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Begegnung mit … HORIZONTE Editores Medicorum Helveticorum Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 21 830 … Jean-Charles Rielle, Präventiv-Mediziner, Genfer SP-Nationalrat, «Monsieur Anti-Tabac» «Nein, nein, ich bin kein Asket» Fachstelle für den Kampf gegen das Rauchen, gegen den Tabakkonsum. Jean-Charles Rielle erinnert sich, als wäre es gestern gewesen: «Die Weltgesundheitsorga- nisation WHO hatte das Rauchen eben erst als wich- tigste vermeidbare Ursache von schweren Krankheiten und vorzeitigen Todesfällen bezeichnet. Als Präventiv- Mediziner und Spezialist im öffentlichen Gesundheits- wesen fühlte ich mich von diesem Inserat sofort ange- sprochen.» Das CIPRET in Genf (Centre d’Information de l’Association pour la Prévention du Tabagisme) war geboren – und wurde zu seinem Kind. Wenn er davon spricht, spricht aus ihm das Engagement eines Vaters. Schnell steigert sich Rielle von der Antwort in einen Vortrag: «Stellen Sie sich vor, 9000 Menschen sterben in der Schweiz pro Jahr an den Folgen des Rauchens, Daniel Lüthi Text und Bilder [email protected] Der 31. Mai ist sein Tag: Es ist der internationale Tag des Nichtrauchens. Denn der Kampf gegen den blauen Dunst und damit der Kampf gegen die Tabakindustrie ist sein Thema. Sein Markenzeichen seit rund 20 Jah- ren. Seine Mission. Er beginnt darüber zu sprechen, ohne explizit darauf angesprochen worden zu sein: «Die Zigarette ist eine Droge – Nikotin macht abhän- giger als Heroin.» Die Abhängigkeit und damit der Ver- lust der persönlichen Freiheit – das ist das Thema da- hinter. Ein Todesopfer pro Stunde Alles begann 1991 mit einem Zufall, einem Inserat in einer Zeitung. Gesucht wurde eine Person, die ein Präventionszentrum aufbauen und leiten würde, eine

«Nein, nein, ich bin kein Asket»in der Schweiz pro Jahr an den Folgen des Rauchens, Daniel Lüthi Text und Bilder [email protected] Der 31. Mai ist sein Tag: Es ist der internationale

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Page 1: «Nein, nein, ich bin kein Asket»in der Schweiz pro Jahr an den Folgen des Rauchens, Daniel Lüthi Text und Bilder danielluethi@gmx.ch Der 31. Mai ist sein Tag: Es ist der internationale

B e g e g n u n g m i t … H O R I Z O N T E

Editores Medicorum Helveticorum

Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 21 830

… Jean-Charles Rielle, Präventiv-Mediziner, Genfer SP-Nationalrat,«Monsieur Anti-Tabac»

«Nein, nein, ich bin kein Asket»

Fachstelle für den Kampf gegen das Rauchen, gegenden Tabakkonsum. Jean-Charles Rielle erinnert sich,als wäre es gestern gewesen: «Die Weltgesundheitsorga-nisation WHO hatte das Rauchen eben erst als wich-tigste vermeidbare Ursache von schweren Krankheitenund vorzeitigen Todesfällen bezeichnet. Als Präventiv-Mediziner und Spezialist im öffentlichen Gesundheits-wesen fühlte ich mich von diesem Inserat sofort ange-sprochen.» Das CIPRET in Genf (Centre d’Informationde l’Association pour la Prévention du Tabagisme) wargeboren – und wurde zu seinem Kind. Wenn er davonspricht, spricht aus ihm das Engagement eines Vaters.Schnell steigert sich Rielle von der Antwort in einenVortrag: «Stellen Sie sich vor, 9000 Menschen sterbenin der Schweiz pro Jahr an den Folgen des Rauchens,

Daniel Lüthi

Text und Bilder

[email protected]

Der 31. Mai ist sein Tag: Es ist der internationale Tagdes Nichtrauchens. Denn der Kampf gegen den blauenDunst und damit der Kampf gegen die Tabakindustrieist sein Thema. Sein Markenzeichen seit rund 20 Jah-ren. Seine Mission. Er beginnt darüber zu sprechen,ohne explizit darauf angesprochen worden zu sein:«Die Zigarette ist eine Droge – Nikotin macht abhän-giger als Heroin.» Die Abhängigkeit und damit der Ver-lust der persönlichen Freiheit – das ist das Thema da-hinter.

Ein Todesopfer pro StundeAlles begann 1991 mit einem Zufall, einem Inserat ineiner Zeitung. Gesucht wurde eine Person, die einPräventionszentrum aufbauen und leiten würde, eine

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das ist ein Todesopfer pro Stunde, und das ist weitmehr als die Opfer, die beispielsweise der Strassenver-kehr fordert. Ich könnte zynisch sein und der Tabak-industrie dafür danken, dass sie mithilft, den Topf derAHV zu füllen, und gleichzeitig dafür sorgt, dass vieleihrer Kunden selber nie Geld aus diesem Topf erhal-ten, weil sie vorher sterben.» Aber Rielle sieht sich sel-ber nicht als Zyniker und findet es eigentlich nur per-vers, wenn eine Industrie die Hälfte ihrer Kunden mitdem verkauften Produkt selber tötet. «Welche andereIndustrie, ausser der Waffen-Industrie, macht das?»

Jeder Mensch habe seine eigene, persönliche Sucht-Geschichte, ist Rielle überzeugt. Er selber ebenfalls:Im Alter zwischen 15 und 32 Jahren, also 17 Jahrelang, rauchte auch er. Im Internat in St. Maurice habeer mit diesem Laster begonnen, aus dem gleichenGrund wohl, wie viele andere: weil er in einem Kreisvon Freunden dazugehören wollte. Das Aufhörenschildert er als logische Konsequenz: «Das war keinVerdienst, sondern professionelle Folgerichtigkeit.» Je-manden an Atemnot sterben zu sehen, sei ein nachhal-tiges Erlebnis.

Solidarität als GrundhaltungAm Revers von Rielles Jacken – Blazer und Lederjacke –leuchtet rot und gut sichtbar je eine Aids-Schleife. EinSymbol für den Tod zweier Personen, die Rielle kannteund die an den Folgen einer HIV-Infektion starben. EinSymbol wohl aber auch für eine Grundhaltung, näm-lich die Solidarität mit Benachteiligten, vom SchicksalGebeutelten. Folgerichtig ist Rielle überzeugter Sozia-list und politisiert im Namen der SP. Und deshalb en-gagiert sich Jean-Charles Rielle nicht nur für Arbei-terinnen und Arbeiter, die in kontaminierten, alsorauchgeschwängerten Räumen arbeiten müssen, son-dern beispielsweise auch für Frauen, die Opfer von se-xueller Gewalt wurden.

Und: Rielle setzt sich stark auch für die Jugend ein.Als beratender Arzt arbeitet er unter anderem am Gen-fer Jugendgericht. Dort gehe es immer wieder darum,bei jungen Leuten das Selbstvertrauen aufzubauen,sie zu ermuntern, Schwierigkeiten anzuschauen undihnen nicht auszuweichen, sie nicht mit Suchtmittelnzu überdecken. Nie im Leben werde von einem Men-schen so viel verlangt, wie im Alter zwischen 12 und18 Jahren, sagt er, in dieser Transformations-Phase, woviele eben auch ihre ersten Erfahrungen mit Drogenmachen. «Aber wer denkt beim ersten Schluck einesalkoholischen Getränkes schon, dass dies der ersteSchritt Richtung Leber-Zirrhose sein könnte?» Apro-pos Alkohol: Auch dies ist ein Thema für Jean-Charles

Rielle. Seine Frau Laurence Fehlmann Rielle, ehema-lige Genfer SP-Präsidentin, arbeitet in der Alkohol-Prä-vention. Ist dieser Mann, der so gemütlich wirkt, eingenussfeindlicher Mensch? Rielle lacht. «Sicher nicht!Nein, nein, ich bin kein Asket.» Gerne trinke auch ersein Glas Wein, bisweilen auch eines zu viel. Natürlichfahre er dann nicht mehr Auto, weil er sonst andere ge-fährden würde … womit wir wieder bei Rielles Haupt-thema sind. Im Gegensatz zum Alkohol sei der Tabak-

Jean-Charles Rielle

Dr. med. Jean-Charles Rielle wurde 1952 gebo-ren und wuchs in Sitten auf. Seine Eltern han-delten mit Kleidern und betrieben ein Restau-rant. Er studierte Medizin in Genf und inter-essierte sich schon bald speziell für das Gebietder «Santé public» (Public Health). Rielle istMitglied der SP Schweiz. 1995 wurde er in dasGenfer Stadtparlament gewählt, 2007 in denNationalrat. Hier ist er u. a. Mitglied der Kom-mission für soziale Sicherheit und GesundheitSGK.

Als nächstes Gremium, in dem er politisierenmöchte, fasst er für die Wahlen nächstes Jahrden Conseil Administratif de Genève, die fünf-köpfige Exekutive der Stadt Genf, ins Auge.

Als Arzt und Politiker hat sich Jean-CharlesRielle vor allem als «Monsieur Anti-Tabac», alsNichtraucher-Papst, einen Namen gemacht. Ergründete und leitet seit 1991 das CIPRET inGenf (Centre d’information de l’associationpour la prévention du tabagisme). Als beraten-der Arzt arbeitet er u.a. am Genfer Jugendge-richt.

Rielle ist in fünfter Ehe verheiratet. Er hat eineTochter und zwei Grosskinder. Durch Heirat er-hielt er zum schweizerischen auch den franzö-sischen Pass und wurde damit Europäer.

«Anders als beim Alkohol gibt es beim Tabakkeine akzeptable Dosis»

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konsum eben auch für die Leute in der Umgebungschädlich, deshalb gelte sein Kampf auch dem Passiv-rauchen. Und: «Anders als beim Alkohol gibt es beimTabak keine akzeptable Dosis.»

Apropos Passivrauchen: Diesbezüglich ist der dies-jährige Mai ein Markstein für Rielle und seine Mitstrei-ter. Auf den ersten des Monats setzte der Bundesrat dieVerordnung zum Schutz vor Passivrauchen in Kraft,seither gilt das Rauchverbot in Gaststätten im ganzenLand. Gerade in Restaurants wird Rielle immer wiederauf sein Markenzeichen «Monsieur Anti-Tabac» ange-sprochen, wird er darauf reduziert – er nimmt’s gelas-sen. Und trinkt, wie in unserem Fall, genüsslich seinBier.

Die Affäre RylanderDer 29. März 2001 ist ein weiteres Schlüsseldatum inRielles Leben. Zusammen mit dem pensioniertenWHO-Angestellten Pascal Diethelm trat er an jenemTag vor die Medien und enthüllte «einen Fall von wis-senschaftlichem Betrug, wie es ihn vorher noch niegegeben hat». Im Visier hatten die beiden MännerRagnar Rylander, ehemaliger Professor für öffentlicheGesundheit und Epidemiologie an den UniversitätenGöteborg und Genf. Der happige Vorwurf: Jahrelanghabe der Forscher vom Tabakgiganten Phillip Morrisverdeckte Zahlungen entgegengenommen, um imGegenzug mit manipulierten wissenschaftlichen Stu-dien die negativen Folgen des Passivrauchens zu ver-nebeln. Rylander reagierte auf die Enthüllung mit einerStrafanzeige gegen Diethelm und Rielle wegen Diffa-mierung und Ehrverletzung. Nach einem aufwendigenProzess und einer gefühlsmässigen Achterbahnfahrtzwischen Teilerfolgen und Enttäuschungen wurdendie beiden Ankläger, die zu Angeklagten gewordenwaren, freigesprochen.

Rielle atmet tief, wenn er daran zurückdenkt: «DreiJahre lang war ich vollumfänglich mit dieser Affäre be-schäftigt, 12 Tage verbrachte ich ihretwegen gar im

Spital. Aber: Ich würde es wieder machen.» Warum?«Es ging um eine Lüge, die aufgedeckt werden musste.Es ging nicht um eine Person, sondern um das Prin-zip.» Der Kampf für mehr Volksgesundheit ist bei Jean-Charles Rielle klar auch ein Kampf gegen die Zigaret-ten-Industrie.

Einmal mehr fragt sich der Zuhörer, was es dennist, was Rielle dermassen antreibt, was ihm Kraft gibtin seinem Kampf, den er nicht nur in Genf kämpft,sondern auch im Bundeshaus in Bern. «Leiden lin-dern» sei die vornehme Aufgabe eines Arztes, sagtRielle ruhig, und «Leiden verhindern». Auch das Lei-den einer ganzen Gesellschaft. Deshalb ist es sein Ziel,die Anzahl der Raucherinnen und Raucher kontinuier-lich zu vermindern. Von 33 Prozent habe man ihrenAnteil in der Bevölkerung in den letzten Jahren bereitsauf 27 Prozent herunterdrücken können, bilanziertRielle nicht ohne Stolz. Aber er bleibt dran. Und zwarpraktisch Tag und Nacht: «Mehr als vier bis fünf Stun-den Schlaf brauche ich nicht», sagt ein Vielbeschäftig-ter, der offensichtlich kaum aus der Ruhe zu bringenist – der aber alles andere sucht, als die Ruhe: «Dasschlimmste, was man mir antun könnte, wäre die be-rühmte einsame Insel. Dort würde ich bald sterben.»

Sagt’s – und nennt ein anderes Thema, in dem eraktiv werden will: Allenfalls via Volksinitiative willRielle Leute, die sich in ein politisches Amt wählenlassen, dazu verpflichten, ihre Einnahmen zu deklarie-ren, ihre Steuererklärungen offenzulegen.

Braucht es für solcherlei Überzeugungsarbeit allen-falls mehr als Engagement, eine Portion Fanatismusvielleicht sogar? «Keinesfalls», ist Rielle überzeugt, «beiLeuten, die mich kennen, gelte ich als Prototyp desAnti-Fanatikers. Fragen Sie meine Freunde.»

Und dazu gehören, wie er betont, auch Rauche-rinnen und Raucher.

«Es ging um eine Lüge,die aufgedeckt werden musste»

«Bei Leuten, die michkennen, gelte ich als Prototypdes Anti-Fanatikers»

Die nächste «Begegnung mit …»

Am Ende jeden Monats stellt die Schweizerische Ärztezeitung eine Persönlichkeit vor, die sich im Gesund-

heitswesen engagiert. Im Juni schildert Daniel Lüthi seine Begegnung mit Barbara Brühwiler, bis Ende Juni

Direktorin Pflege und Human Resources Management sowie Mitglied der Spitaldirektion am Universitäts-

Spital Zürich.