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JOURNAL THEATER #3 BASEL SPIELT MIT

THEATER JOURNAL...Biljana Srbljanović macht sich über ihre Figuren, die genauso gut aus - teilen wie einstecken können, nicht lustig, sondern zeichnet sie – ob-gleich die Situationen,

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JOURNAL

THEATER

#3

BASEL SPIELT MIT

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Es gibt Banken,die machenTheater.Und eine, diefördert dasBallett Basel.

blkb.ch Partner des Ballett Theater Basel.

Wir gratulieren Richard Wherlock

herzlich zu seinem

15-jährigen Jubiläum

als Ballett-Direktor

am Theater Basel.

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ADRESSEN UND KONTAKTE INTENDANT Andreas BeckVERWALTUNGSDIREKTORIN Danièle GrossREDAKTION Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit, Junges Haus und BetriebsdirektionGESTALTUNG muxpp.deBASISKONZEPT raffinerie.comFOTONACHWEISE Sylvia Lutz (S. 1), Sandra Then (S. 9, 21, 25), Heather Judge (S. 10), Sandrine Ritter (S. 11, 22), Kim Culetto (S. 12, 24), Christian Knieps (S. 21), Elena Brotschi (S. 26)

BILLETTKASSE Telefon +41 (0)61 295 11 33; www.theater-basel.chÖFFNUNGSZEITEN DER BILLETTKASSE Theaterplatz: Mo – Sa, 11 – 19 UhrDIE ABENDKASSE öffnet eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. VORVERKAUF AUCH ÜBERKulturbüro Riehen, Baselstrasse 43Kantonsbibliothek Baselland Liestal, Emma Herwegh-Platz 4

AKTUELLE SPIELPLANINFORMATIONENwww.theater-basel.ch – Änderungen vorbehalten

THEATER BASEL, Postfach, CH-4010 Basel Grosse Bühne, Kleine Bühne, Nachtcafé / Box: Theaterstrasse 7, 4051 BaselSCHAUSPIELHAUS: Steinentorstrasse 7, 4051 Basel  

Partner des Ballett Theater Basel: Medienpartner: +

Eine Beilage der bz Basel. SO TÖNT S LÄBE

BILLETTKASSEMo bis Sa, 11 – 19 UhrAbendkasse: Jeweils 1 Std. vor Vorstellungsbeginn [email protected] +41 (0)61 295 11 33

Dieses Bild hat uns Leah geschickt. Sie hat es nach einem Besuch der Oper «Die Zauberflöte» gemalt. Vielen Dank!

Liebe Leserinnen und Leser

Auch für die dritte und letzte Ausgabe des Theater-journals in der Saison 2015/16 konnten wir wieder interessante Gespräche führen. Mit Gerontologin Dr. Stefanie Becker sprachen wir über den schmalen Grat zwischen Depression und Demenz im Alter, mit dem Experten für für Alte Musik Johannes Keller über Melancholie in der Musik. Ausserdem antworteten Barbara Horvath und Michael Wächter aus dem Schau-spielensemble auf Fragen von Schüler_innen zu Kunst, Nacktheit auf der Bühne und «modernem» Theater.

In einem Selbstversuch möchten wir Ihnen einen Einblick in den Beruf der Maskenbildner_in am Theater bieten, und mit einem Rückblick in Bildern schauen wir auf 15 Jahre Ballett mit Richard Wherlock.

Wir freuen uns, Sie im Theater Basel begrüssen zu dürfen – doch nicht nur hier, denn das Theater Basel finden Sie in den kommenden Monaten auch an ver-schiedenen Orten im Stadtraum und im Baselbiet. «Basel spielt mit» meint aber auch die Basler_innen, die sich in einigen Produktionen des Theater Basel selbst auf die Bühne wagen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre und spannende Einblicke in Ihr Theater Basel!

Ihre Redaktion

4 15 JAHRE BALLETT MIT RICHARD WHERLOCK 6 ALT WERDEN, ABER NICHT ALT SEIN 10 BRUNO GUILLORE IM GESPRÄCH 11 BARRIEREFREIES THEATER BASEL 12 BASEL SPIELT MIT 13 WIR SIND DABEI 14 HINTER DEN KULISSEN 16 DIE POESIE DER MELANCHOLIE 20 MEINE VERWANDLUNG IN EINE HEXE 21 PETERLICHT: DER MENSCHEN FEIND 22 DAS REZEPT: BLAUE KARTOFFELSUPPE 23 JUNGES HAUS 26 KOLUMNE: DO IT YOURSELF?

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A MIDSUMMER NIGHT'S DREAM

A SWAN LAKE CARMEN

DER NUSSKNACKER BEAUTY 2.0 EUGEN ONEGIN

JAMES ODER LA SYLPHIDEGISELLE

15 JAHRE BALLETT MIT

RICHARD WHERLOCK

Fotos: Ismael Lorenzo

Ein Rückblick in Bildern4

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JUDITHA TRIUMPHANS

TEWJE THE FAIRY QUEEN

TRAVIATA – EIN BALLETT

LE SACRE DU PRINTEMPS SNOW WHITE

JUBILÄUM

Basel gilt heute als Ballettstadt, als Ort, an dem sich insbesondere der zeitgenös-sische Tanz und zeitgemäss inszenierte Handlungsballette grosser Beliebtheit erfreuen. Diesen Ruf verdankt die Stadt auch Richard Wherlock, der das Gesicht des Tanzes als Chefchoreograf und Ballettdirektor in den Jahren von 2001 bis heute am Theater Basel nachhaltig prägte und durch seine persönliche Präsenz in der Stadt bei Publikum und Besucherorganisationen beliebt ist. Mit Richard Wherlock an der Spitze erneuerte sich die Geschichte des Balletts am Theater Basel auf grundlegende Weise. Der ambitionierte und hochproduk-tive Ballettchef verstand es, über 15 Jahre lang in harter, konsequenter Arbeit ein Ensemble von höchstem technischen Niveau aufzubauen, das sowohl im neoklas-sischen Bereich als auch in den zeitgenössischen Tanztechniken mit der Weltelite mithalten kann und immer wieder mit weltweit renommierten Kompanien vergli-chen wird. Das Ensemble besteht heute aus 30 Tänzerinnen und Tänzern. Richard Wherlock kam nach Stationen in Hagen, Luzern und Berlin nach Basel. Man kann ihn als sanften Erneuerer bezeichnen: Auf das Erbe des klassischen und des modernen Vokabulars aufbauend, choreografiert er zeitgenössischen Tanz von höchster Dynamik, den er in seinen abendfüllenden Handlungsballetten in traditioneller Erzählform auf die Bühne bringt. Seine choreografischen Arbeiten sind von sprühender, sportlicher Spannung und verspielter Virtuosität.

15 JAHRE BALLETT MIT RICHARD WHERLOCK

Jubiläumsabend«15 JAHRE BALLETT MIT RICHARD WHERLOCK»SA 2.4., 19 UHR & SO 3.4., 18 UHR, GROSSE BÜHNE

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ABER NICHT ALT SEIN

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6 Biljana Srbljanovićs Komödie «Heuschrecken» am Theater Basel

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Wie lange ist man jung? Ab wann ist man alt? Und was ist man dazwi-schen? Durch den demografischen Wandel der letzten Jahrzehnte (ge-stiegene Lebenserwartung, gesun-kene Geburtenrate) haben sich die Lebensentwürfe und Vorstellun-gen, was Jung- und Altsein bedeu-tet, verändert: Heute gibt es Kin-der, die den Tagesarbeitsplan von Erwachsenen haben; und es gibt die «jungen Alten», die sich nach der Erwerbstätigkeit aktiv neue Welten erschliessen und so gar nicht dem Klischee der Oma oder des Opas entsprechen.Die neuen Selbstbilder der Gene-rationen und die Konflikte, die ent-stehen, wenn diese aufeinander-prallen, kennt jeder von uns. Sie bieten die Grundlage für ernsthafte soziologische Diskussionen, sind aber auch Stoff für eine bitterböse Komödie der serbischen Autorin Biljana Srbljanović. Ihr Stück «Heu-schrecken» spielt zwar im heuti-gen Serbien, das auf der Suche nach einer neuen Identität zwi-schen gestern und morgen, zwi-schen Ost und West ist; ihre Fi-guren und deren oft lächerliche, eitle und egoistische Nöte finden sich in fast allen Gesellschaften westlicher Prägung.Die Autorin schickt elf Figuren zwi-schen zehn und achtzig Jahren in wechselnden Konstellationen in den theatralen Boxring, in dem sie in messerscharfen Dialogen ihren komödiantischen Schlagabtausch vollziehen. Srbljanovićs Haupt-these ist: In der heutigen neolibera-len Gesellschaft kann man über-haupt nicht mehr jung sein, obwohl man natürlich jung aussehen muss, um Erfolg zu haben! So schreibt sie im Vorwort: «Alle Helden sind sehr alt. Besonders die jüngsten.» Das beweist etwa die 10-jährige Alegra, die vollkommen hemmungslos und mit geschliffenen Worten Vater Milan und den Grossvater bloss-stellt. Milan wiederum ist mit 35

Jahren schon frühpensioniert, ob-wohl ihm gar nichts fehlt. Maks, ein erfolgreicher Fernsehjournalist Mitte fünfzig, versucht erfolglos, sich gegen die Anzeichen des Al-terns zu wehren, da hilft auch die junge Freundin nicht. Und Fredi, ein 39-jähriger, gut aussehender Dermatologe, lässt sich liften, aus Angst, keinen Sexualpartner mehr zu finden.Biljana Srbljanović macht sich über ihre Figuren, die genauso gut aus-teilen wie einstecken können, nicht lustig, sondern zeichnet sie – ob-gleich die Situationen, in die sie sie bringt, häufig mehr als grotesk sind – mit liebevoller Wahrhaftig-keit. Sie vermittelt uns, dass wir ihnen allen schon einmal begegnet sind, vielleicht sogar beim Blick in den Spiegel. Und so wer-den wir im Zuschauer-raum nicht zuletzt auch über uns selbst lachen können. Der Belgrader Regis-seur Miloš Lolić nimmt die Autorin beim Wort und besetzt die Rollen nicht durchgehend al-tersgemäss, sondern lässt beispielsweise die drei 80-Jährigen im Stück von den jun-gen Ensemblemitglie-dern Lisa Stiegler, Urs Peter Halter und Mi-chael Wächter spie-len, denen man auf der Bühne also somit live beim Altern zuse-hen kann. Die Arbeit an diesem Stück, das zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen sein wird, war für Dramatur-gin Almut Wagner Anlass, mit einer Altersforscherin zu sprechen.

ALT WERDEN, ABER NICHT ALT SEIN

BILJANA SRBLJANOVIĆ

Biljana Srbljanović, die seit vielen Jah- ren als die wichtigste zeitgenössische Dramatikerin Serbiens gilt, wurde 1970 in Stockholm geboren und studierte Dramaturgie und Theaterwissenschaft in Belgrad. Mit ihrem ersten Stück «Belgrader Trilogie» gelang ihr 1998 international der Durchbruch. Es folg- ten «Familiengeschichten. Belgrad», «Der Sturz» und «Supermarket. soap opera» (Schweizer Erstaufführung am Theater Basel 2002). Einer breiten Leser- schaft bekannt wurde sie durch die Veröffentlichung ihrer Tagebuchauf-zeichnungen während der Nato-Luft- angriffe auf Jugoslawien 1999 in der Zeitschrift «Der Spiegel». Es folgten u. a. die Stücke «God Save America» und «Dieses Grab ist mir zu klein», geschrieben für das Schauspielhaus Wien. «Heuschrecken» wurde in «Theater heute» 2006 zu einem der besten ausländischen Dramen gewählt. In Serbien ist Srbljanović auch als pro- vokante und unbequeme Intellektuelle

bekannt, die sich regelmässig gegen politische Missstände und Korruption aus-spricht. Sie kandidierte 2008 für die Partei LDP um das Amt der Bürger-meisterin von Belgrad.

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SCHWEIZERISCHE ALZHEIMER-

VEREINIGUNG

Die Schweizerische Alzheimervereini-gung ist eine unabhängige, konfessionell und politisch neutrale gemeinnützige Organisation, die von Dr. Stefanie Becker geleitet wird. Sie hat ihren Hauptsitz in Yverdon-les-Bains. Die Alzheimervereini-gung setzt sich ein für eine Gesellschaft, in der die Menschen gleichwertig und gleich geschätzt miteinander leben. Sie ergreift Partei für Menschen, die an einer Demenzerkrankung leiden und strebt die Information und Sensibilisierung der Öffentlichkeit an (www.memo-info.ch). Mit ihren 21 kantonalen Sektionen steht sie Betroffenen und ihren Angehörigen vor Ort mit Beratungen und Dienstleis-tungen zur Verfügung, so auch in Basel: www.alzbb.ch.

PREMIERE: FR 22.4., 20 UHRNÄCHSTE VORSTEL-LUNGEN: 28.4., 2.5., 4.5., 17.5., 20.5., JEWEILS 20 UHR, KLEINE BÜHNE

HEUSCHRECKEN

Die Schweizer Erstaufführung von «Heuschrecken» wird von dem Belgra-der Regisseur Miloš Lolić inszeniert.

Nach zahlreichen Arbeiten in Exjugoslawien und in München, Wien, Berlin und Düsseldorf arbeitet er zum ersten Mal in der Schweiz.

Frau Becker, kann man die Frage «Wann ist man alt?» allgemeingültig beantworten?

Nein, das ist leider sehr schwierig, denn es gibt im Grunde verschiedene Definitionen, die sich nach dem jeweiligen Kontext richten. Ökonomisch gesehen könnte man sagen, der Eintritt in das Rentenalter ist auch der Eintritt in das Alter – was natürlich auch merkwürdig ist, weil das Pen-sionierungsalter in den Ländern unterschiedlich ist. In der Schweiz wären Sie also als Frau mit 63 Jahren alt, als Mann erst mit 65, in Deutschland dagegen erst mit 67 Jahren. Man könnte auch sagen: Wenn man eine Lesebrille benö-tigt, beginnt man, alt zu werden. Dabei ist das eigene Alter oft ein sehr subjektives Gefühl, das sich auch nicht nur an körperlichen oder geistigen Merkmalen alleine festmachen lässt. Viele ältere Menschen sind heute noch körperlich fit, aber bauen geistig ab; andere leiden unter grossen kör per-lichen Einschränkungen, sind aber bis an die 100 noch vol-ler Geisteskraft. Sie nehmen lebhaft am Leben teil und ha-ben sich ihre Neugierde auf Neues erhalten. Ab 85 Jahren spricht man im Übrigen von Hochaltrigen oder auch vom 4. Lebensalter. Und es gibt natürlich auch jene, die sowohl geistig als auch körperlich noch sehr fit sind. Die Vielfalt der Alternsprozesse ist also sehr gross, sodass es eigentlich auch wenig Sinn macht, «Alter» allgemein zu definieren.

Man kann also jung in einem alten Körper sein. Welch eine tröstliche Vorstellung.

Genau. Wichtig ist, dass man nicht aufhört, gute Beziehun-gen zu pflegen. Das müssen auch gar nicht viele sein. Es reichen einige wenige intensive Freundschaften, gerade wenn der Partner nicht mehr am Leben ist. Dann ist es auch nicht wichtig, dass man sich täglich sieht oder austauscht, sondern dass man das Interesse an anderen Menschen be-hält. Das hält jung, wenn man das so sagen möchte, aber vor allem ist es gut für die psychische Verfassung. Und für uns alle gilt: Wir alle wollen alt werden ... aber lieber dann doch nicht alt sein – ein paradoxer Wunsch.

In «Heuschrecken» ist Alegra mit 10 Jahren die Jüngste, sie ist sehr altklug und agiert wie ein Fami-lienoberhaupt. Ihr Vater Milan ist 35 und als ehe-maliger Polizist schon pensioniert. Beobachten Sie eine um sich greifende «Frühvergreisung»?

Nein, ganz im Gegenteil. Mir gefällt dieser Begriff auch nicht wirklich, da man heute auch nicht mehr von «Vergrei-sung» spricht. Aufgrund der heutigen Lebenserwartung haben Menschen mit Eintritt in die Pension noch ein gutes Drittel an Leben vor sich. Diese Jahre werden auch zuneh-mend mit Leben gefüllt – und eben nicht nur das Leben mit Jahren. D.h. auch Senior_innen im höheren Lebensalter gehören heute zum normalen Strassenbild in unserer Ge-sellschaft, man trifft sie im Fitnessstudio genauso wie im Kino oder im Kindergarten, wenn sie die Enkel abholen. Und das ist auch gut so! Was man aber beobachten kann, ist, dass es in den jüngeren Generationen in letzter Zeit eine Wende hin zu traditionelleren Werten zu geben scheint. So wird beispielsweise wieder früher und überhaupt geheira-tet. Das hat wahrscheinlich mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, aber sicherlich nicht mit «Frühver-greisung». Aber natürlich gibt es auch unter den jungen Menschen welche mit Eigenschaften, die man zumindest gemäss vorurteilsbehafteter Altersbilder eher älteren Men-schen zuschreiben würde. Beispielsweise geringe Verände-rungsbereitschaft. Aber das gab es auch schon immer.

In «Heuschrecken» treten vier alte Figuren auf. Jede von ihnen lebt in sehr unterschiedlichen Umstän-den: Ignatović wohnt mit der Grossfamilie zusam-men. Simić ist ein Eigenbrötler, Frau Petrović sehnt sich nach der Nähe zu ihrer 50-jährigen Tochter, mit der sie sich aber immer streitet. Und dann gibt es noch Jović, den seine Kinder in einem Heim unter-

gebracht haben. Gibt es DEN einzig richtigen Ent-wurf für den letzten Lebensabschnitt?

Nein, das ist sehr individuell. Das ist ei-gentlich auch logisch, denn in 75 geleb-ten Jahren erleben verschiedene Perso-nen so viele unterschiedliche prägende Erlebnisse, die sie zu der Persönlichkeit machen, die sie dann sind. Entsprechend vielfältig sind auch die Lebensentwürfe und Wünsche im Alter. Manche Men-schen sind sehr glücklich, wenn sie in der Familie aufgehoben sind, andere sehr glücklich allein in ihrer Wohnung. Und nicht alle sind unglücklich in einem Seniorenheim. Man kann sogar beob-achten, dass vor allem Frauen, die Zeit ihres Lebens für den Mann und die Kin-der da waren, nach dem Tod des Part-ners förmlich aufblühen, weil sie zum ersten Mal ihre eigenen Entscheidungen treffen und so leben können, wie sie es sich vorstellen. Das betrifft vor allem die Generation von Frauen, die nicht berufs-tätig war, sondern sich vollkommen den Ansprüchen der anderen Familienmit-glieder untergeordnet hat.

Jović wirkt auf seine Kinder wie «abgeschaltet». Er lebt in einem Heim, haut aber immer wieder ab und kommt zu seinem Sohn, der, obgleich er Arzt ist, vollkommen überfordert ist. Jović isst nichts ausser Zucker, der ihm verboten ist, da er Diabetes hat. Kann man in seinem Fall von Demenz spre-chen?

Das kann, aber muss nicht sein. Der Grat zwischen einer Depression und Demenz ist sehr schmal, vor allem am Anfang ei-ner Demenzerkrankung, wenn die Be-troffenen merken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Depressionen im Alter sind leider keine Seltenheit. Die Gründe da-für sind ganz unterschied-lich, aber sicherlich hat es mit der Frage nach einer sinnstiftenden Tätigkeit auch nach der Pensionierung, der Möglichkeit zu sozialen Kon-takten und auch dem indivi-duellen Gesundheitszustand zu tun. Dazu kommt, dass eine Depression zu sehr ähnlichen Symptomen wie sozialemRückzug, Vergess-lichkeit und Antriebsarmut führen kann. Beide Erkrankun-gen sind jedoch behandelbar – wenn auch Demenz nicht heilbar ist, so hilft eine frühe Diagnose, um das Fortschrei-ten der Erkrankung zu verlangsamen. Was in dieser Thea-terszene aber vielmehr deutlich wird, ist, wie überfordert Familienangehörige sein können, selbst wenn sie wie im

Nadežda: Ich will dir etwas sagen: Für dein Alter siehst du prima aus. Echt, du bist ohne Makel. Beinahe. («Heuschrecken»)

Ein Gespräch mit Gerontologin Dr. Stefanie Becker

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Fall von Fredi Arzt sind, wenn sie einen kranken Menschen zuhause betreuen.

Warum isst er wohl ausgerechnet Zucker, das einzi-ge, was ihm ausdrücklich verboten ist?

Vielleicht will er sich unbewusst etwas Gutes tun, weil er «sich selbst nicht mehr spürt» und in seiner eingeschränk-ten, von familiären Problemen und gesellschaftlicher Zer-rüttung gekennzeichneten Welt für sich keine anderen Ge-nüsse oder Freuden mehr sieht: Warum sollte er jetzt auch noch vernünftig sein? Ich selber liebe Pommes und Pasta, esse es aber nicht täglich, weil mir meine Vernunft sagt: Iss lieber auch mal etwas Gesundes, pass auf dich auf. Solche Ge danken scheinen bei ihm nicht mehr gegeben zu sein, sie haben keine Bedeutung mehr.

Demenz gilt als grosse Herausforderung in unse - rer Gesellschaft. Auch in der Schweiz wie in allen westlichen Ländern steigt die Zahl der Demenz-kranken. Heute leben hier etwa 120000 Menschen mit Demenz. Man erwartet im Jahr 2030 – je nach Quelle – bis zu 200000 Menschen mit Demenz er-krankung, bis 2050 sogar eine Verdopplung. Das Risiko, zu erkranken steigt mit dem Alter.

Das ist richtig. Man muss dabei natürlich berücksichtigen, in welch kurzer Zeit sich die Lebenserwartung deutlich nach oben entwickelt hat. Seit Längerem beobachten wir, dass in den Industriestaaten, aber zunehmend auch in Entwicklungsländern die Menschen durch die bessere Ge-sundheitsversorgung wesentlich älter werden. Das Risiko, eine altersspezifische Krankheit zu bekommen, steigt damit natürlich auch an. Man kann Demenz heute nicht heilen, aber behandeln, sodass ein gutes Leben mit der Erkrankung durchaus möglich ist. Aber neuere Studien (Finnland, UK) zeigen auch ermutigende Resultate. Es scheint sich zu be-stätigen, dass es beeinflussbare Faktoren gibt und sich das Demenzrisiko vermindern lässt. Wer darauf achtet, die kar-diovaskulären Risiken klein zu halten, verbessert auch die geistige Fitness. Es sind jedoch erste, vereinzelte Stu dien, deren Resultate sich noch bestätigen müssen, da sich vor allem der grösste Risikofaktor, das Alter, nicht beeinflussen lässt. Die absoluten Zahlen werden auf alle Fälle steigen, rein aufgrund der Tatsache, dass unsere Gesellschaft im-mer älter wird.

Und die Gesellschaft stellt sich die Frage: Was macht man nun mit den vielen Alten?

Das ist meiner Meinung nach die falsche Perspektive. Aus dieser Formulierung spricht unsere Leistungsgesellschaft. Wenn jemand nicht mehr effizient ist, Leistung erbringt, dann ist er etwas, mit dem man etwas «machen» muss. Etwas anderes ist der Fall: Dieser alte Mensch hat jahrzehn-telang viel für die Gesellschaft geleistet, hat gearbeitet, in die Pensionskasse eingezahlt, hat sich vielleicht ehrenamt-lich engagiert, sich um Eltern und Kindern gekümmert, was er jetzt nicht mehr kann. Wir sollten sagen: Wir danken ihm, und nun ist es an uns, ihn zu versorgen, für ihn Sorge zu tragen. Aber das tun wir nicht. Wir überlegen uns, wie wir ihn «verwalten». In der Präambel der Eidgenössischen Bundesverfassung heisst es doch «... dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Wenn wir das ernst nehmen, sollte ein wertschätzender Umgang mit unserer älteren Bevölkerung selbstverständlich sein.

Im Stück wird der Kampf zwischen den Generatio-nen sehr hart ausgefochten und das Altern als Poli-tikum interpretiert. Was ist Ihre Beobachtung: Ist die Kluft zwischen den Generationen in den letzten Jahren tiefer geworden?

«Kämpfe», Auseinandersetzungen, Interessenkonflikte zwi-schen den Generationen gab es wohl immer und wird es immer geben. Vielleicht verschärfen sie sich unter verstärk-tem ökonomischem Druck und mit der höheren Lebens-erwartung. Aber von einer grösser gewordenen Kluft wür-de ich heute nicht sprechen, auch wenn die Fragen des «Generationenvertrages» politisch hochaktuell sind.

In einer sehr berührenden Szene will der überforderte Sohn den dementen Vater einfach loswer-den, ihn aussetzen. Eine Form der Altentötung. Gibt es dafür Vorbilder?

Ich bin keine Ethnogerontologin. Aber in manchen nicht sesshaften Völkern gibt es so etwas wie «freiwillige Rück-züge», wenn deutlich wird, dass der alte Mensch nicht mehr mitziehen kann dann bleibt er zurück und der Stamm zieht weiter. Auch auf den Bauernhöfen ziehen die Alten ins «Stöckli», wenn sie den Hof der nächsten Generation über-geben.

Das Unwort des Jahres 1998 war «sozialverträgliches Frühable-ben». Damals diskutierte man verschiedene Modelle, die die Kostenexplosion im Ge-sundheitswesen be-kämpfen sollten. Haben wir das heute grund-sätzlich überwunden?

Wir sehen das heute viel diffe-renzierter. Das Altern und die damit verbundenen Phäno-mene sind nicht mehr nur nega tiv besetzt. Es beschäfti-gen sich viele damit, auch auf eine zugewandte Art und Wei-se. Nicht zuletzt waren kürzlich mit «Honig im Kopf» und «Liebe» zwei wichtige Filme zum Thema sehr erfolgreich im Kino. Und die Tatsa-che, dass Sie «Heuschrecken» aufführen, spricht doch auch dafür, dass die Themen «Alter» und «Demenz» weit mehr gesellschaftsfähig geworden sind und es gelungen ist, gewisse gesellschaftliche Bilder positiv zu verändern.

Nadežda: Meine Oma sagte immer: «Es ist nicht schlimm, zu sterben. Es ist nur schlimm, alt zu werden.» («Heuschrecken»)

Milan: Ich bin 35 und schon ein Greis («Heuschrecken»)

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DR. STEFANIE BECKER

Dr. Stefanie Becker ist Psychologin und Gerontologin und beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Thema der Demenz, vor allem aus psychosozialer Perspektive. Seit 2016 ist sie als Geschäfts leiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung mit Sitz in Yverdon-les-Bains tätig.

ALMUT WAGNER

Almut Wagner ist seit dieser Spielzeit Geschäftsführende Dramaturgin des Schauspiels

am Theater Basel.

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BRUNO GUILLORE

Bruno Guillore stammt aus Ägypten, erhielt seine Tanzausbildung in Paris und tanzte in Genf, Lissabon und unter Richard Wehrlock beim Berlin Ballett und am Luzerner Theater. Gemeinsam

mit Hofesh Shechter gründete er die Hofesh Shechter Company, die im englischen Brighton beheimatet ist. Neben seiner leitenden Funktion als stellvertretender künstlerischer Direktor, tanzt er in der Kompanie und studiert das Reper-toire mit anderen Ensembles ein.

Der Ägypter Bruno Guillore ist Grün dungsmitglied und stellver-tretender künstlerischer Direktor der Hofesh Shechter Company. Im Januar verbrachte er zwei Wochen in Basel, wo er mit dem Ballett The-ater Basel Shechters Choreografie «Violet Kid» einstudierte, die im Rahmen der Tanzproduktion «Ob-ject Present» am 20. Mai im Schau-spielhaus Premiere haben wird. Der Basler Ballettdirektor Richard Wherlock und Bruno Guillore ken-nen sich seit vielen Jahren: Guillore war Tänzer in Wherlocks Balletten-sembles in Berlin und Luzern. Wie es ist, sich nach so vielen Jahren wieder zu treffen, fragte die Ballett-dramaturgin Bettina Fischer.

Mehr als fünfzehn Jahre sind vergangen, seitdem du bei Richard im Ensemble als Tänzer engagiert warst. Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder ge-meinsam zu arbeiten?

Es ist unglaublich, fast wie ein «nachhausekommen». Richard Wherlock war mein erster Ballettdirektor nach meiner Ausbildung. Als ich als junger Tänzer in Luzern vor-tanzte, engagierte er mich, und am meisten beeindruckte mich das Vertrauen, das er in uns setzte. Da war so eine Fürsorglichkeit innerhalb des Ensembles, die von Richard ausging und die ein Arbeiten in einem sehr entspannten und sicheren Umfeld möglich machte. Und da war der hohe Anspruch, wirklich hart und ernsthaft zu arbeiten. Eine gute Mischung. Das hat mich bis heute geprägt. Vieles von der Erfahrung, die ich in meinem ersten Arbeitsumfeld machen durfte, fliesst heute in meine Arbeit als Leiter einer Kompa-nie mit ein.

Du hast hier auch einige deiner früheren Tänzerkol-legen wieder getroffen.

Ja, einige tanzen noch immer bei Richard. Das ist eine schöne Sache. Besonders für einen Choreografen ist es sehr angenehm, mit Leuten zu arbeiten, die man lange kennt und die einen sehr gut und vor allem schnell ver-stehen. Das erleichtert die Arbeit ungemein. Denn wenn man einmal die Seiten gewechselt hat, dann realisiert man, wie viel Kraft es braucht, um ein Ensemble zu leiten und

gleichzeitig noch kreativ tätig zu sein. Und dann sind da noch die beiden Bal-lettmeister. Mit Cristiana Sciabordi bin ich seit unserer gemeinsamen Tänzer-zeit befreundet, und Thibaut Cherradi habe ich beim Gulbenkian Ballett in Lis-sabon kennengelernt. Er kam damals aus Italien an gereist, um zwei Stücke von Mauro Bigonzetti mit uns einzustu-dieren. Ja, die Ballettwelt ist klein.

Wenn du von Seiten-wechsel sprichst, trifft das bei dir ja eigentlich nicht zu: Du bist stell-vertretender Leiter der Hofesh Shechter Company, tanzt aber auch noch Vollzeit in dieser Kom panie und studierst zusätzlich Hofeshs Stücke mit an-deren Ensembles ein.

Das ist dem Arbeiten in einer und für eine freie Kompanie geschuldet. Wir können uns nicht viele Tänzer_innen leisten. Da macht es schon Sinn, auch selbst mit auf der Bühne zu stehen. Aber ich will hier nicht jammern. Es macht mir nämlich auch riesigen Spass, Teil des kreativen Teams zu sein und Hofeshs Stücke zu tan-zen. Ich mache wirklich beides wahnsinnig gerne.

Was ist aus deiner Sicht das Besondere an Hofeshs Choreografien?

Sein Tanz ist hochenergetisch, manchmal fast aggressiv. Er choreografiert bedingungslos leidenschaftlich, und die Wirkung seiner Arbeiten ist oft provokativ, obwohl er eigent-lich sehr viel Alltägliches in seine Bewegungsabläufe legt. Seine Bewegungen haben wenig Künstlichkeit. Es ist das Natürliche, das er verzerrt, verfremdet oder einfach nur zu konzentrieren versteht. Gemeinsam mit der Musik nehmen uns seine Stücke mit auf eine Reise, während der wir uns nie einfach nur bequem zurücklehnen können. Und wenn es doch einmal geschieht, dann nur, um uns später wieder aus dem bequemen Zuschauergefühl herauszuzerren.

In diesem Sinne ist wohl auch «Violet Kid» ein ganz typisches Hofesh-Shechter-Stück. Eine Gruppe von Tänzer_innen wandelt sich in eine bedrohliche Men-ge, die über Bewegung und Rhythmus eine archa - ische Urgewalt ausstrahlt.

Ja, genau. Und Hofesh reizt es ausserdem, zu zeigen, wie Menschen langsam die Kontrolle verlieren. Aber keine Sor-ge: Er ist geschickt genug, um zu gefallen und gleichzeitig

«HOFESH REIZT ES, ZU ZEIGEN, WIE

MENSCHEN LANGSAM DIE KONTROLLE

VERLIEREN»

Bruno Guillore von der der Hofesh Shechter Company im Gespräch

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zu beleben. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Aufmerk-samkeit und die Sinne der Zuschauer_innen sind zwar gefordert, aber im Gegenzug werden sie körperlich und emotional berührt. Ich hoffe und wünsche, dass die Tän-zer_innen des Ballett Theater Basel und ihr Publikum diese Energie in Hofeshs Stück gemeinsam spüren und teilen.

Die Choreografie von «Violet Kid» ist für das Basler Ballettensemble ein ganz neuer Stil, den es verin-nerlicht und auf die Bühne bringen wird. Was waren deine Erfahrungen beim Arbeiten mit unseren Tän-zerinnen und Tänzern?

Das Arbeiten mit dem Ballett Theater Basel war fantastisch. Die Tänzer_innen sind so talentiert und gleichzeitig so empfänglich für Neues, dass es für mich eine wahre Freude war, das Stück einzustudieren. Vor den Proben habe ich auch ein paar Mal das tägliche Training für die Kompanie gegeben und auch da: immer wieder wurde ich überrascht von der Offenheit und auch dem Improvisationsvermögen, das dieses technisch niveauvolle Ensemble mir zeigte.

OBJECT PRESENT

OBJECT PRESENT Ein Tanzabend mit zwei Choreografien «VIOLET KID» Choreografie, Kostüme, Licht, Musik von Hofesh Shechter In «Violet Kid» formieren sich die Tänzer_innen zu bedrohlichen Reihen. Unkontrollierte Energie trifft auf verhaltene Kraft. Unvorhersehbare Spannungen und wie von Selbsthass getriebene Protagonist_innen machen das Stück zu einer äusserst intensiven und grenzüberschreitenden Erfahrung. Hofesh Shechter lässt dabei hochener-getischen Tanz und kraftvolle Musik aufeinandertreffen. «ROMANCE INVERSE» Choreografie von Itzik Galili/Musik von Steve Reich, Percossa Itzik Galilis «Romance Inverse» ist eine Choreografie, die sowohl die scharf minimalistische Musik Steve Reichs als auch die dramatisch sinnlichen Rhythmen Percossas auf besondere Art beleuchtet. Mit seiner Mischung aus abwechselnd abgehackten und schwingenden Bewegungen beschwört Galili eine hypnotische Energie, in der er mit unserer Wahrnehmung von Körper und Raum spielt.

Es tanzt das Ballett Theater Basel.

PREMIERE: FR 20.5., 20 UHRWEITERE VORSTELLUNGEN: 22.5. & 26.6., 19 UHR, 24.5., 28.5., 30.5., 3.6, 10.6., 13.6., 17.6., 23.6., JEWEILS 20 UHR, SCHAUSPIELHAUS

BARRIEREFREIESTHEATER BASEL

FÜR GANZ GENAUE

Selbstverständlich sind Operngläser we ni-ger ein Hilfsmittel für Menschen mit Seh-schwäche als ein Werkzeug für Entdecker. Und so erinnern die Theatergläser, die man sich bei Vorstellungen auf der Grossen Bühne am Infodesk gegen Pfand ausleihen kann, auch ein wenig an Feldstecher. Ein Objekt, mit dem Damen noch im 19. Jahr-hundert ihre gehobene gesellschaftliche Stellung demonstrierten, ist es wohl nicht mehr. Damit hat das klassische Opernglas, mit Perlmutt und Goldelementen verziert, aber auch über die Jahre etwas an Beliebt-heit eingebüsst. Völlig zu Unrecht! – über-windet das Auge mit seiner Hilfe doch mü-helos die immerhin ca. 60 Meter von der letzten Reihe im zweiten Balkon bis zur Rückwand der Hinterbühne. Und auf dem Weg dorthin lässt sich natürlich einiges entdecken: Mit der acht-fachen Vergrösse-rung des Theaterglases lässt sich die Mimik der Schauspielerin studieren, den Choris-ten in der letzten Reihe beobachten oder die Tattoos von Monostratos bestaunen. Der Neugierde sind keine Grenzen gesetzt. 

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BASEL SPIELT MITDas selbst organisierte Theaterspielen von Laien hat in der Schweiz eine lange Tradition – insbesondere seit dem 19. Jahrhundert bildeten sich immer mehr Theatergesell-schaften heraus, die Passionsspiele, Fasnachtsumzüge und Freilichtspiele realisierten. In der Zentralschweiz sind diese so beliebt, dass es in der Hälfte der Kantone mehr Theater-gesellschaften als Gemeinden geben soll. Auch am Theater Basel spielen die Basler_innen mit: In der Produktion «Melancholia» gehen zwanzig Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren aus Basel und Umgebung der Frage nach, was Melancholie für sie heute bedeutet, und bringen ihre eige-nen Erfahrungen in die Inszenierung von Sebastian Nübling und Ives Thuwis mit ein.Darüber hinaus spielt Basel auch als Stadtraum in mehreren Produktionen mit: Nach den «Aussichtspunkten» zu Beginn der Spielzeit wirft das Theater Basel erneut einen Blick über die eigenen Mauern und ist – wie bei der Produktion «Die Ereignisse» – an verschiedenen Orten in Basel-Stadt und im Baselbiet zu Gast. Mit der einstündigen Kammeroper «Romeo und Julia» von Boris Blacher wird die wohl berühm-teste Liebesgeschichte der Welt in der fahrbar in München-stein – einem ehemaligen Industrieareal eines Walzwerkes für Aluminium, heute ein Treffpunkt für Kreative, Kunsthandwerker_innen und Tanzbegeisterte – und in der Scheune des Bauernhofs der Ge-schwister Mathys in Laufen zu sehen sein, wel-che zur Theaterbühne umfunktioniert wird.«Es war nicht leicht, geeignete Spielorte im Baselbiet zu finden», erzählt die Regisseurin Maria-Magdalena Kwaschik: «Einerseits spiel-ten natürlich pragmatische Überlegungen eine Rolle wie die Grösse und Akustik des Raumes. Andererseits haben wir nach Orten gesucht, die von sich aus einen starken Charme und Cha-rakter haben und interessierte Gastgeber, die bereit sind, ihr Knowhow und Netzwerk zur Verfügung zu stellen. Die besondere Herausforderung, aber auch der Reiz la- gen darin, ein Bühnenbild zu entwi c keln, das variabel ist und gleichzeitig die spe-zifische Atmosphäre des Raumes mitein-bezieht.» Die besondere Anordnung der Zuschauer_innen und die Nähe zur «Büh-ne» tragen ihren Teil zu einem ausserge-wöhnlichen Opernerlebnis bei. Ob durch seine Bewohner_innen, die Mitwirkung des Publikums oder den Stadtraum als Aufführungsort – Basel spielt mit!

Mitkommen und mitmachen12

ROMEO UND JULIA

Die Geschichte einer bedingungslosen Liebe, die alle Grenzen zu überwinden sucht – sogar den Tod. Mit der gleich-namigen Kammeroper von Boris Blacher zeigt das junge Team an ungewöhnlichen Orten im Baselbiet, dass Oper nicht langwierig, kompli-ziert und unverständlich sein muss. Einfühlsame Liebesduette wechseln sich mit mitreissenden Chornummern ab, die Poesie der Schlegelschen Sprache trifft auf eindrückliche

Video projektionen und lässt die zeitlose Geschichte über Liebe, Hass, Vergebung und Tod mit allen Sinnen erlebbar werden.

PREMIERE: SA 2.4., 20 UHRWEITERE VORSTELLUNGEN: 3., 20. & 24.4., fahrbar Mün-chenstein, Tramstrasse 66, 4142 Münchenstein 20. & 21.5., Bauernhof Geschwister Mathys Neuhof-Schüüre, In den Spitzen 5, 4242 Laufen

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Der pensionierte Volkswirtschaftslehrer Stephan Wottreng musste nicht zweimal überlegen, als er sich Ende letzten Oktobers zusammen mit seiner Lebensge-fährtin Astrid Kehl am Theater Basel zum Casting für «Kommissär Hunkeler: Ein Fall für Basel», die Theaterserie nach einem der beliebten Kriminalromane von Hansjörg Schneider, anmeldete. Sie waren zwei von insgesamt 54 spielfreudigen Kandidat_innen aus der Region Basel, die sich für das Schauspielprojekt interes-sierten, das im April vor den Kulissen der Stadt an vier unterschiedlichen Spiel-orten gezeigt wird. Für die Regisseurin Daniela Kranz, die in dieser Spielzeit bereits das Chorprojekt «Die Ereignisse» inszenierte, war es alles andere als leicht, eine Auswahl von schliesslich neun Darsteller_innen zu treffen, denn jede_r einzelne Bewerber_in hat an diesem Nachmittag mit viel Mut, Energie und eigenem Cha-rakter bewiesen, was er oder sie kann. «Sie waren alle grossartig und übertrafen meine Erwartungen bei Weitem! Als die Gruppe schliesslich noch das Basellied «Z'Basel an mym Rhy» anstimmte, war ich endgültig überzeugt von der Spon-taneität und Leidenschaft der Basler_innen», sagt sie überwältigt.

Seit Januar nun also sind Stephan Wottreng und Astrid Kehl aus Therwil, Conny Eggenschwiler aus Füllinsdorf und die in Ungarn geborene Ágota Skorski sowie Roberto Greuter aus Liestal, Oliver Börner aus Dornach, Frank Dettwiler aus Riehen, Cornelia Bauer und Martin Steiner aus Basel-Stadt zusammen mit den beiden Schauspielern Andrea Bettini als Kommissär Hunkeler sowie Martin Hug als Detektiv-Wachmeister Madörin an den Wochenenden intensiv mit den Proben beschäftigt. Zwar sind alle von ihrem Alter und Beruf sowie ihrer Herkunft sehr verschieden, alle haben sie auch unterschiedliche Strategien, um sich vorzuberei-ten, dennoch hätten sie sich schnell aneinander gewöhnt und fühlten sich bereits nach wenigen Proben wie eine eingeschworene «Hunkeler-Familie», so Martin Steiner. Er, der als Willy Holzherr einen langen Monolog sprechen wird, findet es eine «sinnvolle und kreative» Freizeitbeschäftigung. Üben tue er alleine zu Hause: «Meine Rolle lerne ich, indem ich den Text für mich laut spreche.» Der Informa-tiker Roberto Greuter hingegen, der unter anderem den Bademeister André spielt, versucht, wie er selbst sagt, «sich einzufühlen». Mit einem Augenzwinkern erzählt er, wie er nun täglich in den Kraftraum oder ins Solarium gehe und an seinen freien Tagen auch immer öfter am Rheinhafen anzutreffen sei. Astrid Kehl memoriert ihren Text beim Spaziergang mit dem Hund, und Conny Eggenschwiler macht sich während der Proben ganz viele Notizen. Für die Teilzeitsekretärin ist es eine grosse Chance, zusammen mit Profis spielen zu können.

In weniger als einem Monat gilt es auch schon ernst: Den ganzen April hin-durch wird das Team im Wochenrhythmus jeweils Mittwoch, Donnerstag und Freitag einen der Kriminalfälle des Kommissärs in vier Folgen im Stadtraum nach-spielen. Wetterfeste Kleidung wird empfohlen, da bei jeder Witterung gespielt wird.

«KOMMISSÄR HUNKELER: EIN FALL FÜR BASEL»1. FOLGE: 6.4., 7.4., 8.4., 2. FOLGE: 13.4., 14.4., 15.4., 3. FOLGE: 20.4., 21.3., 22.4. 4. FOLGE: 27.4., 28.4., 29.4., JEWEILS 19 UHR

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KOMMISSÄR HUNKELER: EIN FALL

FÜR BASEL

1. FOLGE: 6.4., 7.4., 8.4., Rheinbad St. Johann (St. Johanns-Rheinweg 50, 4056 Basel) 2. FOLGE: 13.4., 14.4., 15.4., Restaurant Schiff (Hochbergerstrasse 134, 4057 Basel) 3. FOLGE: 20.4., 21.4., 22.4., BRASILEA (Westquaistrasse 39, 4057 Basel) 4. FOLGE: 27.4., 28.4., 29.4., Alte Güterhalle beim Bahnhof St. Johann (Vogesenplatz 1, 4056 Basel) JEWEILS 19 UHR

DIE EREIGNISSE

11.5., Frauenchor CantoDonne, Dorfkirche Kleinhüningen, Dorfstr. 39, 4057 Basel 23.5., Bacchanal Chor Aesch, Musikaula S1, Sekundarschule Aesch, Reinacher-strasse 3, 4147 Aesch 28.5., Gemischter Chor Inspiratione Basel, Pfarrheim St. Anton, Kannenfeld-strasse 35, 4056 Basel 17. & 18.6., CARMINA Vokal Ensemble, neues theater.ch, Bahnhofstrasse 32, 4143 Dornach JEWEILS 20 UHR

MELANCHOLIA

ab 12.5., Grosse Bühne 14. & 15.6., Hollandfestival Amsterdam 2016, Muziekgebouw Amsterdam

WIR SIND DABEI

EIN KOMMISSÄR KOMMT SELTEN

ALLEIN

Roberto Greuter, Astrid Kehl, Conny Eggenschwiler, Stephan Wottreng, Oliver Börner, Ágota Skorski, Cornelia Bauer, Martin Steiner und Frank Dettwiler (v.l.n.r.) sind dabei.

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Vier Zentimeter grösser als Nicola Mastroberardinos Gesicht ist diese Maske. Damit die Proportionen ge-wahrt bleiben, hat Maskenbildne-rin Heike Strasdeit zunächst einen Silikonabdruck vom Gesicht des Schauspielers gemacht und an-schliessend darin eine Positivform aus Gips gegossen. Im nächsten Arbeitsschritt hat sie das Gipsge-sicht mit Ton um vier Zentimeter aufmodelliert. Davon wurde aus Hartgips wieder eine Negativform genommen, die Heike Strasdeit zunächst mit Gummimilch ausgoss (sie soll den Hautcharakter nach-ahmen) und anschliessend mit Pappmaché auslegte. In diese Papp-maché-Maske wurden die Glas-augen eingelassen, die ihr den in-tensiven Ausdruck geben. Die Kol- legin aus dem Malsaal mischte die Grundfarbe für den richtigen Teint – Maske bemalen, Haare und Bart befestigen, und fertig ist Nicolas zweites Gesicht!

Während des Fototermins mit Nicola Mastroberardino wurden gerade die Scheinwerfer im Schau-spielhaus gehängt. Welchen Zau- ber seine Maske – ins rechte Büh-nenlicht gerückt – entfaltet, kön- nen Sie bei einer Vorstellung von Robert Borgmanns Inszenierung «Die Bacchen» erleben.

15 HINTER DEN KULISSEN

NÄCHSTE VORSTELLUNGEN: 31.3., 3.4., 7.4., 15.4., 17.4., 29.4., 8.5., 14.5., 21.5., SCHAUSPIELHAUS

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16 Ein Gespräch mit dem Experten für Alte Musik Johannes Keller zu «Melancholia»DER MELANCHOLIE

DIE POESIE

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In der Produktion «Melancholia» gehen die Jugendlichen vom jun-gen theater basel, Sänger_innen des Theater Basel und Musiker_in-nen vom La Cetra Barockorchester gemeinsam der Frage nach, was Melancholie in unserer Zeit bedeu-ten kann. In Zeiten von Dowlands «Time Stands Still», Lamberts «Vos mépris chaque jour» und den Madrigalen Monteverdis galt das Grübeln und Leiden auch als Quelle von Kreativität und Genialität. An-lass genug für Dorothee Harpain, mit dem Musiker und Experten für Alte Musik Johannes Keller über die Schönheit und Poesie der Me-lancholie, die sich in der Musik die-ser Zeit widerspiegelt, zu sprechen.

In der Zeit der Renaissance findet sich die These, dass die Melancholie von allen menschlichen Stim-mungslagen der Musik am meisten verwandt sei – wie sehen Sie das?

Melancholie ist wirklich ein sehr facettenreicher Begriff, der nur schwer greifbar ist und in jeder Epoche und in jedem Fachgebiet anders definiert wird. Der Psychiater versteht darunter etwas anderes als ein Maler oder ein Musiker, was ihn natürlich auch als Ausgangspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung interessant macht. Für mich ist Melan-cholie ein Geisteszustand des Insichgekehrt-Seins oder Sich-in-Gedanken-Verlierens, den man gerade mit der Mu-sik sehr gut darstellen kann und der sehr viele verschiedene Emotionen und Affekte beinhaltet. Für mich ist es das, was passiert, wenn man sich über längere Zeit mit etwas inten-siv beschäftigt, ohne von anderen Dingen abgelenkt zu wer-den. Man könnte auch sagen, man «entschwebt» auf eine seltsame Art – auch dem normalen Vokabular. Ich kenne das von mir; wenn ich mich sehr in eine Sache vertiefe, dann fällt es mir plötzlich schwer, darüber zu sprechen, weil alles zu kompliziert ist, um es überhaupt noch kommunizieren zu können. Man kommt in eine seltsame Isoliertheit, die aber nichts mit Unglücklichsein oder Traurigkeit zu tun hat.

Warum hören die Menschen eigentlich so gern me-lancholische Musik?

Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Musik einen ange-nehmen Kontrast zu unserer Gesellschaft darstellt, in der man vor allem glücklich sein muss, die Dinge im Griff haben muss, dynamisch, jung geblieben sein soll – dann ist man ganz dankbar, wenn man dieses Gefühl im Rahmen der Mu-sik einmal zulassen darf oder sogar soll, weil man nur so die Musik auch annehmen und verstehen kann. Andererseits hört man in bestimmten Momenten gern etwas, das eine ähnliche Gemütslage wie die eigene musikalisch widerspie-gelt, denn dann fühlt man sich getröstet und aufgehoben.

Nach welchen Kriterien wurde die Musik für «Me-lancholia» ausgewählt?

Wir haben uns relativ früh für eine Zeitepoche entschieden und Musik der Spätrenaissance und des Frühbarock, von etwa 1600 bis 1650, gewählt. Diese Zeit ist sehr spannend, weil es um 1600 unglaublich viele musikalische Neuerungen und Entwicklungen in Europa gegeben hat. Deshalb haben

DIE POESIE DER MELANCHOLIEDER MELANCHOLIE

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PREMIERE: 12.5., 19.30 UHRWEITERE VORSTELLUNGEN:14.5., 17.5., 18.5., 23.5., 25.5., 26.5., 28.5., 3.6., 4.6., 9.6., 10.6., 18.6., 24.6., JEWEILS 19.30 UHR,29.5., 18.30 UHR,GROSSE BÜHNE

MELANCHOLIA

Berührende Lamenti und expressive Lautenlieder aus der Zeit Dowlands und Monteverdis treffen auf emotions-

geladene Bewegungsab-läufe und lassen die Melancholie unserer Zeit physisch spürbar werden. Die Uraufführung wird von Sebastian Nübling und Ives Thuwis inszeniert.

wir auch verschiedene Stile aus unterschiedlichen Ländern in die Auswahl einbezogen – der Fokus liegt vor allem auf Italien, aber auch auf England, Frankreich und Deutschland. Die ausgewählten Stücke stammen aus unterschiedlichen Kontexten: Zum Teil sind es höchst differenzierte, an-spruchsvolle Kompositionen für die elitären Kreise – dazu gehört beispielsweise das chromatische Madrigal «Per non mi dir» von Michelangelo Rossi, oder auch das «Lamentum Mater Euryale» von Domenico Mazzocchi –, zum Teil sind es öffentliche Stücke, die gedruckt wurden und von gebil-deten Bürgern zu Hause gespielt werden konnten – wie zum Beispiel die Gesangsstücke aus dem Notendruck «Scherzi musicali» von Claudio Monteverdi –, zum Teil sind es aber auch Gesangsnummern aus Theaterstücken wie die englischen «mad songs». Dementsprechend sind die Stimmungen und Themen sehr verschieden und reichen vom schlichten, berührenden Lamento bis hin zum virtuo-sen und bizarren Cembalostück.

Was ist für Sie das Faszinierende an der Musik die-ser Zeit?

Ich beschäftige mich so gern mit dieser Musik, weil sie sehr poetisch ist und stets etwas Existenzielles an sich hat, aber nie pathetisch wird. Es werden fundamentale Themen wie Liebe und Tod behandelt, aber dennoch wird mir als Musi-ker_in oder als Zuhörer_in nie vorgeschrieben, wie ich mich dabei zu fühlen habe, ganz im Gegensatz zu Filmmusik oder Musik der Spätromantik. Das verlangt aber auch von den Musiker_innen und Zuhörer_innen, dass man sich ganz auf die Musik und die Situation einlässt; ohne diesen inneren Willen, sich der Musik hinzugeben, wird man sie auch nicht für sich entdecken können.

Und was sagen die Jugendlichen zu dieser Musik?

Bei den Gesprächen mit den Jugendlichen war ich faszi-niert davon, wie sehr sie die Musik berührt hat und wie tief-gründig und wahr ihre ganz unvoreingenommenen Beob-achtungen über die Musik sind. Die meisten haben kaum eine musikalische Vorbildung, und vielleicht ist gerade dies der Grund, warum sie gewisse Beobachtungen und Wahr-nehmungen ganz anders auf den Punkt bringen können, als ich es mit meiner Fachsprache tun könnte. So öffnen die Perspektiven der Jugendlichen auf die Musik auch neue Sichtweisen für uns Musiker_innen. Dieser Austausch ist das Besondere dieser Produktion, und schliesslich werden wir bei den Aufführungen zusammen mit den Jugendlichen und Sänger_innen auf der Bühne stehen und spielen.

Sie sprachen vorhin von den verschiedenen Ländern – gibt es da musikalisch gesehen Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Melancholie?

Das ist eine sehr interessante Frage, die aber, glaube ich, spezifisch für die Melancholie gar nicht so präzise beant-wortet werden kann. Als Gemeinsamkeit kann man viel-leicht sagen, dass in dieser Zeit die Bedeutung des Textes und der Sprache bei der Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zentral ist und die Musik sozusa-gen zur «Klangrede» wird, wie man später im Barock sagt. Allerdings gehen die verschiedenen Länder unterschiedlich mit dem Text um – in Italien ist die «seconda pratica» wich-tig. Jedes Wort wird direkt in Musik ausgedeutet: Zum Bei-spiel wird bei «die grausame Schöne» – «la cruda beltà» –die Grausamkeit durch eine Dissonanz dargestellt und die Schönheit durch einen harmonischen Klang. Da wird nicht «die grausame Schöne» als Gesamtkonstrukt ausgedeutet. In England hingegen spiegelt beispielsweise das Lautenlied häufig einen bestimmten Gefühlszustand wider, in den der Text eingebettet wird, und richtet sich weniger nach einzel-nen Wörtern. Das ist ein völlig anderer Zugang zur Funktion der Musik. Die französische Musik ähnelt in diesem Punkt eher der englischen, und die deutsche ist so eine Mischung aus allem.

In vielen Texten wird der Schmerz über eine uner-füllte Liebe thematisiert. Welche Themen spielen noch eine Rolle?

Die Liebeslyrik spielt eine grosse Rolle im Barock, aber sehr viele der Lieder lassen sich auch metaphorisch deuten. Die Liebe wird dann zu einer Brücke, die zu vielen anderen The-men des Menschseins führt. So geht es sehr häufig um Machtspiele. Das ist etwas, was über das Thema der Liebe weit hinausgeht. In England gab es die sogenannten «mad songs», die in gesprochene Theaterstücke eingefügt wur-den und den Moment charakterisieren, in dem eine Figur dem Wahnsinn verfällt.

Sie sprachen vorhin auch über das Lamento – was versteht man denn unter einem Lamento?

Lamento bedeutet wortwörtlich «Klagegesang». Diese Form gibt es seit der Antike, und sie umfasst sehr viele Emo-tionen – nicht nur die Traurigkeit. Es kann auch Wut, eine Anklage an die Welt oder an eine verstorbene Person sein, oder eine Anklage an den Geliebten, der einen gerade ver-lassen hat. Es kann Enttäuschung sein über eine unerfüllte Liebe, über die Ungerechtigkeit des Schicksals, über das eigene Versagen … Aufgrund dieser Vielschichtigkeit wur-de das Lamento auch so sehr von den Musikern der dama-ligen Zeit geschätzt, weil man dadurch viele verschiedene musikalische Facetten zeigen konnte.

Gibt es eigentlich typische Merkmale einer «melan-cholischen» Klangsprache zu der Zeit?

Das kommt darauf an, wie man den Begriff der Melancholie sieht – im Sinne von Traurigkeit gibt es einen Kanon von melodischen und harmonischen Figuren, die damit verbun-den werden und die von den damaligen Komponisten auch bewusst eingesetzt und vom Publikum verstanden wurden – ein Beispiel ist der «passus durisculus», also eine chroma-tische Linie abwärts oder auch der Quartgang abwärts. In diesem Zusammenhang hat auch das Bass-Ostinato eine wichtige Funktion, da es immer wiederholt wird und eigent-lich eine Art «Uhrwerk» unter die Musik legt, das mal mehr und mal weniger hörbar ist. Viele der Stücke folgen diesem Prinzip der Wiederholungen, der konstanten zeitlichen Be-wegung, die auch ad absurdum geführt werden kann – das wird auch ein sehr wichtiges Thema sein, nicht nur in der Musik, sondern in der gesamten Gestaltung des Abends.

Das Thema Vergänglichkeit spielt in dieser Produktion nicht nur in-haltlich eine Rolle, sondern auch bei der praktischen Umsetzung, schliesslich gibt es keine Tondo-kumente aus dieser Zeit und vie-le musikalischen Details sind nicht notiert. Wie geht man als Musiker damit um?

In der historischen Auffüh-rungspraxis sind wir auf der Suche nach einer vergan-genen Realität, von der wir wissen, dass wir sie nie-mals wieder rekonstruieren können. Aber trotzdem fin-den wir den Versuch, zu ver- stehen, wie es einmal war oder gewesen sein könnte, essenziell für die Interpreta-tion der Musik. Als Musi-ker_innen sind wir sehr an den Begriff der Zeit gebun-den, weil alles, was wir tun, im nächsten Augenblick verklungen ist. Auch eine

Ein Gespräch mit dem Experten für Alte Musik Johannes Keller zu «Melancholia»

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Aufnahme ist letztlich nur eine Dokumentation oder eine Beschreibung dessen, was tatsächlich bei einer Aufführung passiert ist. Das eigentliche «Ereignis von Klang» kann man nicht festhalten – das geht auch mit der modernsten Tech-nik nicht, selbst wenn einem das Musikbusiness vorgau-kelt, dass Musik reproduzierbar sei. Deshalb finde ich das Thema «Melancholie» und «Vergänglichkeit» auch so pas-send zu dieser Musik, die bereits seit Jahrhunderten ver-klungen und verloren ist.

Wie sieht das überlieferte Notenmaterial aus, mit dem ihr als Musiker_innen arbeitet?

Alle Stücke, die wir momentan im Programm haben, bezie-hen wir aus den originalen Quellen, also entweder Hand-schriften oder alten Drucken, die aus dem frühen 17. Jahr-hundert stammen. Die Notation war im Frühbarock sehr rudimentär im Vergleich zu heute, und die Komponisten haben oft die konkrete Instrumentierung offengelassen: Da gibt es einerseits die Generalbass-Instrumente wie Cemba-lo, Lauten, Orgel, Theorben, die nur ein paar Bassnoten als Ausgangslage zur Verfügung haben und alles andere re-konstruieren und improvisieren müssen. Das heisst, die Musik wird bei uns bei jeder Vorstellung anders klingen. Dazu kommen Melodieinstrumente, beispielsweise Strei-chinstrumente wie Violinen und Celli oder Blasinstrumente wie Zinken, die der heutigen Trompete ähneln, die sehr vie-le Verzierungen hinzufügen müssen, damit es überhaupt nach Musik und nicht nach einer Skizze klingt. Das ist ein bisschen vergleichbar mit dem Arrangieren eines Jazzstan-dards oder Popsongs, wo auch erst mal eine Struktur fest-legt wird und alles, was die Musik ausmacht, gemeinsam mit den Musiker_innen erarbeitet wird.

Zum Abschluss noch eine Frage: Die Musik in «Melancholia» ent-stammt einer Zeit mit einem ganz anderen Melancholieverständ-nis – was hat dies mit uns heute zu tun?

Der Begriff der Melancholie hat auch etwas von einem geistigen Luxusprodukt: Ge-rade in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert konnten sich das nur Leute erlauben, die nicht ums Überleben kämpfen mussten. Wenn es da ein/e Komponist_in, ein/e Musiker_in oder ein/e Sänger_in schaffte, sich über längere Zeit nur der Musik zu widmen und dadurch vielleicht etwas «melancho-lisch» wurde, war das ein Qua-litätsbeweis. Heute könnte man sich diesen Luxus viel eher gön nen, trotzdem tut man es viel zu selten. Um aber als Kompo-nist_in oder Musi-ker_in eine Komposi-tion wirklich von innen erfüllen zu kön-nen, muss man die-sen Zustand der Kon-zentration erreichen, damals wie heute.

DIE POESIE DER MELANCHOLIE

JOHANNES KELLER

Johannes Keller studierte an der Schola Cantorum Basiliensis Cembalo, General-bass und Ensembleleitung. Er ist Mit-gründer des Ensembles «Il Profondo» und arbeitet regelmässig mit Andrea Marcon und dem La Cetra Barock- orchester, u.a. am Theater Basel, der Oper Frankfurt und dem Festival d'Aix-en-Provence, sowie dem Venice Baroque Orchestra zusammen. In «Melancholia» übernimmt er die musikalische Assistenz.

DOROTHEE HARPAIN

Dorothee Harpain studierte Musik-theaterwissenschaft an der Universität

Bayreuth und Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Seit dieser Spielzeit ist sie Dramaturgieas-

sistentin und Assistentin der Operndirektorin am Theater Basel.

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MEINE VERWANDLUNG IN EINE HEXE

Text: Natalie Widmer; Fotos: Kim Culetto

Natalie Widmer auf den Spuren der «Macbeth»-Hexen in der Maske

Theater Basel, vierter Stock, die Räumlichkeiten der Maske: Neonröhren rahmen die Spiegel an der linken Wand ein, zahlreiche Perücken und Bärte zieren die rechte. Die Arbeitsplatte vor den Spiegeln ist verstellt mit Make-up-Paletten, Schminkuten -silien, Haarbürsten, Lockenwicklern und Haarspray-dosen. Der Raum strahlt pure Theateratmosphäre und auch ein bisschen Hollywoodflair aus; hier verwandeln sich Menschen in theatrale Figuren. Und genau zu diesem Zweck habe ich mich heute mit Simone, die seit 25 Jahren als Maskenbildnerin (und seit der Spielzeit 2012/2013 am Theater Basel) arbeitet, getroffen: Sie soll mich in eine Hexe verwandeln! Wir haben uns für ein Hexen-Modell ohne allzu viel Deko entschieden, welches das geschminkte Gesicht in den Vordergrund stellt und auch ohne Kostüm funktioniert. Und schon sitze ich auf einem alten, roten Friseurstuhl und blicke in den Spiegel – wie lange werde ich mich wohl noch darin erkennen können?Den ganzen Bericht mit weiteren Fotos gibt es online: theater-basel.ch

Schwarze Wimpern müssen her - für die Dramatik…

Lippen, so schwarz wie Ebenholz (sorry, falsches Märchen!)

Zentimeter für Zentime-ter wird mein Gesicht weg geschminkt, Simone zaubert…eine Hexe!

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PREMIERE: FR 15.4., 19.30 UHRWEITERE VORSTEL-LUNGEN: 17.4., 22.4., 30.4., 4.5., 6.5., 8.5., 13.5., 16.5., 19.5., 22.5., 27.5., 5.6., 7.6., 16.6.GROSSE BÜHNE

NATALIE WIDMER

Natalie Widmer ist Hospitan- tin in der Operndra-maturgie. Ausserdem singt sie im Extrachor und im Jugend-club Oper des Theater Basel mit.

Und fertig ist die Hexe! Den bösen Blick muss ich vielleicht noch etwas üben …

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Auf die Perücke, fertig, los!

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MACBETH

Zu Beginn der wohl finstersten Oper Giuseppe Verdis «Macbeth» blicken Hexengestalten in Macbeths Zukunft und sagen ihm die Königswürde voraus. Gestützt auf diese Weissagungen gehen Macbeth und seine Frau auf dem Weg zur Macht buchstäblich über Leichen, bis sie schliesslich beide an ihren Vergehen zu Grunde gehen müssen. Presenting-Sponsor:

BERUF MASKEN-

BILDNER_IN

Hauptsächlich arbeitet das sechsköpfige Team der Maske am Theater Basel an Perücken: Um eine Echthaar-Perücke herzustellen, benötigt man ca. 50 Arbeits-stunden! Weitere Be- reiche sind Make-up (z.B. Alterung schmin-ken oder plastische Gesichtsveränderun-gen) und Frisuren. In besonderen Fällen werden auch Voll- und Teilmasken hergestellt, zum Beispiel bei «Die Bacchen» wie zu sehen auf Seite 15. Simone schätzt vor allem die Abwechs-lung, die das Berufs-bild bietet, sowie den engen Kontakt mit Menschen. Man sollte viel Geduld und Men- schenliebe mitbringen und keine Probleme mit dem Rücken oder Erkrankungen der Atemwege haben. Denn es wird viel im Stehen gearbeitet und man ist öfters chemi-schen Ausdünstungen ausgesetzt – man denke an die Haar-spraywolken jeden Abend!

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3Ein Gespräch mit Musiker und Autor PeterLicht zur Uraufführung von «Der Menschen Feind»

AUS DEM MENSCHENFEID WIRD DER MENSCHEN FEIND

Der Musiker und Autor PeterLicht hat erneut eine Molière-Komödie für die Gegenwart befragt – und den alten «Menschenfeind» in eine sehr freie, hochkomische Neudichtung verwan-delt. Dramaturgin Constanze Kargl be-fragte ihn zu Fehlfunktionen der Spra-che und andere musika lische Akzente. Das ganze Interview lesen Sie im Programmheft zu PeterLichts neuem Stück «Der Menschen Feind», das ab dem 14. April im Schauspielhaus ge-zeigt wird.

Du hast mit «Der Menschen Feind» bereits zum zweiten Mal eine Molière-Komödie bearbeitet: Was interessiert dich an diesem Autor? Sind es eher nur Form und Grundidee, die dich reizen – oder reicht deine Faszination tiefer in die Sittengemälde des 17. Jahrhunderts hinein?

Molière verkörpert für mich eine Auseinandersetzung mit Gesellschaft in einer Frühform von Moderne, in der eigent-lich schon alles angelegt ist, was uns heute so umtreibt. Ich empfinde da eine starke Aktualität. Nur ist der Wald nicht so von lebenden Bäumen verstellt, sondern von morschen und umgefallenen. Man hat einen freieren Blick, es ist alles ein wenig entfernt, weil es eben 400 Jahre altes Material ist und man in eine vermeintliche Vergangenheit blickt. Das gefällt mir: die Kraft, die sich ergibt, wenn die Dinge immer schon so gewesen sind, wie sie heute noch sind. Zum Bei-spiel die Sehnsucht nach einem wahrhaftigen Leben, um das es in «Der Menschen Feind» geht. Oder die Unmöglichkeit dessen, oder die Komik, die sich ergibt, wenn man sich mit diesem Ziel auf den Weg macht. Oder die Depression. Das ist sehr aktuell. Die Suche oder die Sucht nach dem wahr-haftigen Leben ist eine kollektive Zwangsvorstellung, der sich niemand entziehen kann. Ich auch nicht. Ich als Künstler bin ja die systemische Krone der Wahrhaftigkeitsschöpfung.

In «Der Menschen Feind» hat es mir sehr viel Freude ge-macht, die Figuren gegen-einander oder gegen sich selber in Position zu bringen mit der permanenten Frage-stellung, was das wahrhaf-tige Leben denn jetzt sein soll. Dabei ist vielleicht die Ausformulierung eines Tou-rettesyndroms entstanden, die Figuren haben Wahrhaf-tigkeittourette.

Musik begleitet diese Thea-terarbeit: Wie hast du die Songs konzipiert und dem Text nebengereiht?

Die Lieder fingen irgendwann an zu singen, während ich schrieb. Z.B. das «Ument-

scheidungslied». Das singen wir jetzt auch auf den Kon-zerten. Es ist für mich zu einem Gross-motto geworden, das mir leichtfällt, anderen Menschen aufzudrängen, («Ich glaub wir hamm was falsch ge-ma-hacht, wir müssen uns wieder um-entschei-de-hen»).

Nimmst du Bühnentexte grund-sätzlich anders in Angriff als dei-ne literarischen Schriften oder Pop-Lyrics?

Man hat schon ein anderes Bild im Kopf, wenn man für das Theater schreibt, als wenn man einen Songtext macht, den man dann selber singen muss. Man hat ein anderes Bild im Kopf. Man denkt an die Leute, die auf den Holzgerüsten ste-hen, die sich Bühne nennen. Da stehen dann richtige Menschen und sagen dei-ne Worte auf. Zuerst sitzen sie in Sitz-kreisen in Vorbesprechungen, dann ste-hen sie auf Probebühnen auf Theater- proben, dann in Generalproben, dann pusten sie sich auf und pusten die Pre-mieren weg, dann werden sie zu All-tagsarbeitern im Spielbe-trieb. Ich weiss, dass ich ihnen allen leibhaftig begeg-nen werde. Von Aug zu Aug. Ich werde ihnen in die Ge-sichter schauen und ich wer-de ihre Lebenszeit gebucht haben. Das Gefühl von Egal-heit mag sich nicht einstel-len. Und der Satz, wonach das Papier geduldig wäre, passt nicht, weil die Men-schen ungeduldig sind. Dem Papier ist alles egal, dem Menschen nichts. Das hat man schon im Kopf.

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DER MENSCHEN FEIND

Der vom Leben desillusionierte Alceste, weniger Menschenfeind als Wahrhaftigkeitsfanatiker, wähnt sich im alleinigen Besitz des Durchblicks, was den «unokayen» Gesamtzustand der Welt betrifft. Seine Tiraden prallen an dem pragmatischeren Philinte ab: Er weiss, dass Alceste seinen eigenen Ideen nicht gerecht werden kann, weil er ein unauthentischer Liebender ist. Die kokette Célimène legt Wert auf gesellschaftlichen Austausch und spielerische Selbsterforschung, was den Absturz ihres Verehrers von der Misanthropie in die Melancholie beschleunigt. Regisseurin Claudia Bauer wird PeterLichts Neudichtung von Molières berühmter Komödie «Der

Menschenfeind» zur Uraufführung bringen.

PREMIERE: DO 14.4., 20 UHRNÄCHSTE VORSTELLUNGEN:18.4., 20.4., 25.4., 27.4., 2.5., 6.5., 12.5., 13.5., 31.5., JEWEILS 20 UHR, 5.5., 19 UHR, SCHAUSPIELHAUS

Konzert und Lesung von PeterLicht: 15.4., 20 Uhr, Kleine Bühne

Page 22: THEATER JOURNAL...Biljana Srbljanović macht sich über ihre Figuren, die genauso gut aus - teilen wie einstecken können, nicht lustig, sondern zeichnet sie – ob-gleich die Situationen,

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8 dl Gemüsebouillon1 rote Zwiebel250 g blaue Kartoffeln (z. B. Blaue St. Galler)Etwas ZitronensaftGenügend Salz und Pfeffer1 Prise Muskat (je nach Geschmack)1 dl Vollrahm12 violett-blaue Stiefmütterchenblüten

ZUTATEN FÜR 4 PORTIONEN ZUBEREITUNG1. Die Bouillon aufkochen. Die Zwiebel schälen und fein hacken, die Kartoffeln schälen und in kleine Würfel schneiden. Die Zwiebel, die Kartoffeln und den Zitronensaft in die Bouillon geben und 20 Minu - ten köcheln lassen.2. Wenn die Kartoffelwürfel weich gekocht sind, die Suppe pürieren, bis keine Kartoffelwürfel mehr zu sehen sind.3. Dann mit Salz und Pfeffer abschmecken. Eine Prise Muskat mit einer feinen Raffel raffeln und zuge - ben. Den Vollrahm schaumig schlagen und die Suppe mit einem Teil davon verfeinern, den Rest für die Ganitur aufbewahren.

Die Kartoffelsuppe in einen Suppenteller schöpfen und mit einem grossen Löffel geschlagenem Rahm und Stiefmütterchenblüten garnieren und servieren. Guten Appetit!

BLAUE KARTOFFELSUPPE

DONNERSTAG aus «LICHT»

Klangvisionär Karlheinz Stockhausen war nicht nur einer der Überväter der Neuen und Elektronischen Musik, sondern schuf mit seinem monumentalen Opernzyklus «Licht» auch eine musikalische Schöp fungsgeschichte, die anhand der sieben Wochentage die Entstehung der Welt aus dem Geiste des Musiktheaters zelebriert. Jedem der Wochentage ist bei Stockhausen eine bestimmte Farbe zugeordnet: In «Donnerstag», der ersten der sieben Opern, steht die Farbe Blau im Zentrum. Und wer in der Küche schon einmal blau gemacht hat, weiss: Blau schmeckt auch vorzüglich – wie diese Kartoffelsuppe beweist.

DAS REZEPT: BLAUE KARTOFFELSUPPE

PREMIERE:SA 25.6., 16 UHRNÄCHSTE VORSTELLUNG:SO 26.6., 16 UHR,GROSSE BÜHNE

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NÄCHSTE VORSTELLUNGEN:MI 6.4., 18 UHR; DO 7.4., 10 UHR; SO 17.4., 16 UHR; KLEINE BÜHNE

DER TEUFEL MIT DEN DREI GOLDENEN HAAREN

Eine fantasievolle Märchenoper für Gross und Klein über ein mutiges Kind, das mithilfe seines Selbstvertrauens allen Gefahren trotzt.

Nach dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm für alle ab 7 Jahren. Eine Produktion von OperAvenir in Zusammenarbeit mit:

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BRING FARBE INS KÖNIGREICH!

ES BRAUCHT FARBE IM

ÖDEN UND TRISTEN

KÖNIGREICH!

Male den grummligen Teufel

und seine herzensgute

Grossmutter, die witzige

Räuberbande, das über-

mütige Glückskind und alle

anderen Figuren aus und

bring so das Königreich

wieder zum Blühen!

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BARBARA HORVATH

Barbara Horvath ist am Theater Basel als Schauspielerin engagiert. Sie spielt in «Ödipus» die Rolle der Iokaste. Barbara Horvath ist ebenfalls in «Die Wohlgesinnten» und «Engel in Amerika» zu sehen. Derzeit probt sie für das Stück «Heuschrecken».

MICHAEL WÄCHTER

Michael Wächter gehört fest zum Schau- spiel-Ensemble des Theater Basel. In

«Ödipus» spielt er die Rolle des Ödipus. Michael Wächter ist ebenfalls in «Edward II. Die Liebe bin ich» und «Engel in Amerika» zu sehen. Derzeit

probt er für das Stück «Heuschre-cken».

EWALD PALMETSHOFER

Ewald Palmetshofer ist seit dieser Spiel- zeit Schauspiel-Dramaturg am Theater Basel und begleitete die aktuelle «Ödipus»-Inszenierung.

ALINA TRIEBLNIG

Alina Trieblnig ist Sekundarlehrerin und angehende Theaterpädagogin. Sie absolviert ein Praktikum am Jungen Haus des Theater Basel.

Die «Ödipus»-Inszenierung von Regisseur Antonio Latella wird oft auch von Schülerinnen und Schü-lern besucht, die die Tragödie von Sophokles in der Schule lesen und nach ihrem Theaterbesuch mit Theaterpädagogen Martin Frank über das diskutieren, was sie be- wegt, beschäftigt, beeindruckt oder verwirrt hat. Iokaste-Darstellerin Barbara Horvath und Ödipus-Darsteller Mi chael Wächter sowie der Drama-turg des Stücks Ewald Palmetsho-fer antworten auf Fragen, die während einer solchen Nachbe-sprechung im Klassenzimmer ent-standen sind. Ein Gespräch über Kunst, Nacktheit auf der Bühne und «modernes» The ater, geführt von Alina Trieblnig.

Ist die «Ödipus»-Inszenierung, in der ihr mitwirkt, «modern»?

MICHAEL WÄCHTER: Ich weiss gar nicht, was «modern» in diesem Zusammenhang bedeutet. Es gibt Theatermittel, die modern sind. Zum Beispiel Projektion, Video, Sound usw. Und natürlich gibt es im Gegensatz dazu auch sehr klassische Mittel. Aber wenn es um die Inszenierung als Ganzes geht, macht eine Unterscheidung zwischen «klas-sisch» und «modern» nicht viel Sinn. Weil man muss sagen: Ödipus-Inszenierungen sind generell modern, weil das Stück zweieinhalb Tausend Jahre alt ist. Das kannst du gar nicht anders machen. Das wird automatisch modern.

BARBARA HORVATH: Wir können nur vom Heute ausge-hend auf das Vergangene zurückblicken und eine Haltung dazu einnehmen. Wir werfen einen frischen, ungewohnten Blick auf sozusagen zeitlose Stoffe.

EWALD PALMETSHOFER: Ich würde «modern» lieber durch «zeitgenössisch» ersetzen. Die Inszenierung ist eine zeit-genössische, gegenwärtige Inszenierung. Und bei jeder Inszenierung eines klassischen Stückes stellt sich die Frage, wie liest man das heute, wie aktualisiert man das. Das war auch in der Antike so. Das Theater ist damals gerade erfun-den worden. Man erzählte Geschichten aus der Vergan-genheit mit Mitteln, die ganz neu erfunden worden sind. Jede Inszenierung ist eine Interpretation in der Gegenwart.

Ab wann weiss Iokaste, dass Ödipus ihr Sohn ist?

BARBARA HORVATH: Ich glaube, dass sie schon sehr lange eine Ahnung hat. Vom ersten Moment an, in dem sie Ödipus zum ersten Mal gesehen hat, spürt sie eine Verbundenheit mit ihm. Es dämmert ihr langsam, wer er sein könnte. Aber

sie lässt das nicht zu, will das nicht wahrhaben. Den konkreten Punkt, an dem sie es genau weiss und diese Er-kenntnis zulässt, versuche ich bei jeder Vorstellung ein wenig anders zu setzen, um mich damit auch selbst zu überra-schen. Sobald Iokaste aber weiss, wer Ödipus ist, tritt für sie etwas anders in den Vordergrund. Von da an versucht sie zu verhindern, dass Ödipus erkennt, wer er ist.

EWALD PALMETSHOFER: Diese Frage ist eine sehr alte Frage. Das ist schon bei Sophokles rätselhaft. Die Inszenie-rung von Antonio Latella macht das noch deutlicher, weil wir Iokaste von Anfang an sehen. Das macht die Frage noch dringender. Und das macht Iokaste noch verdächtiger oder rätselhafter.

Wofür steht die Nacktheit in der Inszenierung von «Ödipus»?

BARBARA HORVATH: Für mich symbolisiert sie in unserem Stück, dass Ödipus neu ge-boren wird. Am Ende des Stückes erkennt er sich selbst. Alles, was er vorher war, gibt es plötzlich nicht mehr. Ödipus ist wirklich wie neu geboren, und Neugeborene sind nackt. Er und Iokaste haben ab einem bestimmten Punkt im Stück nichts mehr, wohinter sie sich verstecken könnten, sie sind entblösst und blank. Und bildlich ist ihre Nacktheit für mich die klarste, eindeu tigste Übersetzung für diesen Zustand.

MICHAEL WÄCHTER: Eine andere Deutung ist, dass die Inszenierung auf unterschiedliche Arten immer mehr zum Ursprung zurückzukehren versucht. Man möchte zum Ursprung zurück; man versucht, sich selber von allem zu reinigen, was man erlebt hat, man möchte wieder von null anfangen. Des-wegen macht es für mich total Sinn, dass Ödipus irgendwann nackt ist. Aus-serdem wird im Verlauf des Stückes der Druck immer höher, steigt immer mehr an. Irgendwann muss dann einfach ein Moment kommen, an dem etwas wie neu wird. So hat sich das auf der Probe ergeben, so kam eins zum andern und war für uns eigentlich ziemlich logisch.

BARBARA HORVATH: Und jeder von uns hätte sagen können, nein, das mache ich nicht, das möchte ich nicht. Man kann nicht gezwungen werden. Das ist klar.

EWALD PALMETSHOFER: Der Regis-seur geht damit sehr sorg sam um. Es gibt in der Inszenierung drei Orte oder

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WAS LÖST DAS IN MIR AUS, WAS ICH DA SEHE?

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NÄCHSTE VORSTELLUNGEN: 19.4., 26.4., 3.5., 23.5., JEWEILS 20 UHR, SCHAUSPIELHAUSBEI INTERESSE AN VOR- UND NACHBESPRECHUNGEN IM KLASSENZIMMER WENDEN SIE SICH BITTE AN [email protected]

Sophokles ist einer der bedeutendsten Dramatiker der klassischen, griechischen Literatur. Er schrieb unter ande rem «Ödipus» und «Antigone».

Iokaste ist eine Figur aus der griechi-schen Mythologie. Sie heiratete in zweiter Ehe ohne es zu wissen ihren Sohn Ödipus.

Eine Inszenierung ist ein in bestimmter Weise, von einem bestimmten Regisseur in Szene gesetztes Theaterstück.

Eine Interpretation ist eine mögliche Deutung eines Textes, Kunstwerkes oder Bildes.

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Momente der Nacktheit: Da ist dieser rätselhafte Mann in der Traumwelt, dann die Situation im Schlafzimmer, wo sich die Nacktheit sehr realistisch aus der Handlung entwi-ckelt, und dann ist das Ende, in dem sich alles in einer fast mythischen Traumwelt verbindet. All das ist sehr sensibel inszeniert, sehr geschützt und aufgehoben im Kontext des Stückes.

Aber ist es sinnvoll, sich dieses Stück anzuschauen, wenn man Nacktheit nicht als Kunst sehen kann?

BARBARA HORVATH: Ist es sinnvoll sich den «David» des Michelangelo anzuschauen? Ich würde sagen: JA! Natür-lich! Es ist grundsätzlich sinnvoll, sich auf Ungewohntes ein- zulassen und die eigene Bequemlichkeitszone zu verlassen. Und was Kunst ist, ist ein weites Feld. Sie ist für jeden etwas anderes. Ein nackter Mensch kann genau so viel oder genau so wenig Kunst sein wie ein angezogener.

EWALD PALMETSHOFER: Man kann ganz klar sagen: Nackt-heit an und für sich ist keine Kunst. Sie ist ein Element von vielen Einzelbestandteilen, die das Theater miteinander ver-bindet, damit insgesamt vielleicht Kunst entsteht. Wenn ein Schauspieler auf der Bühne geht – ist das Kunst? Nein, das ist einfach nur Gehen. Man kann die Einzelteile nicht her-auslösen. Sie ergeben nur in ihrer Gesamtheit Kunst oder besser: Ein Theatererlebnis.

MICHAEL WÄCHTER: Ich glaube, die Zuschauerin oder der Zuschauer muss auch etwas von sich ins Theater mitbrin-gen wollen. Wir spielen ja für das Publikum. Und wenn die-se nicht beteiligt sein wollen, macht es das schwer. Man muss sich die Mühe machen, sich zu fragen: «Was ist das? Was löst das in mir aus, was ich da sehe?»

Was macht man, wenn man keine Lust hat auf das, was man gerade im Theater sieht?

EWALD PALMETSHOFER: Wenn ich widerwillig ins Theater gehe, ist das wie bei anderen Dingen auch. Im Kino zum Beispiel. Wenn ich keine Lust habe, gehe ich auch nicht ins Kino. Und manchmal gehe ich aber trotzdem und einem Film gelingt es, mich zu verführen und zu überzeugen, und dann bin ich froh. Und manchmal ist es eben anders, ich kann mit dem Film nichts anfangen und denke, wäre ich lieber zuhause geblieben. Aber ich denke trotzdem nach. Ich glaube, dass man mit einzelnen Aufführungen nicht das ganze Theater in der Tasche hat. Ein Film macht auch noch nicht das ganze Kino aus. Manchmal erwischt mich ein Stück und manchmal eben nicht. Das ist ganz normal.

BARBARA HORVATH: Und das hat auch mit der Tagesver-fassung und der eigenen Lebenssituation zu tun, ob einen ein Stück erwischen kann oder nicht.

MICHAEL WÄCHTER: Und uns ist schon bewusst, dass wir dem Publikum mit «Ödipus» einiges abverlangen, dass das kein leichter Theaterabend ist, dass man da durch etwas durch muss. Und es heisst auch nicht, dass wir alles immer richtig machen. Wir zeigen unseren «Ödipus» mit unserem Ansatz, unsere Interpretation davon. Und das rührt manchmal in Leuten etwas an. Es muss nicht gefallen, aber es muss etwas auslösen. Wenn es nichts auslöst, ist es schlechtes Theater.

BARBARA HORVATH: Es sollte ein Erleb-nis sein für den Zuschauer. Verstörend oder beglückend. Und das kann sich an einem Theaterabend vermischen. Da gibt es Momente, die mich verstören und andere, die mich beglücken.

MICHAEL WÄCHTER: Ich mag zum Bei-spiel – wenn Du deinen Glockentanz machst, Barbara – da gibt es Schülerin-nen oder Schüler, die einen Lachan - fall bekommen. Das finde ich toll, weil gleich zeitig gibt es andere Menschen im Publikum, die ganz anders reagieren. Und man kann sich fragen, warum re-agiere ich so und die anderen anders.

Geht Theater bewusst an Grenzen?

BARBARA HORVATH: Die Figuren auf der Bühne machen eine Grenzerfahrung, und das versucht auch der Theaterabend. Dem Schicksal von Ödipus ist das angemessen. Alles ande-re wäre lau. Man bekommt eine Ahnung von der Gewalt der Erfahrung, die Ödipus und seine Mutter machen.

Es ist grundsätzlich sinnvoll, sich auf Ungewohntes einzulassen und die eigene Bequemlichkeitszone zu verlassen.

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PHILIPPE HEULE

In der Spielzeit 2015/2016 ist Philippe Heule im Rahmen des Förderprogramms «Stücklabor» Hausautor am Theater Basel.

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DO IT YOURSELF?Auf der Suche nach Selbstermächti-gung in Form von einer Bohrmaschine laufe ich durch den Baumarkt und ver-laufe mich zwischen den Regalen voll von Möglichkeiten. Ich denke: Im Spiel des Lebens läuft etwas schief. Eigent-lich gäbe es so viele Möglichkeiten, aber alles dreht sich nur um Geld, und nur die Person kann sich etwas leisten, die eine bestimmte Leistung erbringt. Das ist so offensichtlich und gilt als der massen unverrückbar, dass kaum jemand sich eine Veränderung dieser Maschinerie vorstellen kann. Viel wahr- scheinlicher scheint da der komplette Kollaps oder ein weiterer monströser Krieg. Es ist spät im Kapitalismus und deshalb muss alles noch schneller ge-hen. Um den permanenten Stockungen entgegenzuwirken, muss an allen Ecken und Enden gekurbelt und gebastelt wer den, muss weiter auf Schulden-bergen gebaut und angehäuft werden. Das Fundament ist ge pfuscht, und manchmal scheint gar das Kunststück zu gelingen, im luft leeren Raum Halt zu finden, indem die Schwerkraft schlichtweg ignoriert wird.

In diesem haltlosen Zustand wird weiterhin ein Lebensstil beworben, der auf Verdrängung und Ausbeutung basiert. Im Vergleich zu den propa-gierten Idealzuständen von Wohlstand und Schönheit wirkt beinahe jeder als gescheiterte Existenz. Alles wirkt an dieser Existenz ungenügsam für die Hauptrolle, die sie ja eigentlich zu spielen hat: Die Rolle eines glücklich strampelnden Hampelmännchens oder Hampelfrauchens – je nachdem und ungern etwas dazwischen. Das Leben wird zur Probe in der Hoffnung, dass irgendwann die formvollendete Aufführung der Work-Life-Balance stattfinden kann. Dieses Aufschieben von Leben, diese permanente Jagd nach Idealen ist die fortwährende Einrichtung in einer lebensfeindli - chen Umgebung. Es bedeutet, sich

niederzulassen in einer Welt, wo nie-mand mehr ankommen darf. Alles soll hier unverbindlich sein und flexibel, soll sich entfesseln, damit nichts mehr stockt. Ein konstantes Ich-Gefühl ist auf diesem Markt nicht mehr gefragt, aber alle fragen sich, wer sie eigentlich sind und erkennen sich privat kaum wieder. Auch in der Freizeit hört die Arbeit am Selbst nicht auf, und um der Ohnmacht in dieser Baustelle entge-genzuwirken greift man als Kompensa-tion zu Werkzeug und Material und beginnt die eigenen Wände zu optimie-ren. Während die Unruhe der Welt bis in die Vorgärten Mitteleuropas vor-dringt, wird der Rückzug ins Private zum existenziellen Hobby. Das alles denke ich, während ich durch die Gän-ge des Baumarkts irre, dabei wollte ich mich hier ja gerade nicht verlaufen, sondern zu mir selber finden, indem ich konkret werde mit meinen Händen. Mein Projekt heisst diesmal: Endlich alles richtig machen, und sei es auch nur ein Bücherregal. Dieses Selber-machen ist im Prinzip eine Abwendung von massenproduzierter Ware und deshalb ein Stück weit ei- ne Befreiung von der zer - stö rerischen Konsumge-sellschaft, denke ich. Als ich aber mit meiner massenproduzierten Bohrmaschine Lö-cher bohre, wo sie nichts zu suchen ha-ben, weiss ich wie-der, dass ich es bei diesen fragwürdigen Reparaturen nicht be- lassen darf. Ich sollte mich nicht zu exzessiv den vier Wän-den meines Egos widmen, sondern besser woanders nachbohren und mich einer Gemeinschaft verpflichten.

Gastspiel«FRITZ, WO IST DEIN ZORN GEBLIEBEN?!»Eine Komödie von Philippe Heule mit einem Text von Katja BrunnerSA 23.4., 20 UHRKLEINE BÜHNE

26 KOLUMNE VOM HAUSAUTOR

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«BOUND TO HURT»Szenisches Konzert für ErwachseneVon Laura Berman, Douglas Gordon, Ruth Rosenfeld und Philip Venablesab 16. Juni 2016 am Theater BaselFo

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