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S138 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 Die Marknagelung hat seit der Ein- führung durch Küntscher [18] eine kon- tinuierliche Entwicklung erfahren und stellt mittlerweile eine standardisierte Therapieform zur Behandlung von Frakturen langer Röhrenknochen dar. Gerade am Unterschenkel mit seiner dif- fizilen Weichteil- und Blutversorgungs- situation kommt das gedeckte intrame- dulläre Osteosyntheseprinzip vorteilhaft zur Anwendung [1, 5, 19]. Durch ständi- ge Weiterentwicklung, wie die proxima- le und distale Verriegelung, ungebohrte Techniken, solide Nägel und Kompres- sionsmechanismen sowie Spezialim- plantate, erfuhr die Marknagelung eine ständige Indikationserweiterung. Wäh- rend Küntschers Verklemmungsprinzip nur streng bei diaphysären Frakturen angewendet werden kann, können heu- te auch weit metaphysär reichende Frak- turen mittels Marknagelung versorgt werden. Die Kompressionsmarknagelung wurde zeitlich parallel zur Kompres- sionsplattenosteosynthese entwickelt [16]. Lange Zeit sah die Technik einen externen Mechanismus vor, durch den die Kompression appliziert wurde, und eine statische Verriegelung, womit sie aufrechterhalten wurde [3, 13, 15, 16]. Die- ses Prinzip kommt auch heute noch bei dem so genannten UHN (unreamed hu- meral nail) zur Anwendung [21]. Erst zu Beginn der 90er Jahre wurden Marknä- gel mit internen Kompressionsmecha- nismen vorgestellt [4, 20]. Über den von Ritter [20] entwickelten Nagel liegen keine Berichte über größere Patienten- zahlen und entsprechende klinische Er- fahrungen vor. Der ICN (interlocking compression nail) hingegen wird kli- nisch routinemäßig eingesetzt, aufgrund seiner spezifischen Vorzüge resultiert ein weit gefächertes Indikationsfeld [9]. Neben der Behandlung akuter Fraktu- ren kommt der Kompressionsmecha- nismus besonders vorteilhaft bei Pseud- arthrosen, Korrekturosteotomien und Arthrodesen zur Anwendung [6, 7, 8, 12]. Schließlich konnte der ICN bei solch speziellen Verfahren wie der allogenen vaskularisierten Kniegelenktransplan- tation und dem Segmenttransfer am Na- gel eingesetzt werden [10, 11]. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die Zuverlässigkeit des Implan- tats zu überprüfen und anhand der Ergebnisse Empfehlungen zum Einsatz des Kompressionsmechanismus zu ge- ben. Material und Methode Zwischen April 1993 und Oktober 1997 wurden 134 konsekutive Fälle mit Mark- nagelungen bei Unterschenkelfrakturen prospektiv erfasst. Um die Zuverlässig- keit des Systems und die Indikations- stellung zur Anwendung des Kompres- sionsprinzips zu überprüfen, wurden die Patienten klinisch und röntgenolo- Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S138–S142 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Oliver Gonschorek · Gunther O.Hofmann · Volker Bühren BG-Unfallklinik Murnau Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen Dr. Oliver Gonschorek Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinik Leipzig, Liebigstraße 20a, 04103 Leipzig, (E-Mail: [email protected], Tel.: 0341-9717311, Fax: 0341-9717319) Zusammenfassung Unterschenkelfrakturen können prinzipiell mit jeder bekannten Osteosynthesetechnik mit jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen versorgt werden. Der Einsatz der Kompres- sionsmarknagelung ermöglicht die Verknüp- fung von Vorteilen der Marknagelung mit denen der Plattenosteosynthese. In der vor- liegenden Arbeit werden Indikationen und Vorteile der Kompressionsmarknagelung bei Unterschenkelfrakturen anhand der Ergeb- nisse von 134 prospektiv erfassten Applika- tionen des ICN (interlocking compression nail) aufgezeigt. Als ideale Indikationen sind Quer- oder kurze Schrägfrakturen (A2 bzw. A3 nach der AO-Klassifikation) anzusehen. Zur sicheren Fragmentadaption kann der Kompressionsmechanismus auch bei axial instabilen Frakturen feindosiert eingesetzt werden, anschließend muss jedoch eine sta- tische Verriegelung erfolgen. Hierdurch kann eine Fragmentdehiszenz mit nachfolgender Pseudarthrosenbildung – ein Problem, das gerade bei ungebohrten Techniken gehäuft beobachtet wurde – sicher vermieden wer- den. Durch die hochstabile Osteosynthese- form können Patienten früh beschwerdefrei vollbelasten und vermeiden somit ein kom- pressionsfreies Intervall.Tendenziell können verkürzte Hospitalisations- und Konsolidie- rungszeiten beobachtet werden. Schlüsselwörter Unterschenkelfrakturen · Marknagel · Kompression · Indikationen · Vorteile

Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

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Page 1: Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

S138 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Die Marknagelung hat seit der Ein-führung durch Küntscher [18] eine kon-tinuierliche Entwicklung erfahren undstellt mittlerweile eine standardisierteTherapieform zur Behandlung vonFrakturen langer Röhrenknochen dar.Gerade am Unterschenkel mit seiner dif-fizilen Weichteil- und Blutversorgungs-situation kommt das gedeckte intrame-dulläre Osteosyntheseprinzip vorteilhaftzur Anwendung [1, 5, 19]. Durch ständi-ge Weiterentwicklung, wie die proxima-le und distale Verriegelung, ungebohrteTechniken, solide Nägel und Kompres-sionsmechanismen sowie Spezialim-plantate, erfuhr die Marknagelung eineständige Indikationserweiterung. Wäh-rend Küntschers Verklemmungsprinzipnur streng bei diaphysären Frakturenangewendet werden kann, können heu-te auch weit metaphysär reichende Frak-turen mittels Marknagelung versorgtwerden.

Die Kompressionsmarknagelungwurde zeitlich parallel zur Kompres-sionsplattenosteosynthese entwickelt[16]. Lange Zeit sah die Technik einenexternen Mechanismus vor, durch dendie Kompression appliziert wurde, undeine statische Verriegelung, womit sieaufrechterhalten wurde [3, 13, 15, 16].Die-ses Prinzip kommt auch heute noch beidem so genannten UHN (unreamed hu-meral nail) zur Anwendung [21]. Erst zuBeginn der 90er Jahre wurden Marknä-gel mit internen Kompressionsmecha-nismen vorgestellt [4, 20]. Über den vonRitter [20] entwickelten Nagel liegenkeine Berichte über größere Patienten-zahlen und entsprechende klinische Er-

fahrungen vor. Der ICN (interlockingcompression nail) hingegen wird kli-nisch routinemäßig eingesetzt,aufgrundseiner spezifischen Vorzüge resultiertein weit gefächertes Indikationsfeld [9].Neben der Behandlung akuter Fraktu-ren kommt der Kompressionsmecha-nismus besonders vorteilhaft bei Pseud-arthrosen, Korrekturosteotomien undArthrodesen zur Anwendung [6, 7, 8, 12].Schließlich konnte der ICN bei solchspeziellen Verfahren wie der allogenenvaskularisierten Kniegelenktransplan-tation und dem Segmenttransfer am Na-gel eingesetzt werden [10, 11].

Ziel der vorliegenden Untersuchungwar es, die Zuverlässigkeit des Implan-tats zu überprüfen und anhand der Ergebnisse Empfehlungen zum Einsatzdes Kompressionsmechanismus zu ge-ben.

Material und Methode

Zwischen April 1993 und Oktober 1997wurden 134 konsekutive Fälle mit Mark-nagelungen bei Unterschenkelfrakturenprospektiv erfasst. Um die Zuverlässig-keit des Systems und die Indikations-stellung zur Anwendung des Kompres-sionsprinzips zu überprüfen, wurdendie Patienten klinisch und röntgenolo-

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S138–S142 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Oliver Gonschorek · Gunther O. Hofmann · Volker BührenBG-Unfallklinik Murnau

Kompressionsmarknagelungzur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

Dr. Oliver GonschorekKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universitätsklinik Leipzig,Liebigstraße 20a, 04103 Leipzig,(E-Mail: [email protected],Tel.: 0341-9717311, Fax: 0341-9717319)

Zusammenfassung

Unterschenkelfrakturen können prinzipiellmit jeder bekannten Osteosynthesetechnikmit jeweils spezifischen Vor- und Nachteilenversorgt werden. Der Einsatz der Kompres-sionsmarknagelung ermöglicht die Verknüp-fung von Vorteilen der Marknagelung mitdenen der Plattenosteosynthese. In der vor-liegenden Arbeit werden Indikationen undVorteile der Kompressionsmarknagelung beiUnterschenkelfrakturen anhand der Ergeb-nisse von 134 prospektiv erfassten Applika-tionen des ICN (interlocking compressionnail) aufgezeigt. Als ideale Indikationen sindQuer- oder kurze Schrägfrakturen (A2 bzw.A3 nach der AO-Klassifikation) anzusehen.Zur sicheren Fragmentadaption kann derKompressionsmechanismus auch bei axialinstabilen Frakturen feindosiert eingesetztwerden, anschließend muss jedoch eine sta-tische Verriegelung erfolgen. Hierdurch kanneine Fragmentdehiszenz mit nachfolgenderPseudarthrosenbildung – ein Problem, dasgerade bei ungebohrten Techniken gehäuftbeobachtet wurde – sicher vermieden wer-den. Durch die hochstabile Osteosynthese-form können Patienten früh beschwerdefreivollbelasten und vermeiden somit ein kom-pressionsfreies Intervall.Tendenziell könnenverkürzte Hospitalisations- und Konsolidie-rungszeiten beobachtet werden.

Schlüsselwörter

Unterschenkelfrakturen · Marknagel · Kompression · Indikationen · Vorteile

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S139

gisch in regelmäßigen Abständen nach-untersucht.

Die Frakturen wurden als geheiltbetrachtet, wenn mindestens 3 Kortizesknöchern überbrückt und die Patientenbeschwerdefrei mobilisiert waren. Eineverzögerte Knochenbruchheilung wur-de nach 4 Monaten, eine Pseudarthrosenach 8 Monaten fehlender knöchernerDurchbauung angenommen.

Die Frakturen wurden nach

∑ der Lokalisation,∑ der AO-Klassifikation und∑ der Vorbehandlung

eingeteilt. Zur Versorgung distaler Frak-turen wurde ein Spezialimplantat ver-wendet, das während des Beobach-tungszeitraums entwickelt wurde.

Prinzip der Kompressionsmarknagelung

Der interne Kompressionsmechanismusdes ICN ist im proximalen Nagelteiluntergebracht. Eine axial eingebrachteSchubschraube wirkt auf die proximaleVerriegelungsschraube, die in einemlängsovalen Schlitz geführt ist. Nach dis-taler Verriegelung wird durch Eindrehender Schubschraube das am Nagel fixier-te, distale Knochenfragment relativ zumproximalen hingezogen, wodurch Kom-pression auf den Frakturspalt ausgeübtwird. Die limitierte Markraumbohrungschont das enostale Gefäßsystem undgibt orientierend Auskunft über den in-neren Markraumdurchmesser. Das Voll-rohrdesign erlaubt die Verwendung ei-nes Führungsspießes, wodurch die ge-samte Repositions- und Implantations-technik vereinfacht werden. Aufgrunddes 5-mm-Durchmessers der Verriege-lungsschrauben sind Schraubenbrüche

äußerst selten.Die Implantationstechnikist praktisch der konventioneller Verrie-gelungsmarknägel gleich. Das proxima-le Verriegeln erfolgt mittels Zielgerät,das distale in Freihandtechnik. Nebender komprimiert dynamischen bestehtdie Möglichkeit der statischen Verriege-lung. Darüber hinaus kann über denEinsatz des Kompressionsmechanismusauch bei axialer Instabilität eine feindo-sierte Fragmentadaption erzielt werden,dann muss noch zusätzlich statisch ver-riegelt werden.

Ergebnisse

Von April 1993–Oktober 1997 wurden 134Unterschenkelfrakturen bei 128 Patientenmit einem ICN versorgt. Die demogra-phischen Daten der Patienten sowie dieAngaben zu den verwendeten Implanta-ten sind in Tabelle 1 wiedergegeben.

Im beobachteten Patientengut wur-de zu 56% statisch verriegelt. 31% derApplikationen waren dynamisch kom-primiert, in 13% der Fälle wurde nachFragmentadaption mittels Kompres-sionsmechanismus anschließend nochstatisch verriegelt, da eine axial instabi-le Fraktur vorlag (Abb. 1).

O. Gonschorek · G. O. Hofmann · V. Bühren

Compression nailing for treatment of fractures of the lower leg

Abstract

Intramedullary nailing is the osteosynthesistechnique that is most frequently used forthe treatment of tibial shaft fractures. Com-pression nailing combines the advantages ofintramedullary nailing (closed technique,minimal invasiveness) with those of plating(interfragmentary compression). Compres-sion nailing was first developed at the sametime as compression plating. External com-pression devices were originally used incombination with statical locking. In the ear-ly 1990s, a new internal compression deviceallowed compressed dynamic locking.Theinterlocking compression nail (ICN) is basedon this technique and has been in routineuse in our hospital for the past 5 years.Thisfollowing paper reports on 134 prospectivelyrecorded patients and discusses the indica-tions for and the advantages of compressionnailing in the treatment of tibial fractures.The ICN is thin but very stiff and it allows theuse of a guidewire.The internal compressiondevice is located in the proximal part of thenail and was used in 44% of the cases nowreported.Transverse and short oblique frac-tures (AO classification: A2 and A3) are theideal indications for compressed dynamiclocking.The compression mechanism mayalso be used for finely metered alignment ofaxially unstable fractures; statical locking isrequired in these circumstances.The prob-lem of fixed interfragmentary gaps – fre-quently observed after the use of unreamednailing techniques – can be avoided. Aftertreatment by compression nailing, postoper-ative pain was reduced, patients achievedfull weight-bearing earlier, and compression-free intervals were avoided.There was a ten-dency for stay in hospital and time to bonyhealing to be shorter than with other treat-ment methods.

Keywords

Tibial fractures · Compression nailing · Indications · Advantages

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S138–S142 © Springer-Verlag 2001

Tabelle 1Demographische Daten der Patienten (n = 128) und Angaben zu den Implantaten(interlocking compression nail, ICN, n = 134)

Patienten Nageltyp

n gesamt 128 n gesamt 134m 92 Standard 92w 36 gekürzt 13Alter 39 ± 11 Jahre Prototyp 6Seite Distaler 23R 69 Durchmesser 9,5 ± 0,5 mmL 65 Länge 337 ± 24 mm

Abb. 1 � Anteil der aktiven Kompression beiinsgesamt 134 Einsätzen des ICN bei Unter-schenkelfrakturen, comp dynamisch kompri-miert, comp/stat zunächst komprimiert, dannstatisch verriegelt, stat statisch

Page 3: Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

41% der Frakturen lagen im dista-len Drittel und damit in einem Bereich,der im Hinblick auf die Weichteilsitua-tion und die Knochenbruchheilung eine

besonders kritische Region darstellt.Umeine sichere distale Verriegelung zu ge-währleisten, konnte daher in 42 Fällenkein Standardnagel eingesetzt werden.Initial erfolgte dann die Kürzung dervorhandenen Nägel, mittlerweile wurdeein spezielles Design entwickelt, dasheute serienmäßig produziert wird undbei der Versorgung von distalen Unter-schenkelfrakturen ebenso zum Einsatzkommt wie bei Sprunggelenkarthrode-sen (Abb. 2).

Die Einteilung nach der AO-Klassi-fikation zeigte einen relativ hohen An-teil an A-Frakturen mit 56% gegenüber27% B-Frakturen und 17% C-Frakturen(Abb. 3). Quer- (A3) und kurze Schräg-frakturen (A2) stellen die klassische In-dikation für dynamisch komprimierteAnwendungen dar (Abb. 4). B- und C-Frakturen sind häufig axial instabilund erfordern daher meist eine statischeVerriegelung. Bei 18 Anwendungen wur-de jedoch zunächst der Kompressions-mechanismus eingesetzt, um eine siche-re Fragmentadaption zu erzielen, bevordann statisch verriegelt wurde.

In 32 Fällen erfolgte eine primäreFixateur-externe-Behandlung mit nach-folgend einzeitigem Verfahrenswechselauf die Marknagelung, wobei die Indi-kation für dieses Vorgehen bei Mehr-fachverletzungen, höhergradigen Schä-del-Hirn- oder Thoraxtraumen bzw. lo-kalen Weichteilschäden gegeben war.

Der verwendete Nagel hatte einenDurchmesser von 9 oder 10 mm. Nur inAusnahmefällen (6%) wurde ein 11-mm-Implantat gewählt (Abb. 5).

Alle Frakturen konnten zur Aushei-lung gebracht werden. 8-mal wurde einesekundäre Dynamisierung, 5-mal eineNachkompression durchgeführt. Eswurden 2 septische Komplikationen be-obachtet, 6-mal wurde das Implantataufgrund fraglicher allergischer Reak-tionen bei knöchern vollständigemFrakturdurchbau frühzeitig entfernt.Bakteriologische Untersuchungen vonAbstrichen, die bei der Materialentfer-nung vorgenommen wurden, waren hierjeweils negativ.

Diskussion

Die Marknagelung hat seit ihrer Be-gründung durch Küntscher eine stetigeEntwicklung erfahren und stellt mittler-weile das Standardverfahren zur opera-tiven Behandlung von Frakturen langerRöhrenknochen dar [22]. Die Markna-geltechnik von Küntscher basierte aufder Verklemmung eines geschlitztenund relativ verformbaren Rohrs nach ei-nem massiven Aufbohrvorgang desKnochens [18]. Mit der Einführung derproximalen und distalen Verriegelungkonnten zum einen eine erhöhte Rota-tionsstabilität erzielt und zum anderendie Indikationsbreite erweitert werden.

S140 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

Abb. 3 � Einteilung der 134 Unterschenkel-frakturen nach der AO-Klassifikation

Abb. 2 � Neues Nageldesign zur Versorgungvon distalen Frakturen bzw. zur Arthrodese desSprunggelenks. 2 extrem weit distal liegendeVerriegelungslöcher im 90°-Winkel zueinander

a cbb

Abb. 4 a–c � Unterschenkelfraktur Typ A2 nach AO-Klassifikation bei einem 35-jährigen Mann nacheinem Motorradunfall (a), b dynamisch komprimierte Marknagelung, im proximalen Nagelteil ist dieKompressionsstrecke von etwa 4 mm zu erkennen, c Ausheilungsergebnis nach Materialentfernung13 Monate nach Primärversorgung

Page 4: Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

Die ungebohrten Techniken und derEinsatz solider Nägel erweitern zwar dieIndikationsbreite um die Frakturen mitausgedehnten Weichteilschäden, stellenjedoch eine nicht unproblematischeTechnik dar, die mit einer hohen Rate anBolzenbrüchen und Pseudarthrosen ver-gesellschaftet ist [1,2, 14, 17, 23].

Mit der Entwicklung der Kompres-sionsmarknagelung steht eine hochsta-bile Osteosyntheseform zur Verfügung,die aufgrund der geringen Implantat-durchmesser nur eine limitierte Mark-raumbohrung erfordert und eine gesi-cherte Fragmentadaption ermöglicht [4,9]. Initial verfügten die Kompressions-marknägel über einen externen Kom-pressionsmechanismus, das erzielte Er-gebnis musste jeweils mittels statischerVerriegelung erhalten werden [3, 13, 15,16]. Dieses Prinzip findet auch heutenoch bei der Humerusmarknagelung(UHN) Anwendung [21]. Bei den unte-ren Extremitäten erscheint eine dyna-misch komprimierte Verriegelung sinn-voller, um frühzeitig die Vollbelastungeinzuleiten, ohne dass ein Implantat-bruch befürchtet werden müsste. Erst-malig wurde dieses Prinzip in Kombina-tion mit einem internen Kompressions-mechanismus von Ritter [20] vorgestellt.Es liegen jedoch keine Berichte übergrößere Patientenkollektive vor, bei de-nen der modifizierte AO-Nagel ange-wendet worden wäre.

Parallel erfolgte die Entwicklungdes ICN, der ebenfalls über einen inter-nen Kompressionsmechanismus verfügtund dessen Prinzip auf einer dynamischkomprimierten Form beruht. Hier wur-de bereits über klinische Ergebnisse beiverschiedenen Indikationsbereichen be-richtet [4, 9]. Der Kompressionsmecha-nismus zeigt seine Vorzüge ganz be-sonders bei Korrektur- bzw. Revisions-eingriffen. Bei Pseudarthrosen ist dieKombination mit der limitierten Mark-raumbohrung derart effizient, dass in

der Regel auf eine Spongiosaplastik ver-zichtet werden kann [6, 7]. Bei Korrek-turosteotomien wird eine hochstabileOsteosynthese erzielt, sodass die Patien-ten primär unter maximal reduzierterSchmerzsymptomatik voll belasten kön-nen [8]. Bei Arthrodesen des oberenSprunggelenks kann auf die reseziertenGelenkflächen maximaler Druck ausge-übt werden, sodass es hier zu einer ra-schen Durchbauung kommt [12]. DiesePatienten können darüber hinaus direktpostoperativ axial belasten, bei redu-zierter Compliance der Patienten kannggf. ein Spezialschuh zum Einsatz kom-men. Die erstmalig von unserer Arbeits-gruppe durchgeführte, allogene, vasku-larisierte Kniegelenktransplantationwurde durch die Technik der Kompres-sionsmarknagelung erst ermöglicht [11].

Die verschiedenen Marknagelsyste-me, die bei der Versorgung von Unter-schenkelfrakturen eingesetzt werden,liefern bezüglich Zuverlässigkeit undKomplikationsraten im Wesentlichenähnliche Ergebnisse. Lediglich die er-höhte Bolzenbruch- und Pseudarthro-senrate bei soliden Marknägeln, die mitungebohrter Technik eingebracht wer-den, sind auffällig. Eine häufige Ursachefür die Entwicklung von Pseudarthrosenist die Fragmentdehiszenz,die beim Ein-bringen des Nagels entsteht und unkor-rigiert durch proximales und distalesVerriegeln fixiert wird. Durch den Ein-satz der Kompressionsnagelung könneneine feindosierte Fragmentadaption vor-genommen und somit diese Fehlerquel-le sicher vermieden werden. Dieser Vor-teil kann auch bei axial instabilen Frak-turen genutzt werden, dann ist jedocheine abschließende statische Verriege-lung erforderlich.

Die Kompressionsmarknagelungstellt eine zuverlässige Methode zur Ver-sorgung von Unterschenkelfrakturendar. In der vorliegenden Untersuchungkam der Kompressionsmechanismus inüber 40% aller Fälle zum Einsatz. Insbe-sondere Quer- und kurze Schrägfraktu-ren können vom Kompressionsprinzipprofitieren. Die Patienten geben bei dy-namisch komprimierter Verriegelungsubjektiv deutlich geringere Schmerzenals bei statischer oder dynamischer Ver-riegelung an. In jedem Fall besteht dieMöglichkeit, über einen minimalinvasi-ven Eingriff nachzukomprimieren bzw.bei primär statischer Verriegelung se-kundär zu dynamisieren.

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S141

Abb. 5 � Durchmesser der Implantate zur Ver-sorgung von 134 Unterschenkelfrakturen

Page 5: Kompressionsmarknagelung zur Behandlung von Unterschenkelfrakturen

S142 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

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