehren beeinflussten McKenzie in seinenersten Praxisjahren, obwohl er sich auch mit denLehren prominenter Manualtherapeuten wie

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Geschichte der Mechanischen Diagnose und Therapie Helen Clare

„Alles, was ich weiß, habe ich von meinenPatienten gelernt.“ „Ich hatte mir nichtvorgenommen, eine ‚McKenzie-Methode‘ zuentwickeln. Sie ergab sich ganz spontan imLaufe der Zeit, als Ergebnis meiner klinischenBeobachtungen“ (McKenzie 2003).

Robin McKenzie (Abb. 1.1) machte 1952sein Diplom als Physiotherapeut an der NewZealand School of Physiotherapy der Otago-Universität und eröffnete 1953 einePrivatpraxis in Wellington, Neuseeland. Wiedas Konzept der Mechanischen Diagnoseund Therapie (MDT) entstand, wie es sichentwickelte und veränderte lesen Sie in die-sem Kapitel.

Einführung

Kapit el 1

Abb. 1.1 Robin McKenzie

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Mennell, Stoddard, Kaltenborn und Maitland ver-traut machte. Später, in den 60er-Jahren, spielte ereine führende Rolle beim Aufbau des Verbandesder neuseeländischen Manualtherapeuten. Zwi-schen 1960 und 1980 war er Dozent für das Nach-diplomstudium in Manualtherapie des neuseelän-dischen Manualtherapie-Verbandes und warMitglied der Prüfungskommission des Verbandes(McKenzie 2003).Er schrieb, durch die „zufällige Beobachtung vonMr. Smith“ (Abb. 1.2) im Jahre 1956 sei er dazugekommen, folgenden Schritt zu tun: weg von derMobilisation und Manipulation, hin zur Bewegungund Positionierung des Patienten sowie zurFokussierung der Aufmerksamkeit auf die Zen-tralisation der Symptome des Patienten.Aufgefordert von den Wissenschaftlern jener Zeit,eine Erklärung für die Zentralisation der Sympto-me von Mr. Smith anzugeben, ließ sich McKenziewiederum von der Arbeit von Cyriax beeinflussen,der Rückenschmerzen und radikuläre Schmerzenauf interne Verlagerungen in Bandscheiben zurück-führte und annahm, solche Verlagerungen könn-ten sich durch mechanische Kräfte „bewegen“ las-sen, z. B. durch Manipulation und Traktion (Cyriax1978). Auf diese Vorstellung der Verlagerung vonBandscheibengewebe stützte sich McKenzie beider Entwicklung seines konzeptionellen Modells fürdas Derangementsyndrom, das bis heute dieGrundlage des McKenzie-Konzeptes ist.Seit damals wurden McKenzies ursprünglicheBeobachtungen und Techniken der Belastung zur

Behandlung spinaler Schmerzen immer weiter ver-feinert. Aus der Beobachtung von Patienten fol-gerte McKenzie, dass verschiedene Patienten mitähnlichen Symptomen auf mechanische Belas-tung sehr unterschiedlich reagieren (McKenzie2003). Auf diese Beobachtung hin entwarf er einKlassifikationssystem, bei dem Patienten, die auf

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Abb. 1.2 Mr. Smith(Copyright Spinal Publi-cations New Zealand Ltd.).

Ein Patient, Mr. Smith, der

Schmerzen hatte, die von seinem

Rücken bis zum Knie reichten, war

bereits drei Wochen lang behan-

delt worden, ohne dass sich

irgendeine Besserung zeigte. Er

konnte sich nach vorn beugen,

aber die Streckung war schmerz-

haft und eingeschränkt. Er war

angewiesen worden, sich auszu-

ziehen und bäuchlings auf die

Behandlungsbank zu legen. Das

Kopfteil der Bank war für den vori-

gen Patienten hochgestellt wor-

den und man hatte vergessen, es

zurückzustellen. So lag Mr. Smith,

ohne dass es ein Klinikmitarbeiter

bemerkte, in überstreckter

Position (Abb. 1.2). Als er 5 Minu-

ten später so angetroffen wurde,

sagte er, er fühle sich so gut, wie

die ganze Woche noch nicht – der

Schmerz war aus seinem Bein

gewichen, der Schmerz im Rücken

hatte sich von der rechten Seite in

die Mitte verschoben, und das ein-

geschränkte Bewegungsausmaß

der Extension hatte sich deutlich

verbessert. Als er aufstand, ging

es ihm nach wie vor besser, der

Schmerz im Bein trat nicht wieder

auf. Am Tag darauf nahm er diese

Position wieder ein, und dies führ-

te zur vollständigen Behebung sei-

nes verbleibenden Schmerzes in

der Mitte des Rückens. Diese

Verlagerung von Schmerzen im

Bein oder Gesäß zur Rückenmitte

wurde als „Zentralisation“

bekannt (McKenzie u. May 2003).

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Belastung hin ähnliche Symptome und mechani-sche Reaktionen zeigen, demselben Syndromzugeordnet werden. Eine solche Identifizierungvon Untergruppen „gleicher“ Patienten innerhalbdes breiten Spektrums von Patienten mit unspezi-fischen Kreuzschmerzen, erfährt heute viel Auf-merksamkeit. Als jedoch McKenzie seine Klassi-fikation vorschlug, war diese Vorgehensweise nochunüblich. Die angenommenen Mechanismen derSchmerzentstehung bei den drei Syndromen wur-den aus dem konzeptionellen Modell (siehe Kapitel1.2.2) abgeleitet:

Derangementsyndrom – Schmerz infolgeinterner artikulärer Verlagerung,Dysfunktionssyndrom – Schmerz infolgemechanischer Deformation strukturell beein-trächtigter Gewebe,Haltungssyndrom – Schmerz infolge übermä-ßiger Belastung normaler Gewebe.

Heute sind die mechanischen Syndrome – Deran-gement-, Dysfunktions– und Haltungssyndrom –als Teil des McKenzie-Konzeptes wohlbekannt(McKenzie 1981, 1990).

1.2 Entwicklung der Richtlinien des Konzepts

Wie sich das Phänomen der Zentralisation, daskonzeptionelle Modell der Bandscheiben-verlagerung, McKenzies Klassifikationssystem, derlateral Shift und die Selbstbehandlung derPatienten entwickelten, beschreibt dieses Kapitel.

1.2.1 ZentralisationAufgrund seiner klinischen Erfahrung erkannteMcKenzie 1956 erstmals das Phänomen derZentralisation, als er seinen Patienten Mr. Smithbeobachtete. Während der folgenden zehn Jahreexperimentierte er mit repetierten Wirbelsäulen-bewegungen und Körperhaltungen, wobei erderen Wirkung auf die Symptome der Patientenbeobachtete (McKenzie 2003). Dies führte zurersten Definition des Begriffs Zentralisation, die inder ersten Ausgabe des McKenzie-Buches zurLendenwirbelsäule erschien:… die Situation, dass Schmerz, der von der Wirbel-säule ausgeht und seitlich der Mittellinie oder distalverspürt wird, verringert und zu einem zentraler oder

näher der Mittellinie gelegenen Ort verlagert wird,wenn bestimmte Bewegungen durchgeführt werden“(McKenzie 1981, S. 22). McKenzie beobachtete, dass eine Gruppe vonPatienten, typischerweise solche mit Mustern über-tragenen Schmerzes, innerhalb von zwei bis dreiTagen, an denen sie Übungen in eine bestimmteRichtung machten, symptomfrei wurden. Das Be-wegen in Extension war dabei die am häufigstenvertretene Richtung. Immer wenn es zu dieserraschen Lösung kam, verlagerte sich vor der Gene-sung der Ort des Schmerzes: von einer Position aus-strahlenden Schmerzes zu einer quasi-zentralenMittellinien-Position. Man stellte fest, dass ausstrah-lende Symptome schnell verschwanden, währendgleichzeitig zentral lokalisierter Schmerz im Rückenauftrat oder zunahm. Das Fortsetzen der Zen-tralisierungsübungen führte dann zu einer schnellenBeseitigung des zentralen Rückenschmerzes. Diebisher eingeschränkte Extensionsbeweglichkeitnahm entsprechend zu, und es ging den Patientenaufgrund der Übungen dauerhaft besser (McKenzie1981). Wenn sich der Schmerz zentralisierte, war diePrognose ausnahmslos ausgezeichnet, und ge-wöhnlich reagierten die Patienten schnell auf dieBehandlung. Probleme dieses Typs klassifizierteMcKenzie als Derangementsyndrom. Er erklärte dasPhänomen der Beeinflussbarkeit der Lokalisationausstrahlender Schmerzen durch Wirbelsäulen-bewegungen mit seinem konzeptionellen Modellder Bandscheibenverlagerung. Außer seiner Behauptung, Zentralisation sei ein kli-nischer Indikator für einen guten bzw. schlechtenAusgang des Problems, sagte McKenzie, Zentralisa-tion lasse sich nutzen, um Therapeuten bei ihrer Be-handlung unspezifischer spinaler Probleme zu lei-ten:

Die Zentralisation gebe den Therapeuten, imUnterschied zur Empfehlung allgemeinerÜbungen, einen Hinweis, welche spezifischenÜbungen sich eignen. Sie ermögliche den Therapeuten eine zuver-lässige Auswahl von Mobilisations– bzw.Manipulationstechniken. Sie versetze die Therapeuten in die Lage, die-jenigen Patienten zu identifizieren, die nichtauf mechanische Behandlung ansprechenwürden und bei denen weitere Maßnahmenerforderlich seien.

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Ein konzep-tionellesModell ist einVersuch, dieWirkungeinesKonzeptesanhand derplausibelstenModellvor-stellung zuerklären.

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Angesichts des Fehlens anderer klinischer Indi-katoren für die Behandlung unspezifischer spina-ler Schmerzen sei Zentralisation für Therapeutenein einfaches und zugleich wertvolles Hilfsmittel(McKenzie u. May 2003).Die ursprüngliche Definition von Zentralisationwurde 2003 leicht modifiziert (McKenzie u. May2003), damit für Forschungsstudien eine überein-stimmende operationale Definition zur Verfügungsteht. Die Definition lautet nun: Mit Zentralisationwird das Phänomen bezeichnet, dass als Reaktionauf bewusste Anwendung von Belastungsstra-tegien distaler Schmerz verschwindet und auchnicht wiederkehrt. Die Belastung bewirkt eineBeseitigung peripheren Schmerzes, der sichimmer mehr in proximale Richtung zurückzuzie-hen scheint (Abb. 1.3).

PeripheralisationMit dem Begriff Peripheralisation bezeichneteMcKenzie das Phänomen, dass sich von der Wirbel-säule ausgehender Schmerz infolge wiederholterBewegungen oder länger eingenommener Hal-tungen in distale Richtung ausdehnt, in das Beinhinein oder weiter das Bein hinunter – das Gegen-teil von Zentralisation. Er nahm an, dass im Fallevon Peripheralisation mechanische Belastung dieBandscheibenverlagerung verstärkte, was dann zustärkerer Stimulierung der schmerzempfindlichenStrukturen und damit zur Übertragung desSchmerzes an von der Wirbelsäule entferntereOrte führte (McKenzie 1981).

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Seit 2003gibt es eineneue, ein-heitlicheDefinitiondes BegriffsZentralisa-tion. Die bisherigeDefinitionwurde fürForschungs-zwecke ope-rationalisiert.

Abb. 1.3 Zentralisationvon Schmerz – Beseitigungdistalen Schmerzes,Zentralisation – Verlage-rung des Schmerzes zueinem zentraleren Ort(McKenzie u. May 2003,Copyright Spinal Publi-cations New Zealand Ltd.).