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Kapitel 1 Vom antiken Kaufladen über das Kolonialwarengeschäft zum Supermarkt Im klassischen Altertum wurde als Agora zunächst die Volksver- sammlung der griechischen Polis (Stadt) bezeichnet. Auf die Örtlich- keit der Versammlung übertragen, bezeichnete Agora den Marktplatz der Stadt als Zentrum des politischen und später dann auch des ge- schäftlichen Lebens. Es entwickelte sich städtebaulich ein rechtecki- ger, von drei oder allen Seiten von Säulenhallen umschlossener Han- delsplatz für Kleinhändler. Wer heute die Ausgrabungsstätten antiker Stätten wie Perge in der Nähe von Antalya in Pamphylien (antiker Na- me der südanatolischen Küstenebene) oder Korinth in Griechenland im Nordosten des Peloponnes besucht, bekommt einen guten Ein- druck von der Anlage einer Agora. Vielleicht kann er sich auch ein Bild davon machen, wie lebhaft das Treiben war, wenn sich die Be- wohner der Polis zwischen den Verkaufsständen hindurchschoben, kann sich das Feilschen, Diskutieren, Schimpfen und Anpreisen der Waren vorstellen. Es gab Zugangsstraßen für Esel, die Holzbündel oder in Körben Trauben, Kohl und anderes heranschleppten. Sowohl Sklaven als auch Bürger drängelten sich an den Ständen, deren Wa- renangebot je nach Region von Bohnen, Rüben, Melonen, Zwiebeln und Linsen auf dem Gemüsemarkt, Granatäpfeln, Datteln, Feigen und Quitten auf dem Obstmarkt reichte. Daneben wurde auf dem Öl- und Käsemarkt Quark von Ziegenmilch, geriebener Käse, Frischkäse, jedoch keine Butter, dafür aber in große Krüge gefülltes Olivenöl an- geboten. Der Gewürzmarkt bot unter anderem Thymian und Knob- lauch, Majoran und Kümmel an. Auf dem Fleisch- und Fischmarkt konnte man Thunfisch, Rochen, Sardellen, Krabben und Muscheln beziehungsweise Pökelfleisch, Ochsen-, Hammel- und Ziegen- fleisch, Geflügel und Wild erwerben. René Sédillot, der dieses Wa- renangebot schildert, schließt die Übersicht mit folgendem Resümee: 13 Vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt. Georg Schwedt Copyright © 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ISBN 3-527-50218-1

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Kapitel 1Vom antiken Kaufladen über das

Kolonialwarengeschäft zum Supermarkt

Im klassischen Altertum wurde als Agora zunächst die Volksver-sammlung der griechischen Polis (Stadt) bezeichnet. Auf die Örtlich-keit der Versammlung übertragen, bezeichnete Agora den Marktplatzder Stadt als Zentrum des politischen und später dann auch des ge-schäftlichen Lebens. Es entwickelte sich städtebaulich ein rechtecki-ger, von drei oder allen Seiten von Säulenhallen umschlossener Han-delsplatz für Kleinhändler. Wer heute die Ausgrabungsstätten antikerStätten wie Perge in der Nähe von Antalya in Pamphylien (antiker Na-me der südanatolischen Küstenebene) oder Korinth in Griechenlandim Nordosten des Peloponnes besucht, bekommt einen guten Ein-druck von der Anlage einer Agora. Vielleicht kann er sich auch einBild davon machen, wie lebhaft das Treiben war, wenn sich die Be-wohner der Polis zwischen den Verkaufsständen hindurchschoben,kann sich das Feilschen, Diskutieren, Schimpfen und Anpreisen derWaren vorstellen. Es gab Zugangsstraßen für Esel, die Holzbündeloder in Körben Trauben, Kohl und anderes heranschleppten. SowohlSklaven als auch Bürger drängelten sich an den Ständen, deren Wa-renangebot je nach Region von Bohnen, Rüben, Melonen, Zwiebelnund Linsen auf dem Gemüsemarkt, Granatäpfeln, Datteln, Feigenund Quitten auf dem Obstmarkt reichte. Daneben wurde auf dem Öl-und Käsemarkt Quark von Ziegenmilch, geriebener Käse, Frischkäse,jedoch keine Butter, dafür aber in große Krüge gefülltes Olivenöl an-geboten. Der Gewürzmarkt bot unter anderem Thymian und Knob-lauch, Majoran und Kümmel an. Auf dem Fleisch- und Fischmarktkonnte man Thunfisch, Rochen, Sardellen, Krabben und Muschelnbeziehungsweise Pökelfleisch, Ochsen-, Hammel- und Ziegen-fleisch, Geflügel und Wild erwerben. René Sédillot, der dieses Wa-renangebot schildert, schließt die Übersicht mit folgendem Resümee:

13Vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt. Georg SchwedtCopyright © 2006 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, WeinheimISBN 3-527-50218-1

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»Übermäßig appetitlich ist das alles nicht; die Früchte habenkeinen Saft, sind klein und hart; das Fleisch ist von zweifelhafterQualität, die Käsesorten alles andere als verlockend; dochimmerhin, die Agora brodelt von Leben.«

Und er vergisst auch nicht, die Ecke mit den Weinhändlern, denTrödlern, Antiquaren und Buchhändlern zu erwähnen, das Angebotan Geschirr, an etruskischen Stiefeln für die Soldaten, Parfum für dieHetären und an Stoffen für den Landmann.

Die Agora von Perge, wie überall wirtschaftlicher, gesellschaftlicherund politischer Mittelpunkt der Stadt, stammt aus römischer Zeit.Nach einer griechischen Kolonisation im 7. Jahrhundert vor Christusfolgte eine Herrschaft der Perser vom 6. bis in das 4. Jahrhundert –bis zur Eroberung durch Alexander den Großen 334 vor Christus; 190vor Christus kamen die Römer nach Pamphylien und herrschten dortbis zum 4. Jahrhundert nach Christus. Wer Perge besucht, findet dieAgora im Osten des hellenistischen Tores – sie misst 76 mal 74,5 Me-ter. An den Außenseiten des Marktplatzes waren Läden aneinandergereiht, von denen einige ihre Ladentür beziehungsweise Frontsichtzur Agora, andere zu kleinen Gassen gerichtet hatten. Diese Bauartfindet man seit Beginn der hellenistischen Periode in den Länderndes östlichen Mittelmeeres – als Agora mit Peristyl (auch in der Tou-ristenstadt Side zu bewundern). Die Ausgrabungen haben weitereDetails zu Tage gebracht: So waren die Böden und Läden mit Mosai-ken überzogen, die meist geometrische Motive enthielten. Vor den Lä-den verlief ein überdachter Porticus in einer Höhe von fast 8 Metern,der die Käufer im Winter vor Regen und im Sommer vor der Sonneschützte. Reste der Granitsäulen auf Sockeln attisch-ionischen Stils,aus korinthischen Kapitellen und breiten Architraven (auf Säulen ru-hende, tragende Querbalken) wurden aus Marmor geschaffen. Zwi-schen dem Porticus und dem Marktplatz verlief ein Abwasserkanal.An der südöstlichen Wand der Agora wurde sogar eine Toilette ent-deckt, die über einen unterirdischen Kanal mit dem ebenfalls unter-irdischen Hauptkanal verbunden war.

Korinth im Nordosten des Peloponnes wurde im 10. Jahrhundertvor Christus gegründet und war im Altertum nach Athen die bedeu-tendste Handelsstadt in Griechenland. Das antike Korinth mit seinenAusgrabungsstätten liegt südwestlich der heutigen Stadt. Im Krieg

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Abb. 1: Das antike Perge in der Türkei – Ladenstraßean der Agora (oben), Fleischhaken und Messer als»Geschäftszeichen« (im Mittelalter »Gildezeichen«genannt)

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gegen Rom wurde die Stadt 146 vor Christus zerstört. Apostel Paulusgründete hier eine Christengemeinde. Nach mehrmaligen weiterenZerstörungen durch Erdbeben wurde 1858 sechs Kilometer nordöst-lich der antiken Stadt am Meer Nea Korinthos (Neu-Korinth) gebaut.An der ehemaligen Agora ist im Osten die Ladenreihe aus der Zeit vonKaiser Augustus (63 vor Christus bis 14 nach Christus) noch gut er-kennbar, ebenfalls die Reste der 154 Meter langen Säulenhalle (Stoa)mit Magazinen, Weinschänken und Läden. Im Westen befand sichhinter sechs kleinen römischen Tempeln ebenfalls eine Ladenreihe,den nördlichen Abschluss der Agora bildete wieder eine Stoa mit Lä-den.

Kauf läden, Märkte, Markthallen

Die Bezeichnung Laden, die hier für die historischen Verkaufs-stände stets verwendet wurde, ist auf den deutschen Sprachgebrauchbeschränkt. In der mittelhochdeutschen Sprache (von etwa 1050 bis1350) bedeutete Laden zunächst »Brett, Bohle«, dann auch das »ausBrettern und Bohlen Gefertigte«. Eine weitere Bedeutung von Ladenfinden wir im Fensterladen, als Brett zum Schutz eines Fensters. »La-den« beinhaltete aber auch das in einer Verkaufsbude herabgelasseneBrett, auf dem Waren ausgelegt und zum Verkauf angeboten werdenkonnten. Eigentlich war somit der Kaufladen nur der nach vorn um-zulegende Fensterladen, auf dem der Kauf stattfand. Und so er-weiterte sich die Bedeutung des Ladens auf den aus Brettern gezim-merten Verkaufsstand.

Das Wort »Laden« steht aber auch noch in einem anderen Zu-sammenhang mit dem Kaufmann – nämlich in dem Sinn, »der Fuhr-mann hat Waren geladen«. Bei Schiller heißt es in Kabale und Liebe:»Einen Wagehals nennt man den Kaufmann, der auf ein Schiff seinganzes Vermögen ladet.« Und so besitzt ein Kaufmann auch einenKaufladen, den die Römer mit »taberna mercatoria« bezeichneten. Inden römischen Amphitheatern dienten auch die Hallen zu ebener Er-de nach außen als Kaufläden und als eine Art von Basar, weil in denAmphitheatern der große Zulauf auch zu einem lebhaften Waren-umsatz führte. Es entstanden Kauflauben, die im Mittelalter deut-schen (vor allem süddeutschen, aber auch Schweizer und österreichi-

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schen) Städten als Vorbild für die Bauweise der Geschäfte an Märktendienten. Geschäfte in Laubengängen mit mittelalterlichem Charakterbietet die Stadt Bern in ihrer Hauptgeschäftsstraße auf beiden Seitenund durch die ganze Altstadt – von der Gerechtigkeits-, Kram-, Markt-und Spitalgasse bis zum Bubenbergplatz.

Römischer Handel fand in den ersten Jahrhunderten nach Chris-tus auch am obergermanisch-rätischen Limes (seit 2005 Weltkultur-erbe) statt. Und damit kamen über 500 lateinische Wörter in unsereSprache. Bei den römischen Soldaten wurden Händler als »caupo«bezeichnet – im Althochdeutschen (6./7. bis 11. Jahrhundert nachChristus) wurde daraus »koufu«, dann »koufman« und schließlichunser Kaufmann. Waren wurden in großen Scheunen in Säcken (lat.saccus) gelagert, zum Beispiel mit getrockneten Früchten (fructus),mit Gewürzen wie Fenchel (feniculum), Kümmel (cuminum). Für fri-sches Gemüse benutzte man Körbe (corbis), zum Beispiel für Retti-che (radix) oder Kürbisse (curbita). In Kisten (cista) stapelte man zumBeispiel Tonwaren. Römische Händler boten ihre Waren auf einemPlatz an, den sie »mercatus« (oder umgangssprachlich »marcatus«)nannten – unser heutiger Markt.

Das Forum Romanum ist von Anfang an ein Handelszentrum ge-wesen. Als sich jedoch die Stadt Rom immer mehr ausdehnte, derStaat auf dem Forum Triumphbögen, Tempel und Amphitheater er-richtete, wanderten die Händler in die Stadt ab, und es bildeten sichspezialisierte Märkte: ein Rinder- und ein Schweinemarkt, ein Fisch-markt, ein Wein- und ein Gemüsemarkt. Aber auch diese Foren ver-schwanden wieder. In Rom entstanden dafür erste überdachte, großeMarkthallen – auf dem Caelius (der südöstlichste Hügel im altenRom) und auf dem Esquilin (am östlichen Rand der antiken Stadt).Der Esquilinische Hügel, im 4. Jahrhundert vor Christus in die Stadt-ummauerung einbezogen, war auch Wohngebiet der gewerbetrei-benden Bevölkerung. Zur Zeit des Kaisers Trajan (53–117, römischerKaiser ab 98 nach Christus) entstand an den Hängen des Quirinalsein riesiger fünfgeschossiger Ziegelbau. In ihm fanden 500 Ver-kaufsstände Platz. Im Erdgeschoss wurden Obst und Gemüse, im ers-ten Stock Wein und Öl, im zweiten und dritten Gewürze und im vier-ten Stock Fisch angeboten. Darüber hinaus hatten Händler ihre Ver-kaufsbuden an verschiedenen Plätzen aufgeschlagen, zum Beispieldie Obsthändler in der Nähe des Circus Maximus und die Färber am

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Esquilin. Manche Viertel erhielten ihre Namen nach den dort ausge-übten Handwerken beziehungsweise von der dort angebotenen Ware.

Märkte (von lat. »mercatus« für Handel) spielten im Mittelalter(auch bereits in der Antike, vgl. Forum Romanum) eine entscheiden-de Rolle bei der Entwicklung des Städtewesens. In frühesten Zeitenfand ein Handel (anfangs Tauschhandel) an Schnittpunkten wichtigerVerkehrswege, an Flussübergängen oder in der Nähe religiöser (imZusammenhang mit Pilgerfahrten) oder politischer Zentren statt.Märkte waren zunächst privilegierte, zeitlich begrenzte »Verkaufsver-anstaltungen« und wurden oft als Jahrmärkte veranstaltet, zum Bei-spiel als Wochenmarkt, als Frühjahrs-, Herbst- oder Weihnachts-markt, und sind auch als Flohmarkt, Fischmarkt oder Kirmes nochheute üblich.

Der Brockhaus aus dem Jahr 1839 beschreibt den Markt als eine

»zahlreiche öffentliche Zusammenkunft von Verkäufern mitihren Waaren und von Käufern, sowie der Platz in Städten undanderen Ortschaften genannt, wo solche Zusammenkünfte vor-zugsweise stattf inden. Je nach der Zeit, in der sie sich wiederho-len, spricht man von Wochenmärkten oder Markttagen, wie siewöchentlich in größeren Orten hauptsächlich für den Verkehrmit frischen Lebensmitteln stattf inden und von Jahrmärkten, diejährlich nur ein oder mehrere Mal wiederkehren; ebenso werdenMärkte und Marktplätze auch nach daselbst ausschließlich feil-gebotenen Dingen näher bezeichnet, und es gibt in dieser Bezie-hung z. B. Viehmärkte, Roßmärkte, Getreide- oder Kornmärkte,Wollmärkte, Fischmärkte, Holz- und Kohlenmärkte, grüneMärkte u. s. w. Zur Beaufsichtigung des Verkehrs auf denWochenmärkten, namentlich in Bezug auf Güte und Preis derLebensmittel, auf Maß und Gewicht, sind von den Obrigkeitensogenannte Marktmeister oder Marktvögte bestellt…«

Weiter ist im Brockhaus von 1839 zu lesen:

»In umfänglichem Sinne werden auch ganze Provinzen undReiche, wo einzelne Handelsgegenstände in vorzüglicher Mengeeingekauft oder abgesetzt werden, Märkte genannt, in welcherBedeutung z. B. die Länder an der Ostsee, die nördl. Küste des

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schwarzen Meeres und Ägypten Kornmärkte, Westindien undmehre südamerik. Häfen Märkte für Colonialwaaren sind.Endlich wird auch im kaufmännischen Leben unter Markt über-haupt der Verkehr eines großen Handels- oder Wechselplatzesverstanden und man sagt z. B., der Markt sei mit der oder jenerWaare überfüllt, wenn sie an einem Orte in Menge vorhandenist, ohne Abnehmer zu f inden.«

Daneben wird im zitierten Lexikon nur noch der »Marktschreier«verzeichnet.

Schlägt man in der heutigen Brockhaus Enzyklopädie (24 Bände,Ausgabe 2001) unter »Markt« nach, so findet man nach kurzen his-torischen Angaben vor allem Informationen zum Gewerberecht, zurWirtschaft und daran anschließend zusammengesetzte Begriffe von»Marktanteil«, »Marktforschung«, »Marktordnung« bis zu »Markt-wirtschaft« (im historischen Zusammenhang mit dem neuzeitlichenKapitalismus in Europa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts). Die in Eu-ropa wohl bekanntesten und traditionsreichsten ständigen Märkte,der Naschmarkt in Wien und der Viktualienmarkt in München, sollenhier mit ihrer Geschichte näher vorgestellt werden.

Wiener Naschmarkt – nicht nur für ›Naschkatzen‹

Wien ist ein Eldorado für Marktfans. Von allen (36 Märkte be-schreibt W. T. Bauer in seinem Buch Die Wiener Märkte, 1996) ist derNaschmarkt (4. Bezirk Mariahilf ) wohl der international bekannteste»Detailmarkt« mit insgesamt 172 Ständen, gefolgt vom Brunnen-markt (16. Bezirk Ottakring) mit 157 Ständen. Als Vorläufer wird derum 1774 außerhalb des Kärntner Tors zwischen Freihaus und Wien-fluß (einem Gebirgsbach aus dem Wienerwald) gegründete »Aschen-markt« (Asch = Milcheimer) genannt, der 1896 zunächst auf einenTeil des heutigen Resselparks ausquartiert wurde. In der unmittelba-ren Nähe des heutigen Naschmarktes stand einst das Heiligen-Geist-Spital (vgl. auch den Abschnitt über den Viktualienmarkt), das 1529abgerissen wurde. Der Platz blieb frei. In der Mitte des 19. Jahrhun-derts fasste man den Entschluss, eine Markthalle zu errichten, der1859 auch vom Kaiser Franz Joseph I. genehmigt wurde. Zum Bau ei-ner Markthalle wie in anderen Städten kam es jedoch nicht. In der Stu-

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die zur Regulierung des Stadtteiles Freihaus – Naschmarkt in Wien des k.u. k. Baurates Eugen Fassbender heißt es:

»In den meisten Welt- und Großstädten hat man anstatt deroffenen Märkte Markthallen; oft sehr große und schöne Bau-werke. In Wien besteht eine große Abneigung gegen solche. Manzieht offene Märkte, auf denen Käufer und Verkäufer oft sehrdurch die Unbilden des Wetters leiden und die Eßwaren demStraßenstaub mit seinen bedenklichen Beimengungen preisge-geben sind, den Markthallen vor, denen man vorwirft, daß inihnen schlecht Luft herrsche, wenn sie geschlossen sind, oder eszu sehr ziehe, wenn die Lüftungsf lügel offen sind.«

Und weiter ist in dieser Studie zu lesen (vgl. dazu die Texte überMarkthallen und den Bauch von Paris von Zola):

»Vielleicht wird man über kurz oder lang nach dem Muster vonParis und anderen Weltstädten auch bei uns auf die Markthallenkommen … Vielleicht entscheidet man sich für beide Arten,nämlich einen Teil des Marktes in die Markthalle und einenoffenen in die Wien-Zeile zu legen. Hier wären dann durch Quer-straßen getrennt Abteilungen zu schaffen, in denen, nur durchzierliche Dächer gedeckt, luftige Verkaufsstände zu errichtenwären, deren äußere Reihen gegen die vorbeiführenden Straßenaber durch hohe Wände abzuschließen wären, damit der Windnicht Staub und Mist in die Abteilungen treiben könne. Das wärenun ein offener Markt, der die Vorteile der freien Luft und desmöglichsten Schutzes gegen den Staub hätte…«

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekam der Naschmarkt dann sei-nen heutigen Standort an der Wienzeile. Den Namen »Naschmarkt«erhielt er offiziell 1905. Von 1916 bis 1972 schloss sich an den Marktauch ein (provisorischer) Obst- und Gemüsegroßmarkt an. (Heute be-findet sich der Großmarkt in Wien-Inzersdorf.) Auf den Platz des ehe-maligen Großmarktes verlegte man den Flohmarkt, der zuvor aufdem Platz »Am Hof« abgehalten wurde. Wer den Weg zum Nasch-markt von der U-Bahn-Station Kettenbrückengasse wählt, kommt zu-

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nächst zum Marktamtsgebäude aus dem Jahr 1916. An der Mutter-gottestatue liest er auf einer Tafel folgenden Text:

»Diese Bildnus ware vormals an der Kreuz Saulen welche in Jahr1414 ein lobliches Handwerk deren Baecken in Wienn zur EhreGottes und seiner liebnn Mutter auf der Steinernen Brucken haterrichten lassen gestanden und ist in Jahr 1772 auf allerhöchstenBefehl an diese Orth ubersezet worden.«

(Die Steinerne Brücke war vor der Überbauung des Wienflusses ei-ne Verbindung zwischen Kärntner Straße und Wiedner Hauptstraße.)Auf dem Platz der Landparteien vor Erreichen des eigentliches Mark-tes haben sich Blumenhändler, Obst- und Gemüsebauern, Mode-schmuckverkäufer und »Standler« mit Landbrot, Geselchtem (gepö-keltem und geräuchertem Fleisch) und allen Arten bäuerlicher Würs-te angesiedelt. Auf dem Markt selbst sind viele ausländische Standlermit »orientalischem« (oder zumindest südeuropäischem) Obst undGemüse, türkische Gemischtwarenhändler (mit Fladenbrot, honigsü-ßen Leckereien, streng-riechenden Käsesorten, verschiedenartigenOliven, Trocken- und Hülsenfrüchten, sogar original türkischen Kon-serven), des Weiteren auch islamische Fleischer, Stände mit Brot undBackwaren, Textilien sowie Imbissbuden zu finden. Die berühmte»Käsehütte«, Stände mit Tees und Gewürzen sind ebenfalls erwäh-nenswert. Die Naschmarktkapelle steht in der Mitte des Marktes (eineMarienkapelle, zunächst als Johannes-von-Nepomuk-Kapelle 1817 ge-stiftet, 1916 auf den Naschmarkt verlegt). Direkt an der Kapelle befin-den sich zwei Läden mit seltenen Gewürzen. Werner T. Bauer, stu-dierter Völkerkundler und Orientalist, bezeichnet seinen WienerNaschmarkt als ein »wahres Feinschmecker-Eldorado!«

Viktualienmarkt, der besondere Freiluft-Supermarkt

Die Bezeichnung »Viktualien« bedeutet Lebensmittel für den täg-lichen Bedarf – sie kommt vom Lateinischen vivere (= leben), bedeu-tet Unterhalt, Nahrung, Lebensweise, Lebensart; das französische»victuaille« steht für Esswaren, Lebensmittel, Mundvorrat; in Öster-reich wird auch das Wort »Viktualienhandlung« gleichbedeutend mitder Begriff lichkeit des Lebensmittelgeschäfts verwendet. Der heutige

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Viktualienmarkt in München wurde 1807 auf einen Beschluss von Kö-nig Maximilian I. (1756–1825, König seit 1806, als Maximilian IV. Jo-seph seit 1799 Kurfürst) vom Marienplatz, der früher Schrannenplatzhieß (Schranne = zunächst Schranke, dann Verkaufsbank speziell fürGetreide), auf das Gelände des Heiliggeist- beziehungsweise Bürger-spitals verlegt. Als Keimzelle an diesem Ort gelten die Fleischbänke.Sie wurden durch Ludwig den Bayer 1315 vom Marienplatz vor das Tal-burgtor an den Fuß des »Petersbergls« umquartiert (ungefähr an dieStelle der heutigen Zeile der Zwölfapostel-Metzger (ViktualienmarktNr. 15). Anfangs zählte die »Fleischbank« dreißig Verkaufsplätze (ma-cella) in zwei Zeilen, zwanzig Jahre später boten vierzig Metzger ihreWaren an und zahlten ihren Pachtzins in Unschlitt (Talg für Kerzen).1427 wurden 67 selbstständige Metzger gezählt.

Am Platz des heutigen Viktualienmarktes stiftete 1204 Herzog Lud-wig der Kelheimer ein Hospital für Pilger als »Unterhalt und Herber-ge« und auch für Arme und Bedürftige der Stadt München. Bereits1250 verfügte das Spital über reiche Güter, 1286 erhielt es die Brau-und Schankgerechtsame durch Herzog Ludwig II. 1320 war das Spi-tal nahezu wirtschaftlich unabhängig – mit eigenen Mühlen, Back-stube und Brotladen sowie sieben von 34 zinspflichtigen Brotbänken,nebst Brauerei und Bierkeller, Viehställen und Schlachthaus, Felderund Wiesen. Das Areal des Spitals erstreckte sich vom Tal bis zurFrauenstraße, vom Dreifaltigkeitsplatz bis zum Rosental.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Marien- oder Schrannen-platz für die Markthaltung entschieden zu klein geworden. So veran-lasste der Magistrat der Stadt einen Umzug des Eier- und Kräutl-marktes auf den inzwischen aufgelassenen Friedhof vor der Peters-kirche, eine Entscheidung, welche unter anderem der leitendebayerische Minister Graf von Montgelas (1759–1838) als unpassendempfand. Montgelas war 1796 in die Dienste Herzogs MaximilianJoseph von Pfalz-Zweibrücken getreten, des späteren Königs Maximi-lian.

Der Geburtstag des heutigen Viktualienmarktes ist der 10. März1807. An diesem Tag beschloss König Maximilian I., den gesamtenMarkt auf den Hof des Heiliggeistspitals zu verlegen. Nach der Ein-ebnung des Platzes wurden 1823 auch Ställe und Ökonomiegebäudeabgerissen, 1828 das Brauhaus, eine Schmiede, Pfisterei (von lat. pis-tor für Bäcker), das Badehaus und zwei Scheunen. Den Krankensaal

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ließ man noch stehen – und brachte darin bis zum Abriss die Fleisch-bank unter. 1831 kamen die Fischverkäufer vom Fischbrunnen aufden Marienplatz in die Nähe der Westenriederstraße – hier befindensich noch heute Fischläden. Dann zogen nach und nach Gärtner,Kräuter-, Eier- und Blumenhändler auf das neue Marktgelände um,dessen erste Erweiterung 1857 stattfand. Der so genannte »Weiber-bau« des Spitals – nach der ersten Spitalordnung von 1327 gab es ei-nen Männer- und eine Frauenabteilung – diente zwischen 1823 bis1854 als Kornhalle, danach als Stadtwaage und von 1870 bis 1885 alsFleischbank. Der Stadtbaumeister Arnold Zanetti schuf 1880 dieMetzgerzeile am Petersbergl im neugotischen Stil. 1891 hatte sich derViktualienmarkt auf den heutigen Stand ausgedehnt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste der Markt neu aufgebaut wer-den. 1950 zählte er bereits 89 Buden, bevor er 1957 zum Teil unter-kellert wurde. 1964 beschloss die Stadtratsvollversammlung, den Alt-stadtring durch die Rumfordstraße zu legen, statt ihn am Viktualien-markt vorbeizuführen. Mit der Verschönerung des Marktes begannman 1969. Aus einfachen Verkaufsbuden wurden Verkaufskioske mitneuer Eindeckung, man legte den Biergarten an und pflanzte 42 Bäu-me (überwiegend Kastanien). 1975 war die Umgestaltung weitgehendabgeschlossen – und seit dem 6. November dieses Jahres ist der Vik-tualienmarkt frei von Verkehrsmitteln. Nach dem Zweiten Weltkrieghatte noch die Tram den Markt durchquert. In der letzten Bauphaseder Neugestaltung wurde die Metzgerzeile bis 1980 unterhalb der Kir-che Sankt Peter renoviert und ein Teil der im Krieg entfernten undausgelagerten neugotischen Fassadenteile konnte wieder angebrachtwerden (an den vier südlichen Jochen der Ladenzeile).

Heute ist der Viktualienmarkt ein »Supermarkt im Freien« inmit-ten der Großstadt, der in seiner eigentlichen Funktion Münchens Be-völkerung mit Lebensmitteln zu versorgen hat. Er ist zwar längstnicht mehr der einzige Markt in München, aber zweifelsohne der at-traktivste, der bekannteste und einer, auf dem man fast alles kaufenkann, traditionell Bayerisches neben Exotischem aus der ganzen Welt.Er ist ein Treffpunkt für Münchner und Touristen – ein Markt zumVerweilen, auf dem man sich einen Überblick über Angebote (undPreise) – von der Möhre vom heimischen Acker bis zu den exotischs-ten Gewürzen, von der Chiemsee-Renke bis zum Amur-Fisch, demRehfleisch aus dem Bayerischen Wald bis zum japanischen Shiitake,

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über Hunderte von Käse- und Wurstsorten – verschaffen und vielesdort auch direkt genießen, sprich konsumieren kann.

Markthallen in Stuttgart, Budapest und in Dresden – super Ware vom Feinsten

Die Geschichte der Markthallen unserer Zeit lässt sich bis in das al-te Rom zurückverfolgen. Die Geschichte der heutigen StuttgarterMarkthalle beginnt 1450 mit einer ersten Halle innerhalb des Rathau-ses – auch Herrenhaus oder Malefizhaus genannt, da im ersten StockÜbeltäter (Malefikanten) abgeurteilt wurden. Im Erdgeschoss befandsich eine »Fruchtschranne« neben Ständen oder Lauben für Salz,Fleisch und Brot. 1820 wurde das Herrenhaus abgerissen, das frei ge-wordene Areal im heutigen Bereich von Dorotheenstraße, Schiller-und Karlsplatz diente als Freiluftmarkt. König Wilhelm I. (Regie-rungszeit 1816–1864) versprach eine zeitgemäße Lösung, deren Rea-lisierung jedoch vierzig Jahre auf sich warten ließ. Erst im Todesjahrdes Stifters wurde die Blumen- und Gemüsehalle an der Südflankedes Alten Schlosses seiner Bestimmung übergeben. Die »KöniglicheGemüsehalle« war nach dem Vorbild von Baltards Pariser Hallen(1854–1857) errichtet worden – als eine Mischung aus Glaspavillonund Bahnhofsgebäude. Sein Architekt war der Baudirektor Georg vonMorlok, der auch den Alten Bahnhof (1863–1867) in der heutigenBolzstraße mit einer damals fünfbogigen Schaufassade entwarf, vondenen noch drei Bögen erhalten sind. Die Gemüsehalle wies einenfast quadratischen Grundriss von 40 mal 41 Metern auf. Die Hallewurde vom Nachfolger von Wilhelm I., König Karl I., am 27. Septem-ber 1864 eröffnet. Im Festprogramm hieß es unter anderem:

»Seine Majestät der König haben gnädigst genehmigt, daß dieauf dem Dorotheenplatz errichtete Markthalle, eine Geschenkdes Höchstseligen Königs Wilhelm an die Stadt Stuttgart, derenVollendung Seine Majestät der König Karl huldvollst empfohlenhaben, durch eine Blumen- und Früchte-Ausstellung feierlich ein-geweiht werde.«

Schon bald wurde die Halle jedoch infolge der schnell wachsendenStadt zu klein. Planungen, für die man Auskünfte in zwanzig Städten

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im ganzen Reich einholte, zogen sich bis 1898 hin. In Berlin existier-ten damals 15 unterschiedliche Markthallen. 1906 beschloss der Stutt-garter Stadtrat endlich die Errichtung eines Gebäudes für den Klein-handel auf dem Hauptmarkt zwischen Rathaus und Karlsplatz. Fürdieses Großprojekt musste jedoch der frühere Marstall im Osten desMarktareals abgerissen werden. Im Juni 1910 wurde ein Architekten-wettbewerb ausgeschrieben, zu dem 77 Entwürfe eingingen. MartinElsaesser (1884–1957), Architekturprofessor an der Stuttgarter Tech-nischen Hochschule, erhielt der ersten Preis und begann am 13. Mai1912 mit dem Bau, der zu Beginn des Jahres 1914 eingeweiht wurde.

In einer Werbebroschüre aus den zwanziger Jahren heißt es:

»Unsere Stuttgarter Markthalle mit ihren altehrwürdigen Nach-barn, dem alten Schloß und der Stiftskirche, wird immer wiedervon den vielen auswärtigen Besuchern, wenn sie die Sehenswür-digkeiten in Stuttgart besuchen, als ein Schmuckkästchen der

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Abb. 2: Entwurf des Architekten Elsaesser für dieMarkthalle in Stuttgart

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deutschen Markthallen bezeichnet… Die Hausfrau von heute hates viel angenehmer und praktischer, wenn sie durch die Markt-halle geht, sie braucht nicht in Regen und Schnee mehr herum-laufen und nicht mehr so viel Zeit für ihre Einkäufe, denn sie hatalles in einem Haus und dabei den Vorteil größter Auswahl anden verschiedenen Ständen… Schöne und große Markthallentrifft man noch in Hamburg, Leipzig, Dresden, Chemnitz,München usw., also in allen Städten, die im deutschen Wirt-schaftsleben mit an erster Stelle stehen.«

Damals gab es bereits ein exklusives Markthallen-Angebot. Auchwenn noch Obst, Gemüse und Südfrüchte überwogen, so fand derKunde auch Stände mit frisch gebranntem Kaffee, mit norddeutschenWurstwaren, italienischen Käsesorten (wie Gorgonzola oder Parme-san) und italienischen Teigwaren. Eine Straßenbahn brachte Obstund Gemüse aus den Außenbezirken bis an die Markthalle, von wodie Anhänger dann ins Innere der Markthalle geschoben werdenkonnten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Markthalle bei den Luftangriffenam 25. und 26. Juli 1944 schwer beschädigt und am 20. Oktober wur-de das Gebäude erneut bombardiert. Erst 1947 wurde das Glasdachüber der Halle repariert, bis 1953 war die Markthalle weitgehend ori-ginalgetreu rekonstruiert worden. Zunächst wurde auch der Groß-markt dort untergebracht, bis auf dem Wangener Hafengelände eineigener Bau eröffnet werden konnte. Im Juni 1969 gab ein Brand inder Markthalle den Anlass zu einer Wirtschaftlichkeitsprüfung des»alde Käschda«. Heraus kam der Vorschlag für eine gemischte Nut-zung nach der Art großer Warenhäuser. Ein öffentlicher Protest unddas am 1. Januar 1972 in Kraft getretene Denkmalschutzgesetz ver-hinderten die geplante Modernisierung, die Markthalle wurde als Kul-turdenkmal von besonderer Bedeutung eingestuft – und so ist sie bisheute mit 40 Geschäften erhalten geblieben, die »tagtäglich (…) einüberbordendes Warenangebot auf engstem Raum in verschwenderi-scher Farbenfülle präsentiert.«

Als zweites Beispiel wird hier die Zentralmarkthalle in Budapestnäher vorgestellt. Die Idee für den Bau einer Markthalle stammte aus

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den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Aber erst 1879 wurdenPlanungen in Angriff genommen, wobei man sich im Unterschiedzum System der speziellen Hallen wie in Paris (vgl. Der Bauch von Pa-ris von Emile Zola) für eine Zentralhalle direkt an der Donau ent-schied. Der Bau begann nach einer Ausschreibung 1894 und am 15.Februar 1897 wurde die Markthalle offiziell eröffnet. Die Gesamtflä-che beträgt heute 24 000 Quadratmeter. Die Halle ist 60 Meter breitund 220 Meter lang, die größte Höhe beträgt 28 Meter. Eine breiteStraße trennt die von Eisensäulen getragene Halle in zwei Abschnit-te, die zur Donau beziehungsweise zur Stadt gelegen sind. In den inLängsrichtung zur Mittelstraße angeordneten (verschließbaren) Kios-ken haben sich, nach Warengruppen getrennt, Metzger (mit einembreiten Angebot nicht nur an ungarischer Salami), Gemüsehändlerund Früchteverkäufer, Käsehändler sowie Fischhändler (mit leben-den Fischen in Eichenholzbassins) niedergelassen. Auf der Galerie,die dem Besucher oder Käufer einen faszinierenden Ein- und Über-blick auf das Geschehen in der Halle (und auf dessen Konstruktion)bietet, werden auch Speisen und Getränke angeboten. Bänke an derbreiten Mittelstraße laden zum Verweilen, zum Verschnaufen vomEinkauf oder auch zur Beobachtung der Käufer ein. Die Zentral-markthalle in Budapest ist eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, so-wohl im Hinblick auf die Architektur, die Lage an der Donau in Näheder Freiheitsbrücke als auch wegen des bunten Angebotes an heimi-schen (und ausländischen) Lebensmitteln. Außerdem werden an spe-ziellen Verkaufsständen Manufakturen angeboten – vom Küchenge-schirr über Bürsten bis zu Korbflechtwaren, Papierwaren, Eisenwa-ren, Porzellan, Textilien und Schuhen, Reinigungsmitteln undanderen Produkten. Aufgrund der günstigen Lage können Waren perSchiff, Bahn (Tram) und Lastwagen angeliefert werden. Im ZweitenWeltkrieg wurde die Markthalle beschädigt. Die Außenfassaden wur-den Ende der sechziger Jahre renoviert, doch 1991 wurde die Hallevorübergehend geschlossen. Eine umfassende Rekonstruktion fandzwischen 1992 und 1994 statt. So spielen die Glocken an den Fassa-den heute wieder das Lied I went off to the market, das von Zoltán Ko-dály komponiert wurde. Zu den berühmten Besuchern der Markthal-le zählten Kaiser Franz Joseph I. (zugleich König von Ungarn, 1830–1916), er begründete 1867 die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn,Kaiser Wilhelm II. (1859–1941) im Eröffnungsjahr 1897, Lady That-

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Abb. 3: Historische Darstellungen der Zentral-Markthalle in Budapest – Ansicht des Haupteingangsund Aufriss

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cher als englische Premierministerin (1984) und Prinzessin Diana(1990).

Die Markthalle in Dresden-Neustadt wurde am 7. Oktober 1899 ineinem typischen Gründerzeitbau als Neustädter Markthalle mit 213Verkaufsständen eröffnet. Ab 1949 war dort die Konsumgenossen-schaft (vgl. Kapitel 3) vertreten. Sie wird als ein »Koloss aus Sandstein,86 Meter lang und 30 Meter breit«, beschrieben. Weiter heißt es, dasses solche Gebäude nicht wie Sand am Meer gebe, sie ließen sich inDeutschland an zwei Händen abzählen. Als Produkte der europäi-schen Industrialisierung seien sie im ausgehenden 19. Jahrhundertentstanden, um die stark anwachsende Bevölkerung der Städte ver-sorgen zu können. In der Zeit der DDR war auch dieses historischeGebäude vom Abriss bedroht. Es wurde jedoch gerettet, im April 1997von der Konsum Dresden erworben und nach der Sanierung am 28.November 2000 wieder eröffnet. Die Dresdener Markthalle befindetsich in der vom Zwinger-Architekten Matthäus Daniel Pöppelmann(1662–1736) angelegten Neustädter Hauptstraße, an deren Anfangder berühmte Goldene Reiter (August der Starke als Cäsar von JeanJoseph Vinache, 1696–1752) steht. In unmittelbarer Nähe befindensich die Prachtallee Königstraße, der Albertplatz und die Äußere Neu-stadt mit Szenekneipen und vielen Läden. Schräg gegenüber derMarkthalle steht die Dreikönigskirche, zehn Minuten Fußweg von derhistorischen Altstadt Dresdens entfernt.

Die Markthalle Dresden wirbt mit dem Slogan »Modernes Einkau-fen in einer lichtdurchfluteten Halle mit schmiedeeisernen Gelän-dern, kunstvollen Eisentreppen und Lampen aus der Gründerzeit«und steht damit in der Tradition der beschriebenen Markthallen inBudapest und Stuttgart. In die zehn Monate dauernde Sanierung in-vestierte die Konsum Dresden Neustädter Markthalle GmbH & Co.KG 10 Millionen Euro. Einzelhandelsgeschäfte, Gastronomie undFreizeiteinrichtungen sind hier unter einem Dach vereint.

Der Bauch von Paris von Zola

Die Zentral-Markthallen (Halles Centrales) von Paris, als »Bauchvon Paris« bezeichnet, wurden von dem Architekten Victor Baltard(1805–1874), zusammen mit F.-E. Callet (1791–1854), ab 1852 in derRue Montorgueil 64–72 erbaut. Für diesen Großbau wurde zum ers-

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ten Mal eine Eisenkonstruktion verwendet. 1857 wurden die Hallenfür Frühobst und Frühgemüse, Butter, Käse und Seefisch eröffnet,die für Obst, Gemüse und Blumen folgten 1858. Die Schlachttierhal-le stellte man 1860, die Geflügelhalle (auch für Wildbret) 1866 undschließlich die Fleischereihalle 1869 fertig. 1970 wurden alle Hallenabgerissen. Die Pariser Markthallen waren inzwischen nach Rungisim Südosten von Paris verlegt worden. Eine der Hallen wurde de-montiert und in Nogent-sur-Marne wieder aufgebaut. Heute befindetsich an der Stelle der alten Markthallen die Métro-Station »Les Hal-les«, einer der größten U-Bahnhöfe Europas, darüber ein ultramo-dernes Shopping-Center mit Restaurants, Boutiquen, kulturellen Ein-richtungen, Discos, Museum, Hallenbad, einem Glashaus mit tropi-schen Pflanzen und mit mehreren Kinos. Der mehrgeschossigeKomplex prunkt in Spiegelglas und Aluminium.

1873 erschien von Emile Zola (1840–1902) der Roman Le Ventre deParis (Der Bauch von Paris – folgende Zitate aus einer Ausgabe um1910). Im Rahmen einer sehr spannenden Handlung, in Form einer»Natur- und Sozialgeschichte« einer Familie im Zweiten Kaiserreich,vermittelt Zola ein eindrucksvolles Bild der Pariser Markthallen. VonLiteraturhistorikern wird Zola als Begründer und Wegbereiter des li-terarischen Naturalismus bezeichnet. Zola begann 1860 mit erstenSchreibversuchen und erzielte erste Erfolge mit seinem Roman DieGeheimnisse von Paris. Mit dem Maler Paul Cézanne (1839–1906), dener im Gymnasium in Aix-en-Provence 1853 kennen lernte, verbandihn eine lange Freundschaft. Zola starb in seiner Pariser Wohnung aneiner Kohlenmonoxidvergiftung und wurde auf dem Friedhof Mont-martre beigesetzt. Seine Urne wurde 1908 in das Pantheon überge-führt.

Zu Beginn des Romans beschreibt Zola eine Besichtigung derMarkthallen (man vergleiche mit der Zentralmarkthalle in Budapest)durch die Hauptperson Florent, ein Bruder des Fleischers Quenu, un-ter Führung des Malers Claude (Hervorhebungen durch den Autor):

»… Und nun, wenn’s beliebt, wollen wir einen Gang durch dieHallen machen.

Florent folgte ihm, überließ sich ihm. In der Tiefe der RueRambuteau war es hell, der Tag kündigte sich an. Die großeStimme der Hallen brummte lauter; von Zeit zu Zeit durch-

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schnitten Glockenklänge aus einem entfernten Pavillon diesesrollende, immer mehr anwachsende Geräusch. Sie betrateneinen der gedeckten Gänge zwischen dem Pavillon für Seefische[Seefischhalle] und dem Pavillon für geschlachtetes Gef lügel[Gef lügelhalle]. Florent erhob die Blicke und betrachtete dashohe Gewölbe, dessen inneres Holzgerüst zwischen demschwarzen Spitzenwerk der gußeisernen Tragbalken schimmerte.Als er den großen Mittelgang erreichte, glaubte er eine seltsameStadt vor sich zu haben, mit ihren deutlich abgegrenzten Vier-teln, ihren Vorstädten, Dörfern, Spazierwegen und Straßen, mitihren Plätzen und Wegkreuzungen, eine Stadt, die irgend eineRiesenlaune an einem Regentage unter ein Dach gestellt hat. DerSchatten, der in den Höhlungen des Dachwerkes schlummerte,vervielfachte diesen Wald aus Pfeilern, breitete ins Unendlichedie zarten Rippen, die abgesonderten Galerien und Fensterrei-hen aus; und es gab oberhalb dieser Stadt, bis in die Tiefe desDunkels dort oben, ein ganzes Wachsthum, ein ungeheuerlichesSprießen und Entfalten von Metall, dessen Stengel, die inBündeln emporstrebten, dessen Zweige, die sich krümmten unddurch einander schlangen, eine ganze Welt bedeckten mit ihremleichten Laubwerk eines hundertjährigen Hochwaldes. GanzeViertel schliefen noch hinter ihren verschlossenen Thorgittern.Die Pavillons für Butter und Gef lügel dehnten ihre kleinen vergit-terten Verkaufsstände, ihre noch menschenleeren Gänge unterden Reihen von Gaslichtern dahin. Der Pavillon für Seefische wareben geöffnet worden; Frauen kamen und gingen über dieblanken Steine des Pf lasters, auf welchem da und dort ein ver-gessener Korb oder ein vergessenes Linnen seinen Schattenwarf. In den Abtheilungen für schwere Gemüse, Blumen undFrüchte ward das Geräusch immer lauter; immer mehr erwachtedas Leben in dieser Stadt, angefangen von dem volkreichenViertel der Kohlköpfe, die schon um vier Uhr sich anhäufen, biszu dem trägen und reichen Viertel, das erst um acht Uhr seineHäuser mit Fasanen und Truthühnern behängt.«

Die Wanderung durch die Markthallen erfolgt vor Sonnenaufgang.Als dann der »Sonnenaufgang dem Himmel die Farbe der schillern-

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der Seide« verleiht, steigt der Maler Claude »vor Begeisterung auf dieBank« und es folgt eine Schilderung des Gemüse-Sortimentes:

»Die Salate, Lattiche und Endi(vi)en, erschlossen und nochfeucht von dem Erdreich, zeigten ihren schimmernden Kern; dieSpinat- und Sauerampfer-Packete, die Artischocken-Sträuße, dieErbsen- und Bohnen-Haufen, die Stöße von breitblätterigemLauch, durch Strohhalme zusammengebunden, zeigten dieganze Stufenleiter des Grün, von der grünen Lackfarbe derSchoten angefangen bis zu dem satten Grün der Blätter; einefortlaufende Skala, die in den Streifen der Seller(ie)köpfe und derLäuche erstarb. Aber unter den hellen Farben die hellsten warendoch die der Möhren und Rüben, die in überreicher Menge aufden ganzen Markte ausgestreut, mit ihren hellen Streifen einenbunten Ton in diese Farbenpracht setzten. An der Wegkreuzungder Hallen bildeten die Kohlköpfe ganze Berge; die riesigenWeißkohlkopfe, eng zusammengeschlossen und hart wie Kugelnaus einem weißen Metall; die Krauskohlköpfe, deren großeBlätter f lachen Becken von Bronze glichen; die Rothkohlköpfe,welchen die Morgenröthe eine prächtige Weinhefefarbe verlieh,mit dunkleren Streifen von Karmin und Purpur. Am andern Ende,bei der Wegkreuzung des Sankt-Eustach-Platzes, war derEingang der Rue Rambuteau von einer Doppelreihe gelber Rie-senkürbisse verlegt; da und dort schimmerte der braunrotheGlanz eines Korbes voll Zwiebeln, das Blutroth eines Häuf leinsTomaten, das Blaßgelb einer Parthie Gurken, das Dunkelvioleteines Kranzes Eieräpfel, während einzelne Reihen großer schwar-zer Rettiche dunkle Flecken inmitten all’ dieser Farbenfreude desanbrechenden Tages bildeten.«

Die unmittelbare Umgebung der Markthallen schildert Zola mitden Augen von Florent wie folgt:

»… er betrachtete die schräg gestellte Sankt-Eustach-Kirche, diewie eine Sepia-Zeichnung sich vom blauen Himmel abhob mitihren Rosetten, breiten, gewölbten Fenstern, ihrem Glocken-thurm und ihren Schieferdächern. Er verweilte bei der dunkelnVertiefung der Rue Montorgueil, wo grell bemalte Aushängeschil-

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Page 21: Kapitel 1 Vom antiken Kaufladen über das ... · Kapitel 1 Vom antiken Kaufladen über das Kolonialwarengeschäft zum Supermarkt Im klassischen Altertum wurde als Agora zunächst

der glänzten; dann bei dem hier sichtbaren Stück der Rue Mont-martre, deren mit vergoldeten Lettern durchf lochtene Balkongit-ter herüber schimmerten. Und als seine Blicke zur Wegkreuzungzurückkehrten, blieben sie an anderen Firmenschildern haften;das gab es Droguerieen und Apotheken, Mehl und trockeneGemüse. Alldas in großen rothen oder schwarzen Lettern aufverwaschenem Grunde gemalt. Die Eckhäuser mit ihren schma-len Fenstern erwachten allmälig und zeigten in der breiten, lufti-gen, neuen Pont-Neuf-Straße einige gelbe, gemüthliche Facadenaus dem alten Paris. An der Ecke der Rue Rambuteau standen inden leeren Schaufenstern des großen Modewaaren-Magazinssauber gekleidete Handlungs-Gehilfen mit Gilet [Weste], knappanliegendem Beinkleide und schimmernden breiten Manschet-ten, mit der Ordnung der Auslagen beschäftigt. Weiterhin standdas Haus Guillout, ernst wie eine Kaserne, und stellte in seinenSchaufenstern Packete goldgelb schimmendern Zwiebacks undgroße Schüsseln kleiner Kuchen aus. Alle Läden waren jetztgeöffnet. Arbeiter in weißen Blousen, mit ihrem Werkzeug unterdem Arm, gingen eiligen Schrittes durch die Straße.«

Und schließlich gelangt Florent noch in die Markthalle, in der Ge-flügel und Wildbret verkauft wurden (La Valée, weil dieser Markt frü-her auf dem Quai de la Mégisserie, auch La Valée de la Misère oder LaValée genannt, stattfand), und zur Fleischereihalle:

»Er betrat einen gedeckten Gang, links, in der Gruppe der vierPavillons [Hallen], deren große, stille Schatten er in der Nachtgesehen hatte. … Er schritt bis ans Ende des Ganges. Lastwagenfuhren im Trab herein und füllten den Gef lügelmarkt mit Käfigenvoll lebenden Gef lügels und viereckigen Körben, in welchengeschlachtetes Gef lügel hoch aufgeschichtet lag. Auf dem ent-gegengesetzten Trottoir luden andere Fuhrwerke ganze Kälber ab, die, in Tücher eingehüllt, der ganzen Länge nach – wie Kinder – herausragten. Es gab auch ganze Hämmel, Ochsenviertel,Keulen und Schulterstücke. Die mit großen weißen Schürzenversehenen Metzger markirten das Fleisch mit einem Stempel,ließen es auf Handkarren herbeiführen, wogen es und hängtenes auf den Querbalken des Ausrufplatzes aus; während Florent,

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Page 22: Kapitel 1 Vom antiken Kaufladen über das ... · Kapitel 1 Vom antiken Kaufladen über das Kolonialwarengeschäft zum Supermarkt Im klassischen Altertum wurde als Agora zunächst

das Gesicht an die Eisenstäbe der Gitterthür gedrückt, dieseReihen todter Thiere betrachtete, diese blutigen Ochsen undHämmel, die blässeren Kälber, die mit geöffnetem Bauche dahin-gen und an welchen das Fett und die Sehnen gelbe Flecke bilde-ten. Er ging dann zu dem Kaldaunenmarkte [Kaldaunen =essbare Eingeweide], wo es blasse Kalbsköpfe und Kalbsfüßegab, säuberlich zusammengerollte Kaldaunen in Büchsen, aufplatten Körben ausgelegte Gehirne, blutige Lebern, violettfar-bene Nieren. Er verweilte bei den langen, zweiräderigen, mitrunden Decken verhüllten Karren, welche halbe Schweine, aufeiner Strohschichte gelagert, zu beiden Seiten an die Wagenleitergehängt, herbeiführten; und auf dem Strohlager standenBüchsen von Weißblech, voll Schweineblutes…«

Erschöpft verlässt Florent die Hallen und es folgt eine abschlie-ßende Beschreibung folgender Art:

»Zum letzten Male erhob er die Blicke und betrachtete dieHallen. Sie f lammten jetzt im Sonnenlichte. Ein breiter Strahl f ielhinten, am Ende des gedeckten Ganges hinein und riß gleich-sam ein Thor von Licht in die Masse der Pavillons; auch von denDachfeldern rieselte Helligkeit hernieder. Das ungeheure Gebälkvon Gußeisen war in bläulichen Schatten getaucht und erschiennur mehr wie ein dunkles Profil in den lodernden Flammen deraufgehenden Sonne. … Das Ganze glich einer geräuschvollenStadt, in eine Wolke von Goldstaub gehüllt. Immer lauteräußerte sich das erwachende Leben, angefangen von demSchnarchen der in ihre Mäntel gehüllten Gemüsegärtner bis zudem lebhafteren Rollen der Marktwagen. Die ganze Stadterschloß jetzt ihre Thorgitter; es summte und brummte auf denVerkaufsplätzen und in den Pavillons; alle Stimmen tönten undes war gleichsam eine mächtige Entfaltung jenes Satzes,welchen Florent seit vier Uhr Morgens im Dunkel dahin ziehenund immer mehr anschwellen hörte. Rechts und links, auf allenSeiten, mengte das Geschrei der Ausrufer hohe Pickelf lötentönein das tiefe Gebrumme der Menge; es war bei den Seefischen,auf dem Buttermarkte, in der Gef lügel-Abtheilung, auf demFleischmarkte. Von Zeit zu Zeit ertönte eine Glocke, gefolgt von

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dem Lärm des Marktes, dessen Eröffnung ihre Klängekündeten …«

Basar und Souk

Von Paris aus verlassen wir Europa und reisen in die Länder Ara-biens, in den Orient. Die Bezeichnungen Basar (persisch Bazar) undSouk (arabisch Suk) stehen beide für die Händlerviertel in orientali-schen Städten. Sie umschließen Markt- und Geschäftsviertel, Laden-zeilen, überdachte, überwölbte oder offene Gassen, auch mehrstöcki-ge Handelsgebäude mit großen Innenhöfen und ebenfalls überwölb-ten oder überkuppelten Säulenhallen – ein Labyrinth, in dem sichTouristen leicht verirren können.

Die Buchautoren Weiss und Westermann charakterisieren den Ba-sar als einen Lichtdom aus Sonnenstrahlen, die in die Gewölbe ein-brechen, in denen tausenderlei Gerüche – von Blut und Balsam, Ge-würzen und Dung – wahrzunehmen sind. Neben der Flut an Sinnes-reizen, die zugleich berauschen und faszinieren, vermittele der Basarjedem Neuankömmling auch das fremde Lebensgefühl. Der Basar isteine Schöpfung des Islams, das heißt die Entwicklung beginnt im 7.Jahrhundert, als Mohammed (um 570–632 nach Christus) den Ara-bern die Botschaft von dem einzigen Gott verkündigt hatte. Er hinter-ließ ein politisch und religiös geeintes Arabien, den Koran mit den Of-fenbarungen – und zusätzlich den Hadith als ein Buch, das die isla-mische Lebenspraxis durch Normen und Gesetze regelt, welche diearabisch-orientalische Mentalität berücksichtigen und damit auch dasLeben und Handeln im Basar bestimmen.

Die Urzelle der Basare ist der Laden, auf arabisch »Hanut« oder»Dukkan«, oft eine winzige, kaum mehr als zwei Quadratmeter gro-ße Box, zur Straße offen, dahinter ein Lager, Büro oder eine Werkstatt.Diese Läden lassen sich wie Schränke mit Klapp- oder Türflügeln ver-schließen, der obere dient als Sonnenschutz, der untere als Laden-tisch. Solche klassischen Ladenbauten reihen sich zu langen, zentra-len Durchgangswegen, die einzelnen »Suqs« (Teilmärkte) bilden einGassengeflecht. Ein Ordnungskriterium bildete sicher die rituelleReinheit der Waren. So sammelten sich rund um die FreitagsmoscheeHändler für Kerzen, Bücher, Gewürze, Parfums und Räucherwerk.Standorte wurden somit nach praktischen Erwägungen ausgewählt.

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Schlächter-Märkte zum Beispiel siedelte man am Ende von Basarenan. Die traditionelle Branchenordnung befindet sich heute jedoch im-mer mehr in Auflösung.

Als Beispiel für einen Basar, der von Touristen häufig besucht wird,sei der von Marrakesch genannt. Ausgangspunkt für einen Besuchder verschiedenen Teilmärkte der Medina (Stadt) ist der Platz Jemaa-Dschemaa el-Fna (auch Djemaa el-Fna, ist der Platz der Gaukler, f lie-genden Händler, Märchenerzähler, Schlangenbeschwörer, Musikerund Sänger, Garköche, der Schaulustigen und Müßiggänger). Nörd-lich dieses Platzes findet man in den engen Straßen Kunsthandwer-kerstätten und Händler mit ihren Werkstätten im Freien, Schmiede,speziell Messingschmiede, Färber, Schuhmacher, Juweliere, Waffen-händler, Sattler, Weber und viele andere. Hier befinden sich auch derGewürzmarkt, der Markt für Textilien und die Läden mit Teppichen.Als weitere Handwerker beziehungsweise Warengruppen mit Einzel-märkten in der Altstadt von Marrakesch sind zu nennen: Töpfer, Tro-ckenfrüchte und Gewürze, Wolle, Ziegen- und Schafsleder, Textilien,Filzmacher, Holzschnitzer, Musikinstrumente, Kupferschmiede.Man taucht auch hier in das oben beschriebene Labyrinth und be-gegnet neben den knatternden Mopeds stets auch den mit den ver-schiedensten Waren beladenen Eseln. Die Basare einer Medina sinddie Supermärkte des Orients.

Das Kolonialwarenmuseum in Niederwerrn/Schweinfurt

Zurück nach Europa, wo der Kolonialwarenladen Lebensmittel ausÜbersee (ursprünglich aus den Kolonien) wie Kaffee, Tee, Reis, Ge-würze verkaufte. Die Kaufleute waren je nach ihren Produkten (Sor-timent) Materialisten, Drogisten, Gewürzhändler oder eben Kolonial-warenhändler. Das Kolonialwarenmuseum bei Schweinfurt ist eineprivate Einrichtung. Es befindet sich in der Flemingstraße 4 vonNiederwerrn, im Gebäude des Getränke-Shops Maul. Winfried Mauleröffnete 1961 in Schweinfurt einen eigenen Lebensmittelladen. Sei-ne Großmutter hatte ein Geschäft, einen »Tante-Emma-Laden«, inWelkers bei Fulda bis zu ihrem Tod mit neunzig Jahren betrieben. DieGeschichte des Museums beginnt damit, dass ein lokaler Antiquitä-tenhändler einen massiven Eichenschrank samt Ladentheke findet,mit Schubfächern, die mit kleinen Emaille-Schildern beschriftet sind

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– unter anderem »mit Bezeichnungen wie ›Opium‹, zum Kauf imnächsten Kolonialwarenladen … (!)«. 1962 wird das Museum zusam-men mit den von Winfried Maul bereits gesammelten Objekten erst-mals öffentlich zugänglich. 1963 errichtete er einen Neubau inNiederwerrn. Dort findet man heute Produkte aus vergangener Zeit– so unter anderem Ata in Pappkartons mit Umverpackungen aus di-ckem Hartholz, Persil in Verpackungen, die den Wandel über die Jah-re zeigen (sonst nur im Henkel-Firmenarchiv in Düsseldorf zu se-hen), ungemahlene Kaffeebohnen und den dazugehörigen Kaffee-vollautomaten, Kaffeemühlen, Aufschnittmaschinen für Wurst undKäse, Süßigkeiten auf einer Theke an der Kasse, offen und nicht wieheute verpackt. In einem Nebenraum befindet sich eine Gläser-sammlung aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Registrier-kassen werden gezeigt – von der rein mechanischen Kasse zu Beginndes 20. Jahrhunderts über elektrische und elektronische Kassen biszu einer Scanner-/Computerkasse. Ladeneinrichtungen mit Gewür-zen, Würfelzucker, Mandeln, Salz, Mehl, Öl und Essig vermitteln dasauthentische Bild eines Kolonialwarenladens.

(www.kolonialwarenmuseum.de; Kontakt: Winfried Maul, Hain-leinstr. 56, 97464 Niederwerrn, Tel.: 09721/740 17 oder [email protected])

Historisches Kaufhaus J. H. Büsingin Abbehausen/Nordenham

Als Gemischtwarenhandlung gründet Johann Hermann Büsingam 12. Mai 1853 sein Geschäft in einem ehemaligen Posthaltereige-bäude an der Postroute Ovelgönne – Abbehausen – Stollhamm in derNähe von Nordenham. Das heutige Gebäude wurde 1897 vom Sohndes Firmengründers, Gustav Büsing, als Kaufhaus erbaut. 1927 gingdie Firma in den Besitz der Familie Freese über. Sie erweiterte 1938die Verkaufsfläche durch einen Anbau. Heute kann der Besucher undKunde neben zahlreichen historischen Objekten auch die fast unver-änderte Ladeneinrichtung aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts bewundern.

Kaufmannsgeschichte von über 150 Jahren wird in den Hinterzim-mern des Kaufhauses in der Butjadinger Straße 101 (www.histori-sches-kaufhaus-abbehausen.de, Tel.: 04731/213 59) anhand »wahrer

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kulturhistorischer Schätze« dokumentiert. Jeder der Gegenstände istdurch Rechnungen, Quittungen, Lieferscheine oder alte Kataloge ausder betreffenden Zeit belegbar. Zu den Objekten gehören auch Plaka-te, Emaille-Schilder, Keksdosen, das Kurbel-Telefon und Gusseisen-öfen. Es handelt sich aber nicht um ein Museum. Denn es stehen über3 000 Artikel des täglichen Bedarfs zum Verkauf – so unter anderemin einer großen Süßwarenabteilung. Produkte rund ums Einkochen,»Sturmwäscheklammern« aus Holz, Schrauben und Nägel, Besen,Staubwedel und Ähnliches finden sich ebenso im Sortiment wie Fahr-radersatzteile.

Einkauf im ›Tante-Emma-Laden‹

Weder in der verwendeten Literatur noch im Internet lässt sich ei-ne überzeugende Erklärung beziehungsweise der Ursprung der Be-zeichnung »Tante Emma-Laden« ermitteln. Jedoch haben einige Mu-seen Ladeneinrichtungen aus der Zeit zwischen 1900 und 1950 aus-gestellt, die sie entweder als Kauf-, Kolonialwaren- oder auchTante-Emma-Laden bezeichnen (unter anderem Stadtmuseum Qua-kenbrück, Landwirtschaftsmuseum Rhede, Städtisches MuseumHannover-Münden, Heimatmuseum Holle, Museum Neunkirchen-Vluyn, Kreismuseum Geilenkirchen, Heimatmuseum Dömitz/Mu-seum Festung, Kreismuseum Peine, vgl. Kapitel 3). Einen informati-ven Text über Tante-Emma-Läden erhält man über das Kulturge-schichtliche Museum Osnabrück. Dort wird wie in der BrockhausEnzyklopädie (vgl. S. 40) auf das erste Selbstbedienungsgeschäft ausdem Jahr 1939 hingewiesen.

»Schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbreiterte sichdas Angebot an Kolonialwaren stetig. Einer Statistik aus demJahre 1912 ist zu entnehmen, dass die Käufer im Kolonialwarenla-den mittlerweile längst nicht mehr nur die klassischen Produkteaus Übersee erhielten. Neben Gewürzen, Zucker, Kaffee, Tee,Schokolade, Südfrüchten und Reis gab es jetzt auch Rüböl,Schmalz, Sauerkraut, Heringe, Zwiebeln, Back- und Puddingpul-ver: Das Kolonialwarengeschäft befand sich bereits auf demdirekten Wege zum heutigen Supermarkt. Mit der steigendenVerbreitung der klassischen Kolonialwaren erweiterte sich beim

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Kolonialwarenhändler, dem Tante-Emma-Laden [Hervorhebungdurch den Autor], der Warenumfang zu einem umfassendenAngebot an Waren des täglichen Bedarfs. Kolonialwaren standeninzwischen für Lebensmittel. Dementsprechend wurde seit denFünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts kaum noch von Kolonial-warenladen, sondern vielmehr von Lebensmittelgeschäft gespro-chen. Parallel dazu trat schon 1939 der Discounter seinenSiegeszug an, und zwar in Osnabrück. In diesem Jahr eröffneteHerbert Eklöh in der Großen Straße mit dem gesamten damalsbekannten Lebensmittelangebot das erste Selbstbedienungsge-schäft Europas.«

Der Tante-Emma-Laden vom Kulturgeschichtlichen Museum Os-nabrück (vielleicht so genannt, weil häufig die Ehefrau des Kauf-manns oder ein anderes weibliches Mitglied der Familie im Laden be-diente) befindet sich in der ehemaligen Villa Schlikker aus dem Jahr1900/01. Das Stadtpalais wurde von dem Hannoverschen ArchitektenOtto Luer für den Textilunternehmer E. Floris Schlikker erbaut. 1933wurde die Villa Parteizentrale der NSDAP, 1945 Sitz der britischenMilitärregierung und ist seit 1963 ein Museum (Wiedereröffnungnach einer Umgestaltung im Jahr 2004). Die dort, im »Haus der Er-innerungen«, zur Alltagskultur des 20. Jahrhunderts ausgestellte La-deneinrichtung stammt aus dem Geschäft des Kaufmannes Tacken-berg (am Vitihof/Ecke Hasestraße), dessen traditionsreiche Ge-schichte von 1704 bis zur Schließung am 31. Juli 1980 reicht.

Im Text zur Ausstellung wird der Tante-Emma-Laden als ein zen-traler Treffpunkt im Stadtviertel bezeichnet, wo die neuesten Ge-schichten aus der Nachbarschaft die Runde machten. Man erfuhr hier,im Laden um die Ecke, immer den neuesten Tratsch, entweder auf dieSchnelle beim Einkauf oder gemütlich bei einem Gläschen Bier, dennviele Läden besaßen auch eine Schankkonzession.

Tante-Emma-Läden sind nicht ausgestorben: Die kleinen türki-schen und griechischen Geschäfte (und anderer Nationalitäten) ha-ben die Tradition fortgesetzt.

Kaufläden, Märkte, Markthallen 39

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Die Story vom Supermarkt

Nach Angaben der Brockhaus Enzyklopädie von 2001 soll das Selbst-dienungsprinzip 1917 in den USA eingeführt und das erste Selbstbe-dienungsgeschäft in Deutschland 1939 eröffnet worden sein (zurSelbstbedienung vgl. Kapitel 3). In René Sédillots Buch Vom Tausch-handel zum Supermarkt ist dazu Folgendes nachzulesen: Frank W.Woolworth (1852–1919, gründete 1879 in Utica N.Y. ein Geschäft, dasnur Waren zu 5 Cent führte; vgl. Kapitel 4 über das Warenhaus) be-obachtete bereits in seinen ersten Geschäftsjahren, dass viele Kundendie Ware gern in die Hand nehmen – und sie dann meist auch kau-fen. Kalifornische Kaufleute griffen nach Sédillot dann die Idee auf,es dem Kunden selbst zu überlassen, sich zu bedienen, um dadurchAngestelltengehälter zu sparen, die allgemeinen Kosten zu senkenund vielleicht auch die Kauflust der Kunden anzuregen. Das Prinzipdes Selbstbedienungsladens war einfach: »Die Kundschaft tritt ein,sieht sich um, bedient sich und zahlt alles am Ausgang.« Sédillot, derin seinen Texten Jahreszahlen jeweils am Rand zuordnet, verzeichnetan dieser Stelle das Jahr 1912. Und weiter heißt es: »Ist die Ware ge-schickt aufgestellt, bequem begreifbar und muß man nicht erst einenVerkäufer fragen, so schwindet die Befangenheit des Kunden, und sei-ne Entscheidung fällt impulsiv. Andere Vereinfachungen bieten wei-teren Anreiz: man braucht nicht zu warten, bis man an der Reihe ist,die Päckchen sind fertig.« Es folgt ein Aber: »Die Sache schlägt nichtsofort ein. Sie ist reichlich ungewohnt. Aber sie wird in Tennessee undTexas aufgegriffen, von ›A und P‹ übernommen und breitet sichschließlich über die Vereinigten Staaten aus.« Als Erfinder des Super-marktes wird schließlich Michael Cullen genannt, der jedoch in derBrockhaus Enzyklopädie des Jahres 2001 nicht aufgeführt ist. Mitten inder Weltwirtschaftskrise (Beginn: Schwarzer Freitag, 25. Oktober1929, New Yorker Börsenkrach) soll Cullen 1930 mit dem Supermarktim Weichbild von New York den Anstoß zu einer neuen Entwicklungim Einzelhandel gegeben haben. Die Story schildert Sédillot folgen-dermaßen: Cullen, noch Angestellter (Bezirksdirektor in Süd-Illinois)in der Firma Kroger Grocery & Baking Co. schlug seinem Chef, W. H.Albers (Präsident), der von 5 100 Filialen 400 schließen und katas-trophale Umsatzrückgänge hinnehmen muss, Folgendes vor: Man ge-be die kleinen 40 bis 50 Quadratmeter Läden auf (vgl. Edeka im Jahr

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2005), kaufe aus dem Erlös zehnmal größere (12 Meter-Front, 40 bis50 Meter Tiefe, freier Zugang zur Straße), richte diese mit ausrei-chend Parkfläche an abgelegenen Stellen einer Stadt ein und damitaußerhalb der überfüllten Geschäftsviertel. Auf die klassische Ver-kaufsform möge man verzichten – man gehe für 80 Prozent der Ab-teilungen zur Selbstbedienung über. Für eine Kette von zunächst fünfLäden setzte Cullen als Kosten je 37 000 Dollar pro Laden an, denUmsatz mit 12 500 Dollar für 300 Artikel zum Selbstkostenpreis, 200mit einer Verdienstspanne von 5 Prozent, 300 weitere mit 15 Prozentund schließlich noch einmal 300 mit 20 Prozent. Bisher kalkuliertendie Filialgeschäfte durchgängig mit 25 Prozent, die Einzelgeschäftesogar mit 40 Prozent. Cullen berechnete einen Reingewinn zwischen2,5 und 8 Prozent und argumentierte, dass er die Käufer damit über-zeugen könne, pro Woche allein beim Lebensmitteleinkauf 2 bis 3Dollar sparen zu können. Offensichtlich erreichte sein Brief jedochnicht den Präsidenten; auch gelang es ihm nicht, W. H. Albers in Cin-cinnati persönlich zu sprechen. Cullen kündigte und gründete mit ei-nem befreundeten Kaufmann Harry Sokoloff, Vorstand in der SweetLife Foods Corporation von Brooklyn, die King Kullen Grocery Co. Ih-ren ersten King-C(K)ullen-Laden eröffneten sie nach diesem Konzeptmitten im Sommer 1930 in Jamaica, einem Vorort von New York amRande von Long Island. Die genaue Lage lautet: Kreuzung der endloslangen Jamaica Avenue mit der 171. Straße. Auf einem zweiseitigenInserat in der Tageszeitung führte er seinen Laden als »King Kullen,den größten Preisbrecher der Welt« ein. Michael Cullen hatte nochmitten in der Weltwirtschaftskrise Erfolg. Immer mehr Geschäftewurden eröffnet, Abteilungen für Haushaltsartikel, Möbel und Kos-metik kamen hinzu. 1932 besaß Cullen acht Geschäfte, sein Lebens-mittelumsatz erreichte bereits 6 Millionen Dollar; 1936 waren es 15Geschäfte. Cullens ehemaliger Chef W. H. Albers bemühte sich nun(vergeblich) um eine Aussprache mit Cullen. 1936 schied er ebenfallsaus der Kroger Grocery & Baking Co. aus und eröffnet nach dem Vor-bild seines ehemaligen Bezirkdirektors einen eigenen Laden, den ererstmals als Supermarket bezeichnete. Es war der erste in Amerika –Cullen war der Schöpfer des Modells, Albers gab ihm nur den Namen,der schließlich die ganze Welt erobern sollte.

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Die ›Supermarket-Lady‹ und der Einkaufswagen

Untrennbar mit dem Supermarkt verbunden ist der Einkaufswa-gen. Der amerikanische Bildhauer Duane Hanson (1925–1996), Ver-treter des amerikanischen zeitgenössischen Realismus, modellierte1970 in Kunststoff eine lebensgroße, seinem Modell offensichtlichrecht genau nachgebildete ziemlich korpulente Frau, bekleidet mit ei-nem kurzen blauen, gerade bis über die Knie reichenden Rock undeinem rosa gefärbten kurzärmeligen Pullover, die einen voll belade-nen Einkaufswagen vor sich herschiebt – die er die »SupermarketLady« nennt. Sie ist in Aachen im »Ludwig Forum für InternationaleKunst«, hervorgegangen aus der »Neuen Galerie – Sammlung Lud-wig«, zu sehen.

Der Supermarkt-Einkaufswagen ist – wie der Supermarkt selbst –ein Kind der USA. Dort soll ein Kaufmann namens Sylvan Goldmanin Oklahoma City die zündende Idee gehabt haben, da der Einkaufverpackter Ware zu immer schwerer werdenden Einkaufskörbenführte. Um seiner Kundschaft den Kauf möglichst vieler (auchschwergewichtiger) Produkte bequemer zu machen, soll Goldman1937 einen Metallkorb und Räder an einen einfachen Klappstuhl ge-

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Abb. 4: Duane Hansons »Supermarket Lady«© Anne GoldStandort: Ludwig Forum für Internationale Kunst,Aachen

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schraubt haben und das Ganze »Shopping Cart« genannt haben. InDeutschland griff der gelernte Maschinenbaumeister Rudolf Wanzlaus Leipheim diese Idee auf und entwickelte ein eigenes Modell, daser im Entwurf »Pick up« nannte: Auf einem mit Rollen versehenemMetallgestell waren zwei übereinander angeordnete Körbe montiert.Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kam dieser Einkaufswagen »Madein Germany« auf den Markt – und heute ist Wanzl der weltgrößte Her-steller von Einkaufswagen mit mehr als 1,7 Millionen Exemplaren proJahr. Das Sortiment ist inzwischen auf 250 verschiedene Modelle an-gewachsen. Das nachgebaute erste – nicht mehr vorhandene – Modellwurde 2005 im Wien Museum in der Ausstellung »Die Sinalco-Epo-che – Essen, Trinken, Konsumieren nach 1945« gezeigt. 1952 entstanddas erste zusammenschiebbare Modell, C 30 genannt. Anfang derachtziger Jahre wurde das Pfandschloss eingeführt. Der Mittelpunktdes Einkaufswagens, der Drahtkorb, wird aus Metalldraht gefertigt,der von riesigen, bis zu 2 Tonnen schweren Drahtrollen abgespultund anschließend auf Länge geschnitten, automatisch zu einem Git-ter zusammengeschweißt, dann seitlich hochgebogen und bündig ab-geschnitten wird. Zum Schluss werden darunter Rollen montiert. Zu-satzteile sind die Griff leisten, das Pfandschloss und der Kindersitz.Das gängigste Modell »EL 240« wiegt 27 Kilogramm, ist 110 Zenti-meter lang, 60 Zentimeter breit, und hat vier Rollen mit jeweils 12,5Zentimetern Durchmesser sowie ein Fassungsvermögen von 238 Li-tern. Die High-Tech-Zukunft des Einkaufswagens sieht übrigens einautomatisches Scannen der Waren im dann aus Kunststoff bestehen-den Wagen vor – elektronisch soll der Preis der Ware schon beim Hi-neinlegen in den Korb erkannt und auf einem Display am Griff dieGesamtsumme angezeigt werden (Quelle: Marion Zellner: »Aus demLeben eines Unverzichtbaren«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. Ju-li 2005).

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