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Mathematik ist überall - Zentraler Informatikdiensthomepage.univie.ac.at/herwig.hauser/Pressespiegel/interview... · Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

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Mathematik ist überall

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■ Zum Geleit Bundesminister Johannes Hahn

Mathematische Forschung und ihre Anwendung:■ Prozessoptimierung im Hochofen – dank numerischer Simulation

Ein Gespräch mit Heinz Engl

■ Stochastik und die Welt der Finanzmärkte

Ein Gespräch mit Walter Schachermayer

■ Mathematische Forschung in Österreich und die Verantwortung des BMWFvon Daniel Weselka

■ Mathematische Forschung und ihre Anwendung:■ Inverse Probleme und der Nierensteinzertrümmerer

Ein Gespräch mit Barbara Kaltenbacher

■ Partielle Differentialgleichungen und die Neidhart-Fresken

Ein Gespräch mit Peter Markowich und Massimo Fornasier

■ Österreichische Beiträge zur Mathematikvon Karl Sigmund

■ Mathematische Forschung und ihre Anwendung:■ Die Gröbner-Basen und die Steuerung von Bohrinseln

Ein Gespräch mit Bruno Buchberger

■ Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

Ein Gespräch mit Herwig Hauser

■ Vernetzen und Verstärken: Mathematik als Motor der Wissenschaftvon Norbert Mauser

■ Mathematische Forschung und ihre Anwendung:■ Der Sozialkontrakt im mathematischen Modell

Ein Gespräch mit Karl Sigmund

■ Mathematik trifft Zellbiologie

Ein Gespräch mit Christian Schmeiser

■ Wie sag ich’s meinem Kinde – Woran liegen die Imageprobleme der Mathematikvon Rudolf Taschner

■ Mathematische Forschung und ihre Anwendung:■ Optimierungstheorie stärkt medizinische Diagnostik

Ein Gespräch mit Karl Kunisch

■ Die Schrödinger-Gleichung und das Bose-Einstein-Kondensat

Ein Gespräch mit Norbert Mauser

■ Projektförderung mathematischer Forschung durch das BMWF

■ Kontaktadressen

■ Impressum

Inhalt

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Zum Geleit

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Prozessoptimierung im Hochofen – dank numerischer Simulation

Engl: Modellierung heißt Überführung eines kom-

plexen Problems aus einer Anwendungs-

wissenschaft in die mathematische Sprache, also

in etwas wie Gleichungen oder Optimierungspro-

bleme. Ein Modell soll so einfach wie möglich sein,

damit es auch behandelbar ist, aber andererseits

so komplex wie nötig, damit man nicht Effekte, die

zum Verständnis notwendig sind, in der Model-

lierung bereits verliert. Bei einem Prozess wie dem

Hochofenprozess ist das leicht gesagt, aber schwer

getan. Wir haben zum Beginn dieses Projekts

monatelang mit den Fachleuten diskutiert, welche

der vielen chemischen Reaktionen maßgeblich

sein könnten, welche in das Modell einbezogen

werden sollen, welche nicht. Und bereits diese

Modellierung ist ein inhärent mathematischer

Schritt, der Analysis, Asymptotik und andere ma-

thematische Methoden benötigt.

Die Prozesse, die hier zu modellieren sind, sind

Feststofffluss, Sinter, Erzzuschlagsstoffe, Gas-

strömungen, Flüssigkeitsströmungen mit stark

unterschiedlichen Zeitkonstanten, viele chemische

Reaktionen, Schmelzen, Temperaturhaushalt und

– das ist die Schwierigkeit dabei – alles hängt mit

allem zusammen. Wenn man das mathematisch

modelliert, führt das zu stark gekoppelten

Systemen von Differenzialgleichungen, in diesem

Fall hauptsächlich partielle Differenzial-

gleichungen gekoppelt mit einigen gewöhnlichen

Differenzialgleichungen.

Aber damit ist es nicht getan, man will ja jetzt als

nächsten Schritt das System simulieren. Das heißt,

man muss Algorithmen entwickeln, in denen man

in einer für die industrielle Anwendung ver-

nünftigen Zeit den Prozess mit hinreichender Ge-

nauigkeit simulieren kann. Und das ist eine hohe

mathematische Anforderung, die viel Grundlagen-

forschung benötigt.

Simulation also als Erkenntnisprozess?

Engl: Ja, mathematische Simulation ist heute als

dritte Methode des Erkenntnisgewinns neben die

Theorie und das Experiment getreten.

Wo finden Sie für diese Methode ihre An-

wendungsbereiche?

Engl: In der Eisen- und Stahlindustrie jedenfalls:

Walzen, Sintern, Strangguss- das sind alles Dinge,

mit denen wir uns am IMCC (Industrial Mathematics

Competence Center) beschäftigt haben. Aber die

Mathematik hat viele Anwendunsgsgebiete. Ich

möchte hier Prof. Helmut List, den Chef der Firma

AVL List, zitieren: Mathematics inside – also analog

zu Intel inside – could be written onto any car

manufactured today. Der Konstruktionsprozess eines

Autos ist voll mit Mathematik. Am IMCC tragen wir in

Kooperation mit AVL List dazu ganz intensiv bei.

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Prozessoptimierung im Hochofen – dank numerischer SimulationMathematische Grundlagenforschung löst industrielle Anwendungsprobleme

EIN GESPRÄCH MIT HEINZ ENGL

Herr Prof. Engl, Sie haben Ihre wissenschaftliche

Laufbahn der Mathematik gewidmet, konkreter der

Industriemathematik. Wie definieren Sie dieses

Forschungsfeld, was sind seine Spezifika?

Engl: Ich würde das definieren als Mathematik, die

durch Anwendungsprobleme aus der Industrie

motiviert ist. Alle verschiedenen Typen von Ma-

thematik unterscheiden sich meiner Meinung nach

nur in der Motivation, nicht aber in der Methode.

Und die Methode der Mathematik ist der Beweis,

die mathematische Strenge.

Wie wird nun diese mathematische Methode für

Anwendungsprobleme der Industrie zum Einsatz

gebracht? Sie haben dies einmal am Beispiel der

Hochofen-Simulation erklärt. Was hat die Ma-

thematik mit der Roheisenerzeugung zu tun?

Engl: In der Eisen- und Stahlindustrie geht es in

einem hochkompetitiven Umfeld darum, hohe und

gleichmäßige Produktqualitäten zu erreichen und

zu garantieren. Gleichzeitig soll das möglichst ener-

gieeffizient sein, also möglichst wenige Ressourcen

verbrauchen, und möglicht wenig die Umwelt

belasten mit dem, was am Schluss oben rausgeht.

Es geht also um die Optimierung der Prozesse im

Hochofen. Wir kennen diese Prozesse, aber wir

können sie nicht beobachten und verfolgen.

Messungen sind im Hochofen nur sehr einge-

schränkt möglich, und natürlich kann man den

Hochofen nicht – wie bei Versuchen im Labor –

immer wieder mit unterschiedlichen Parametern

hochfahren, um experimentell festzustellen, was

da passiert. Der Schlüssel zum Verständnis kann

bei diesen – und vielen ähnlichen – Prozessen nur

sein, ein mathematisches Modell zu entwickeln,

und darauf aufbauend eine numerische

Simulation. Man simuliert, was passiert, wenn der

Prozess unter unterschiedlichen Bedingungen

gefahren wird.

Wie kann man sich diese Arbeit des mathema-

tischen Modellierens vorstellen?

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PortraitUniv.-Prof. Heinz W. Englist Direktor des Johann Radon Institute for Compu-tational and Applied Mathematics (RICAM) in Linzund Vizerektor für Forschung an der UniversitätWien. Als Professor für Industriemathematik an derJohannes Kepler Universität in Linz baute Engl dasChristian-Doppler-Labor für Mathematische Model-lierung und Numerische Simulation auf, aus demsich dann das Kompetenzzentrum für Industrie-mathematik (IMCC) entwickelt, dem Engl als wis-senschaftlicher Leiter vorsteht. Seit 2003 ist Engl Direktor des RICAM. Im Oktober 2007 folgte erdem Ruf als Vizerektor für Forschung und Nach-wuchsförderung an die Universität Wien. Engl ist wirkliches Mitglied der Akademie der Wissen-schaften. 2007 wurde Engl in Würdigung seiner„Pionierarbeiten auf dem Gebiet angewandter mathematischer Methoden im Bereich industriellerProbleme“mit dem „Pionier-Preis“ des „Internatio-nal Council for Industrial and Applied Mathema-tics“ (ICIAM) ausgezeichnet.

Sichtbargemachte Pro-

zesse im Hoch-ofen –

Ergebnis ma-thematischer

Modellierung und numerischer

Simulation

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Stochastik und die Welt der Finanzmärkte

spéculation“ die Idee gehabt, die Entwicklung von

Boersenkursen durch einen stochatischen, also

zufälligen Prozess, zu modellieren. Er verwendete

dafür die sogenannte „Brownsche Bewegung“.

Bachelier war der erste, der die mathematischen

Grundlagen dieses Modells entwickelte; er war da-

mit um 5 Jahre früher dran als Einstein und Smolu-

chowski, die dasselbe Modell in der Physik an-

wendeten.

Louis Bachelier hatte ein klares Ziel. Er wollte eine

rationale Theorie zur Bewertung von Optionen ab-

leiten. Das ist ihm auch in beeindruckender Weise

gelungen.

Siebzig Jahre später haben dann Fisher Black,

Myron Scholes und Robert Merton dieses Thema

wieder aufgegriffen, wobei sie das Modell von

Bachelier leicht abänderten. Die darauf auf-

bauende Theorie wurde unter dem Stichwort

„Black-Scholes-Formel“ berühmt. Die Arbeiten

von Black, Scholes und Merton wurden 1998 mit

dem Nobelpreis für Ökonomie geehrt.

Konnte umgekehrt die Mathematik aus dem Pro-

jekt profitieren, wie weiterentwickelt werden?

Schachermayer: Mit den Arbeiten von Black,

Scholes und Merton ist die Entwicklung keines-

wegs zu einem Ende gekommen. Ganz im Gegen-

teil: damit tat sich ein weites Feld von neuen

Fragen auf. Hier fand – und findet weiterhin – ein

reger Austausch zwischen den praktisch moti-

vierten Fragestellungen und der mathematischen

Theorie statt.

Welche weiteren Anwendungen Ihrer Arbeit neben

den Finanzmärkten sehen Sie?

Schachermayer: Für mich persönlich sind die fi-

nanz-mathematischen Anwendungen nur eines

von mehreren mathematischen Gebieten, die mich

interessieren. Zum Beispiel habe ich mich in letzter

Zeit auch viel mit optimaler Transport-Theorie be-

schäftigt.

Woran arbeiten Sie gegenwärtig?

Schachermayer: Im Zentrum steht nach wie vor die

Finanzmathematik. Wir arbeiten gerade daran, die

finanzmathematische Theorie auf einer breiteren

Basis zu entwickeln, als dies im Rahmen des auf

Black-Scholes zurückgehenden Zugangs möglich

ist. Technisch gesprochen: wir behandeln auch

Modelle, die nicht in die Klasse der Semi-

Martingale fallen. Praktisch bedeutet dies, dass

auch einige Modelle, die z.B. von Benoit Mandel-

broit schon vor längerer Zeit vorgeschlagen

wurden, nunmehr im Rahmen der sogenannten

No Arbitrage Theorie behandelt werden können.

Ich weiß, dass das alles sehr abstrakt klingt; nichts-

destoweniger hoffe ich, dass diese Forschungen zu

handfesten Resultaten führen werden.

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Stochastik und die Welt der FinanzmärkteWie Mathematik den scheinbaren Zufallsprozess von Börsenkursen rational erklärt

EIN GESPRÄCH MIT WALTER SCHACHERMAYER

Wie sind Sie auf das Feld der Stochastik gestoßen,

warum begeistert Sie dieses Gebiet?

Schachermayer: Mich hat schon immer die

Tatsache fasziniert, dass man über die scheinbar

regellosesten Phänomene, nämlich die rein zufäl-

ligen, sehr präzise mathematische Aussagen

formulieren kann.

Wie kam es zur Verknüpfung mit der Welt der Fi-

nanzmärkte?

Schachermayer: Ähnlich wie das Ergebnis eines

Münzwurfs kann man die Kursbewegungen an der

Börse als zufälligen Prozess auffassen; wohl

wissend, dass hier nicht der Zufall am Werk ist,

sondern handfeste ökonomische Interessen.

Aber auch beim Münzwurf ist es ja so, dass im

Prinzip berechenbar wäre, auf welche Seite die

Münze fällt, wenn alle Einflussgrößen bekannt

wären: die Beschleunigung beim Hochwerfen, die

Dichte der Luft, die Materialeigenschaften der

Fläche, auf der die Münze auftrifft, etc. Aber das

ist natürlich ein völlig hoffnungsloses Unterfangen

und daher ist man gut beraten, das Ergebnis als zu-

fällig zu modellieren, wobei in diesem Fall aus Sym-

metriegründen die Chance 50:50 steht, dass die

Münze Kopf oder Zahl zeigt.

So ähnlich ist es bei der stochastischen

Modellierung von Finanzmärkten. Da das Ge-

schehen so komplex ist und von so vielen Akteuren

und Informationen abhängt, hat es – für gewisse

Anwendungen – durchaus seine Berechtigung,

dieses Geschehen als Zufallsprozess zu

modellieren.

Was kann sich der Laie unter Stochastik vorstellen?

Und was war die Herausforderung der Anwendung

der Stochastik auf Finanzmärkte?

Schachermayer: Schon im Jahr 1900 hat Louis

Bachelier in seiner Dissertation „Théorie de la

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Portrait

Walter Schachermayererhielt 1998 als erster Mathematiker den Witt-gensteinpreis. Der geborene Linzer studierte neben Mathematik in Wien und Paris auch Be-triebswirtschaftslehre sowie Computerwissen-schaft. Nach dem Doktorat 1976 folgten Aus-landsaufenthalte in Frankreich und Mexiko, spä-ter USA und Japan, sowie Tätigkeiten an der TUWien und der Universität Wien, wo Schachermay-er seit 2008 als ordentlicher Professor an der Fa-kultät für Mathematik arbeitet. Seine Forschungs-interessen umfassen Finanzmathematik, Funktio-nalanalysis sowie Wahrscheinlichkeitstheorie.

Nur scheinbar regellos: Das Auf

und Ab von Börsenkursen

kann durch Stochastik als

Prozessmodelliert und so

berechenbar gemacht werden

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Probieren allein hätte nichts verbessert“

In einem weiterführenden Projekt des Exzellenz-

clusters SimTech der Universität Stuttgart, das ich

mit meinem Dissertanden Jonas Offtermatt be-

arbeite, geht es um die numerische Umsetzung der

auf dieser Basis entstandenen Verfahren.

Erste Simulationsergebnisse zeigen eine deutliche

Verbesserung der Fokussierungseigenschaften,

wie sie vorher durch mehr oder minder bloßes

„Probieren“ nicht erzielt werden konnten.

Welche weiteren Anwendungen Ihrer Arbeit sehen

in der Medizintechnik?

Kaltenbacher: Eine sehr nahe liegende An-

wendung ist die beispielsweise Thermotherapie

mittels Hochleistungsultraschall. Abgesehen da-

von gibt es im Bereich der Medizintechnik viele zu

lösende Optimierungsprobleme bzw. allgemein

eine große Anzahl inverser Probleme, etwa wenn

man an Bildgebungsverfahren denkt. Computer-

tomographie wäre ohne die in mathematischen Ar-

beiten erstellten analytische Grundlagen und

modernen Rechenverfahren gar nicht denkbar.

Konnte umgekehrt die Mathematik aus dem Pro-

jekt profitieren?

Kaltenbacher: Die Ergebnisse, die wir über das

zugrundeliegende Wellenausbreitungsphänomen

erzielt haben, sind unmittelbar relevant für eine

Vielzahl von anderen Anwendungen von Hochleis-

tungsultraschall, beispielsweise Ultraschallrei-

nigung, Ultraschallschweißen oder Sonochemie,

aber auch für weitere Problemstellungen, in denen

nichtlineare Wellenausbreitung eine Rolle spielt.

Das wird überall dort der Fall sein, wo hohe akus-

tische Schalldrücke auftreten.

Darüberhinaus denken wir, dass die ma-

thematischen Techniken, die wir hier entwickelt

haben, auch zur Analyse anderer sozusagen ma-

thematisch verwandter Modelle nützlich sein

werden.

Was sind ihre aktuellen Projekte bzw. An-

wendungsgebiete der Mathematik?

Kaltenbacher: Ein weiterer größerer Anwendungs-

schwerpunkt inverser Probleme ist die Cha-

rakterisierung sogenannter „smart materials“, also

intelligenter Materialien, mit Hilfe geeigneter ma-

thematischer Modelle.

Darüberhinaus entwickle ich effiziente Rechenver-

fahren zur Lösung inverser Probleme ganz all-

gemein. Bei diesen numerischen Verfahren ist be-

sonders zu berücksichtigen, dass inverse Probleme

von Natur aus häufig zur Instabilität neigen, sodass

man geeignete mathematische Methoden erarbei-

ten muss, um verlässliche Ergebnisse zu erzielen.

Warum begeistert Sie gerade das Feld inverser Pro-

bleme?

Kaltenbacher: Es gibt dafür einerseits viele hoch-

aktuelle praktische Anwendungen, andererseits ist

die dazu erforderliche Mathematik interessant und

anspruchsvoll.

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Inverse Probleme und der Nierensteinzertrümmerer

Mathematik hilft, den Patientenkomfort moderner Medizintechnik anzuheben

EIN GESPRÄCH MIT BARBARA KALTENBACHER

Wie kam es zur Verknüpfung inverser Probleme mit

der Medizintechnik, insbesondere bei Nieren-

steinzertrümmerern?

Kaltenbacher: Das Problem der optimalen

Fokussierung beim Nierensteinzertrümmern

mittels Hochleistungsultraschall ist ein inverses

Problem im Sinne von „Bestimmung von Ursachen

für gewünschte Effekte“: Die Form einer Silikon-

linse bzw. das Schallanregungssignal sollen so ge-

staltet werden, dass der Fokus möglichst punktuell

dort liegt, wo sich der Nierenstein befindet und

andererseits der Schalldruck im umliegenden

Gewebe möglichst gering ist, um Verletzungen zu

vermeiden. Die Schwierigkeit liegt dabei in der

nichtlinearen Schallausbreitung, die berücksichtigt

werden muss.

Dazu möchte ich anmerken, dass die Nieren-

steinzertrümmerung bereits seit einigen Jahren

eine etablierte und sichere Technologie ist – es

geht hier also vor allem darum, Restrisiken weiter

zu reduzieren und den Komfort für die Patienten zu

verbessern.

Welchen Erkenntnisfortschritt haben Sie sich

erwartet und wie hat sich die Methode der Nieren-

steinzertrümmerung durch Ihre Anwendung der

Mathematik verbessert?

Kaltenbacher: Die bisher zu dieser Fragestellung

existierenden Publikationen waren im Bereich der

Ingenieurwissenschaften zu finden, es gab ex-

perimentelle Ergebnisse und numerische Simu-

lationen aber noch keine systematische Opti-

mierung.

Da es sich hier um ein nichtlineares Wellenaus-

breitungsphänomen handelt, war meinem Dis-

sertanden Slobodan Veljovic im Doktorandenkolleg

des Elitenetzwerks Bayern und mir, in Zusammen-

arbeit mit Prof. Irena Lasiecka, University of

Virginia, und Dr. Christian Clason, Universität Graz,

zunächst wichtig, das zugrundeliegende Modell

mathematisch zu analysieren und damit zu einem

besseren physikalischen Verständnis beizutragen,

sowie die Mittel zur systematischen Optimierung

am Computer zur Verfügung zu stellen.

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Portrait

Barbara Kaltenbacherstartete ihre Karriere an der Johannes Kepler Universität Linz, wo sie 1996 promovierte. DasHertha Firnberg-Programm des FWF bot den Rahmen ihrer Habilitation, danach leitete sie eine Nachwuchsforschergruppe im Emmy Noether Programm der Deutschen Forschungs-gesellschaft. Über die Universität Erlangen kamKaltenbacher an die Uni Stuttgart, wo sie das Institut für Stochastik und Anwendungen leitete.Mit März 2010 wechselte sie an die Karl-Franzens-Universität Graz. Fasziniert ist Kalten-bacher von Anwendungen der Mathematik in der Medizintechnik. Weitere Interessen: InverseProbleme, Regularisierungsverfahren und partiel-le Differentialgleichungen.

Problem invers,Lösung mathe-matisch: Dank

numerischer Verfahren können

Nierenstein-Zertrümmererbesser zielen

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Neidhart Fresken, den ältesten profanen Wand-

fresken Wiens aus dem 14. Jahrhundert. Die

gemalten Szenen aus der deftigen Dichtung des

Minnesängers Neidhart von Reuental ließ ein

frommer Mann später im 18. Jahrhundert unter

einer Putzschicht verschwinden. Als die Fresken

wiederentdeckt wurden, klafften in dem bunten

Bilderzyklus etliche Fehlstellen. So entstand dieses

Projekt, in dem wir mit mathematischen Methoden

die Arbeit der Restauratoren an diesem Werk

unterstützen.

Herr Fornasier, Sie haben als Mathematiker am

Linzer Johann Radon Institute for Computational

and Applied Mathematics (RICAM) in das Projekt

schon frühere Erfahrungen mit virtueller Rekon-

struktion eingebracht. Wie kam es dazu?

Fornasier: In Padua hatte ein Bombentreffer auf

die Eremitaner-Kirche Renaissance-Meisterwerke

von Andrea Mantegna in Splitter zerlegt. Als

Doktorand der Angewandten Mathematik beteiligte

ich mich in den 1990er Jahren daran, 90.000

eingescannte Stücke nach Vorlage alter

Fotografien wieder zusammenzusetzen.

Was bringt dabei die Mathematik ein?

Fornasier: Mit Bildern kommunizieren wir, wir

übermitteln Informationen und verstehen die Welt

um uns herum. Die wichtigste Bildinformation ist

immer an Rändern und Grenzen eingeschrieben,

wo Veränderungen stattfinden. Partielle

Differentialgleichungen können zur Rekonstruktion

verwendet werden, wenn zumindest teilweise

Informationen über diese Veränderungen vor-

handen sind.

Markowich: An diesem Übergang vom Fresko zu

Fehlstelle soll eine zusätzliche wissenschaftliche

Grundlage geschaffen werden, um vorhandene

Informationen für die Restaurierung präzise auf-

zubereiten und mögliche Varianten der Rekon-

struktion vorzuschlagen.

Was hat man in dem Projekt, das bis 2010 laufen

soll, schon erreicht?

Fornasier: Anhand sorgfältig fotografierter Puzzle-

stücke haben wir große Fortschritte gemacht. Wir

haben robuste Mathematik für die Rekolorierung

entwickelt basierend auf bruchstückhaften Farb-

und anderen Infos wie Grauwerten, UV- und In-

frarot Spektren. Um die Gleichungen noch besser

zu lenken und die Schärfe der Information an den

Rändern zu verbessern, erproben wir im Team

auch statistische Methoden. Die Umsetzung

machen dann freilich die Fachleute für Res-

taurierung mit all ihrem Wissen über Epochen,

Maltechniken und Pigmente.

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Partielle Differentialgleichungen und die Neidhart-FreskenMathematik hilft mittelalterliche Kunst zu restaurieren

GESPRÄCH MIT PETER MARKOWICH UND MASSIMO FORNASIER

Herr Prof. Markowich, Sie beschäftigen sich in

Ihrer Forschungsarbeit mit der Analyse von par-

tiellen Differentialgleichungen. Sie forschen dabei

stark Grundlagen orientiert, erarbeiten damit aber

Modelle, die ein sehr breites Spektrum an An-

wendungen ermöglichen. Sie selbst bezeichnen

die partiellen Differentialgleichungen als univer-

selles Modellierungstool der Mathematik. Können

Sie uns das Prinzip dieses Tools erklären?

Markowich: Partielle Differentialgleichungen sind

Gleichungen, die physikalische Größen mit ihren

Veränderungen in Zusammenhang bringen. Etwa

Masse, Energie und Geschwindigkeit mit Variablen

wie Zeit und Position. Seit Newton und Leibniz geht

es darum, Naturvorgänge im Bereich der Me-

chanik mathematisch zu beschreiben. Als eine der

geeigneten Sprachen wurden dafür die Diffe-

renzialgleichungen gefunden. Sie können von der

Newtonschen Mechanik, über die Maxwellsche

Elektrodynamik, die Boltzmannsche Gasdynamik,

Quantenphysik, Relativitätstheorie, und Finanzma-

thematik bis hin zur Kunst angewendet werden“.

Sie sind passionierter Fotograf, beschäftigen sich

mit mathematischer Bildverarbeitung in Theorie

und Praxis und haben vor drei Jahren ein Buch

herausgebracht über den „Visual approach“ zur

Anwendung partieller Differentialgleichungen. Wo

können wir als mathematische Laien das Werk der

Differentialgleichungen entdecken?

Markowich: Es geht wie gesagt um physikalische

Zustandsgrößen in Bezug zu ihren zeitlichen und

örtlichen Variationen Wir erkennen dies im Fluss

von Flüssigkeiten und Gasen, in der Bewegung

von Sanddünen, in der Musteranordnung auf

Tierhäuten oder im Wachstum von Eisbergen. Wir

können damit aber auch sozioökonomische Pro-

zesse erklären.

Man kann mit partiellen Differentialgleichungen

auch menschliche Verhaltensmuster erklären?

Markowich: Ja, es geht auch um das Verhalten von

Menschen. Wie funktioniert etwa die Meinungs-

bildung in Gesellschaften? Sie basiert auf binärer

Interaktion von Menschen, ähnlich wie in der

Bewegung von Gasen Gasatome interagieren.

Wobei Gasatome nach ganz strengen physika-

lischen Regeln agieren, beim Menschen ist das

diffuser, aber der Mechanismus ist der gleiche.

Sie arbeiten derzeit unter vielen anderen an einem

vom Wiener Wissenschafts- Forschungs- und Tech-

nologiefonds geförderten Projekt – gemeinsam mit

Ihrem Mathematiker-Kollegen Massimo Fornasier –

zur Restaurierung spätmittelalterlicher Wand-

fresken in Wien, die man 1979 unter einer dichten

Putzschicht entdeckte. Wie kam es zur Idee, par-

tielle Gleichungen auch für Restaurationszwecke

nutzbar zu machen?

Markowich: Die Idee entstand in einem informellen

– wenn auch interdisziplinären – Gespräch mit

dem ausgebildeten Chemiker Wolfgang Baatz, der

als Professor für Restaurierung an der Akademie

der Bildenden Künste arbeitet. Er erzählte von den

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PortraitsPeter Markowichist Professor am Department of Applied Mathe-matics and Theoretical Physics an der UniversitätCambridge und an der Fakultät für Mathematikder Universität Wien mit dem Forschungsfokusauf der Analyse von partiellen Differentialglei-chungen. Im Jahr 2006 wurde ihm vom FWF derWittgenstein-Preis zuerkannt. 2008 zeichnete ihndie im Aufbau begriffene King Abdullah Universi-ty of Science and Technology (KAUST) in Saudi-Arabien als „Investigator“ aus. Gemeinsam mitanderen START- und Wittgenstein-Preisträgern inangewandter Mathematik gründete er das Wolf-gang-Pauli-Institut, das auf die Realisierung vonSynergiepotenzialen zwischen verschiedenen Be-reichen der angewandten Mathematik, der Physikund der Informatik ausgerichtet ist.

Massimo Fornasierarbeitet als Senior Research Scientist in Appliedand Computational Mathematics am Johann RadonInstitute for Computational and Applied Mathema-tics (RICAM) der Österreichischen Akademie derWissenschaften und leitet dort die Forschungs-gruppe zur Analyse partieller Differentialgleichun-gen. Fornasier promovierte in Padua in numeri-scher Mathematik und habilitierte sich 2008 ander Fakultät für Mathematik der Universität Wien.2008 erhielt er den START-Preis des FWF.

Die wichtigstenInformationen

eines Bildes findet man an

seinen Rändern.Dort, am Über-

gang zu den Fehl-stellen, arbeitetmathematische

Wissenschaft, um Varianten für

die Rekons-truktion der

Neidhart-Freskenvorzuschlagen.

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

Ein erstes Aufblühen der Mathematik in

Österreich fand bereits im fünfzehnten

Jahrhundert statt. Es wurde durch drei

Astronomen geprägt, die an der Wiener

Universität lehrten und aufeinander auf-

bauten: erst Johann von Gmunden (ca.

1380–1442), dann Georg von Peurbach

(1423–1461) und schließlich Johannes

Müller von Königsberg (1436–1476),

der später als Regiomontanus bekannt

wurde und der als einer der wichtigsten

Begründer der sphärischen Trigonome-

trie gilt. Die astronomischen Tafeln des

Regiomontanus, die besten ihrer Zeit,

begleiteten Columbus auf seiner Fahrt in

den Westen. Noch epochalere Leistun-

gen erbrachte Johannes Kepler (1571–

1630), der in Graz und Linz (und da-

zwischen am Prager Hof als Mathema-

ticus des Habsburgerkaisers Rudolf II)

nicht nur das astronomische Weltbild

revolutionierte, sondern auch eine wich-

tige Rolle in der Frühgeschichte der

Analysis spielte. Einige seiner bedeut-

samsten Erkenntnisse zur Integralrech-

nung entstanden im engen Kontakt mit

dem Jesuitenpater Guldin (1577–

1643), der in Wien wirkte. Keplers Ver-

mutung über die dichteste Packung von

Kugeln wurde erst kürzlich bewiesen,

mit einem gewaltigen Aufwand an

computergestützten Verfahren.

In den folgenden Jahrhunderten findet

man zwar einige bedeutende Juristen

und Mediziner, aber kaum Naturwissen-

schaftler in Österreich: so kann man sa-

gen, dass von Kepler bis Boltzmann re-

lativ wenig auf mathematischem Gebiet

geschah, bis auf wenige Ausnahmen

wie etwa den angewandten Mathema-

tiker Josef Petzval (1807–1891), der

zwar als Sonderling galt, aber die Theo-

rie der photographischen Dioptrik ent-

wickelte, auf welcher die Geräte von

Voigtländer und Zeiss beruhten.

Historische FehlleitungEiner der Gründe für diese jahrhundert-

lange mathematische Flaute war zweifel-

los eine geradezu historische Fehlleis-

tung des österreichischen Staatsap-

parats, der die detaillierten Vorschläge

von Leibniz verwarf, die zur Gründung

einer Akademie der Wissenschaften in

Wien dienen sollten. Ein großer Teil der

mathematischen Fortschritte des acht-

zehnten Jahrhunderts entstand durch

ähnlich konzipierte Akademien in Paris,

Berlin oder Sankt Peterburg. Als Wien

mit hundertfünfzigjähriger Verspätung

nachzog und 1847 eine kaiserliche Aka-

demie gründete, war der bestmögliche

Zeitpunkt längst verstrichen. Versuche,

Gauss an die Wiener Universität zu

Mathematik ist überall

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

gewinnen oder Jacobi von Berlin weg-

zuberufen, schlugen fehl.

Erst als in der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts, nach Jahrzehnten staat-

lich verordneten Stillstands, der Libera-

lismus zur offiziellen Staatsdoktrin wur-

de, hatten die Wissenschaften hierzu-

lande eine Chance, internationales Ni-

veau zu erreichen. Das geschah dann

allerdings mit geradezu atemberau-

bender Geschwindigkeit. Österreich wur-

de, fast im Handumdrehen, zu einem

Hort der Moderne, nicht nur in Kunst

sondern auch in den Wissenschaften.

Atmosphärischer WandelDie Berufung von Boltzmann (1844–

1906) auf einen Lehrstuhl der Ma-

thematik (dann 1873–1876 in Wien)

war ein erstes, wichtiges Signal. Ludwig

Boltzmann war allerdings eher ma-

thematischer und theoretischer Phy-

siker, und wurde auch schnell von sei-

nem Wiener mathematischen Lehrstuhl

hinweg berufen, aber die geistige At-

mosphäre begann sich spürbar zu wan-

deln. Emil Weyr (1848–1894) machte

sich als Geometer einen Namen, Leo

Königsberger (1837–1921) arbeitete auf

dem Gebiet der Analysis. Beide hatten

im Ausland studiert, was früheren Ge-

nerationen österreichischer Studenten

verwehrt gewesen war.

Gustav von Escherich (1849–1935)

prägte als Ordinarius an der Universität

Wien Generationen von Studenten der

Mathematik. Zwar werden heute keine

großen Entdeckungen mit ihm asso-

ziiert, doch leistete er sehr wichtige Vor-

arbeiten, die den Boden für die kom-

mende Blüte vorbereiteten. Er führte in

Österreich die strengen Beweismetho-

den von Weierstrass ein, und gründete

gemeinsam mit Weyr die ‚Monatshefte

für Mathematik und Physik’, in der zahl-

reiche grundlegende Arbeiten veröffent-

licht wurden. Sein Zeitgenosse Franz

Mertens (1840–1927) konnte bereits

wichtige Resultate zur Theorie der Reih-

en beitragen, und insbesondere zur

Zahlentheorie: die Mertenssche Ver-

mutung, aus deren Richtigkeit die der

Riemannsche folgen würde, beschäf-

tigte viele Mathematiker ein Jahrhundert

lang und konnte erst durch Odlyzko und

Te Riele 1985 widerlegt werden. Auch

Leopold Gegenbauer (1849–1903), der

wichtige Beiträge zur Zahlentheorie und

auf dem Gebiet der speziellen Funk-

tionen lieferte, der Geometer Gustav

Kohn (1859–1921) und der Analytiker

Otto Stolz (1842–1905) beeinflussten

die Entwicklung der Mathematik in

Österreich nachhaltig.

Zu den herausragendsten mathema-

tischen Begabungen in Wien in den letz-

ten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts

gehörten Alfred Tauber (1866–1942)

und Wilhelm Wirtinger (1865–1945),

die beide die Geschichte der Ma-

thematik des 20. Jahrhunderts stark be-

einflussen sollten. Der in Pressburg ge-

borene Tauber formulierte und bewies in

seiner Habilitationsschrift ein Theorem

über die Konvergenz von Reihen, das

zum Ausgangspunkt für das riesige Feld

der sogenannten ‚Tauberschen Sätze’

wurde. Wirtinger, der aus Ybbs stamm-

te, überstrahlte ihn noch durch seine

Mathematik ist überall

21

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KARL SIGMUND

Johannes Kepler

(1571–1630)

Ludwig Boltzmann(1844-1906)

Johannes Müller von Königsberg

(1436–1476)

Naturgemäß spielt Österreich nicht in allen Sparten eine ähnlich bedeutsame Rolle wie

in der klassischen Musik oder dem alpinen Schisport. Andrerseits wird diese Rolle in

einigen Disziplinen krass unterschätzt. Das ist insbesondere in der Mathematik der Fall.

Absolventen einer AHS können oft kein einziges Beispiel eines österreichischen

Beitrags nennen, und gelegentlich bringt diese Frage auch Lehrer in Verlegenheit. Für

die Mathematik selbst spielt die Herkunft der Mathematiker selbstverständlich keinerlei

Rolle, für die Kulturgeschichte aber schon.

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

(1887–1956) bemerkenswerte Beiträ-

ge. Blaschke wurde zu einem der Väter

der modernen Differentialgeometrie. In

den Zwanzigerjahren war er die trei-

bende Kraft hinter dem rasanten Auf-

stieg des Hamburger mathematischen

Seminars (dessen leuchtendster Stern,

Emil Artin (1898–1962), übrigens in

Wien geboren war, dort aber nur zwei

Semester studierte, bevor er zu Herglotz

nach Göttingen ging). Radon erbrachte

grundlegende Beiträge zur Maßtheorie,

Funktionalanalysis, Variationsrechnung,

Differentialgeometrie und zur konvexen

Geometrie. Besonders bekannt wurde

sein Name aber durch die Anwendun-

gen von zwei seiner mathematischen Ar-

beiten. Die nach ihm benannte Radon-

Transformierte wurde zur Grundlage der

Computertomographie und anderer ‚bild-

gebender’ Verfahren; und der Satz von

Radon-Nikodym entwickelte sich zu

einem zentralen Bestandteil der Finanz-

mathematik. Das Interessante dabei ist,

dass Radon, wie seine Zeitgenossen

auch, niemals an solche Anwendungen

gedacht hatte: sie wurden erst Jahr-

zehnte später aktuell.

Radon wurde nach dem ersten Welt-

krieg, und kurzen Zwischenstationen in

Hamburg, Greifswald, und Erlangen,

Professor an der Universität von Breslau.

Ein anderer österreichischer Import in

die deutsche Wissenschaftsszene war

Richard von Mises (1883–1953), ein Ab-

solvent der Wiener Technischen Hoch-

schule, der in Berlin das weltweit erste

Zentrum für angewandte Mathematik

gründete und mit seinen Arbeiten zur

Aerodynamik und zur Grundlegung der

Wahrscheinlichkeitstheorie, aber auch

als positivistischer Philosoph große

Geltung erlangte. Seine Mitarbeiterin

und Lebensgefährtin Hilde Geiringer

(1893–1973), die unter anderem

wichtige Beiträge zur Populationsgenetik

verfasste, kam ebenfalls aus Wien.

WeltgeltungIn den Zwanzigerjahren besaß das ma-

thematische Seminar der Universität

Wien Weltgeltung. Neben dem Dreige-

stirn der Ordinarien Wirtinger, Furt-

wängler, und Hahn, gab es zahlreiche

junge und hochbedeutsame Mathe-

matiker. Viele widmeten sich der da-

mals aufblühenden Topologie, so Witold

Hurewicz (1904–1956), Walther Mayer

(1887–1948) und Leopold Vietoris

(1891–2002). Vietoris wirkte später in

Innsbruck, Mayer und Hurewicz emi-

grierten in die USA und fassten in

Princeton Fuß. Ein junger Mathemati-

ker namens Eduard Helly (1884–1943)

brachte aus der sibirischen Kriegs-

gefangenschaft eine brillante Habilita-

tionsarbeit zurück, die ähnlich wie

Hahns Arbeiten zu einer Grundlage der

Funktionalanalysis wurde.

Helly kam erst bei der Boden-Credit-

anstalt, dann bei der Phönix-Versiche-

rung unter (die beide wirtschaftlich zu-

sammenbrachen). Aus Hamburg wur-

de 1922 der junge Kurt Reidemeister

(1893–1971) als ao. Professor für Geo-

metrie geholt. Reidemeister entwickelte

in Wien seine wegweisende Theorie der

Knoten. Er spielte auch im Wiener Kreis

eine wichtige Rolle. Reidemeister ver-

mittelte seinerseits den Wiener Otto

Mathematik ist überall

23

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

frühen Beiträge zur Zahlentheorie,

Gruppentheorie und zur komplexen

Analysis. Wirtinger wurde 1895 als Or-

dinarius nach Innsbruck, 1903 nach

Wien berufen, wogegen Tauber als Chef-

mathematiker in der Phönix-Versiche-

rung unterkam und jahrzehntelang die

immergleichen Kurse für Versiche-

rungsmathematiker abhielt, abwech-

selnd an der technischen Hochschule

und der Universität Wien. Die techni-

sche Hochschule (die spätere TU) konn-

te auch eine sehr respektable Tradition

auf dem Gebiet der darstellenden Geo-

metrie aufbauen.

Die „unzertrennlichen Vier“Um die Wende zum 20. Jahrhundert

machten die ‚unzertrennlichen Vier’ von

sich reden, vier Studienfreunde, denen

allesamt eine große Laufbahn bevor-

stand. Zwei davon, Gustav Herglotz

(1881–1953) und Heinrich Tietze

(1880–1964), wurden an Universitäten

in Göttingen bzw München berufen, wo

sie jahrzehntelang an der damaligen

Blütezeit der Mathematik in Deutsch-

land mitwirkten. Ein dritter, Paul Ehren-

fest (1880–1933), wurde theoretischer

Physiker und spielte bei der Ma-

thematisierung von statistischer Me-

chanik und Quantentheorie eine

wichtige Rolle: Er wurde der Nachfolger

von H.A. Lorentz in Amsterdam, und

stand in regem Gedankenaustausch mit

Einstein. Der vierte im Bunde war Hans

Hahn (1879–1934), der nach frühen

Berufungen in Czernowitz und Bonn zu

Beginn 1920 als Ordinarius an die

Wiener Universität zurückkehrte. Er hat

durch seine Arbeiten in Analysis und all-

gemeiner Topologie, vor allem aber als

einer der Schöpfer der Funktionalana-

lysis, eine wegweisende Bedeutung er-

langt. Außerdem gründete Hahn (ge-

meinsam mit seinem Schwager Otto

Neurath und dem aus Deutschland

berufenen Philosophen Moritz Schlick),

den Wiener Kreis. Hahns früh erblindete

Schwester Olga (1882–1937), die (zum

Teil gemeinsam mit ihrem Mann Neu-

rath) wichtige frühe Arbeiten zur ma-

thematischen Logik verfasste, gehörte

auch zu dieser Gruppe von Mathema-

tikern und Philosophen. Der Wiener

Kreis sollte die Geschichte der Philoso-

phie, vor allem im angelsächsischen

Raum, nachhaltig beeinflussen.

Noch vor Hahn war Philipp Furtwängler

(1869–1940) an die Wiener Universität

berufen worden. Diese Entscheidung

schien kühn, denn Furtwängler war

nicht habilitiert, doch rechtfertigte sie

sich glänzend. Furtwänglers Vorlesun-

gen galten als unvergleichliche Kunst-

werke (obwohl er durch eine Lähmung

an den Rollstuhl gefesselt war) und in-

spirierten zahlreiche Studenten. Gegen

Ende der Zwanzigerjahre vollbrachte der

fast sechzigjährige Furtwängler sein

Meisterstück, den Beweis der Hilbert-

schen Hauptvermutung, die für die

algebraische Zahlentheorie grundle-

gend ist.

Väter der DifferentialgeometrieIn der ersten Hälfte des zwanzigsten

Jahrhunderts lieferten auch Roland

Weitzenböck (1885–1955), der Grazer

Wilhelm Blaschke (1885–1962) und der

in Tetschen geborene Johann Radon

Mathematik ist überall

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Wilhelm Wirtinger(1865–1945)

Hans Hahn(1879–1934)

Philipp Furtwängler(1869–1940)

Johann Radon(1887–1956)

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

Resultat und seine Methoden sind ent-

scheidende Beiträge zur Mengentheorie

geworden.

Fataler AderlassKurt Gödel verließ Österreich während

des zweiten Weltkriegs und kehrte nie

wieder zurück. Zusammen mit dem Tod

von Hahn, der Emeritierung von Furt-

wängler und Wirtinger sowie der Emi-

gration von Karl Menger bedeutete das

einen fatalen Aderlass. Nach dem so ge-

nannten Anschluss hatte das Wiener

mathematische Institut mit den Ordi-

narien Anton Huber (1897–1975) und

Karl Mayrhofer (1894–1969) keine

Chance, das frühere wissenschaftliche

Niveau zu halten. Nach dem Krieg aber

wurden die beiden nunmehr frei ge-

wordenen Stellen durch hervorragende

Mathematiker wiederbesetzt, nämlich

durch Johann Radon, der seine Wir-

kungsstätte in Breslau hatte verlassen

müssen, und den jungen Wiener Ed-

mund Hlwaka (1919–2009), der wäh-

rend des Krieges hatte aufhorchen

lassen, als er eine fundamentale zahlen-

geometrische Vermutung von Minkows-

ki bewies. Dennoch dauerte es lange,

ehe die österreichische Mathematik in-

ternational wieder wahrgenommen wur-

de. Heute ist die mathematische Szene

in Österreich wieder höchst lebendig

und produktiv: doch das soll in einem

anderen Teil dieser Broschüre be-

schrieben werden.

Mathematik ist überall

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Österreichische Beiträge zur Mathematik

Schreier (1901–1928) nach Hamburg,

wo dieser grundlegende Sätze zur

Gruppentheorie entdeckte und (ge-

meinsam mit Artin) viel zur Entwicklung

der modernen Algebra beitrug.

Mathematisches Kolloquium Ein besonders brillanter Kopf am Wiener

mathematischen Seminar war der junge

Karl Menger (1904–1985), der Sohn

des Schöpfers der österreichischen

Schule der Nationalökonomie. Karl

Menger verfasste bereits als Student

entscheidende Beiträge zur Kurven-

und Dimensionstheorie und wurde,

knapp fünfundzwanzig, zum außer-

ordentlichen Professor für Geometrie an

der Wiener Universität ernannt. Trotz

oder vielmehr wohl eben wegen seiner

Jugend scharten sich einige der begab-

testen Studenten um ihn, in einer Grup-

pe, die sich als ‚Wiener Mathematisches

Kolloquium’ rasch neben dem Wiener

Kreis etablierte. Hierzu zählten Olga

Taussky (1906–1995) (die später als

Taussky-Todd am Caltech in Pasadena

eine der weltweit bekanntesten Mathe-

matikerinnen wurde) und Franz Alt

(geb. 1908), der durch eine kurze Arbeit

zur Messbarkeit der Nutzenfunktion

und durch seine Pionierrolle bei der Ent-

wicklung des Computers bekannt wurde.

Noch bemerkenswerter war der Ru-

mäne Abraham Wald (1902–1950) der

sich bald von Menger emanzipierte und

Entscheidendes leistete, sowohl in der

Wirtschaftstheorie, die ihm den ersten

seriösen Gleichgewichtssatz verdankt,

als auch für die Grundlegung der Wahr-

scheinlichkeitsrechnung mit Hilfe des

Begriffs der Zufallsfolge. Wald wurde,

nach seiner Emigration in die USA, in

kurzer Zeit zu einem der Begründer der

modernen Theorie der mathematischen

Statistik.

Bedeutsam in diesem Zusammenhang

ist auch der Wirtschaftswissenschaftler

Oskar Morgenstern (1902–1977), der

zwar selbst kein Mathematiker war, aber

der bereits in Wien, angeregt durch Karl

Menger, ökonomische Überlegungen

anstellte die er dann gemeinsam mit

John von Neumann zur Spieltheorie aus-

baute.

Gödels UnvollständigkeitssatzDer bedeutsamste Beitrag zur Mathe-

matik, der in Österreich geschaffen

wurde, ist aber zweifellos Kurt Gödel

(1906–1978) zu verdanken, der (im

Rahmen seiner Dissertation bei Hahn)

die Vollständigkeit der Logik erster Ord-

nung bewies und gleich anschließend

1930 seinen berühmten Unvollständig-

keitssatz entdeckte. Jede widerspruchs-

freie formale Theorie, die reichhaltig

genug ist, um das Zählen, Addieren und

Multiplizieren mit den natürlichen Zah-

len zu erlauben, enthält Aussagen, die

formal (im Rahmen des Systems) nicht

bewiesen werden können – und die Wi-

derspruchsfreiheit selbst gehört zu die-

sen Aussagen. Dadurch wurde es klar,

dass das berühmte Programm von

Hilbert zur Begründung der Konsistenz

der Mathematik nicht durchgeführt

werden kann. Wenige Jahr später zeigte

Gödel, dass die Kontinuumshypothese

nicht im Widerspruch steht zu den

übrigen Axiomen der Mengenlehre. Sein

Mathematik ist überall

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Kurt Gödel (1906-1978)

Karl Menger(1904–1985)

Olga Taussky(1906–1995)

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Die Gröbner-Basen und die Steuerung von Bohrtürmen

Gröbner-Basen: Worum geht es da? Können Siedas

uns – als mathematische Laien – erklären?

Buchberger: Die meisten interessanten Objekte

und Prozesse in der Natur und Technik sind „nicht-

linear“: Eine Zelle hat fast nirgends einen „ebenen

(linearen)“ Bereich, eine Kühlerhaube ist vielfältig

„gekrümmt (nicht-linear)“, die Strömungen um

eine Tragfläche sind z.T. wirbelförmig, nicht linear.

Die mathematischen Beschreibungen solcher

nicht-linearer Objekte und Prozesse nennt man

„Polynome“ (das heißt: „viele Glieder“). Die nicht-

linearen Gebilde und Prozesse in der Natur und

Technik brauchen zu ihrer Beschreibung meist

viele Polynome mit hohen Graden und vielen Varia-

blen.

Solche nicht-lineare mathematische Beschrei-

bungen durch Polynome sind schwer beherrsch-

bar, d.h. für eine solche Beschreibung ist es

schwierig, alle „interessanten“ Stellen des be-

schriebenen Gebildes oder die Zerlegung dieser

Gebilde in ihre nicht weiter reduzierbaren Be-

standteile zu finden. Deshalb hat man sich lange

Zeit in der Mathematik damit beholfen, dass man

die nicht-linearen Gebilde und Prozesse durch

lineare Näherungen ersetzt hat, wobei natürlich

Fehler entstehen, die man dadurch „so klein wie

gewünscht“ machen kann, dass man dann die

linearen Lösungsverfahren „iteriert“. Es bleibt aber

immer ein Fehler. Bei vielen technischen Pro-

blemen (z.B. einem Lotsensystem) ist heute aber

absolute Sicherheit von entscheidender

Bedeutung.

Mein Algorithmus erlaubt es nun, beliebige

Mengen von Polynomen, ganz gleich von wievielen

„Variablen“ sie abhängen und wie „hochgradig

nicht-linear“ sie sind, auf eine Standard-Form (die

ich „Gröbner-Basis-Form“ genannt habe) zu

bringen, aus der man viele fundamentale Ei-

genschaften der nicht-linearen Gebilde leicht und

hundertprozentig exakt ablesen kann.

Der Buchberger-Algorithmus ist heute der am

meisten genutzte, fundamentale Algorithmus der

Computer-Algebra. Und er findet tausendfach An-

wendung in der industriellen Praxis. Eine davon ist

die Optimierung der Steuerung von Ventilen auf Öl-

plattformen. Können Sie uns das erklären?

Buchberger: Es werden auch heute noch immer

neue Anwendungen der Objekte (Poly-

nommengen), die ich Gröbner-Basen genannt

habe, gefunden. Die meisten dieser Anwendungen

sind auch für mich überraschend. Zum Beispiel

werden seit Kurzem Gröbner-Basen eingesetzt –

von der Firma Shell nach Vorschlägen von Pro-

fessor Lorenzo Robbiano, Universität Genua –, um

die Ventile auf Ölbohrinseln zu steuern. Das ge-

schieht in einem Zwei-Stufen-Prozess. In der

ersten Stufe, der Lernphase, lernt das System aus

zahlreichen konkreten Ventileinstellungen und zu-

gehörigen Messungen des Ölflusses die „Gröbner-

Basis“, die das unbekannte Gelände der Ölka-

vernen unter dem Meeresboden nicht geo-

metrisch, sondern seinem Verhalten als Öltank

nach beschreibt. Dieses Lernen ist mit einer Va-

riante meines Algorithmus zur Bestimmung von

Gröbner-Basen möglich. In der zweiten Phase

kann man dann eine der günstigen Eigenschaften

der nunmehr bekannten Gröbner-Basis nutzen,

um für ein gewünschtes Verhalten des Ölflusses

die Ventile zweckentsprechend zu steuern.

Mathematik ist überall

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Die Gröbner-Basen und die Steuerung von Bohrtürmen

Ein Algorithmus macht unsere nicht-lineare Welt mathematisch exakt beschreibbar

EIN GESPRÄCH MIT BRUNO BUCHBERGER,

Ihr Lebenswerk widerspiegelt ein stetiges Wandern

zwischen Theorie und Praxis – als mathematischer

Forscher und als Manager, etwa im Softwarepark

Hagenberg, den Sie gegründet haben. Wie sehen

Sie denn das Verhältnis von Theorie und Praxis in

der Wissenschaft und wie finden Sie die Brücke

zwischen den beiden Polen?

Buchberger: Es geht darum, die Spannung

zwischen Grundlagenforschung auf der einen Seite

und Wirtschaft auf der anderen Seite voll aus-

zuleben, in beide Richtungen so weit möglich zur

vollsten Blüte zu bringen. Das braucht – und er-

zeugt – die höchste Kreativität, zeitigt die größten

Wirkungen und belebt alle Ebenen zwischen den

Spannungspolen.

Begonnen hat alles aber ganz theoretisch und abs-

trakt in den 1960er Jahren mit den Gröbner-Basen

– benannt nach Ihrem Lehrer Wolfgang Gröbner –

und dem Buchberger-Algorithmus. Das hat Ihren

Ruf begründet. Wie kam es denn dazu? Wie fanden

Sie zu diesem Forschungsfeld?

Buchberger: Wie vieles im Leben, war es ein glück-

licher Zufall, dass ich auf der Suche nach einem

Dissertationsthema von meinem damaligen

„Hauptprofessor“ (dem Professor, bei dem ich die

meisten Vorlesungen gehört hatte) ein Problem be-

kommen habe, das sich nachträglich als Gold-

grube erwiesen hat.

Mein Studium war natürlich im Kern traditionelle

Mathematik. Glücklicherweise aber war das Dis-

sertationsthema, das mir Gröbner 1964 gab, ein

Thema (gegen den Trend der damaligen Zeit), das

nach einer „algorithmischen“ (d.h. computer-aus-

führbaren) Lösung eines Problems der abstrakten

Algebra fragte. So kamen die drei Ingredienzien –

Mathematik, Informatik, Logik – meiner späteren

ständig wachsenden beruflichen Begeisterung

damals schon zusammen.

Und glücklicherweise sagte er mir nicht, dass er für

das Problem selbst schon 25 Jahre nach einer

Lösung gesucht hatte. Ich habe die Bedeutung des

Problems damals als Student mit 22 Jahren nicht

erkannt, während Gröbner damals gegen Ende

seiner aktiven Karriere wohl sehr genau wusste,

dass es sich hier um ein zentrales Problem der

„Theorie der Polynomideale“ („Algebraische Geo-

metrie“) handelte. Ich habe erst später, als meine

Lösung des Problems überall bekannt und an-

erkannt wurde, verstanden, dass mir Gröbner mit

diesem Problem ein großes „Geschenk“ gemacht

hatte.

Mathematik ist überall

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PortraitUniv.-Prof. Bruno Buchbergerist emeritierter Professor für Computer-Mathema-tik in Linz, Gründer des Research Institute forSymbolic Computation (RISC) und Leiter desSoftwareparks Hagenberg. Nach Studium, Promo-tion und Habilitation im Fach Mathematik inInnsbruck wurde er 1974 an die Johannes KeplerUniversität Linz berufen. 1987 baute er an derUni Linz das RISC auf. Mit diesem übersiedelteBuchberger 1989 nach Hagenberg, womit er denSoftwarepark Hagenberg initiierte, dessen Aufbauund Ausbau er als Leiter seither betreibt. Buch-bergers wissenschaftliche Reputation gründetsich vor allem auf die von ihm begründete Theorieder Gröbner-Basen, mit welcher zahlreiche grund-legende Probleme der algebraischen Geometrieim Computer gelöst werden konnten. Buchbergerist Mitglied der Academia Europea in London.

Die ma-thematische Be-

schreibung nicht-linerarer Gebilde

– solche sind auchÖlkavernen unter

dem Meeres-boden – er-

möglicht dieoptimale

Steuerung vonVentilen auf

Ölplattformen.

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Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

tastrophen, zu erkennen. Das ist ein Relikt des

Überlebenstriebes unserer Vorfahren. Eine

Singularität auflösen heißt, ihren Ursprung zu ver-

stehen, ihr Wesen zu erfassen. Und nachdem

unsere Welt nur so wimmelt von Singularitäten,

wird das langfristig auch Anwendungen haben.

Aber das steht nicht im Zentrum. Der Hauptantrieb

des Mathematikers ist die Neugierde, das Ver-

stehen wollen, die geistige Herausforderung —

und auch die Schönheit der mathematischen

Struktur und Theorie.

Sie sprechen davon, dass die Welt von Singu-

laritäten wimmelt. Einem mathematisch nicht ge-

schulten Blick entgeht dies freilich. Wo überall

treffen Sie denn auf Singularitäten?

Hauser: Singularitäten (in unserem Sinn) treten

auf, wenn geometrische Formen oder physika-

lische Prozesse durch algebraische Gleichungen,

also durch ganz präzise und relativ einfache

Formeln, gegeben sind, und zudem die Form in

diesen Punkten nicht glatt ist. Das sich in einer Tee-

tasse spiegelnde Sonnenlicht bildet eine Brennlinie

(Kaustik), entlang derer sich die reflektierten

Strahlen überlagern und bündeln. Diese Kurve, die

jeder von uns zumindest unbewusst schon einmal

gesehen hat, besitzt eine Spitze, in der sie eben

singulär ist. Ähnlich verhält es sich mit Wellen-

fronten: Der Torschrei im Oval des Fußballstadions

breitet sich aus, wie ein Schwimmreifen, der sich

rasend schnell aufbläst. Nach wenigen Augenbli-

cken schließt sich dieser Schwimmreifen genau in

der Mitte beim Anstoßpunkt, und bildet dort eine

Singularität. Das sind nur zwei anschauliche Bei-

spiele, die Liste könnte lange fortgesetzt werden.

Die Forschung zu Singularitäten basiert auf der

Verknüpfung von Algebra und Geometrie: Poly-

nomiale Gleichungen setzen sich um in geo-

metrische Gebilde, das heißt sie finden eine äs-

thetische Repräsentation. Sie haben sich auf

diesem Weg auch intensiv mit der Visualisierung

von Mathematik beschäftigt. Hilft Ihnen die

Visualisierung dabei, die Mathematik anderen zu

vermitteln? Oder gibt es auch für Sie in der

Umsetzung in Bildwelten einen Mehrwert der

Erkenntnis?

Hauser: Die Darstellung unserer abstrakt ma-

thematischen Konstrukte durch Bilder und

Visualisierungen hat mehrere Aspekte und Vorteile:

Durch die unmittelbare Betrachtung, durch das

Erleben von Geometrie, wird das Gehirn angeregt,

neue Fragen zu stellen, neue Phänomene zu be-

obachten und zu hinterfragen. Das bringt eine Aus-

weitung der Forschungsperspektive. Das ma-

thematische Denken ist ja nicht rein deduktiv,

sondern von vielen und teilweise unbewussten Me-

chanismen gesteuert. Und ein Bild kann da schon

eine starke Katalysatorwirkung haben. Zum

anderen kann man durch ein Bild ohne viele Worte

Sachverhalte vermitteln, die verbal langwierige Er-

klärungen bräuchten. Das betrifft die Kom-

munikation mit Mathematikern gleichermaßen wie

die mit Laien. Und schließlich ist es erfreulich,

wenn man sieht, wie die Begeisterung auf die Be-

trachter überspringt.

Mathematik ist überall

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Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der MathematikIn Bildwelten übersetzte Polynomgleichungen eröffnen den Blick auf mathematische Strukturen

EIN GESPRÄCH MIT HERWIG HAUSER

Herr Professor Hauser, Sie haben Ihre wissen-

schaftliche Karriere der Beschäftigung mit „Singu-

laritäten“ gewidmet, einem Phänomen der algebra-

ischen Geometrie. Sie haben dieses Phänomen

einmal als „mathematische Katastrophe“ cha-

rakterisiert: als Störung in einem glatten Ablauf.

Geometrisch zeigen sich Singularitäten dort, wo

glatte Formen durch einen Knick, eine Kante oder

eine Spitze unterbrochen werden. Die Mathematik

beschäftigt sich seit Jahrzehnten damit, Singu-

laritäten aufzulösen. Wie können wir uns als ma-

thematische Laien die Auflösung von Singularitäten

– also die Behebung von mathematischen Ka-

tastrophen – vorstellen?

Hauser: Lassen Sie mich mit einem bildhaften Ver-

gleich die Frage beantworten. Nehmen Sie einen

Wollknäuel, der heillos durcheinander gekommen

ist (noch besser ist ein Knäuel, bei dem der Faden

eine Schleife bildet, es also keinen Anfang und

Ende gibt, bei denen man beginnen könnte).

Ziehen und Zerren bringt nichts. Sie müssen den

Knäuel schrittweise lockern und ihn ganz behutsam

auflösen. Das ist schon mal ein ordentliches

Geduldspiel. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie müssen

einen kleinen Roboter programmieren, der fähig

ist, den Wollknäuel alleine aufzulösen. Eine nahezu

unlösbare Aufgabe. Ähnlich ist es mit der Auflösung

der Singularitäten einer algebraischen Varietät.

Die Idee ist nun, das Problem in tausende kleine

Schritte zu zerlegen, wobei jeder Schritt eine

Option aus einer genau spezifizierten Menge von

„Zügen“ stammt. Etwa: Durchfädeln, Schleife aus-

fädeln, Knoten lösen, Verdrillung rückgängig

machen. Dann müssen Sie dem Computer nur

noch sagen, in welcher Situation er welchen Zug

machen soll. Wenn Sie dann noch dazu zeigen

können, dass mit jedem Zug die Verknotung des

Knäuels geringer wird, haben Sie gewonnen. In

endlich vielen Schritten ist der Knäuel aufgelöst.

Welche Bedeutung hat die „Behebung von ma-

thematischen Katastrophen“ für die Anwendungs-

praxis der Mathematik?

Hauser: Es ist ein menschliches Bedürfnis, die Ur-

sache von Problemen, oder, wenn Sie wollen, Ka-

Mathematik ist überall

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PortraitUniv.-Prof. Herwig Hauser.ist Vertragsprofessor an der Fakultät für Mathe-matik der Universität Wien. Der Fokus seiner For-schungsarbeit liegt auf der algebraischen Geome-trie und insbesondere auf der Theorie der Singu-laritäten. Internationales Resümee erlangte Hau-ser mit seiner Forschungsgruppe an der Univer-sität in Innsbruck durch die radikale Vereinfa-chung des Hironaka Theorems zur Auflösung vonSingularitäten, eines der bis dahin komplizierte-sten Beweise in der algebraischen Geometrie.Hauser beschäftigt sich auch mit der Visualisie-rung von Singularitäten in geometrischen Figuren,so etwa in der Ausstellung Imaginary im Rahmendes Jahres der Mathematik in Deutschland, die ermitinitiierte und dann auch nach Österreichbrachte.

Singularitätensind Störungen in

einem glatten Ablauf. Ihre

Umsetzung inBildwelten er-

schließt dieSchönheit ma-

thematischerStruktur und

Theorie.

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Page 16: Mathematik ist überall - Zentraler Informatikdiensthomepage.univie.ac.at/herwig.hauser/Pressespiegel/interview... · Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

Vernetzen und Verstärken: Mathematik als Motor der Wissenschaft

Dabei sind einige Gebiete der Ma-

thematik in der Lage, sehr viel für An-

wendungen zu leisten. Natürlich sind

die Differentialgleichungen in der Physik

und den Ingenieurwissenschaften und

auch in der Finanzmathematik unver-

zichtbar. Ebenso spielt die diskrete Ma-

thematik in vielen Anwendungen eine

wichtige Rolle – bis hin zur Regelung

des Straßenverkehrs. Es ist kein Zufall,

dass die bisherigen Wittgensteinpreise

in der Mathematik (übrigens alle drei an

der Fakultät für Mathematik der Univer-

sität Wien) in die Gebiete Differerenzial-

gleichungen (Markowich und Schacher-

mayer) und Diskrete Mathematik (Krat-

tenthaler) gingen. Auch in Berlin wird

das große DFG Forschungszentrum

„Mathematik für Schlüsseltechnologien:

Modellierung, Simulation und Opti-

mierung realer Prozesse“ (MATHEON)

ganz wesentlich von starken Leuten auf

diesen Gebieten der Mathematik ge-

tragen.

Gemeinsamer NennerDie mathematische Modellierung kom-

biniert mit numerischer Simulation wird

immer mehr zum gemeinsamen Nenner

von „interdisziplinärer“ Forschung in

Mathematik, Physik, Biologie bis hin zu

den Finanz- und Wirtschaftswissen-

schaften. Wer etwas „ausrechnen will“,

wer eine Computersimulation machen

will, der ist gezwungen, eine klare Mo-

dellierung in mathematischen Begriffen

und Gleichungen zu machen – was der

„Elchtest“ sein kann, in dem Schwä-

chen und Mängel eines vorher nur ver-

bal und „schwammig“ formulierten

Modells offensichtlich werden. Solche

mathematischen Modelle können dann

im Computer simuliert werden, wobei

das Erstellen effizienter Programme und

die tatsächliche Durchführung an mo-

dernen Parallelrechnern („Supercom-

putern“) eine Kunst für sich ist.

Die Mathematik soll dabei vor allem das

Aufstellen der Modellgleichungen und

die Simulation als Service für andere

Wissenschaftsdisziplinen liefern, wobei

dabei die Mathematik zum integralen

Teil der Disziplin werden kann und so

die Entwicklung von innen vorantreiben

kann. Das ist eine Kernaufgabe der

angewandten Mathematik, die vom

hohen Ross der Selbstbeweihräu-

cherung als „Königsdisziplin“ herunter-

steigt und sich redlich bemüht, ein An-

wender-Problem wirklich zu lösen und

nicht nur „schöne reine“ Mathematik als

mathematische Physik oder Bioma-

thematik verkaufen zu wollen. Das ist

ein Paradigmenwechsel, den die öster-

reichische Mathematik noch nicht über-

all vollzogen hat, wo Angewandte Ma-

thematik nach wie vor als „unreine – un-

echte“ Mathematik abgewertet wird und

das „wissenschaftliche Rechnen“ nicht

als wesentliches Teilgebiet der Ma-

thematik gesehen wird.

Vorbild FrankreichIn Österreich sind die Angewandte und

die Computer-Mathematik daher im in-

ternationalen Vergleich noch deutlich

unterentwickelt. Vorbildlich ist die Situ-

ation in Frankreich, wo es an den Unis

etwa gleich viele Stellen in Angewandter

Mathematik („Section 26“) gibt wie in

Reiner Mathematik („Section 25“), ein

Verhältnis, von dem Österreich noch

sehr weit weg ist. Das war auch möglich,

weil es in Frankreich üblicherweise

keine „Lehrstuhl-Nachfolger“ gibt und

das Profil von Professuren nach Frei-

werden prinzipiell neu diskutiert wird.

Mathematik ist überall

31

anal

yse

Vernetzen und Verstärken:Mathematik als Motor der Wissenschaft VON NORBERT J . MAUSER

Die Physik ist dabei historisch und

inhaltlich jene Wissenschaft, die am

engsten mit der Mathematik verwoben

war und ist, in Personalunion von

Leuten wie etwa. Newton oder Einstein.

Nach dem Motto: „Am Anfang war die

Gleichung“ sind sowohl im Kleinsten, in

der Teilchenphysik, als auch im

Größten, in der Kosmologie, viele der

wesentlichen aktuellen Fragen ei-

gentlich mathematische Probleme. Hier

geht es oft um „reine“ Mathematik, etwa

um Gruppentheorie, wenn die Ele-

mentarteilchen nach Symmetriegrup-

pen eingeteilt werden. Oder um Analysis

der Existenz und Eindeutigkeit von Lö-

sungen von partiellen Differentialglei-

chungen: Wenn zum Beispiel die Ein-

steingleichung, mit welcher die Raum-

Zeit-Welt in der allgemeinen Relativitäts-

theorie beschrieben wird, nach end-

licher Zeit Lösungen haben kann, die

unendlich groß werden, also „Singu-

laritäten“ entwickelt, dann geht es um

die Existenz von „schwarzen Löchern“.

Allerdings sind die vollständigen exakten

Antworten auf solche „innermathema-

tische“ Fragestellungen nur selten für

die Anwendung wirklich wichtig. Meist

ist die verwendete Gleichung ohnehin

nur ein grobes Modell, welches zu weit

von der Realität weg ist, sobald die ma-

thematischen Feinheiten interessant

werden.

Daher erscheint es aus der Sicht der

anderen Wissenschaften ein bisschen

schade, dass so viele Mathemati-

kerInnen mit enormem Aufwand Un-

mengen an theoretischen Arbeiten bis

hin zu den renommiertesten mathe-

matischen Zeitschriften publizieren, als

innermathematische „Kunst der Kunst

wegen“, am Bedarf der Anwendungen

vorbei. Ein zunehmender Teil dieses Po-

tenzials, schon bei DoktorandInnen,

könnte und sollte in mathematisch

genauso harte und schöne Probleme

der Modellierung und Simulation in-

vestiert werden. Manche Mathemati-

kerInnen stellen gar nicht wirklich die

Frage, warum sie eine bestimmte Glei-

chung bearbeiten – weil das Problem

traditionell bekannt ist, weil der Doktor-

vater das Problem gestellt hat, weil ein

berühmter Mathematiker an dieser

Gleichung publiziert (hat), gibt es einen

Wettlauf im Knacken offener harte

Nüsse an dieser Gleichung, die – unter

dem Gesichtspunkt des wissenschaft-

lichen Werts – manchmal taub sind.

Bessere, neue GleichungenDie Suche nach besseren, neuen

Gleichungen, gekoppelt mit der zuneh-

menden Möglichkeit, die Lösungen der

Gleichungen im Computer auszurech-

nen, ist ein starker Motor für fast alle

Naturwissenschaften und darüber hin-

aus. So ist etwa die Anwendung der

Evolutionstheorie auf Phänomene wie

Sprache oder in der Wirtschaft ein

wesentlicher neuer Beitrag zur Entwick-

lung von Disziplinen, die am ersten Blick

weit weg von Mathematik scheinen.

Mathematik ist überall

30

anal

yse

Die Mathematik hat von jeher eine zentrale Stellung in der Wissenschaft, der Grad der

Mathematisierbarkeit ist eines der Kriterien für den Grad der Wissenschaftlichkeit an

sich. Die Sprache der Mathematik ist ebenso universell wie präzise, eine in wohl de-

finierten mathematischen Symbolen formulierte Formel ist die klarste Art von Definition

in allen Disziplinen.

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Vernetzen und Verstärken: Mathematik als Motor der Wissenschaft

ernsthaft zu fördern und vielleicht mittel-

fristig etwas auf die Beine zu stellen –

etwa wie in Heidelberg, wo die Mathe-

matik ausgehend von der „Angewand-

ten Analysis“ der Motor war für den

großen Erfolg der Entwicklung des Inter-

disziplinären Zentrums für Wissen-

schaftlichen Rechnens (IWR). Am IWR

arbeiten Uni-Institute quer über Fakul-

täten und Max Planck Institute in einer

dynamischen Netzwerkonstruktion vie-

ler wissenschaftlicher Gebiete zusam-

men. Mitbestimmung ist dort nicht an

hierarchische Machtfaktoren wie De-

kanswürde oder Lehrstuhl gebunden,

sondern nur an international anerkannte

wissenschaftliche Leistung.

Effizientes ModellDas Wolfgang Pauli Institut“ (WPI)

realisiert ein sehr effizientes Modell zu

Stärkung und Förderung interdiszipli-

närer Zusammenarbeit ausgehend von

mathematischer Modellierung und Com-

putersimulation. In dynamischer Weise

werden international ausgewiesene

ForscherInnen in Mathematik, Computer

Science, Physik, Materialwissenschaften,

Biologie zueinander in dauernden Kon-

takt gebracht. Bei den „thematic pro-

grams“ müssen prinzipiell mehrere

Gruppen quer über Unis und Fach-

gebiete gemeinsam ein internationales

Einladungsprogramm organisieren. Es

entstehen durch das WPI laufend neue

wissenschaftliche Kooperationen und

neue Drittmittelprojekte, die etwa von der

EU oder vom WWTF finanziert werden.

Das Konzept des WPI wird international

als best practice gesehen, der fran-

zösische CNRS hat an das WPI sogar ein

„Auslandsinstitut“ angekoppelt, um fran-

zösischen WissenschafterInnen längere

Aufenthalte in Wien zu finanzieren.

Dabei spielt auch der Ausbildungs-

aspekt eine große Rolle: Mathematik-

DissertantInnen müssen gezielt lernen,

über das eigene Gebiet hinaus zu kom-

munizieren und kooperieren. Das geht

über ein paar nebenbei belegte Ein-

führungsvorlesungen in Anwendungs-

gebieten weit hinaus und setzt vor allem

eine Mentalität voraus, die leider in der

Mathematik noch nicht die Regel ist. Die

EU fördert solche Pionierarbeit etwa mit

dem am WPI koordinierten Marie Curie

Early Stage Training Multi Site „Dif-

ferential equations and applications in

science and engineering“, wo Dokto-

ratsschulen in mehreren europäischen

Ländern gemeinsam die Anwendungen

in Biologie und Physik parallel in die

Ausbildung aufnehmen.

In Wien spielt der WWTF eine wichtige

Rolle, welcher mit den „Mathematik und

...“ calls komplementär zum FWF genau

das richtige macht: gezielt die Zu-

sammenarbeit von Mathematikern mit

Anwendungswissenschaften durch

größere Projekte fördern. Der Andrang

zu den Ausschreibungen zeigt, dass hier

ein echter Bedarf ist.

Leider kann der WWTF mit seinen relativ

bescheidenen Mitteln nur etwa die

Hälfte der eingereichten exzellenten

Projekte finanzieren. Ebenso fehlen

dem FWF nun die Mittel für die überfäl-

lige Exzellenzinitiative, wo genau die

Angewandte Mathematik eines der po-

tenziellen Gebiete ist.

Deutschland sollte nicht nur bei Ver-

schrottungsprämien als Vorbild dienen,

sondern auch mit der Finanzierung von

Zentren wie MATHEON und der Ex-

zellenzinitiative!

Mathematik ist überall

33

anal

yse

Vernetzen und Verstärken: Mathematik als Motor der Wissenschaft

Dazu kommen in Frankreich noch viele

Stellen in Angewandter- und Computer-

Mathematik bei Organisationen wie der

INRIA und der Atomenergiekommission

sowie im Verteidigungsministerium und

in der Industrie, welche sehr for-

schungsorientiert ist.

Auch in Großbritannien und den USA ist

die Angewandte Mathematik hochent-

wickelt.

Vor allem sind in diesen Ländern durch-

lässige Karrierepfade möglich und üb-

lich, wo zwischen Universität und In-

dustrie-Wirtschaft gependelt wird, was

auch MathematikerInnen tun.

Im österreichischen Vergleich ist die

Angewandte Mathematik in Graz be-

sonders weit entwickelt. In den ver-

gangenen Jahren ist eine sehr gute sy-

nergetische Kooperation zwischen Uni-

versität und TU ins Laufen gekommen,

bis hin zu gemeinsamen Studien. Bei

FWF Projekten ist Graz sehr gut po-

sitioniert, es gibt sowohl „Doktorats-

kollegs“ als auch „Sonderforschungs-

bereiche“. Bei der – derzeit leider nur

hypothetischen – Konkurrenz um FWF

Exzellenzcluster wäre Graz damit bereits

einen Schritt vor Wien.

Hochburg LinzLinz ist die Hochburg der österrei-

chischen Industriemathematik, die im

Wesentlichen von Heinz Engl gegründet

und in die Weltklasse gebracht wurde.

Ihm ist es auch zu verdanken, dass von

der Österreichischen Akademie der

Wissenschaften – mit bedeutender Zu-

satzförderung vom Land Oberösterreich

– in Linz ein großes Institut für Ange-

wandte und Computer-Mathematik ge-

gründet wurde, das „Johann Radon In-

stitut“ RICAM. Die kritische Größe er-

reicht das RICAM durch die Einbe-

ziehung von Gruppenleitern in Graz und

Wien, wo es derzeit gerade auch einen

zweiten Standort mit Schwerpunkt „Bio-

mathematik“ einrichtet.

Ebenfalls in Linz hat Bruno Buchberger

den Softwarepark Hagenberg zu Weltruf

gebracht, wo an der Schnittstelle der

Mathematik mit der Computer Science

(„Informatik“) ein Paradebeispiel ent-

standen ist, wie theoretische Mathe-

matik (die „Gröbner Basen“) der Motor

für die stürmische Entwicklung einer

Anwenderwissenschaft wurde.

In Wien ist die „Computational Mathe-

matics“ im internationalen Vergleich

noch unterentwickelt, so wie die gesamte

Computational Science, mit Ausnahme

einiger sehr starker Gruppen in Computa-

tional Material Science/Computational

Quantum Physics, welche leider in der

Mathematik in Wien kaum Ansprech-

partner finden. Die Gründe für die

eklatante personelle Unterbesetzung der

Angewandten Mathematik in Österreich

und speziell in Wien sind vielfältig und

gehen unter anderem auf die Dominanz

der „reinen“ Mathematik in den 1960er

bis 1980er Jahren zurück, wo interna-

tional die Angewandte und Computer-

Mathematik massiv gefördert und aus-

gebaut wurde.

Spitze und BreiteDerzeit macht die TU Wien „Computa-

tional Science and Engineering“ zu

einem ihrer fünf künftigen universitären

Forschungsschwerpunkte. Sie ist im

Vergleich etwa zur TU Berlin, wo es rund

vier Mal so viele einschlägige Lehrstühle

und Juniorprofessuren gibt, noch weit

von internationaler Spitze und der nö-

tigen Breite entfernt. Ähnliches gilt für

die Universität Wien, die nun endlich

beginnt, den universitären Forschungs-

schwerpunkt „Computational Sciences“

Mathematik ist überall

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Page 18: Mathematik ist überall - Zentraler Informatikdiensthomepage.univie.ac.at/herwig.hauser/Pressespiegel/interview... · Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

Mathematik ist überall

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Spieltheorie und die Begründung von kooperativem Verhalten

Ausgangspunkt der Spieltheorie sind Verhaltens-

weisen von Individuen. Gearbeitet wird darin aber

mit mathematischen Modellen und Simulationen.

Wie kommt man von dem einen zum anderen?

Welche wissenschaftliche Arbeit steckt da da-

hinter?

Sigmund: Die wichtigste Aufgabe hier ist die

Modellierung. Wir gehen aus von einem all-

gemeinen, sehr komplexen Vorgang, den wir oft in-

stinktiv durchschauen, ohne uns klar zu sein, was

jetzt die Kräfte im Hintergrund sind, und versuchen

ihn so stark zu vereinfachen, dass wir ma-

thematische Modelle darauf anwenden können.

Dann kommt der Mathematiker zum Zug, der kann

dann etwas berechnen unter der Annahme, dass

das Modell stimmt, und daraus eine Vorhersage

machen. Dann wird das getestet im Experiment.

Das ist das Schöne an der Entwicklung der Spiel-

theorie in den vergangenen 20 Jahren, das es so

ein Geben und Nehmen gibt zwischen Experiment

und mathematischen Modellen. Da muss man

einen Dialog zwischen den Disziplinen suchen,

und der ist gerade jetzt in diesem Gebiet besonders

intensiv.

Das heißt, als Mathematiker in der Spieltheorie

muss man immer die Mathematik als auch die

jeweils andere Disziplin – Biologie, Ökonomie –

beherrschen?

Sigmund: Beherrschen, nein, das würde ich nicht

sagen, aber man muss offen sein. Ich beherrsche

nicht die experimentelle Psychologie, aber ich

muss doch auf dem Laufenden bleiben. Ich lese

ein oder zwei Arbeiten darüber jede Woche. und

halte mit einigen Wirtschaftspsychologen regel-

mäßig Kontakt.

Nehmen wir als Beispiel eine Ihrer Arbeiten mit

dem Titel „Via Freedom to Coercion: The Emer-

gence of Costly Punishment“. Dabei ging es um die

Frage, wie das Prinzip der Freiwilligkeit koope-

ratives Verhalten in Systemen stützt und damit Ord-

nung schafft. Können Sie uns an diesem Beispiel

spieltheoretische Forschung illustrieren?

Sigmund: An einem gemeinsamen Unternehmen

profitiert jeder, der beteiligt ist. Aber es gibt auch

Trittbrettfahrer, die Ausbeuter sind und selbst

nichts dazu beitragen. Die profitieren mehr, sie

kriegen mehr raus. Sie werden daher eher imitiert

und werden häufiger. Da stellt sich jetzt heraus:

Wenn man den Leuten auch erlaubt, sich an dem

Unternehmen nicht zu beteiligen, das

Unternehmen also auf Freiwilligkeit aufbaut, wird

die Anzahl der Ausbeuter niedrig gehalten. Diese

können sich nie ganz durchsetzen. Das ist der

erste Schritt. Der zweite hat uns dann selbst sehr

überrascht: Wenn man jetzt noch zusätzlich die

Möglichkeit voraussetzt, dass die Leute die Aus-

beuter bestrafen können, dann ergibt sich eine er-

staunliche Wechselwirkung aus der Sanktionie-

rungsmöglichkeit gegenüber den Ausbeutern und

dem Prinzip der Freiwilligkeit der Teilnahme. Das

Resultat ist ein sehr fruchtbares Organisations-

modell für Unternehmungen, an denen die Leute

freiwillig teilnehmen und auch freiwillig die Mühen

und Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, die

Ausbeuter tatsächlich zu bestrafen. Das ist so

etwas wie ein Sozialkontrakt, im denkbar ein-

fachsten mathematischen Modell. Das war für uns

ein überraschender Durchbruch.

Der Sozialkontrakt im mathematischen Modell

Spieltheorie als Basisinstrument vieler Disziplinen: von der Ökonomie bis zur Evolutionsbiologie

EIN GESPRÄCH MIT KARL SIGMUND

Herr Professor Sigmund, Sie stehen mit Ihren Ar-

beiten in einer reichen Forschungstradition austro-

ungarischen Ursprungs, die sich mit der Spiel-

theorie befasst. Die Spieltheorie hat seit ihrer

Grundlegung durch John von Neumann in den

1930er Jahren eine zentrale Stelle in der ma-

thematischen Forschung erobert. Ihre Anwendung

findet sie aber weit über die Mathematik hinaus in

vielen Disziplinen – von den Biowissenschaften bis

zur Ökonomik: Immerhin acht wirtschaftswissen-

schaftliche Nobelpreise sind mit der Spieltheorie

unmittelbar verbunden. Was macht die Fruchtbar-

keit der Spieltheorie aus?

Sigmund: Die Spieltheorie hat einen langsamen

Start gehabt. Es hat schon Vorläufer gegeben, aber

der Geburtsakt war das dicke Buch „Theory of

Games and Economic Behaviour“, das John von

Neumann und Oskar Morgenstern in den 40er

Jahren geschrieben haben. Es hatte große

Resonanz, wenn auch zunächst nicht bei den Wirt-

schaftswissenschaftern. Die haben sich geziert.

Der Durchbruch kam dann über einen Umweg.

Nachdem über 20 Jahre lang die Spieltheorie vor

allem von Mathematikern wegen ihres ma-

thematischen Reizes forciert worden ist, hat ein

englischer Evolutionsbiologe namens John

Maynard Smith eine evolutionäre Spieltheorie ge-

schaffen, mit der er das Verhalten von Tieren er-

klären wollte. Da musste eine der gängigsten

Voraussetzungen der Spieltheorie über Bord

geworfen werden, nämlich die, dass die Spieler ra-

tional sind. Das brachte in der Verhaltensbiologie

einen großen Durchbruch, und wurde dann auch

auf menschliche Verhaltensweisen angewandt.

Das hat dann die experimentelle Ökonomie sehr

befruchtet. Da hat man begonnen, mit Spielern

gewisse Spielsituationen nachzustellen. Diese ex-

perimentelle Spieltheorie hat einen außer-

ordentlichen Erfolg gehabt, jetzt auch bei den Wirt-

schaftswissenschaftern. Die große Zeit kam in den

1990er Jahren und dauert jetzt noch an. In jedem

Ökonomie-Department gibt es heute ganz selbst-

verständlich Spieltheoretiker.

Wie würden Sie Spieltheorie einem mathema-

tischen Laien erklären? Könnte man sie als ma-

thematisierte Verhaltensforschung definieren?

Sigmund: Das ist gar kein schlechter erster Ansatz.

Allerdings gibt es beim Verhalten ja viele Aspekte,

und der Spieltheorie geht es um jene Verhaltens-

weisen, bei denen es darauf ankommt, was der

andere tut. Das Wesentliche in der Spieltheorie ist,

dass es da immer mehrere Entscheidungsträger

gibt, und dass der Erfolg einer Entscheidung immer

davon abhängt, wofür sich der andere entscheidet.

In der modernen evolutionären Spieltheorie stellt

man sich vor, dass es ganze Populationen von

Spielern gibt, die jeweils gewisse Strategie haben.

Die Spieler treffen aufeinander, und die Strategien,

die sich als besonders erfolgreich erweisen, werden

dann auch häufiger kopiert. Das ist das Reizvolle,

dass es da so eine Art Feedback-loop gibt. Je nach

Erfolg wird eine Strategie häufiger, und die Häufig-

keit determiniert umgekehrt den Erfolg einer

Strategie. Daraus entwickeln sich sehr interessante

dynamische Prozesse, die ähnlich sind wie öko-

logische Dynamiken.

Mathematik ist überall

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endu

ng

PortraitUniv.-Prof. Karl Sigmundist Universitätsprofessor an der Fakultät für Ma-thematik der Universität Wien. Sigmund fokussiertseine wissenschaftliche Arbeit iauf verschiedeneBereiche der Biomathematik: mathematische Ökologie, chemische Kinetik und Populationsge-netik, insbesondere aber das Gebiet der evolutio-nären Spieltheorie, etwa in Untersuchungen überdie Evolution von Kooperation in biologischen undmenschlichen Populationen. Sigmund ist wirk-liches Mitglied der Österreichischen Akademie derWissenschaften und seit 2003 auch Mitglied derDeutschen Akademie der Naturforscher Leopol-dina. Zu seinen zahlreichen, international renom-mierten Publikationen zählen „Games of Life“(deutsch: Spielpläne), „Fairness versus reason inthe ultimate game“ (Science, gemeinsam mit Martin Nowak und Karen Page) oder „The Econo-mics of Fair Play“ (Scientific American, gemein-sam mit Ernst Fehr und Martin Nowak).

Ob eine gewählteVerhaltensvari-

ante erfolgreichist, hängt davon

ab, wie dieanderen Ent-

scheidungsträgerreagieren. Daraus

entstehen dyna-mische

Prozesse, die wirdank der Spiel-

theorie verstehenlernen.

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Page 19: Mathematik ist überall - Zentraler Informatikdiensthomepage.univie.ac.at/herwig.hauser/Pressespiegel/interview... · Die Auflösung von Singularitäten und die Schönheit der Mathematik

Sprache der Mathematik übersetzt. Die so ent-

standenen Modelle sind üblicherweise zu komplex

für Computersimulationen. Systematische Modell-

vereinfachung ist daher ein wesentlicher Schritt,

genauso wie die Bestimmung von Modellparame-

tern, die die chemischen und mechanischen Ei-

genschaften der vorkommenden Substanzen be-

schreiben. Schließlich kann der Vergleich

zwischen Computersimulationen und dem be-

obachteten Verhalten von Zellen die Arbeits-

hypothesen unterstützen oder auch falsifizieren.

Was haben Sie sich von dieser Beschäftigung an

Erkenntnisfortschritt erwartet?

Schmeiser: Ich erwarte, einen Beitrag leisten zu

können zur Identifikation der wichtigsten Effekte,

die zur Zellbewegung beitragen.

Und was war der tatsächliche (bisherige) Erkennt-

nisfortschritt?

Schmeiser: Wir konnten zeigen, dass ein

molekularbiologisch motiviertes, sehr detailreiches

Modell auf systematische Art ausreichend verein-

facht werden kann, sodass es als Simulations-

modell verwendbar ist. Wichtig ist dabei, dass in

diesem Simulationsmodell die Auswirkungen der

molekularbiologischen Effekte nachvollzogen

werden können.

Konnte umgekehrt die Mathematik aus dem Pro-

jekt profitieren, wie weiterentwickelt werden?

Schmeiser: Die von uns entwickelten Modelle

führen auf neuartige mathematische Problemstel-

lungen. Für ihre Analyse wurden neue ma-

thematische Methoden entwickelt, und dieser Pro-

zess ist bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Welche weiteren Anwendungen mathematischer

Modellierung neben der Zellforschung sehen Sie?

Schmeiser: Für eine einigermaßen vollständige Be-

antwortung dieser Frage fehlt hier eindeutig der

Raum. Die Zahl der Anwendungen in den Natur-,

Ingenieur- und Sozialwissenschaften wächst täg-

lich. Ein Engpass besteht am ehesten in der Anzahl

der entsprechend ausgebildeten Mathematike-

rInnen.

Was sind ihre weiteren aktuellen Projekte bzw. For-

schungsinteressen in der Mathematik?

Schmeiser: Ich arbeite an der mathematischen

Analyse kinetischer Transportgleichungen. Das ist

eine Klasse mathematischer Modelle, die die

Dynamik großer Teilchenensembles beschreibt,

wobei die Teilchen Elektronen, Gasmoleküle,

lebende Zellen oder Autos sein können.

Mathematik ist überall

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Mathematik trifft Zellbiologie

Simulationsmodelle sind dem Motor von Zellbewegungen auf der Spur

EIN GESPRÄCH MIT CHRISTIAN SCHMEISER

Wie sind Sie auf Ihr Forschungsfeld, der Analyse

von Zellbewegungen gestoßen, warum begeistert

Sie dieses Feld?

Schmeiser: Für den Einstieg waren mehrere Fak-

toren bedeutsam: Das Interesse einer Studentin an

Modellen für Zellbewegung, die mathematische

Ähnlichkeit mit früher von mir bearbeiteten Pro-

blemen aus der Mikroelektronik und das Zu-

sammentreffen mit Vic Small (IMBA), einem der in-

ternational führenden Forscher in diesem Gebiet.

Mich begeistert die Herausforderung durch die

Komplexität zellbiologischer Fragestellungen, ins-

besondere das Zusammenspiel biochemischer

und mechanischer Prozesse.

Wie kam es zur Verknüpfung mit mathematischer

Modellierung?

Schmeiser: Die mathematische Modellierung in

verschiedenen Anwendungen ist mein tägliches

Brot. In diesem Fall bestand die glückliche Fügung

im Zustandekommen einer echten Kooperation mit

Biologen, die das Resultat unserer Kontaktsuche

zum Thema Zytoskelettdynamik war.

Könnten Sie bitte kurz für den Laien erklären, wie

die angewandte mathematische Modellierung bei

Zellbewegungen erfolgt?

Schmeiser: Das ist ein langwieriger Prozess. Zu-

nächst war es für uns Mathematiker notwendig, in

einem kleinen Teilbereich der Zellbiologie genug zu

lernen, um für die Biologen akzeptable Ge-

sprächspartner abzugeben.

Der nächste Schritt besteht darin, eine vollständige

theoretische Beschreibung des untersuchten Pro-

zesses mit Hilfe von Arbeitshypothesen zu er-

arbeiten. Diese Hypothesen stammen zum Großteil

von Biologen, müssen aber von uns ergänzt

werden. Dann wird dieses Theoriegebäude in die

Mathematik ist überall

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Portrait

Christian Schmeiserist seit 2005 sowohl Programmdirektor am Wolf-gang Pauli-Institut als auch ordentlicher Profes-sor an der Mathematischen Fakultät der Univer-sität Wien. Schmeiser studierte technische Mathematik an der Technischen Universität Wien,wo er 1984 promovierte und sich 1989 für dasFach angewandter Mathematik habilitierte. Bis2003 fungierte Schmeiser als Gruppenleiter desJohann Radon Institute for Computational andApplied Mathematics (RICAM) der Österreichi-schen Akademie der Wissenschaften. Ein ErwinSchrödinger-Stipendium führte ihn 1989/90 indie USA. Bis heute folgten sechs Gastprofessurenan verschiedenen französischen Universitäten.

Zellbewegungenkönnen heute am Computer

simuliert werden,aber erst nach systematischerModellverein-fachung. Das

gelingt nur mitMathematik

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Wie sag ich’s meinem Kinde

lichen wirtschaftlichen Vorgängen steckt

– Mathematik besteht aus mehr.

All das Genannte ist vorbehaltlos

wichtig. Es gehört unterrichtet, einge-

übt, überprüft. Aber es ist nur ein Teil

dessen, was junge Menschen in der

Schule erfahren sollen. Wenn sich

Schule allein auf Training von Fertig-

keiten, auf Ausbildung beschränkte,

würde sie ihre eigentliche Aufgabe ver-

fehlen.

Reingewinn des LebensDenn der eigentliche Kern von Schule

besteht nicht im unmittelbar Lebens-

nahen, vielmehr im scheinbar Welt-

fernen. Wenn man nämlich den Begriff

„Schule“ von seiner griechischen

Wurzel zu verstehen versucht: das Wort

scholé bedeutet Muße, Freiheit von Ar-

beiten und Plagen, mit denen wir

dauernd im Alltag konfrontiert sind.

Muße ist, was einer Person zum Nutzen

nach eigenem Wunsch zur Verfügung

steht, worin sie sich erbaut. Eigentlich

müsste die Schulzeit die wahrhaft freie,

unbelastete Zeit sein, die, fern der

lästigen Bemühung um das zum Leben

Dringliche, für das allein um seiner

selbst willen gewählte Schöne im Leben

übrigbleibt. So gesehen würde man in

der Schule den Reingewinn des Lebens

finden. Wo man zu sich selbst und über

diesen Weg – den nur Kurzsichtige

einen Umweg nennen – zum Leben

kommen, sich selbst verwirklichen

kann.

Mag sein, dass die rauhe Wirklichkeit

der Schullandschaft fast nichts von

diesem Ideal erahnen lässt. Aber es

wäre fatal, es deshalb fallen zu lassen,

als lächerlich hinzustellen und Schule

auf das praktische Eintrainieren von Fer-

tigkeiten zu beschränken, die ein Be-

stehen in der gegenwärtigen Sozial- und

Arbeitswelt zu sichern scheinen. Für die

Zukunft, die völlig Unerwartetes bereit

hält, ist man damit nämlich nicht

gerüstet. Jemand, der auch einen „welt-

fernen“ Standpunkt einzunehmen ver-

mag, darf hingegen die Zukunft viel

gelassener erwarten, kann sie nach

seinen Vorstellungen gar gestalten.

Durch das Denken begründetGerade deshalb ist es spannend, in den

Schulen Mathematik zu unterrichten,

obwohl das gängige Vorurteil besteht,

Mathematik sei eine für die meisten

Menschen unverstehbare Angelegen-

heit, ein Buch mit mehr als sieben

Siegeln, nur Eingeweihten – die man oft

wie von anderen Sternen kommende

Wesen beäugt – zugänglich. Dieses Vor-

urteil muss abgrundtief falsch sein. Die

Natur der Mathematik widerspricht ihm

aufs Schärfste. Liegt es doch im Wesen

dieser Wissenschaft, dass alle ihre Aus-

sagen allein durch das Denken, durch

nichts sonst, begründet sind. Appelle an

überirdische Eingebungen sind der Ma-

thematik fremd. So etwas fand man früh-

er im mannigfach gedruckten religiösen

Schrifttum und findet man heute in den

mit weitaus mehr Begeisterung gekauf-

ten esoterischen Werken. Ebenso fremd

sind der Mathematik Verweise auf

Autoren und Autoritäten, die dicke, un-

Mathematik ist überall

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Wie sag ich’s meinem Kinde

Woran liegen die Imageprobleme der Mathematik

VON RUDOLF TASCHNER, WIEN

Bedauerlich ist es, weil Eingeweihte

wissen, dass Mathematik vielerlei

Facetten besitzt, die nur zu einem

geringen Teil von der Schule erfasst

werden. In letzter Zeit wurden Initiativen

gesetzt – math.space im Wiener Mu-

seumsQuartier ist eine von ihnen und

dabei sehr erfolgreich –, den weit über

die Schule hinausgehenden Stellenwert

der Mathematik einer breiten Öffentlich-

keit nahezubringen. Langsam gelingt es,

nicht nur den Konnex zwischen Ma-

thematik und Schule ein wenig zu lo-

ckern, sondern auch den allein auf den

Aspekt der Anwendungen von Ma-

thematik gerichteten Fokus zu verbrei-

tern – die Frage von Journalisten, wozu

man denn dies brauche, wird leider ad

nauseam gestellt. Wenn man erfährt,

dass es sich bei Mathematik um eine der

eminentesten kulturellen und geistigen

Errungenschaften der Menschheit han-

delt, lösen sich die Imageprobleme der

Mathematik wie von selbst.

Jenseits des AbprüfbarenBegrüßenswert ist der Rang, den die Ma-

thematik in der Schule genießt, wenn da-

mit zugleich eine erweiterte Sicht dieses

Schulgegenstandes einhergeht, die über

das Abprüfbare weit hinausgreift.

Denn selbst wenn man mit Tests kon-

trollieren kann, ob die Jugendlichen

geometrische Strukturen gut erfassen,

Winkel, Längen, Flächen- und Raum-

inhalte berechnen können, Objekte

unserer Umwelt nach einfachen geo-

metrischen Mustern zu betrachten ver-

stehen – Mathematik besteht aus mehr.

Denn selbst wenn man mit Tests kon-

trollieren kann, ob die Jugendlichen ein

wenig Algebra beherrschen, Variable zu-

einander in eine direkte und in eine

indirekte Proportionalität setzen kön-

nen, will sagen: ob sie die Technik der

Schlussrechnung beherrschen – Ma-

thematik besteht aus mehr.

Denn selbst wenn man mit Tests kon-

trollieren kann, ob die Jugendlichen

über Statistik Bescheid wissen, das

Wesen der Begriffe Mittelwert und Va-

rianz verstehen, ihre Bedeutung bei

riskanten Geschäften, vor allem im Ver-

sicherungsgewerbe begreifen – Mathe-

matik besteht aus mehr.

Denn selbst wenn man mit Tests kon-

trollieren kann, ob die Jugendlichen ein

Sensorium für Wachstum und Zerfall

entwickelt haben, insbesondere ein-

sehen, was in Prozent ausgedrückte Zu-

nahmen bzw. Abnahmen bedeu-ten,

und nachvollziehen können, was hinter

der Verzinsung von Kapital, der Auf-

nahme eines Kredits und hinter ähn-

Mathematik ist überall

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anal

yse

Es scheint unabänderlich zu sein, dass Mathematik, wenn man überhaupt in der Öffent-

lichkeit von ihr spricht, in einem Atemzug mit Schule genannt wird. Nachdem die alten

Sprachen ihren Stellenwert im Unterrichtsgeschehen an Gymnasien eingebüßt hatten,

bleibt allein das Fach Mathematik das Schulfach kat exochen. Dies ist begrüßenswert

und bedauerlich zugleich.

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Wie sag ich’s meinem Kinde

ein wenig mehr von dem verstanden zu

haben, das noch vor kurzem ein Rätsel

war. Wie gelingt es beim Mathematik-

unterricht, diesen Genuss hervorzu-

rufen?

Talent und Interesse fördernAm besten auf zweifache Weise, abge-

stimmt auf die Eignung und Neigung der

Schülerin oder des Schülers. Wenn –

und dies kommt öfter vor, als man ge-

meinhin vermutet – Talent und Interes-

se vorhanden sind, kann und sollte man

diese möglichst umfassend fördern. Für

Mathematik begabte Kinder und junge

Menschen zeichnen sich dadurch aus,

dass sie auch für komplizierte Pro-

bleme, langwierige Rechnungen, nur

mit äußerster Akribie zu erlangende Ein-

sichten offen sind. Es gab schon seit

langem und gibt auch derzeit eine Reihe

von schulischen Einrichtungen, zum Bei-

spiel die berühmten mathematischen

Olympiaden, die Begabte in ihrem

Tatendrang und in ihrem Engagement

bestärken. Der wirksamste Antrieb für

die intensive Beschäftigung mit Ma-

thematik aber kommt immer noch von

der prägenden Persönlichkeit der Leh-

rerin oder des Lehrers in diesem Fach.

Was jedoch – und dies wird bei den

meisten der Kinder und Jugendlichen

der Fall sein –, wenn die Begabung für

Mathematik nicht ausgeprägt ist und,

von Vorurteilen hervorgerufen, ein eher

reserviertes Interesse für das Fach vor-

liegt?

Freude nicht verwehren

Ein Vergleich des Mathematikunterrichts

mit dem Musikunterricht mag hilfreich

sein: Auch in der Musik gibt es eine

kleine Schar Begabter, bei denen es eine

Sünde wider den Geist wäre, würde man

sie nicht dazu verleiten, ein Instrument

zu lernen und aktiv zu musizieren. Die

meisten Menschen jedoch sind zwar

nicht völlig unmusikalisch, aber für das

Lernen, ein Instrument zu spielen,

haben sie entweder kein Talent oder

keine Inklination. Die Schönheit der

Musik ist ihnen dennoch nicht verwehrt.

Viele, wenn nicht die meisten der Be-

sucher von Konzerten gehören dieser

Gruppe an. Nur die wenigsten werden

eine Partitur lesen, einige nicht einmal

die Notenschrift entziffern können. Und

trotzdem genießen sie die Musik. Ein

guter Musikunterricht hat ihnen diese

Freude nicht verdorben.

Im gleichen Sinn sollte der Mathematik-

unterricht für die vielen gestaltet werden,

die nie in ihrem Leben Freude am Um-

formen von Rechenausdrücken, am Aus-

tüfteln von Beweisen, am Überprüfen

von Vermutungen erfahren. Freude an

der Mathematik muss ihnen darum nicht

verwehrt sein. Denn wenn man Ma-

thematik als Kulturfach unterrichtet, er-

zählt man von den Gedanken, die ma-

thematische Genies der Geschichte wohl

bewegt haben dürften, berichtet, in

welchem geistigen Umfeld sie lebten,

welchen Einflüssen ihrer Zeit sie aus-

gesetzt waren, warum ihre Leistungen so

beeindruckend sind und was sie uns

sogar heute noch zu verkünden haben.

Mathematik ist überall

41

anal

yse

Wie sag ich’s meinem Kinde

gelesene Wälzer verfasst hatten, deren

Inhalt gelernt zu haben vorausgesetzt

wird. Die philosophische Literatur ist voll

davon. Man braucht bei der Mathematik

keine Ahnung davon zu haben, was in

der Eprouvette beim chemischen Ver-

such, in der Petrischale des biomedizi-

nischen Labors, im Beschleuniger der

kleinsten atomaren Bruchstücke beim

CERN in Genf oder in den Schwarzen

Löchern des gigantischen Weltalls vor

sich geht. Naturwissenschaftliche Sach-

bücher versuchen dies oft mit großem

Geschick zu vermitteln, aber können

doch nur den wohligen Schauer einer

blassen Ahnung von Biochemie,

Medizin, Physik oder Kosmologie beim

laienhaften Publikum hervorrufen. Bei

der Mathematik ist man auf nichts von

alldem, nur auf sein eigenes Denken

angewiesen. Und darf nur dem trauen,

von dem man überzeugt ist, es ver-

standen zu haben.

So gesehen sollte alles in der Ma-

thematik so einsichtig sein wie die

Tatsache, dass sechs mal sieben zwei-

undvierzig ergibt. Aber das stimmt

natürlich auch nicht. Mathematik ist

nicht ganz so einfach. Woran liegt das?

Wäre alles in der Mathematik so leicht

verstehbar wie die Aussage, dass sechs

mal sieben zweiundvierzig ergibt, würde

dies nicht für die Mathematik, sondern

gegen unser Denkvermögen sprechen.

Dann kämen wir nämlich mit unserem

Denken nicht sehr weit. Wir würden nur

am Banalen, am Trivialen hängen

bleiben. Aber die Fähigkeiten unseres

Denkens gehen weit über das Einfache

hinaus, es überwindet sogar die

Grenzen des Endlichen, es möchte ins

Unendliche vorstoßen. Eben das macht

Mathematik spannend: Indem wir er-

kennen, wie weit wir bis in das Unend-

liche hinein zu denken verstehen, ler-

nen wir unser eigenes Denkvermögen,

uns selbst als animal rationale kennen.

In der Welt gespiegeltUnd das Wundersamste an all dem ist:

Die Mathematik spiegelt sich in der Welt:

in den atomaren Gesetzen der Quanten-

physik genauso wie in den Tiefen des

Universums, aber auch in so handfesten

Dingen wie den Zyklen von Räuber- und

Beutetieren im Wald, in den Kursen an

der Börse, in der sogenannten Spiel-

theorie beim politischen Geschäft. Sogar

beim Kochen nimmt Mathematik eine

wichtige Rolle ein, wenn man der „Ge-

nussformel“ des gleichnamigen, im

wahrsten Sinne des Wortes köstlichen

Buches von Werner Gruber trauen darf.

Und die Mathematik ist das Fundament,

auf dem die uns in ihrem Wesen ei-

gentlich so schwer verständlichen Be-

griffe wie „Raum“ und „Zeit“ oder „Ur-

sache“ und „Zufall“ gründen, die wir

dennoch so unbeschwert in den Mund

nehmen.

Darum setzen von ihrem Wissen ge-

tragene und begeisterungsfähige Lehre-

rinnen und Lehrer alles daran, den

ihnen anvertrauten jungen Menschen

eine Ahnung von mathematischen Be-

griffen und den in ihnen verborgenen

Geheimnissen zu vermitteln. Und es be-

reitet unermesslichen Genuss, plötzlich

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Schärfere Bilder, weniger Daten

Mathematik ist überall

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Optimierungstheorie stärkt medizinische Diagnostik

Mit weniger Daten zu schärferen Bildern im Kernspintomografen

EIN GESPRÄCH MIT KARL KUNISCH

Was hat Ihr Interesse an der mathematischen

Optimierung medizinischer Verfahren geweckt, wa-

rum begeistert Sie dieses Feld?

Kunisch: Es war und ist mir immer ein großes An-

liegen, dass mathematische Forschung über ihren

selbstbezogenen Wert hinaus, von komplexen, an-

wendungsbezogenen Problemstellungen motiviert

wird und auch zu deren Lösung beiträgt.

Wie kam es zur Verknüpfung von Mathematik und

medizinischen Verfahren zur Therapie bzw. Di-

agnose, was war der Anlass?

Kunisch: Der Beginn wurde in einem ersten

Spezialforschungsbereich „Optimierung und Kon-

trolle“, welcher vom Fonds zur Förderung der

Wissenschaftlichen Forschung von 1994-2005 ge-

fördert wurde gemacht. In diesem kooperierten

Angewandte Mathematiker mit diversen Ingenieur-

disziplinen zu aktuellen optimierungstheoretischen

Fragestellungen, in welchen bereits medizinische

Fragestellungen bearbeitet wurden. Im neuen SFB

„Mathematical Optimization and Applications in

Biomedical Sciences“ wurde eine Fokussierung auf

den biomedizinischen Bereich vorgenommen.

Mit welchen Methoden arbeitet die mathematische

Optimierung?

Kunisch: Die mathematische Optimierung wird

verwendet um in komplexen Szenarien best-

mögliche Lösungen zu erzielen oder unbekannte

Größen oder Verläufe zu bestimmen. Dazu ist zu-

nächst ein mathematisches Modell des realen Vor-

gangs notwendig, welches zum Bespiel in Form

von Integral oder Differenzialgleichungen gegeben

sein kann. Die praktische Umsetzung erfordert

stets auch die Entwicklung effizienter und stabiler

Algorithmen auf modernen Rechenanlagen.

Was haben Sie sich von dieser Anwendung an

Erkenntnisfortschritt erwartet?

Kunisch: Man erwartet sich immer eine Beitrag zur

konkreten Problemstellung und darüber hinaus

einen allgemeinen, breiter anwendbaren, Erkennt-

nisgewinn.

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Die Forschungsschwerpunkte im neuen SFB

liegen in der Medizinischen Bildverarbeitung, etwa

für Magnetresonanz und Computertomographie

Bilder, sowie in der Modellierung des Herzens,

welche von der bioelektrische Erregungsaus-

breitung bis hin zur mechanischen Pumpfunktion

alle relevanten biologischen und physiko-che-

mischen Aspekte beinhalten muss.

Und was war der tatsächliche Erkenntnisfort-

schritt?

Kunisch: Für den Bereich der Kernspintomo-

graphie, zum Beispiel, haben wir erkannt, dass mit

relativ allgemeinen Annahmen die Untersuchungen

wesentlich beschleunigt werden können, wenn

Bildkodierung und Bildrekonstruktion als Opti-

mierungsproblem formuliert wird. So sind wir zur-

zeit schon in der Lage mit weniger als 10% der

Daten auszukommen die früher auf Basis des so-

genannten Nyquist-Kriteriums als notwendig an-

gesehen wurden. Dadurch wurde nicht nur ein er-

weitertes Verständnis der Bildentstehung in der

Kernspintomographie bei erzielt, sondern es wird

auch in relativ kurzer Zeit zu Verbesserungen für

Patientinnen und Patienten kommen.

Die neuen Algorithmen im Bereich der Bildver-

arbeitung rekonstruieren unscharfe Informationen

besser und schneller als zuvor. Die numerische

Modellierung des Herzens wurde dahingehend wei-

terentwickelt, dass nun die Bioelektrische mit der me-

chanischen Modellierung gekoppelt werden kann.

Konnte umgekehrt die Mathematik aus der An-

wendung profitieren, wie weiterentwickelt werden?

Kunisch: Das Wechselspiel zwischen innerma-

thematischem Fortschritt und praktischer An-

wendbarkeit ist in der Tat komplex. Manchmal ist

die Mathematik den angewandten Wissenschaften

konzeptionell etwas voraus. Beim „Reality Check“

der biomedizinischen Anwendung zeigt nicht

selten eine komplexere Situation als vorerst an-

genommen wurde, die ihrerseits zu einer Weiter-

entwicklung der Algorithmen und Lösungsver-

fahren führt.

Welche weiteren Anwendungen Ihrer Arbeit neben

medizinischen Verfahren sehen Sie?

Kunisch: Mathematische Optimierung ist eng mit

mathematischer Modellierung verbunden. Sobald

ein Modell vorliegt stellt sich auf ganz natürliche

Weise die Frage, wie das Modell unter Parameter-

variationen reagiert, und anschließend, wie es in

gewisser Weise „optimal“ beeinflusst werden kann.

Modellierung, und damit Quantifizierung, dringt in

den letzten Jahrzehnten in viele Bereiche über die

Ingenieurwissenschaften hinaus vor, etwa in die

Biowissenschaften oder in die Wirtschafts-

wissenschaften. Dadurch eröffnen sich sehr breite

Betätigungsfelder für mathematische Optimierung.

Was sind ihre aktuellen Projekte bzw. Anwen-

dungsgebiete der Mathematik?

Kunisch: Neben Anwendungen in die Biowissen-

schaften werde ich weiter über optimale Steuerung

in der Fluidmechanik und an aktuellen Fragestel-

lungen der Formoptimierung arbeiten.

PortraitKarl Kunischstudierte an der Technischen Universität Graz und an der Northwestern University, Evanston, Illinois. Von 1986–1993 war er an der TU Graz,von 1993–1996 als C4-Professor an der Techni-schen Universität Berlin, danach bis heute als or-dentlicher Professor an der Universität Graz tätig.Er hielt Gastprofessuren an der Brown University,University of Oklahoma, Université Paris Dauphi-ne, und INRIA Rocquencourt. Kunisch ist Mit-autor von zwei Monographien, von etwa zweihun-dert wissenschaftlichen Veröffentlichungen undzehn Tagungsbänden, sowie Mitglied des editorial boards von neun wissenschaftlichen Zeitschriften.Er leitete das Christian Doppler Labor über „Inverse Probleme“, und erhielt mehrere wissen-schaftliche Auszeichnungen, u.a. die Alwin Walt-her Medaille. Er ist stellvertretender Leiter desRadon Instituts, Linz. Er arbeitet zu Optimierungund Optimale Steuerung, Inverse Probleme, Numerische Mathematik und Funktionalanalysis.

Dank mathe-matischer

Optimierungkommt die Bildrekon-

struktion in derKernspinto-

mografie heutemit weniger

Daten aus

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eben nicht nur mit einem einzelnen Elektron

machen, sondern mit großen Atomverbänden. Es

geht also um eine Möglichkeit von mikroskopischer

zu makroskopischer Quantenmechanik zu kom-

men, wie es etwa auch Markus Arndt an der Uni

Wien macht. Wien ist hier neben Innsbruck wirk-

lich weltweit einer der führenden Plätze der Ex-

perimentalphysik.

Die ersten gemeinsamen Arbeiten mit Schmied-

mayer und Schumm sind Simulationen zu einer Art

Doppelschlitz-Experiment, ein Lehrbuchbeispiel

der Quantenmechanik, wo nun zwei Bose-Einstein-

Kondensate so interferieren wie zwei Wellen und

das Beugungsmuster gemessen wird. Das heißt,

man kann die Wellen-Teilchen-Dualität sehr schön

zeigen, aber eben diesmal nicht mit einem Elek-

tron, sondern mit 100.000 Atomen.

Welche Rolle spielt da die Schrödinger-Gleichung?

Mauser: Die lineare Vielteilchen-Schrödinger-

Gleichung ist theoretisch ein exaktes Modell, nur

leider kann man sie praktisch nicht verwenden: Für

mehr als eine handvoll Teilchen kann man die

Lösungen auch mit den zukünftigen Super-

computern nicht berechnen. Das heißt, wir

brauchen Approximationen, am beliebtesten sind

Approximationen mit Systemen von „Ein-

Teilchen“-Gleichungen. Die nicht-lineare Schrö-

dinger-Gleichung, genauer eine Variante namens

Gross-Pitaevskii-Gleichung, ist ein stark verein-

fachtes Modell für Bose-Einstein-Kondensate, das

einige physikalische Effekte beschreiben kann.

Jetzt hat man also ein mathematisches Nähe-

rungsmodell für das physikalische Experiment.

Was ist der nächste Schritt?

Mauser: Meine Gruppe entwickelt ein Programm-

paket für solche nichtlineare Schrödinger-

gleichunge, wo wir die Dynamik in vollen drei

Raumdimensionen für relativ lange Zeiten be-

rechnen. Und zwar zuverlässig, sodass wir sicher

sind, dass die schönen Bilder und Filme von den

expandierenden und oszillierenden Bose-Einstein

Kondensaten genau das zeigen, was in der

Gleichung steckt und nicht numerische Effekte.

Wenn sich die Simulationsresultate mit dem Ex-

periment decken, sind wir recht zuversichtlich,

dass die Gleichung tatsächlich die Natur be-

schreibt. Wenn es Unterschiede gibt, muss ein

besseres Modell gesucht werden oder das Ex-

periment überprüft werden.

Wie macht da das Verhältnis zwischen Physikern

und Mathematikern aus?

Mauser: Die vertrauenswürdige Simulation ist sehr

wertvoll für die Physiker. Es ist umgekehrt sehr

spannend für mich als Mathematiker, mit Ex-

perimentalphysikern zu arbeiten. Sie wollen mir

nicht beweisen, dass sie eh soviel Mathematik

können wie ich, was bei theoretischen Physikern

manchmal mühsam ist, und ich respektiere, dass

sie die Technik und Kunst des Experiments beherr-

schen. Wir treffen uns auf gleicher Ebene in der

Diskussion um die Modelle und die Physiker haben

oft tolle intuitive Ideen für die Numerik.

Mathematik ist überall

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Mathematik ist überallfo

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dung

Herr Professor Mauser, Sie sind heute Ma-

thematiker an der Uni Wien, sind aber auch aus-

gebildeter Physiker. Sie konzentrieren Ihre Arbeit

zunehmend auf die Schnittstelle zwischen Dis-

ziplinen, indem Sie etwa mit Experimental-

physikern an avancierten Fragestellungen der

Quantenphysik arbeiten. Was ist die konkrete

Schnittstelle ?

Mauser: Die Computersimulation: Sobald Sie bei ei-

nem verbal formulierten Modell etwas ausrechnen

wollen, müssen Sie ganz sauber Gleichungen in al-

len Details hinschreiben. Solche mathematischen

Modelle können dann im Computer simuliert wer-

den, wobei das Erstellen effizienter Programme ei-

ne Kunst für sich ist, die zur Palette sowohl der

Physiker als auch der Mathematiker gehört. Das

grundlegende Modell der Quantenmechanik ist

und bleibt dabei die Schrödinger-Gleichung.

Braucht es dafür aber nicht als Grundlage die reine

mathematischen Forschung, etwa jene zur Ana-

lysis von nichtlinearen Schrödingergleichungen ?

Mauser: Ein gewisses Maß reine Mathematik ist

sinnvoll, die Frage nach der Existenz und Ein-

deutigkeit bzw den Eigenschaften von Lösungen,

also Analysis, ist etwas, was nur mit sehr fort-

schrittlichen mathematischen Techniken gelöst

werden kann. Ich habe selbst viel solche „harte

Analysis“ gemacht und dafür erntet man Lor-

beeren in der Mathematik. Aber den wirklichen

Problemen der Physiker hilft es wenig.

Sie arbeiten derzeit mit der Atomchip Gruppe um

Wittgenstein-Preisträger Jörg Schmiedmayer von

der TU Wien an Experimenten mit Bose-Einstein-

Kondensaten. Worum geht es da?

Mauser: Man kann bestimmte Teilchen – Bosonen

– dazu bringen, dass unter extrem niedrigen Tem-

peraturen viele Teilchen im gleichen Quanten-

zustand sind, und sich wie eine einzige große Welle

verhalten. Das ist das so genannte Bose-Einstein-

Kondensat, ein sehr merkwürdiger Zustand der

Materie. Damit kann man etwa Experimente zum

Wellen-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik

Die Schrödinger-Gleichung und das Bose-Einstein-KondensatMathematik trifft Experimentalphysik

EIN GESPRÄCH MIT NORBERT J . MAUSER

PortraitNorbert J. Mauserist Professor an der Fakultät für Mathematik derUni Wien. Nach seinem Studium der Physik undMathematik an der TU Wien und Astronomie an der Uni Wien arbeitete er sieben Jahre im Ausland, unter anderem am Courant Institut in New York. 1999 habilitierte sich Mauser an derUni Wien. Im gleichen Jahr erhielt der START-Preis. Er ist Mitgründer und Direktor des „Wolf-gang Pauli Instituts“ sowie des „Institut CNRSPauli“ und Direktor der „Jungen Kurie“ der ÖAW.Mauser arbeitet an Modellierung, Analysis undComputersimulation von partiellen Differential-gleichungen mit Anwendungen vor allem in derQuantenphysik.

Demonstrationdes Wellen-

Teilchen-Dualismus am

Interferenzmustervon Bose-

Einstein-Kon-densten: im Experiment

(links) und in derSimulation

(rechts)

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Die Schrödinger-Gleichung und das Bose-Einstein-Kondensat

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Projektförderung durch das BMWF

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Kontaktadressen

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Mathematik ist überall

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