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Martin Bengtsson: Freistoß ins Leben

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Mit 17 ist es so weit: Martin gilt als eins der größten Nachwuchstalente Europas, Inter Mailand holt ihn in sein Trainingslager. Das Geld, die Stars, die Aufmerksamkeit — plötzlich hat der junge Spieler alles, was er immer wollte … oder? Ein paar Monate später wacht er auf der Intensivstation auf. Martin hat versucht sich umzubringen. Wie konnte es so weit kommen? Was ist aus seinem Traum geworden? Und wie kann es weitergehen?

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Martin BengtssonFreistoß ins Leben

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein und Max Stadler

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Deutsche Erstausgabe Juni 2012

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel I skuggan av San Siro

bei Prisma, Stockholm© 2007 Martin BengtssonFür die Nachbemerkung© 2012 Martin BengtssonFür die deutsche Ausgabe

© 2012 Bloomsbury Verlag GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © privat

Typographie: Andrea Engel, BerlinGesetzt aus der Caslon 540 von Greiner & Reichel, Köln

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany

ISBN 978-3-8333-5090-0

www.bloomsbury-verlag.de

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23. September 2004

Als ich aufwachte, empfing mich Stille. Eine Stille, die so steril war wie die Zimmereinrichtung und gut zu den weißen Wänden und dem leeren Plastikteller auf dem Tisch vor mir passte. Als spiegelte meine Umgebung nichts anderes wieder als dieses irgend-wie graue Gefühl. Ich setzte mich auf.

Als ich den Arm beugte, um die Decke aufzuschla-gen und aus dem Bett zu steigen, durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Die Injektionsnadel, die eini-ge Zentimeter tief unter meiner Haut steckte, wur-de tiefer in die Armbeuge gedrückt, und ich stöhnte beim Aufstehen kurz auf. Die Schmerzen waren es wert. Ich verspürte eine verzweifelte Sehnsucht nach Wirklichkeit, und sei es auch nur ein Hauch davon. Ich ging auf das Fenster zu.

Draußen in dem kleinen Park hinter einem Ab-rissgrundstück tollte ein Hund herum. Sein Herrchen brüllte ihm hinterher und winkte mit einer Leine. Of-fenbar hatte der Hund keine Lust, sich anleinen zu lassen. Warum sollte man sich auch anleinen lassen, wenn man einen ganzen Park hat, in dem man herum-laufen kann?, dachte ich.

Direkt neben dem Park lag ein Kreisverkehr. Ein Laster brauste mit der täglichen Lieferung Mineral-wasser vorbei und bog ohne zu blinken in Richtung des Industriegebiets ab, das in der Ferne zu erahnen

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war. Um diese Zeit am Morgen konnte man noch den Rauch aus den Schornsteinen aufsteigen sehen. We-nige Stunden später würde er sich mit den übrigen Abgasen vermischen und bald als dicke Smogschicht über der Großstadt hängen.

Unter meinem Fenster sah ich die aneinander-gereihten Krankenwagen und den Wachposten, der in seinem kleinen Häuschen saß und Kaffee trank. Sobald ein Krankenwagen angefahren kam, nahm er seine Füße vom Fensterbrett, schob seinen kleinen Hut zurecht und versuchte, seriös zu wirken. Es war lustig, ihn dabei zu beobachten.

Jetzt waren Schritte im Gang zu hören. Ein Paar dieser typischen Krankenhaussandalen schlurfte he-ran.

Kurz darauf stand ein Mann in der Türöffnung. Ich hatte ihn schon einmal gesehen; er war groß, hat-te dunkle, buschige Augenbrauen und eine sehr be-stimmte, aber freundliche Stimme.

»Signor Bengtsson, vada alla psichiatria adesso.«Ich musterte ihn eingehend von Kopf bis Fuß, am

liebsten wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihn an-gefasst. Nur um zu sehen, ob er echt war.

Ist er vermutlich schon, dachte ich. Sonst würde er nicht so stark nach Desinfektionsmittel riechen.

»Tutto okay, signor?«Die tiefe Stimme des Mannes zerriss erneut die

Stille, und er wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht, um Kontakt herzustellen.

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»Sì, no problema, andiamo alla psichiatria, vero?«, antwortete ich ruhig.

Der Mann wartete an der Tür auf mich, während ich in die vom Krankenhaus gestellten Sandalen schlüpfte und in das weiße – tja, wie soll man es nen-nen? – Kleid, aus einem Material irgendwo zwischen Papier und Stoff.

Wir gingen hinaus in den Gang.Aus den anderen Räumen hörte ich das Schreien

und Weinen der Patienten, die jegliche Krankheits-einsicht verweigerten. Die sich fortwährend gegen Spritzen und Tabletten wehrten, die sich noch immer versteckten und glaubten, sie könnten ihre Dämonen durch Schreie vertreiben. Ich wehrte mich nicht, ich protestierte nicht einmal, schluckte alles ohne Wider-rede, ließ mich einfach stechen. Das stän dige Stim-mengewirr und der pausenlose Lärm waren zu ganz normalen Nebengeräuschen meines Krankenhausauf-enthaltes geworden. Ich hatte mich an das Ganze ge-wöhnt. Mich daran gewöhnt, nicht zu wissen, ob ich gerade schlief oder wach war. Mich daran gewöhnt, und es akzeptiert. Ich wollte keines dieser armen Schweine sein, die stundenlang dasaßen und auf ein und denselben Punkt an der Wand stierten, um an-schließend zu behaupten, sie seien völlig gesund. Gleichzeitig war mir klar, dass genau das der Fall war. Verrückt, wie wenig Abstand man zu sich selbst hat.

Mein Nachbar drei Zimmer weiter war genauso, saß immer da und starrte an die Wand. Er war nur ein

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paar Jahre älter als ich und hatte eine große Narbe auf der Wange. Ich sah ihn dort sitzen, als der Arzt und ich durch den Gang liefen. Zuerst wollte ich ihn grüßen, ungefähr so, wie sich die Alkoholiker auf den Parkbänken zu Hause in Schweden grüßen, mit die-sem kleinen, bestätigenden Nicken in Richtung des Gleichgesinnten. Aber sein Blick war wie immer auf diese sterile, krankenhausweiße Wand gerichtet, die Augen weit aufgerissen. Wir gingen an ihm vorbei und näherten uns dem Ende des Ganges. Dort, gleich neben den Aufzügen, die zu den anderen Abteilun-gen führten, stand eine Kaffeemaschine. Ich erkannte sie wieder. Die war echt, ich hatte sie schon auspro-biert. Mehrmals sogar, im Laufe der Nacht. Ich hat-te meinen Energietank mit Espresso aufgefüllt. Den Rest der Nacht war ich dann im Gang auf und ab mar-schiert, weil mich das Koffein ganz kribbelig gemacht hatte. Das war Teil eines Tests, gegen den ich ebenso wenig protestiert hatte wie gegen alles andere. Man hatte beschlossen, dass ich nach einer schlaflosen Nacht den Morgen mit einer Art Helm auf dem Kopf verbringen sollte, der die Aktivität in meinem Gehirn maß. Die Ärzte befürchteten, ich könnte an Epilep-sie leiden, aber die Tests zeigten, dass das nicht das Problem war. Sondern dass ich tatsächlich versucht hatte, mir das Leben zu nehmen. Deshalb sollte ich nun endlich einen Psychologen treffen.

Als wir vor den Aufzügen standen, fragte der Mann, wie es meinem Arm gehe. Ich sagte, ganz okay.

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Dann warteten wir schweigend auf den Aufzug, der mich zur psychiatrischen Abteilung bringen soll-te.

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Im Schatten von San Siro

Mein Name ist Martin Bengtsson.Das ist meine Geschichte. Sie handelt von mei-

nen Erfahrungen aus der Welt des Fußballs. Ich woll-te aber kein Buch über Trainingseinheiten, Spiele, Saisonvorbereitungen oder Spielsysteme schreiben. Das kommt alles vor, aber eher als Kulisse für die ei-gentliche Erzählung.

Stattdessen möchte ich davon berichten, was wir nicht sehen, wenn wir vor dem Fernseher sitzen oder auf der Tribüne. Was auf persönlicher Ebene ge-schieht, im direkten Umfeld von Leuten, die in der Zeitung Talente, Profis und Stars genannt werden.

Ich war selbst so ein Talent, habe als Sechzehn-jähriger mein Debüt in der A-Mannschaft des SK Örebro gegeben, hatte einen Stammplatz in der schwedischen U18-Nationalelf, absolvierte Probetrai-ningswochen für Spitzenclubs wie Chelsea in Eng-land und Ajax in Holland, bevor ich einen Vertrag als Jungprofi bei einem der besten Vereine Italiens be-kam: Inter Mailand.

Dort, im Schatten meines Kindheitstraums – dem Traum, eines Tages im legendären Fußballstadion San Siro von Mailand spielen zu dürfen –, versuchte ich im September 2004, Suizid zu begehen.

Manch einer mag vielleicht sagen, dass der Druck für mich zu groß wurde. Aber vielleicht wäre das zu

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einfach. Ich kann jedenfalls irgendwie nachvollzie-hen, wieso ich damals auf diese Weise reagiert habe. Obwohl ich natürlich froh bin, dass ich es nicht ge-schafft habe, mir das Leben zu nehmen.

Aber weshalb habe ich eigentlich so reagiert?Wenn diese Frage so leicht zu beantworten wäre,

hätte ich dieses Buch wohl nicht zu schreiben brau-chen. Aber in dieser Geschichte gibt es viel mehr Nuancen als nur schwarz und weiß, und die Antwort ist zu komplex, als dass man sie in einem kurzen In-terview auf der Sportseite zusammenfassen könn-te.

Es ist naiv zu glauben, dass es beim Fußball nur um Fußball geht. Heutzutage werden ungeheure Mengen an Geld da hineingepumpt. Der ganze Erd-ball wird nach Talenten mit Potential abgegrast, und weltweit träumen Millionen von Jungs davon, Fuß-ballstar zu werden. Vereine, Verbände, die Medien und die ganze fußballverrückte Öffentlichkeit sind Teil dieser Maschinerie.

Die meisten, denen ich in der Fußballwelt begeg-net bin, waren in vielerlei Hinsicht gute Menschen, und keiner von ihnen trägt die alleinige Verantwor-tung dafür, dass diese Maschinerie so ist, wie sie ist. Aber es müsste in diesem Sport mehr Leute geben, die in Frage stellen, wie junge Menschen behandelt werden, warum man sie nicht wie eigenständige In-dividuen leben lässt, sondern in ein immer gleiches Schema presst.

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»Was hat dich dazu bewegt, Fußballspieler zu wer-den?«

Während meiner aktiven Karriere antwortete ich in zehn von zehn Fällen: »Freude.«

Und am Anfang stimmte das wirklich. Ich hatte wohl schon immer einen Hang zum Extremen – so hatte ich zum Beispiel schon mit neun Jahren be-schlossen, dass ich Fußballprofi werden wollte.

Es ist nichts Ungewöhnliches, in diesem Alter to-tal auf Dinosaurier oder Videospiele abzufahren und sich ein paar Jahre später nur noch um Mädchen und Musik zu kümmern. Alle Kinder und Jugendlichen machen solche Phasen durch, wahrscheinlich sogar mehrere.

Das Problem entsteht meiner Meinung nach, wenn, wie in meinem Fall, die Fußballwelt junge Leute von oben herab ermuntert, ihr ganzes Leben einer einzigen Sache zu widmen und alles andere zu vernachlässigen. Heute mache ich mir oft Gedanken darüber, was passiert, wenn die ersten Auswahltreffen beginnen, wie man als recht unreifer Jugendlicher an-gelockt und einem Glanz und Glamour versprochen werden. Doch als Preis dafür muss man sich dem Sys-tem unterordnen, eine Uniform anziehen, die man dann rund um die Uhr tragen muss.

Über das Innenleben eines Sportlers herrscht heutzutage eine klare Vorstellung: Gefühle soll man gefälligst ablegen. Gefühle sind ein störendes Mo-ment beim Fußball. Dadurch wird man aber daran ge-

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hindert, sich vollständig zu entwickeln. Um sich ent-wickeln zu können, muss man Dinge austesten und auch mal Fehler machen dürfen, man sollte sich auf-lehnen können und es wagen, etwas in Frage zu stel-len; man muss weinen dürfen, damit man sich freuen kann, all das ist ein natürlicher und selbstverständ-licher Teil des Erwachsenwerdens. Das Menschen-bild im Fußball kann zur Folge haben, dass man – rein sportlich gesehen – zwar wie ein erwachsener Mann wirkt, innerlich aber ein unreifer Teenager bleibt.

Natürlich war ich oft wütend und traurig, und ent-täuscht von den Leuten im Fußball, in Örebro, im schwedischen Fußballverband, in Mailand. Aber ich will niemanden beschuldigen. Was mein Handeln be-trifft, gibt es nur einen Verantwortlichen: mich selbst.

Meine Geschichte ist ein Einzelfall, ich kann un-möglich behaupten, dass irgendjemand anderes das-selbe erlebt hat wie ich. Aber ich bin sicher, dass vie-le sich wiedererkennen werden. Ganz egal, ob man Sportler ist oder nicht.

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Ein flinker Dribbler

Ich wurde mit den Augen eines alten Mannes ge-boren. So beschrieb meine Mutter den Augenblick, als sich unsere Blicke zum ersten Mal trafen. Das war im Frühjahr 1986, und ich wurde in ein Schweden hi-neingeboren, das sich nach dem Mord an Ministerprä-sident Palme im Schockzustand befand.

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört ein verrauchtes Theater in Örebro, in dem mein Vater ar-beitete. Grell geschminkt im Licht der Scheinwerfer, die sein Gesicht mal erhellten, mal in Schatten tauch-ten. Ich erinnere mich an die Stimmen, das Echo der Dialoge, die sich die Schauspieler zuriefen. Mienen, die ihren Ausdruck änderten, von Trauer zu Freude übergingen, in Gelächter ausbrachen und oder sich wie wahnsinnig verzerrten.

Ich erinnere mich an den Duft von Kaffeesatz und trockenen Keksen in der Theaterbar, die vollen Aschenbecher und die Sonne, die durch die großen Fenster hereinschien, die auf einen gemütlichen klei-nen Innenhof zeigten. Ich erinnere mich an den star-ren Blick des Barkeepers und an dessen Bierdeckel-sammlung, die ich später erbte. 527 Stück. Carlsberg.

Ich erinnere mich an die Zeiten, wenn mein Vater mit dem Ensemble auf Tournee ging und ich mit trä-nennassen Augen zu Hause im Flur stand, ihn zum Abschied umarmte und versuchte, den Geruch seines

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T-Shirts in mein Gedächtnis zu brennen. Rote Prince Denmark.

Ich erinnere mich an die Sehnsucht. Papa war oft auf Tournee und selten zu Hause.

Das alles hat mich beeinflusst, soviel ist sicher.In mir wuchs die Vorstellung heran, dass das Le-

ben in erster Linie ein Theaterstück ist, ein Schau-spiel – dass die Menschen Akteure sind und das Le-ben die Bühne. Dass alle Väter auf Tournee gehen und Kindertheater spielen.

Und so, wie das Kind eines Automechanikers ein Interesse für Autos entwickelt, hatte ich gelernt, mich für verschiedene Rollen und Rollenspiele zu interes-sieren, sowohl auf der Bühne als auch im wahren Le-ben. Und ich begriff sehr schnell, welche Rolle die wichtigste war: die Hauptrolle.

Ich kapierte, dass man eine gewisse Macht hat, wenn man im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, dass die Leute auf einen hören.

In Wahrheit nahmen mich allerdings nicht beson-ders viele ernst.

Denn ich hatte keine Hauptrolle, sondern nur eine diffuse Nebenrolle. Ich war ein Puzzle-Eremit.

Ich glaube, ich war etwa vier, als ich entschied, dass Puzzeln ein Zeitvertreib war, der zu mir passte. Eine Beschäftigung, die mich anfangs nicht groß von den anderen im Kindergarten unterschied.

Die Erzieherinnen beklagten sich nicht. Sie hat-

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ten es ziemlich bequem mit einem Jungen, der im Gegensatz zu den anderen nicht ständig versuchte, auszubüchsen oder sich zu prügeln, sondern den gan-zen Tag über einem Puzzle brütete.

Zu meiner Mutter sagten sie, dass später sicher mal ein Künstler aus mir würde, oder ein Musiker, vielleicht aber auch ein Schauspieler wie mein Vater. Irgendetwas, womit sich der introvertierte kleine Jun-ge frei entfalten könne, fanden sie.

Vielleicht hatten sie recht, denn anfangs war es genau das Richtige für mich. Ich hatte meine eigene Welt. Meine eigene kleine Festung, wo ich wie ein allmächtiger König bestimmen konnte, wer mir nahe-kommen durfte und wer sich fernhalten musste.

Beim Puzzeln hatte ich Zeit zuzuhören und mei-ne Umgebung zu beobachten, angefangen bei den kleinsten Kindern bis hin zu den ältesten Erziehe-rinnen. Das war ein guter Platz, hier fühlte ich mich lange Zeit wohl. Es hatte etwas Beruhigendes und Spannendes, langsam, aber sicher eine Einheit zu-sammenzufügen.

Erst als ich sechs Jahre alt war, hob ich endlich den Blick vom Puzzle und begriff, dass ich eine neue He-rausforderung im Leben brauchte. Aber wer sollte ich ab jetzt sein, wenn ich mich nicht länger hinter einem Puzzle verbergen konnte?

Mehrere Monate lang wanderte ich in diesem leicht verwirrten Zustand zwischen der Schaukel und den Fliederbüschen am Zaun des Kindergartens hin

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und her und versuchte herauszufinden, wo mein Platz war.

In jenem Frühjahr kam ein Praktikant in den Kin-dergarten. Ein großer, junger Typ mit blauen Adi-das-Spezial und einem dunkelroten Trainingsanzug. Frisch von der Schule, sprudelnd vor Energie und den Schädel vollgestopft mit den neuesten pädago-gischen Theorien. In kürzester Zeit gab er den Takt vor, und die Erzieherinnen mit ihren ständigen Rü-ckenschmerzen und Nebenhöhlenentzündungen standen da und sahen zu, wie der Praktikant die Auf-merksamkeit der Kinder fesselte.

Vielleicht dachten sie, dass ihre Zeit vorbei wäre, vielleicht waren sie auch nur froh, ein wenig entlastet zu sein.

Kaum angekommen, versammelte er alle Kinder auf dem Rasen neben dem Sandkasten und holte aus einer orangefarbenen Tüte einen Fußball hervor.

Dann begann der Praktikant, uns Kommandos zu-zurufen. Er teilte uns in Mannschaften ein und stell-te Eimer als Pfosten auf. Währenddessen hockten die Erzieherinnen im Haus und wunderten sich, wie die-ser neue Elan all die Kinder in seinen Bann zog.

Welches Buch hat er wohl gelesen, wo hat er das gelernt?, fragten sie sich.

Wie er es schaffte, dass die Kinder ihm zuhörten und gehorchten. Wie es ihm gelang, ihre überspru-delnde Energie in eine Richtung zu lenken: den Fuß-ball und den Willen, ein Tor zu schießen. Sogar der

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kleine Puzzle-Eremit, der sich zunächst in die Flie-derbüsche verdrückt hatte, schlich langsam mit neu-gierigem Blick näher.

Ich konnte einfach nicht anders. Ich wollte mir den Ball und den energischen Praktikanten wenigs-tens kurz mal ansehen.

Schließlich wagte ich den Schritt, und schon bald waren alle dabei, der Praktikant, die Kinder, ich selbst, ja sogar einige der Erzieherinnen, die sonst immer über ihre schmerzenden Gelenke jammerten. Alle rannten herum und jagten den Ball. Da draußen herrschte eine kollektive Freude, die ich noch nie zu-vor erlebt hatte und die mich neugierig machte.

An den Tagen darauf trug der eine ein Fußball-trikot, der Nächste hatte seine ersten Fußballschuhe gekauft, und mir wurde klar, dass ich eine Beschäf-tigung gefunden hatte, bei der ich mich zu den glei-chen Bedingungen mit den anderen messen konnte. Ich hatte eine Rolle bekommen. Ich stand auf der Bühne.

Als mein Vater in diesem Sommer nach einer lan-gen Tournee nach Hause kam, hatte sich sein Sohn verändert. Sämtliche Puzzles waren vom Tisch im Wohnzimmer verschwunden. Und schon im Flur bat ihn sein Sohn, der kaum mitgekriegt hatte, dass sein Vater über einen Monat fort gewesen war, auf Knien um ein Paar Fußballschuhe.

Mein Vater lachte. Früher war er von einem Kind

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empfangen worden, das jede Minute, die es von sei-nem Vater getrennt gewesen war, schlimm gelitten hatte. Mittlerweile schien sein Junge kaum mehr zu wissen, dass er überhaupt weg gewesen war.

Noch am selben Tag gingen wir einkaufen und besorgten ein Paar schwarze Diadora-Fußballschuhe und einen Fußball. Mein Bruder Victor, der gerade erst drei geworden war, bekam auch welche in Minia-turausgabe. An diesem Abend saß ich lange da und atmete den Geruch der Fußballschuhe ein. Den wun-derbaren Geruch von Sportgeschäft und Synthetik.

Mein Vater freute sich, dass ich mich für Fußball begeisterte, und meinte, ich solle anfangen, in einem Fußballverein zu spielen. Er erklärte mir, dass es ei-nen Verein gebe, der ganz in der Nähe unserer Woh-nung trainierte, den IK Sturehov.

Der Nachbarssohn, mit dem ich damals viel spiel-te, würde ebenfalls anfangen, erwähnte er noch ganz beiläufig, das hätte ihm dessen Mutter im Waschkel-ler gesagt.

Bevor er noch mehr sagen konnte, brach ich in Tränen aus. Vor Angst.

Für mich war das eine völlig neue Situation, in der ich nicht mehr die Kontrolle besaß und alles selbst steuern konnte. Außerdem war meine soziale Kom-petenz nach mehreren Jahren, die ich über einer Kis-te voller Puzzleteile gebrütet hatte, nicht gerade aus-geprägt.

Aber mein Vater überredete mich. Wir kauften

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rote Stutzen, eine kurze blaue Hose und ein rotes Hemd – die Farben des Klubs. Nach einem ganzen Tag in diesen Klamotten war ich etwas zuversicht-licher. Irgendwie begann ich, mich an den Gedanken zu gewöhnen.

Als wir dann mit dem Auto auf den Parkplatz vor dem kleinen Vereinshaus im südlichen Teil von Öre-bro einbogen, machten mein Freund Joakim und ich uns vor Angst fast in die Hose. Ich saß stocksteif mit meinen Fußballschuhen an den Füßen da und starr-te entsetzt auf das Spielfeld, wo etwa zwanzig Jungen in einer Reihe vor einem Trainer in rotblauem Trai-ningsanzug standen.

Joakim verbarg sein Gesicht hinter seinen schwar-zen Torwarthandschuhen und hechelte, während ich mich mit beiden Händen am Sicherheitsgurt fest-klammerte und die Schar von Jungen nicht aus den Augen ließ.

Schon bei den Gruppenübungen in der Babygym-nastik hatte ich solche Situationen gemieden. Damals hatte ich mich geweigert, in einer Runde neben den anderen Kindern zu stehen und auf die große Trom-mel zu schlagen, stattdessen war ich ein wenig abseits nervös auf und ab getrabt, um sofort heranzuschlei-chen und daraufzuschlagen, kaum dass die Luft rein war.

Auf einmal war es so, als würde mich dieses Ge-fühl mit voller Wucht einholen.

Mein Vater drehte sich zu uns um und lächelte.

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»Kommt schon, Jungs, jetzt aber raus mit euch. Viel Spaß!«, sagte er und tätschelte uns kurz den Kopf, bevor er die Tür öffnete und ausstieg.

Auf dem Rücksitz rührten Joakim und ich uns kei-nen Zentimeter. Wir wagten es nicht einmal, uns ge-genseitig anzusehen.

Mein Vater öffnete die Tür und forderte uns auf herauszukommen.

Zögernd krochen wir aus dem Auto, erst Joakim, dann ich.

Erst drückten wir uns an der Karosserie ent-lang, bevor wir langsam, ganz langsam, mit winzigen Schritten auf den Fußballplatz und die Jungen zugin-gen, die in ihren rotblauen Trainingsanzügen vor dem Trainer standen.

»Hallo«, rief der Mann, als wir näher kamen.Er hob seine riesige Hand, stellte sich vor und

fragte uns, wie wir hießen.Wir blickten uns hastig an, um zu sehen, wer als

Erster antworten würde.Dann sagten wir es gleichzeitig.»Mjaoratkiinm.«Irgendwie schaffte er es dennoch, beide Namen

aufzuschnappen, auch wenn er sie zu Beginn falsch zuordnete, was aber – und das lernten wir ziemlich schnell – egal war, da wir jetzt in einer Mannschaft spielten. Ab jetzt machten wir gemeinsame Sache. Was für eine Rolle spielten da schon Namen? Das Flüchtlingskind Muhammed wurde zum Beispiel

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Kalle gerufen, um es allen einfacher zu machen. Wichtig war, dass man nicht fluchte, nicht dribbelte und niemanden ausschloss, sowohl auf dem Platz als auch später in der Umkleide. Es war eine gute Schule für den schwedischen Gesellschaftsgeist, man lernte, dass alle gleich viel wert waren; alle gleich gut, alle gleich.

Natürlich kapierte ich das damals noch nicht. Ich rannte in meiner Scheinwelt herum, ein Stück ent-fernt von der Horde, die frenetisch hinter dem Ball herjagte, und versuchte, einen Fußballspieler dar-zustellen. Ich spielte Theater, nichts anderes. Stand eine Weile neben einem Pfosten und wartete darauf, dass der Ball zu mir kam, ich nur noch abzustauben brauchte und so die Ehre für die Mühen der anderen erntete, und trainierte Jubelgesten, bevor der Trainer das Spiel überhaupt angepfiffen hatte.

Ich war ein Teil der Mannschaft. Trotzdem waren die Ansprachen der Trainer für mich meistens nur lee-re Worte. Die Sache mit dem Zusammenhalt in der Mannschaft und dem gegenseitigen Respekt.

Alles klang schön, aber ich verstand nie, welche Mannschaft er meinte, denn in unserer Mannschaft wurden einige gehänselt. Kalle – also Muhammed – fluchte einsam vor sich hin, weil er nicht bei seinem richtigen Namen genannt wurde, und ein anderer Junge traute sich nicht mehr zu duschen, nachdem ihn ein anderer mit kaltem Wasser bespritzt hatte, was dazu führte, dass er »Tunte« genannt wurde.

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Er hörte dann irgendwann auf, fühlte sich aus-gegrenzt. Muhammed folgte seinem Beispiel.

Zurück blieben die Jungs, die auf einer Linie la-gen. Die Abweichler verschwanden, bis auf mich. Ich blieb dabei, weil ich Fußball mochte, nicht weil ich die Mannschaft mochte.

Wir spielten viele Jahre zusammen. Fast immer verloren wir.

Ich war ein Teil des Ganzen, hatte meine Rolle. Torschütze und ein Jahr jünger als die anderen. Er hat den Torriecher, sagte man, ein kleiner Flitzer, ein flinker Dribbler.