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[PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG <SONNTAG7R> ... 08.02.15] Autor:J_MUEHLING 09.02.15 13:42 I n den Tagen, als die Menschen ihr Leben wegwarfen, war Margit Sieb- ner froh, überhaupt noch am Le- ben zu sein. Dass so viele sterben wollten, ausgerechnet jetzt, war be- fremdlich für eine, die dem Tod gerade entgangen war. Berlin-Lichtenrade, ein Wohnzimmer im Erdgeschoss, im überquellenden Bü- cherregal steht Primo Levi, „Das periodi- sche System“, neben anderer Überleben- den-Literatur. Margit Siebner, geboren 1928, jüdischer Vater, nicht jüdische Mut- ter, schüttet Dokumente auf den Couch- tisch. Eine Urkunde von 1934, zur Verlei- hung des Ehrenkreuzes an den Vater, der freiwillig in den Ersten Weltkrieg gezo- gen war, der Reichskanzler und Führer dankte es ihm. Nur wenige Jahre später entstand das Foto, das den Vater in Schanghai zeigt, da betrieb er eine deut- sche Leihbücherei, mit dem letzten Flüchtlingsschiff war er dem Reichskanz- ler und Führer entkommen. Schließlich der letzte Brief, 24 Worte auf einem Nachrichtenvordruck des Ro- ten Kreuzes: „Geliebte Kinder! Bin noch in ärztlicher Behandlung. Viel Geld geht drauf. Mein einziger Gedanke ist, wann ich Euch wiedersehe. Seid innigst ge- grüßt. Euer Papimann.“ Margit Siebner sah ihren Vater nicht wieder, Fritz Cohn starb 1944 in Schanghai an Kehlkopftu- berkulose. Heute erinnert in Berlin ein Stolperstein an ihn, am Spittelmarkt, vor dem Haus, in dem seine Tochter den Krieg durchlebte, versteckt, vom Vater getrennt, schikaniert als Halbjüdin. Als Margit Siebner am 8. Mai 1945 aus den Trümmern kroch, begann für sie das Leben. Gleichzeitig wurde sie Zeuge, wie für andere das Sterben begann. An zwei Menschen, die in den Nachkriegstagen Hand an sich leg- ten, erinnert sich die 86-Jährige mit sehr unterschiedlichen Ge- fühlen. Da war der Blockwart des Viertels am Spittelmarkt. Der, wenn Bomben fielen, das Mädchen Margit nie in den Luftschutzbunker gelas- sen hatte, „die Judengöre soll verrecken“, hatte er ge- sagt. Bis zum Schluss fanta- sierte der Mann vom End- sieg, beschwor die Wunderwaf- fen des Raketeningenieurs Wern- her von Braun, erwartete jeden Mo- ment die entscheidende Kriegs- wende, sang Zarah Leander: „Es wird einmal ein Wunder gesche- hen ...“ Als das Wunder ausblieb, er- schoss er sich. Margit Siebner er- fuhr es von Freunden. Und da war die Bekannte aus Neu- kölln. Der nicht gelang, was Margit und die anderen Mädchen in den Nachkriegs- tagen täglich praktizierten: sich hässlich machen, „Syphilis!“ zischen, wenn die Soldaten der Roten Armee zudringlich „Komm, Frau!“ riefen. Die Bekannte ent- ging den Vergewaltigungen nicht, ertrug sie nicht, nahm sich das Leben. Es waren keine Einzelfälle. Wie viele Deutsche in den Tagen und Wochen um das Kriegsende in den Tod gingen, weiß niemand. Margit Siebners Bekannte könnte zu jenen 226 Freitoten zäh- len, die das Neuköll- ner Standesamt im Mai 1945 für den Bezirk registrierte – oder zu jenen unge- zählten anderen To- ten, bei denen sich in den Kriegs- und Nachkriegswirren niemand die Mühe machte, eine Todesur- sache festzuhalten. Schon an den regis- trierten Fällen aber lässt sich die dramati- sche Wellenbewegung ablesen, mit der die Zahl der Suizide um das Kriegsende herum abrupt anstieg und allmählich wie- der abflachte: Allein im Bezirk Neukölln, meldete der Tagesspiegel Ende 1945, seien „die Selbstmorde von 226 im Mai auf 3 im Oktober zurückgegangen“. Für alle Bezirke zusammen verzeich- nete das Kompendium „Berlin in Zahlen“ im finalen Kriegsjahr mehr als 7000 ge- meldete Suizide, zu denen sich eine un- übersehbare Dunkelziffer addieren dürfte. Ob die entsprechende Zahl für ganz Deutschland eher „im unteren oder oberen fünfstelligen Bereich“ liegt, sei nicht mehr zu ermitteln, schreibt der His- toriker und Dokumentarfilmer Florian Huber in seinem Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt – Der Unter- gang der kleinen Leute 1945“, das am 16. Februar im Berlin Verlag erscheint. In je- dem Fall, konstatiert Huber, sei die „Selbstmordepidemie“ um das Kriegs- ende ein „Massenphänomen erschrecken- den Ausmaßes“ gewesen. Huber geht dem Phänomen in erster Li- nie anhand von Tagebuchaufzeichnun- gen aus der Kriegszeit nach. In den priva- ten Notizen „kleiner Leute“, die der Histo- riker überwiegend im Deutschen Tage- bucharchiv der Stadt Emmendingen ein- sah, tauchen bereits in den letzten Kriegs- monaten verstärkt Selbstmordgedanken auf, beflügelt von der absehbaren Nieder- lage und der Furcht vor Vergeltung durch jene „asiatischen Horden“, deren Zerr- bild im finalen Kriegsabschnitt die NS-Propaganda beschwor. In Tagebuch- einträgen ist von Rasierklingen, Revol- vern, Zyankali- und Blausäurekapseln die Rede, mit denen sich die Menschen aus- zustatten beginnen, während in den Kir- chen Pfarrer gegen die „Sünde des Selbst- mords“ anpredigen, deren zunehmende Akzeptanz in der Bevölkerung den Got- tesdienern nicht entging. Zeitgleich wurde der Suizid auch auf staatlicher Ebene schleichend enttabui- siert, zuletzt sogar unverhohlen propa- giert, als gebotenes und einziges Mittel, um dem Ehrverlust einer Niederlage zu entgehen. Es war der Weg, den am 30. April schließlich Hitler selbst beschritt. Einen Tag später ermordeten Propagan- daminister Joseph Goebbels und seine Frau mit Zyankali ihre sechs Kinder und nahmen das Gift anschließend selbst ein. In einem Brief an ihren Sohn aus erster Ehe hatte Magda Goebbels zuvor formu- liert, was Florian Huber „das suizidale Glaubensbekenntnis der Nationalsozialis- ten“ nennt: „Unsere herrliche Idee geht zu Grunde“, schrieb sie, „und mit ihr alles, was ich Schönes, Bewundernswertes, Ed- les und Gutes in meinem Leben gekannt habe. Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht mehr wert, darin zu leben, und des- halb habe ich auch die Kinder hierher mit- genommen. Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben, und ein Gnä- diger Gott wird mich verstehen, wenn ich selbst ihnen die Erlösung geben werde.“ Zahllose NS-Funktionäre taten es ihr gleich. Martin Bormann vergiftete sich mit Blausäure, Heinrich Himmler mit dem Blausäuresalz Zyankali. Durch ei- gene Hand starben die Reichsminister für Ernährung, Gesundheit, Justiz, Wissen- schaft und Erziehung, Hitlers Kanzlei- chef, der Führer der Deutschen Arbeits- front, der Chef des Reichssippenamts, der Polizeipräsident von Potsdam, der Gestapo-Chef von Dresden, ein Dutzend Gauleiter, 53 Generäle des Heeres, 14 der Luftwaffe, elf der Admiralität, unge- zählte Bürgermeister, Reichstagsabgeord- nete sowie Funktionäre des Sicherheits- und Terrorapparats. Während sich die Täter-Kaste des NS-Systems durch den Freitod ihrer Schuld, Verantwortung und absehbaren Bestrafung entzog, waren die Motive in anderen Teilen der Bevölkerung weniger eindeutig. Die staatlich angeheizte Angst vor Vergeltung, die im Osten des Landes mit dem Vorrücken der Roten Armee vie- lerorts Realität wurde, spielte eine ent- scheidende Rolle. Auch in Westdeutsch- land, sagt der Historiker Florian Huber im Gespräch, hätten sich die Menschen propagandabedingt vor der Rache der Amerikaner gefürchtet. Verdrängte Schuldgefühle verstärkten solche Ängste. „Die Deutschen wussten sehr ge- nau, was sie angerichtet hatten“, sagt Hu- ber. „Das wird beim Lesen der Tagebü- cher deutlich.“ Fanatisierte Hitler-Anhänger trieb da- gegen eher das Scheitern ihres Lebensent- wurfs in den Tod, wie es im eingangs be- schriebenen Fall des Blockwarts vom Spit- telmarkt gewesen sein dürfte. Wieder an- dere Menschen beschreiben in ihren Tage- büchern die gähnende Leere, die sich mit dem absehbaren Ende des NS-Systems auftat. „Die Deutschen hatten zwölf Jahre lang im permanenten Ausnahmezustand gelebt“, erklärt Florian Huber. „Am Ende glaubten viele wirklich, dass sie nur sie- gen oder untergehen konnten – alles oder nichts.“ Allein vor diesem Hintergrund ist wohl zu erklären, dass in vielen Fällen die Men- schen nicht nur ihr eigenes Leben, son- dern auch das ihrer Familien auslösch- ten und dabei selbst kleine Kinder mit in den Tod rissen. In besonderer Schreck- lichkeit brach sich diese Untergangs- stimmung im vor- pommerschen Ort Demmin Bahn, 170 Kilometer nördlich von Berlin. In den letzten Kriegstagen sprengte die nach Westen fliehende Wehrmacht hier die Brü- cken über die umliegenden Flüsse, wes- halb die mit Flüchtlingen überfüllte Stadt schutzlos dem Ansturm der Roten Armee ausgeliefert war. Noch bevor deren erste Panzer die Stadtgrenze erreichten, nahm der Massensuizid von Demmin seinen Lauf. Zu Hunderten ertränkten sich Men- schen im flachen Wasser der Peene, der Tollense und der Trebel, erschossen sich oder hängten sich auf, öffneten ihre Puls- adern oder schluckten Gift. Mindestens 500 Demminer gingen in den Tod, andere Schätzungen sprechen von bis zu 2000 Menschen – in einer Stadt, die damals we- nig mehr als 15 000 Einwohner hatte. Petra Clemens, die Leiterin des Demmi- ner Regionalmuseums, stieß bei ihren Re- cherchen zum Thema auf erschütternde Einzelfälle. Eine Einwohnerin, die in den Kriegswirren von ihren Eltern getrennt worden war, erfuhr erst sehr viel später von Dritten, dass die Mutter ihre übrigen Kinder getötet und anschließend erfolg- los versucht hatte, sich selbst umzubrin- gen. Sie überlebte, brachte es aber nie über sich, der verbliebenen Tochter die Wahrheit über das Schicksal ihrer Ge- schwister zu sagen. Der Anlass zur Auseinandersetzung mit den Kriegsgeschehnissen war für Mu- seumschefin Petra Clemens jedoch ein ak- tueller: Seit geraumer Zeit versucht die örtliche NPD, politisches Kapital aus Demmins tragischer Geschichte zu schla- gen – mit jährlichen Fackelmärschen zum Kriegsende, bei denen Kränze in die Peene gelassen und Erinnerungen von Zeugen des Massensuizids und der Verge- waltigungen durch Rotarmisten verlesen werden. „Solchen Opfermythen wollte ich durch Faktenrecherche etwas entge- gensetzen“, sagt Clemens. Bei Veranstal- tungen zum Thema sei sie im Übrigen im- mer wieder überrascht, dass die Genera- tion der Über-70-Jährigen in Demmin sehr ausgewogen über die Kriegsereig- nisse urteile. „Da werden Ursache und Wirkung nicht verwechselt.“ Gerade die schwierige Einordnung der Selbsttötungen hält der Historiker Florian Huber für den Grund, weshalb das Thema jenseits von Demmin bis heute relativ we- nig erforscht und diskutiert wurde. „Viele der Menschen, um die es hier geht, passen in keine der gängigen Aufar- beitungskategorien. Sie sind weder Täter noch Opfer, weder Helden noch Nazis.“ Margit Siebner, die Überlebende, erin- nert sich gut an die Verzweiflung, die in der letzten Kriegsphase in Berlin um sich griff. Der Direktor eines chemischen Be- triebs hatte ihr heimlich eine Anstellung verschafft, unerkannt arbeitete sie dort bis zum Kriegsende. Während sie selbst gemeinsam mit den in der Fabrik einge- setzten Zwangsarbeitern der Befreiung durch die Rote Armee entgegenfieberte, sah sie, wie die deutschen Kollegen zu- nehmend niedergeschlagener wurden, ihre Sprache verloren, innerlich zusam- menbrachen. „Die Untergangsstimmung war greifbar“, erinnert sie sich. Wirklich überrascht, sagt Margit Sieb- ner, sei sie nicht gewesen, als sie erfuhr, dass ihr einstiger Peiniger, der Blockwart vom Spittelmarkt, sich umgebracht hatte. Beim anders gearteten Freitod ihrer Neu- köllner Bekannten dagegen habe sie zwar begriffen, was die Frau in den Tod trieb. Schockiert habe die Tat sie trotzdem. und Kugel Nesta Robert „Bob“ Marley (links) wird am 6. Februar auf Jamaika geboren. International berühmt wird der „Godfather of Reggae“ mit Liedern wie „I Shot The She- riff“ und „No Woman, No Cry“. Alexander Fleming erhält den Medizin-Nobelpreis für die Entde- ckung des Penicillins und seine hei- lende Wirkung bei Infektionen. Die Frankfurter Rundschau er- scheint am 1. August als erste Li- zenzzeitung in der amerikani- schen Besatzungszone. Früher dran war die Berliner Zeitung im sowjetischen Sektor, im Westteil der Stadt folgt am 27. Septem- ber der Tagesspiegel. Gift, D WAS 1945 NOCH GESCHAH Penicillin und Presse Deutschland, Mai 1945. Der Krieg geht zu Ende – und Zehntausende nehmen sich das Leben: Nazis fürchten Strafe, Frauen erleben Gewalt, andere verzweifeln in den Trümmern Von Jens Mühling Geteilte Erinnerung. Die NS-Überlebende Margit Siebner er- lebte zwei Suizide: den ihres Peinigers und den einer Freun- din. Foto: Thilo Rückeis Ertrunken, vergiftet, erhängt. Auszug aus dem Totenbuch derGemeinde Demmin in Vorpom- mern vom Mai 1945. Foto: laif/Andreas Herzau Familienbande. Der Bürgermeister von Leipzig vergiftete sich 1945 mit Frau und Tochter. Auch um diesen Fall geht es in Florian Hubers Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“. Foto: imago/Leemage Nicht nur sich selbst, auch ihre Kinder töteten sie Als das Wunder ausblieb, erschoss er sich Mit SONNTAG, 8. FEBRUAR 2015 / NR. 22 308 DER TAGESSPIEGEL S7 DIE GESCHICHTE Strick

S7 Gift, - zeitzeugenboerse.de · [PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG ... „Syphilis!“ zischen, wenn die Soldaten der Roten Armee zudringlich „Komm, Frau!“

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[PROD_10: TSP_04-VP_SONNTAG-SONNTAG <SONNTAG7R> ... 08.02.15] Autor:J_MUEHLING 09.02.15 13:42

In den Tagen, als die Menschen ihrLeben wegwarfen, war Margit Sieb-ner froh, überhaupt noch am Le-ben zu sein. Dass so viele sterbenwollten, ausgerechnet jetzt, war be-

fremdlich für eine, die dem Tod geradeentgangen war.

Berlin-Lichtenrade, ein Wohnzimmerim Erdgeschoss, im überquellenden Bü-cherregal steht Primo Levi, „Das periodi-sche System“, neben anderer Überleben-den-Literatur. Margit Siebner, geboren1928, jüdischer Vater, nicht jüdische Mut-ter, schüttet Dokumente auf den Couch-tisch. Eine Urkunde von 1934, zur Verlei-hung des Ehrenkreuzes an den Vater, derfreiwillig in den Ersten Weltkrieg gezo-gen war, der Reichskanzler und Führerdankte es ihm. Nur wenige Jahre späterentstand das Foto, das den Vater inSchanghai zeigt, da betrieb er eine deut-sche Leihbücherei, mit dem letztenFlüchtlingsschiff war er dem Reichskanz-ler und Führer entkommen.

Schließlich der letzte Brief, 24 Worteauf einem Nachrichtenvordruck des Ro-ten Kreuzes: „Geliebte Kinder! Bin nochin ärztlicher Behandlung. Viel Geld gehtdrauf. Mein einziger Gedanke ist, wannich Euch wiedersehe. Seid innigst ge-grüßt. Euer Papimann.“ Margit Siebnersah ihren Vater nicht wieder, Fritz Cohnstarb 1944 in Schanghai an Kehlkopftu-berkulose. Heute erinnert in Berlin einStolperstein an ihn, am Spittelmarkt, vordem Haus, in dem seine Tochter denKrieg durchlebte, versteckt, vom Vatergetrennt, schikaniert als Halbjüdin.

Als Margit Siebner am 8. Mai 1945 ausden Trümmern kroch, begann für sie dasLeben. Gleichzeitig wurde sie Zeuge,wie für andere das Sterben begann.An zwei Menschen, die in denNachkriegstagen Hand an sich leg-ten, erinnert sich die 86-Jährigemit sehr unterschiedlichen Ge-fühlen.

Da war der Blockwart desViertels am Spittelmarkt.Der, wenn Bomben fielen,das Mädchen Margit nie inden Luftschutzbunker gelas-sen hatte, „die Judengöresoll verrecken“, hatte er ge-sagt. Bis zum Schluss fanta-sierte der Mann vom End-sieg, beschwor die Wunderwaf-fen des Raketeningenieurs Wern-her von Braun, erwartete jeden Mo-ment die entscheidende Kriegs-wende, sang Zarah Leander: „Eswird einmal ein Wunder gesche-hen...“ Als das Wunder ausblieb, er-schoss er sich. Margit Siebner er-fuhr es von Freunden.

Und da war die Bekannte aus Neu-kölln. Der nicht gelang, was Margit unddie anderen Mädchen in den Nachkriegs-tagen täglich praktizierten: sich hässlichmachen, „Syphilis!“ zischen, wenn dieSoldaten der Roten Armee zudringlich„Komm, Frau!“ riefen. Die Bekannte ent-ging den Vergewaltigungen nicht, ertrugsie nicht, nahm sich das Leben.

Es waren keine Einzelfälle. Wie vieleDeutsche in den Tagen und Wochen umdas Kriegsende in den Tod gingen, weißniemand. Margit Siebners Bekannte

könnte zu jenen226 Freitoten zäh-len, die das Neuköll-ner Standesamt imMai 1945 für denBezirk registrierte –oder zu jenen unge-zählten anderen To-ten, bei denen sichin den Kriegs- undNachkriegswirren

niemand die Mühe machte, eine Todesur-sache festzuhalten. Schon an den regis-trierten Fällen aber lässt sich die dramati-sche Wellenbewegung ablesen, mit derdie Zahl der Suizide um das Kriegsendeherum abrupt anstieg und allmählich wie-der abflachte: Allein im Bezirk Neukölln,meldete der Tagesspiegel Ende 1945,seien „die Selbstmorde von 226 im Maiauf 3 im Oktober zurückgegangen“.

Für alle Bezirke zusammen verzeich-nete das Kompendium „Berlin in Zahlen“im finalen Kriegsjahr mehr als 7000 ge-meldete Suizide, zu denen sich eine un-

übersehbare Dunkelziffer addierendürfte. Ob die entsprechende Zahl fürganz Deutschland eher „im unteren oderoberen fünfstelligen Bereich“ liegt, seinicht mehr zu ermitteln, schreibt der His-toriker und Dokumentarfilmer FlorianHuber in seinem Buch „Kind, versprichmir, dass du dich erschießt – Der Unter-gang der kleinen Leute 1945“, das am 16.Februar im Berlin Verlag erscheint. In je-dem Fall, konstatiert Huber, sei die„Selbstmordepidemie“ um das Kriegs-ende ein „Massenphänomen erschrecken-den Ausmaßes“ gewesen.

Huber geht dem Phänomen in erster Li-nie anhand von Tagebuchaufzeichnun-gen aus der Kriegszeit nach. In den priva-ten Notizen „kleiner Leute“, die der Histo-riker überwiegend im Deutschen Tage-bucharchiv der Stadt Emmendingen ein-sah, tauchen bereits in den letzten Kriegs-monaten verstärkt Selbstmordgedankenauf, beflügelt von der absehbaren Nieder-lage und der Furcht vor Vergeltung durchjene „asiatischen Horden“, deren Zerr-bild im finalen Kriegsabschnitt dieNS-Propaganda beschwor. In Tagebuch-einträgen ist von Rasierklingen, Revol-vern, Zyankali- und Blausäurekapseln dieRede, mit denen sich die Menschen aus-zustatten beginnen, während in den Kir-chen Pfarrer gegen die „Sünde des Selbst-mords“ anpredigen, deren zunehmendeAkzeptanz in der Bevölkerung den Got-tesdienern nicht entging.

Zeitgleich wurde der Suizid auch aufstaatlicher Ebene schleichend enttabui-siert, zuletzt sogar unverhohlen propa-giert, als gebotenes und einziges Mittel,um dem Ehrverlust einer Niederlage zuentgehen. Es war der Weg, den am 30.April schließlich Hitler selbst beschritt.Einen Tag später ermordeten Propagan-daminister Joseph Goebbels und seineFrau mit Zyankali ihre sechs Kinder undnahmen das Gift anschließend selbst ein.In einem Brief an ihren Sohn aus ersterEhe hatte Magda Goebbels zuvor formu-

liert, was Florian Huber „das suizidaleGlaubensbekenntnis der Nationalsozialis-ten“ nennt:

„Unsere herrliche Idee geht zuGrunde“, schrieb sie, „und mit ihr alles,was ich Schönes, Bewundernswertes, Ed-les und Gutes in meinem Leben gekannthabe. Die Welt, die nach dem Führer unddem Nationalsozialismus kommt, istnicht mehr wert, darin zu leben, und des-halb habe ich auch die Kinder hierher mit-genommen. Sie sind zu schade für dasnach uns kommende Leben, und ein Gnä-diger Gott wird mich verstehen, wenn ichselbst ihnen die Erlösung geben werde.“

Zahllose NS-Funktionäre taten es ihrgleich. Martin Bormann vergiftete sichmit Blausäure, Heinrich Himmler mitdem Blausäuresalz Zyankali. Durch ei-gene Hand starben die Reichsminister fürErnährung, Gesundheit, Justiz, Wissen-schaft und Erziehung, Hitlers Kanzlei-chef, der Führer der Deutschen Arbeits-front, der Chef des Reichssippenamts,der Polizeipräsident von Potsdam, derGestapo-Chef von Dresden, ein DutzendGauleiter, 53 Generäle des Heeres, 14der Luftwaffe, elf der Admiralität, unge-zählte Bürgermeister, Reichstagsabgeord-nete sowie Funktionäre des Sicherheits-und Terrorapparats.

Während sich die Täter-Kaste desNS-Systems durch den Freitod ihrerSchuld, Verantwortung und absehbarenBestrafung entzog, waren die Motive inanderen Teilen der Bevölkerung wenigereindeutig. Die staatlich angeheizte Angstvor Vergeltung, die im Osten des Landesmit dem Vorrücken der Roten Armee vie-lerorts Realität wurde, spielte eine ent-scheidende Rolle. Auch in Westdeutsch-land, sagt der Historiker Florian Huberim Gespräch, hätten sich die Menschenpropagandabedingt vor der Rache derAmerikaner gefürchtet. VerdrängteSchuldgefühle verstärkten solcheÄngste. „Die Deutschen wussten sehr ge-nau, was sie angerichtet hatten“, sagt Hu-

ber. „Das wird beim Lesen der Tagebü-cher deutlich.“

Fanatisierte Hitler-Anhänger trieb da-gegen eher das Scheitern ihres Lebensent-wurfs in den Tod, wie es im eingangs be-schriebenen Fall des Blockwarts vom Spit-telmarkt gewesen sein dürfte. Wieder an-dereMenschenbeschreibeninihrenTage-büchern die gähnende Leere, die sich mitdem absehbaren Ende des NS-Systemsauftat. „Die Deutschen hatten zwölf Jahrelang im permanenten Ausnahmezustandgelebt“, erklärt Florian Huber. „Am Endeglaubten viele wirklich, dass sie nur sie-gen oder untergehen konnten – alles odernichts.“

Allein vor diesem Hintergrund ist wohlzu erklären, dass in vielen Fällen die Men-schen nicht nur ihr eigenes Leben, son-

dern auch das ihrerFamilien auslösch-ten und dabei selbstkleine Kinder mit inden Tod rissen. Inbesonderer Schreck-lichkeit brach sichdiese Untergangs-stimmung im vor-pommerschen OrtDemmin Bahn, 170

Kilometer nördlich von Berlin. In denletzten Kriegstagen sprengte die nachWestenfliehendeWehrmachthierdieBrü-cken über die umliegenden Flüsse, wes-halb die mit Flüchtlingen überfüllte Stadtschutzlos dem Ansturm der Roten Armeeausgeliefert war. Noch bevor deren erstePanzer die Stadtgrenze erreichten, nahmder Massensuizid von Demmin seinenLauf. Zu Hunderten ertränkten sich Men-schen im flachen Wasser der Peene, derTollense und der Trebel, erschossen sichoder hängten sich auf, öffneten ihre Puls-adern oder schluckten Gift. Mindestens500 Demminer gingen in den Tod, andereSchätzungen sprechen von bis zu 2000Menschen – in einer Stadt, die damals we-nig mehr als 15000 Einwohner hatte.

Petra Clemens, die Leiterin des Demmi-ner Regionalmuseums, stieß bei ihren Re-cherchen zum Thema auf erschütterndeEinzelfälle. Eine Einwohnerin, die in denKriegswirren von ihren Eltern getrenntworden war, erfuhr erst sehr viel spätervon Dritten, dass die Mutter ihre übrigenKinder getötet und anschließend erfolg-los versucht hatte, sich selbst umzubrin-gen. Sie überlebte, brachte es aber nieüber sich, der verbliebenen Tochter dieWahrheit über das Schicksal ihrer Ge-schwister zu sagen.

Der Anlass zur Auseinandersetzungmit den Kriegsgeschehnissen war für Mu-seumschefin Petra Clemens jedoch ein ak-tueller: Seit geraumer Zeit versucht dieörtliche NPD, politisches Kapital ausDemmins tragischer Geschichte zu schla-gen – mit jährlichen Fackelmärschen zumKriegsende, bei denen Kränze in diePeene gelassen und Erinnerungen vonZeugen des Massensuizids und der Verge-waltigungen durch Rotarmisten verlesenwerden. „Solchen Opfermythen wollteich durch Faktenrecherche etwas entge-gensetzen“, sagt Clemens. Bei Veranstal-tungen zum Thema sei sie im Übrigen im-mer wieder überrascht, dass die Genera-tion der Über-70-Jährigen in Demminsehr ausgewogen über die Kriegsereig-nisse urteile. „Da werden Ursache undWirkung nicht verwechselt.“

Gerade die schwierige Einordnung derSelbsttötungenhältderHistorikerFlorianHuber fürden Grund,weshalb das Themajenseits von Demmin bis heute relativ we-nig erforscht und diskutiert wurde.„Viele der Menschen, um die es hiergeht, passen in keine der gängigen Aufar-beitungskategorien. Sie sind weder Täternoch Opfer, weder Helden noch Nazis.“

Margit Siebner, die Überlebende, erin-nert sich gut an die Verzweiflung, die inder letzten Kriegsphase in Berlin um sichgriff. Der Direktor eines chemischen Be-triebs hatte ihr heimlich eine Anstellungverschafft, unerkannt arbeitete sie dortbis zum Kriegsende. Während sie selbstgemeinsam mit den in der Fabrik einge-setzten Zwangsarbeitern der Befreiungdurch die Rote Armee entgegenfieberte,sah sie, wie die deutschen Kollegen zu-nehmend niedergeschlagener wurden,ihre Sprache verloren, innerlich zusam-menbrachen. „Die Untergangsstimmungwar greifbar“, erinnert sie sich.

Wirklich überrascht, sagt Margit Sieb-ner, sei sie nicht gewesen, als sie erfuhr,dass ihr einstiger Peiniger, der Blockwartvom Spittelmarkt, sich umgebracht hatte.Beim anders gearteten Freitod ihrer Neu-köllner Bekannten dagegen habe sie zwarbegriffen, was die Frau in den Tod trieb.Schockiert habe die Tat sie trotzdem.

und Kugel

Nesta Robert „Bob“ Marley (links)wird am 6. Februar auf Jamaika

geboren. International berühmtwird der „Godfather of Reggae“mit Liedern wie „I Shot The She-riff“ und „No Woman, No Cry“.

Alexander Fleming erhält denMedizin-Nobelpreis für die Entde-

ckung des Penicillins und seine hei-lende Wirkung bei Infektionen.

Die Frankfurter Rundschau er-scheint am 1. August als erste Li-zenzzeitung in der amerikani-schen Besatzungszone. Früherdran war die Berliner Zeitung imsowjetischen Sektor, im Westteilder Stadt folgt am 27. Septem-ber der Tagesspiegel.

Gift,

DWAS 1945 NOCH GESCHAH

Penicillin und Presse

Deutschland, Mai 1945.Der Krieg geht zu Ende– und Zehntausendenehmen sich das Leben:Nazis fürchten Strafe,Frauen erleben Gewalt,andere verzweifelnin den Trümmern

Von Jens Mühling

Geteilte Erinnerung.Die NS-ÜberlebendeMargit Siebner er-lebte zwei Suizide:den ihres Peinigersund den einer Freun-din. Foto: Thilo Rückeis

Ertrunken, vergiftet, erhängt. Auszug aus demTotenbuch der Gemeinde Demmin in Vorpom-mern vom Mai 1945. Foto: laif/Andreas Herzau

Familienbande. Der Bürgermeister von Leipzig vergiftete sich 1945 mit Frau und Tochter. Auch um diesen Fall gehtes in Florian Hubers Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“. Foto: imago/Leemage

Nicht nursich selbst,auch ihreKindertöteten sie

Als dasWunderausblieb,erschosser sich

Mit

SONNTAG, 8. FEBRUAR 2015 / NR. 22 308 DER TAGESSPIEGEL S 7DIE GESCHICHTE

Strick