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Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen Ein Instrumentarium für Verstehensprozesse in pädagogischen Kontexten von Menno Baumann 1. Auflage Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen – Baumann schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG tredition 2009 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 86850 329 6

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Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen

Ein Instrumentarium für Verstehensprozesse in pädagogischen Kontexten

vonMenno Baumann

1. Auflage

Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen – Baumann

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

tredition 2009

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 86850 329 6

www.tredition.de

Dieses Buch widme ich den zahllosen Kindern und Jugendlichen, die mich in den letzten Jahren in meiner Funktion als Förderschullehrer an ihrer Entwicklung teilhaben ließen.

… vermutlich ist es mir nicht gelungen, auch nur einem von ihnen mehr beizubrin-gen, als ich von ihm lernen durfte…

Dr. phil. Menno Baumann ist Förderschullehrer an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung und lehrt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik das Fach Pädagogik bei Verhaltensstörungen/ Erziehungshilfe.

Menno Baumann

Verstehende Subjektlogische Diagnostik

bei Verhaltensstörungen

Ein Instrumentarium fürVerstehensprozesse in pädagogischen

Kontexten

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigun-gen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Autor: Menno Baumann © 2009 tredition GmbH, Hamburg www.tredition.de Printed in Germany

ISBN: 978-3-86850-329-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi-sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Essays zur Bedeutung des Verstehens in der Begegnung mit (ver-) störenden Verhaltens-weisen

3. Grundbegriffe der Verstehenden Subjektlogi-schen Diagnostik 3.1 Zum Begriff der Diagnostik 3.2 Die Bedeutung des Beobachterstandpunk-

tes3.3 Zum Begriff des Verstehens 3.4 Zum Begriff der Subjektlogik

4. Grundlage einer Theorie pädagogischer Ar-beit aus Sicht der Subjektlogik 4.1 Zur Strukturlogik menschlicher Entwick-

lung 4.2 Zur Strukturlogik sozialen Verhaltens 4.3 Zur Strukturlogik pädagogischer Bezie-

hungsarbeit 4.4 Zur Bedeutung syndromspezifischen Wis-

sens

5. Methoden verstehender Diagnostik 5.1 Die Feldtheoretische Lebensraumanalyse 5.2 Szenisches Verstehen 5.3 Lebensproblemzentrierte Pädagogik 5.4 Plananalytische Kinderdiagnostik

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6. Ein diagnostisches Instrumentarium zur Er-stellung Subjektlogischer Diagnosen

7. Zur Umsetzung der Verstehenden Subjektlo-gischen Diagnostik 7.1 Informationsgewinnung 7.2 Von der Diagnose zur Veränderung 7.3 Diagnostik als Krisenintervention

8. Praxis Verstehender Subjektlogischer Dia-gnostik8.1 Harald – oder: Das Schweigen vom Schaf

im Wolfspelz 8.2 Marko – oder: Der Kampf gegen die Ver-

antwortung8.3 Sven – oder: Trampelpfade im Dickicht 8.4 Michael- oder: Wie nah ist nah genug?

9. Ausblick: Forschungsperspektiven der Ver-stehenden Subjektlogischen Diagnostik

Literatur

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1. Einleitung

Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit ihrem Auto auf der Autobahn. Sie überholen mit 140 km/h gemütlich einen Lastwagen, als Sie plötzlich beim Blick in den Rückspiegel geblendet werden. Von hinten rauscht ein anderes Fahrzeug mit deutlich zu hoher Ge-schwindigkeit heran und bekundet seine Überholabsichten mit Lichthupe, Warnblinker und einer massiven Missachtung des Mindestabstandes – und das bei dieser Geschwindigkeit. Was würden Sie über diesen Autofahrer denken? Die Idee, ihm dauer-haft die Fahrerlaubnis zu entziehen, dürfte wohl eine der harmlo-sesten Gedankengänge sein… Nun stellen Sie sich wiederum vor, am nächsten Morgen erzählt ihnen bei der Arbeit ein Kollege, sein Freund habe am vorigen A-bend sein schwer verletztes Kind in letzter Minute gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus bringen können. Dazu musste er zwar mit über 200 km/h über die Autobahn brettern und sich so man-ches mal den Weg mit der Lichthupe „freidrängeln“, aber immer-hin habe das Kind so durch eine lebensrettende Operation gerade noch rechtzeitig gerettet werden können. Würden Sie immer noch für einen Führerscheinentzug (verbunden mit so mancher gedank-lichen Beleidigung) plädieren? Dieses kleine Gedankenexperiment soll das Anliegen des Ansatzes der Verstehenden Subjektlogischen Diagnostik deutlich machen. Eine Idee dessen, warum ein Mensch so handelt, wie er handelt, kann die Einstellungen diesem Menschen gegenüber grundlegend verändern. Wir können so manche Eigenheit eines Menschen er-tragen, wenn wir ihn verstehen.

Kinder und Jugendliche mit „schwierigen“ Verhaltensweisen brin-gen uns oft genau an diese Grenze. Wir verstehen nicht, warum sie

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so handeln, wie sie handeln. Dem entsprechend erscheinen sie uns unberechenbar, oft abstoßend und verunsichern uns total. Der Ansatz der Verstehenden Subjektlogischen Diagnostik ver-sucht dabei, neue Zugangswege zur Eigenwelt kindlichen Erlebens und Verhaltens zu eröffnen, die Pädagogen auch in kritischen Situ-ationen handlungsfähig machen. Es geht darum, diese Kinder und Jugendlichen neu, in gewisser Weise sicherlich auch etwas „quer“ zu denken. Unabdingbar steht dabei die Grundannahme im Mit-telpunkt, dass jedes menschliche Verhalten eine individuelle, sub-jektiv sinnvolle und aus dem Erleben heraus logische Anpassungs-leistung darstellt, die es zu verstehen gilt, will man mit diesen Kindern in einen förderlichen Dialog treten.

Ich möchte zunächst in Kapitel 2 eine kurze inhaltliche Einführung geben. Anhand von zwei Essays, die aus meiner eigenen Praxis der schulischen Erziehungshilfe stammen und historisch-biographisch betrachtet jeweils Bausteine auf dem Weg zu dem hier skizzierten Ansatz darstellen, soll die Bedeutung des Verstehens für pädagogi-sche Prozesse erläutert werden. Selbstverständlich wurden in allen Beispielen dieses Werkes Namen verändert und alle personenbe-zogenen Daten entsprechend anonymisiert und verfremdet, um die Betroffenen vor einem Rückschluss auf ihre Person zu schützen. Kapitel 3 versucht die Grundbegriffe der Verstehenden Subjektlo-gischen Diagnostik zu fassen. Neben einem Verständnis des Diag-nostizierens steht dabei unweigerlich die Reflexion der Beobach-terperspektive. Auch die Begriffe des Verstehens und der Subjektlogik sollen erläutert werden. Kapitel 4 umreißt das Bild vom Menschen und das Verständnis pädagogischer Prozesse, welches diesem Ansatz zu Grunde liegt. Verstehende Subjektlogische Diagnostik ist nicht nur eine praxis-orientierte Vorgehensweise des Diagnostizierens, es handelt sich um ein theoriegeleitetes Konzept der Intervention in schwierigen Erziehungssituationen. Als solche ist sie an bestimmte theoretische

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Grundlagen gebunden, ohne das damit der Bezug auf weitere (z.B. auch syndrom- oder kulturspezifische) Theorien ausgeschlossen wäre. Die theoretische Fundierung bildet einen groben Rahmen, innerhalb dessen vielfältige Bezüge möglich sind. Nicht gebunden ist dieser Ansatz an irgendwelche pädagogisch-therapeutischen „Schulen“ wie beispielsweise die Psychoanalyse oder die Verhal-tenstherapie. Das Konzept ist inhaltlich offen genug, um eine Rah-mung vielfältiger (wenn auch nicht aller) Interventionsansätze dar-zustellen. Vielmehr ermutigt dieser Ansatz gerade, die Situation des Kindes oder Jugendlichen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. In Kapitel 5 werden die diagnostischen Ansätze vorgestellt, auf die sich die Verstehende Subjektlogische Diagnostik stützt und aus denen heraus sie sich entwickelt hat. An einem Beispiel aus dem Roman „Mr. Harpers Traum vom Leben“ (PLASS 1998) sowie an einem jungen Mädchen, welche an einer Interview-Studie zum Thema Gewalt teilgenommen hat (vgl. SUTTERLÜTY 2003), wer-den die Konzepte der Feldtheoretischen Lebensraumanalyse, des Szenischen Verstehens, der Lebensproblemzentrierten Pädagogik und der Plananalytischen Kinderdiagnostik dargestellt. Aus diesen Ansätzen heraus wurde die Methode der Verstehenden Subjektlogischen Diagnostik entwickelt, die in Kapitel 6 dargestellt wird. Auch dieser Ansatz wird zunächst an den beiden Beispielen aus Kapitel 5 dargestellt. Kapitel 7 reflektiert die Vorgehensweise der Informationsgewin-nung. Darüber hinaus wird die Frage angerissen, wie es von einer solchen Diagnose zur Handlungsveränderung kommen kann. In Kapitel 8 wird an einigen Beispielen aus meiner eigenen päda-gogischen Praxis im Spannungsfeld von schulischer Erziehungshil-fe und Jugendhilfe die Vorgehensweise der Verstehenden Subjekt-logischen Diagnostik ausgearbeitet.

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Ein Ausblick auf weitere Forschungsperspektiven der Ver-stehenden Subjektlogischen Diagnostik schließt die Darstellung des Ansatzes in einem Abschlusskapitel ab.

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2. Essays zur Bedeutung des Verstehens in der Begegnung mit (ver-) störenden Verhaltensweisen

Timmy – oder: innere Monologe über ein Fass voll Verzweiflung Timmy kam mit vierzehn Jahren aus der Großstadt. Dort war er in einem Projekt der Kriminalpolizei für Intensivtäter aufgenommen. Im Laufe seiner Schulzeit war er in drei Schulen für Erziehungshil-fe und einer Schule mit dem Schwerpunkt Lernen gescheitert. Er war zwischenzeitlich in einer vollstationären Wohngruppe sowie in einer Fünf-Tage-Gruppe untergebracht, wurde aber aus beiden wieder entlassen, da er dort kaum führbar war. Als seine kriminel-len Aktivitäten auch nach seinem vierzehnten Geburtstag nicht weniger wurden, brachte ihn das zuständige Jugendamt mit Ein-willigung der Mutter in einer Wohngruppe in ländlicher Umge-bung und etlichen Kilometern Entfernung unter. Gleichzeitig wur-de er in der dem Heim angegliederten Förderschule mit dem Schwerpunkt „Soziale und Emotionale Entwicklung“ eingeglie-dert. Timmys Vater war asiatischer Herkunft. Zu ihm hatte Timmy einen sporadischen Kontakt. Er hatte aber immer gehofft, eines Tages bei ihm wohnen zu können und von ihm Kampfsport zu lernen. In dem Dorf und in den Nachbargemeinden der Jugendhilfeein-richtung war Timmy schnell durch verhältnismäßig schwere Delik-te (schwerpunktmäßig Diebstähle und Einbrüche) aufgefallen. Problematisch war vor allem, dass er stets andere Jungs seiner Wohngruppe mitzog und diese hinterher beschuldigte, federfüh-rend gewesen zu sein. Nach wenigen Tagen in der Gruppe hatte Timmy sich einen kom-plizierten Bruch der rechten Hand zugezogen. Er hatte mehrfach heftig gegen Türen und Schränke geschlagen, angeblich, nachdem er durch andere Gruppenmitglieder attackiert worden war. Er be-tonte, er hätte sich ja wehren können, wenn er gewollt hätte. Da er aber Gewalt verachte, hätte er seine Wut an den Möbeln ausgelas-

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sen. Auch in der Schule machte Timmy sich zum Außenseiter. Er betonte immer wieder, dass er „krass viel Kraft“ habe und sehr kampferfahren sei. Er provozierte seine Mitschüler aufs heftigste und forderte sie immer wieder auf, die Konflikte gewaltsam auszu-tragen. Gleichzeitig wehrte er sich aber nie und steckte so eine Menge Attacken ein, gerade auf dem Schulhof. Nach solchen Aus-einandersetzungen verkündete er immer wieder lautstark, dass er seinen Kontrahenten ohne Schwierigkeiten fertig machen würde, wenn er nur wollte. Er sei aber nicht da, um sich zu schlagen… Als er einmal nach einer völligen Arbeitsverweigerung von einer Kollegin und mir mit seinem Fehlverhalten konfrontiert wurde, wollte er den Klassenraum verlassen. Auf dem Weg zur Tür ver-suchte er, einen CD-Player eines Mitschülers mitgehen zu lassen, drohte, diesen zu zerstören, und wollte die Kollegin, die ihm im Weg stand, zur Seite schubsen. In dem Moment, wo er sie anfasste, stieß sie ihn zurück. Ich fasste ihn an der Schulter und zog ihn ei-nen Schritt von ihr weg, worauf er sich sofort fallen ließ und sich wie ein Igel zusammenrollte. Als er wieder aufstand sagte er: „So-gar von den Lehrern wird man hier angegriffen!“ Während inten-siver Gespräche (überwiegend Monologe meiner Kollegin und mir über die offensichtliche Planlosigkeit seines Verhaltens) an diesem Tag machte er unabhängig voneinander zwei wirklich interessante Aussagen. Erstens sagte er mehrfach: „Ich will nach Hause!“ – erst einmal ein verständlicher Standardsatz von Kindern und Jugendli-chen kurz nach einer Heimunterbringung, dem oft wenig Auf-merksamkeit geschenkt wird. Die zweite interessante Aussage war: „Mama hält es auch nicht aus, wenn ich geschlagen werde!“ Wir begannen dann, laut über Timmys innere Motive zu phanta-sieren. Nachdem wir eine Zeit bei der Idee verharrt hatten, dass Timmy sich einfach selbst überschätzt und dabei an die Grenzen seiner Mitschüler und des Systems stößt, kam uns der Gedanke, es könnte eine Verbindung zwischen diesen beiden Sätzen geben. Timmys immanentes Ziel war, wieder nach Hause zu seiner Mut-

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ter (oder zu seinem leiblichen Vater) zu dürfen. Der innere Mono-log, der am Ende unserer Überlegungen stand, war: „Wenn ich geschlagen werde, haben Mama oder Papa Mitleid mit mir. Dann bekommt Mama ein schlechtes Gewissen, weil sie mich ins Heim geschickt hat und holt mich wieder nach Hause!“ Dieser innere Monolog war der Versuch, Timmys inneren, natür-lich teilweise unbewussten Handlungsplan in Worte zu fassen. Dieser innere Monolog war eine Hypothese, um sein Verhalten für uns verständlich zu machen. Seine Strategie war dadurch nicht zerschlagen, und letztlich führten seine kriminellen Aktivitäten außerhalb von Schule und Heim auch zu einem Scheitern der Ju-gendhilfemaßnahme. Aber in der Begegnung mit Timmy konnten wir ihm anders gegenübertreten, weil wir seine Handlungen, Aus-sagen und inneren Widersprüche besser ordnen und als sinnvolle Lösungsversuche seiner Lebenslage sehen konnten. Er verfolgte ein immanentes Ziel, und egal, wie viel Sanktionen er auch über sich hätte ergehen lassen müssen (oder wie viele positive Verstärker ihm gesetzt worden wären), er hätte an diesem Ziel festgehalten und seine Strategie verfolgt. Ausschließlich eine empathische Grundhaltung konnte hier helfen, eine Gewaltspirale unentwegter Eskalationen zu verhindern.

Jannes – oder: Bilder über eine (un-)ver-rückte Welt Jannes war damals in der ersten Klasse. Er wurde in einem alters-gemischten Klassenverband unterrichtet. Meine Aufgabe war es, ihm im Rahmen einer Kleingruppe den Erstunterricht in Mathe und Deutsch zu erteilen. Noch bevor Jannes mir seinen Namen verriet, erzählte er mir, dass er an einer chronischen Erkrankung leide. Scheinbar drehte sich auch bei seiner Mutter der gesamte Alltag um die Erkrankung ih-res Kindes. Jannes konnte in tollsten Ausschmückungen erklären, welche schwerwiegenden Symptome seine Krankheit haben könne,

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wie man ins Koma fällt, und welche operativen Eingriffe Betroffene teilweise über sich ergehen lassen mussten. Insgesamt war seine Phantasie sehr lebhaft, aber keineswegs kind-gerecht. Er lernte Lesen mit Sätzen wie: „Der Jupiter ist ein Gaspla-net“ und verfiel mehrmals täglich in lange Monologe über Dino-saurier, Außerirdische, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse oder massive Tötungsphantasien. Er erzählte viel von Computer-spielen, bei denen er seinem Vater zusah. Jannes zeigte sich als ein extrem ängstliches Kind, das sowohl vor anderen Menschen Angst hatte, als auch vor völlig irrealen Dingen wie Ufos, die landen, um ihn zu vergiften oder vor Wissenschaft-lern, die Körperteile von ihm zu Mutanten heranzüchten wollten. Wenn er seine Medikamente von einem anderen Menschen als von seiner Mutter bekommen sollte, verweigerte er sich völlig, da er glaubte, man wolle ihn vergiften. In der Unterrichtssituation stellte sich nun folgendes Problem: Hauptsächlich beim Lesen, vereinzelt auch bei anderen Aktivitä-ten, unterbrach Jannes abrupt und verweigerte die weitere Mitar-beit. Dann begann er oft zu schreien, stieß wilde Phantasien aus, der Fibel-Text sei eine Art Gehirnwäsche oder enthielte einen Ge-heimcode und sein Gewissen verhindere, dass er weitermache. Versuche, ihn mit Druck oder mit dem in Aussicht stellen von Be-lohnungen zum Arbeiten zu bringen, scheiterten. In einer Stunde, in der ich Jannes allein hatte, warf ich ihm einmal vor, er sei „stur wie ein Bock“. Er sagte darauf: „Nein, ein Bock steht neben mir. Der ist gestreift!“. Ich griff dieses Bild auf und zeichnete ihm einen schwarz-rot gestreiften Ziegenbock auf. Ich fragte ihn, wie es dem Bock denn ginge. Er antwortet mir: „Schlecht, denn er trennt den Atlas vom Strom!“ Er erklärte mir, der Atlas sei ein Organ im Nackenbereich. Dieser sei über ein Ka-bel und einem Stecker mit dem Gehirn verbunden und versorge dies mit Strom. Jetzt habe der Ziegenbock das Kabel aus der Steck-dose gezogen und deshalb fließe kein Strom. Ich zeichnete dieses

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Bild auf (vgl. Abb. 2.1). Nach kurzer Denkpause fragte ich Jannes, warum der Ziegenbock nicht einfach das Kabel wieder loslasse. Er antwortete mir: „Weil da Steine im Weg liegen!“. Ich fragte ihn, wie es denn dann sei, wenn ich schimpfte. Darauf erwiderte er, dass ich dann noch mehr Steine hinzutragen würde, aber riesengroße. „Stattdessen müsstest du die Steine wegtragen und den Bock ein kleines bisschen schieben!“, gab Jannes mir als Ratschlag. Welche Strategie sich aus diesem Bild für den Umgang mit Jannes Blo-ckierhaltung ergab, ist sicher nicht schwer zu raten. Statt ungeduld bekam der Junge künftig kleine Hilfestellungen und ein ordentli-ches Gelächter über „unser“ Bild. Und in der Tat gelang es uns, durch ein kurzes Hervorholen dieses Bildes und einer kleinen un-terrichtstechnischen Hilfestellung solche Szenen zukünftig schnel-ler zu überwinden.

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Diese Begegnungen mit den beiden Schülern waren für mich wich-tige Schritte auf dem Weg des Verstehens – des Verstehens, dass letztlich „Verstehen“ als solches eine pädagogische Intervention darstellt. Zweifellos war keines dieser beiden Kinder hinterher „geheilt“, was auch immer Heilung in diesem Kontext bedeuten würde. Was sich verändert hatte war aber meine Dialogfähigkeit bezüglich dieser beiden Jungen, und diese Dialogfähigkeit halte ich für einen der Kernaspekte pädagogischer Arbeit mit schwierigen Kindern und Jugendlichen (vgl. Kap. 4).

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3. Grundbegriffe der Verstehenden SubjektlogischenDiagnostik

Die Begrifflichkeit „Verstehende Diagnostik“ ist innerhalb der Pä-dagogik, besonders innerhalb der Sonderpädagogik nicht neu. Wenn auch die Konzepte, die sich dahinter verbergen, im sonder-pädagogischen Überprüfungsverfahren kaum anwendbar erschei-nen, wird doch der Wert, der einem verstehenden Zugang zur Verhaltensstörung zukommt, immer wieder betont (vgl. BUND-SCHUH 2008). In der von mir vorgeschlagenen Konzeption der diagnostischen Krisenintervention habe ich den Begriff der Sub-jektlogik ergänzt. Da das Konzept, welches hier dargestellt wird, weniger der Ein-gangsdiagnostik und der konkreten Handlungsplanung dient, als vielmehr der Krisenintervention im Sinne eines „Verstehens um des Verstehens willen“ (was die Handlungsplanung nicht aus-schließt), möchte ich an dieser Stelle aber den gesamten Terminus und die diagnostische Haltung etwas genauer betrachten.

3.1 Zum Begriff der Diagnostik Der Begriff der Diagnostik wird in der Psychologie häufig als eine Mischform von Erkennen und Erklären definiert (vgl. NOLTING/ PAULUS 1996, S. 171). Kriterien dieser klassischen Diagnostik sind dabei die Objektivität, die Messgenauigkeit des diagnostischen Instrumentariums und die Gültigkeit der Diagnose (vgl. ebenda ff). Ziel einer solchen Diagnostik ist häufig eine Diagnose, aus der dann die weiteren (Be-)Handlungsschritte abgeleitet werden. Di-agnosekataloge, die Symptome einer Krankheit zuordnen, wie z.B. der ICD oder der DSM, erfreuen sich dabei hoher Beliebtheit. Die Symptome gelten dann als Diagnosekriterium, und das Vorliegen der entsprechenden Krankheit als Erklärung für die Symptome.

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Ähnlich arbeitet auch die klassische Testdiagnostik. Hier wird über bestimmte Aufgaben ein bestimmtes Leistungsniveau, also ein „Ist-Zustand“ gemessen. Das Ergebnis eines Intelligenztest kann dann z.B. als Erklärung für Schulversagen herangezogen werden – oder seit Kurzem auch bei sehr hohen IQ-Werten im Konzept der Hoch-begabung als Erklärung für störendes Verhalten. Unlängst ist die Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens, das aus-schließlich auf Ist-Zustände sieht, für die Pädagogik umfassend dargelegt worden (vgl. z.B. EGGERT 1998; SCHUCK 2004; HEKE-LE 2005). Auf der Suche nach neuen Konzepten der Diagnostik haben sich verschiedene Perspektiven eröffnet, von denen sich die Förderdiagnostik, verstanden als Lernprozessbegleitung, weitest-gehend durchgesetzt hat. Diese Ansätze gehen nicht mehr davon aus, dass Diagnostik am Anfang eines pädagogischen Prozesses stattfindet, und dann in die eigentliche Förderung übergeht, sondern das Diagnostik einen all-täglichen Prozess des Pädagogen darstellt, welcher die gesamte Förderung begleitet (vgl. EBERWEIN 1996; SCHUCK 2004, S. 350; WILLENBRINK 2000, S. 28). Die Diagnostik gilt zwar nach wie vor als Ausgangspunkt der Planungen, wird aber im gesamten Förder-prozess ständig überprüft, erweitert und aktuellen Entwicklungen angepasst. SCHUCK beschreibt den Prozess pädagogischer Dia-gnostik dabei wie folgt: „Die informelle und formelle, alltägliche und wissenschaftsgeleitete Diagnostik von Pädagoginnen und Pä-dagogen ist Teil ihrer im Unterricht, bei der Förderung und in der Therapie verwirklichten Professionalität. Im Kern ist Diagnostik der Versuch, die Komplexität menschlicher Handlungen in dia-gnostischen Situationen zu reduzieren, im Teil das Ganze zu sehen und über die Reduktion komplexer Wirklichkeiten zu Erklärungen, zu Prognosen und zu handlungsrelevanten Entscheidungen zu kommen“ (SCHUCK 2004, S. 353). Die Form der Diagnostik, die ich an dieser Stelle vertrete, baut grundlegend auf dieser Idee auf, dass Pädagogen in ihrem tägli-

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chen Handeln andauernd diagnostische Beobachtungen machen. Diese Beobachtungen bezeichne ich aber noch nicht als diagnosti-sches Handeln. Diagnostik im hier verstandenen Sinne ist ein in sich abgrenzbarer Prozess. Er ist gekennzeichnet durch eine Such-haltung. Es geht also nicht um das Finden von Wahrheiten, son-dern um das Suchen nach Zusammenhängen. Konkret heißt das, die Frage ob und wenn ja welche Störung ein Kind hat wird hier vollkommen ausgeblendet. Es geht allein dar-um, einen Zugang zu finden zu Verhaltensweisen eines Menschen, die mich oder andere Personen daran hindern, mit diesem Men-schen in einen förderlichen Dialog zu treten.

3.2 Die Bedeutung des Beobachterstandpunktes Wie oben beschrieben gelten für die Diagnostik traditionell die Kriterien der Objektivität, der Messgenauigkeit sowie der Gültig-keit. Aus einer systemischen Grundhaltung heraus, die der Verste-henden Subjektlogischen Diagnostik zu Grunde liegt, müssen diese Kriterien bedingungslos aufgegeben werden. Im Rahmen der sys-temischen Sichtweise hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass jede Beobachtung immer eine Beobachtung eines Beobachters ist, und somit niemals von diesem unabhängig. Es gibt aus systemi-scher Sicht keine „richtigen“ Wahrnehmungen, sondern jede dia-gnostische Aussage bleibt die Wahrnehmung eines externen Beob-achters, der aus seiner Perspektive heraus eine Unterscheidung trifft, die bestenfalls noch kommunikativ ausgetauscht und somit mehrperspektivisch wird. „Alles, was beobachtet, beschrieben, festgestellt oder diagnostiziert wird, ist ein Ausdruck subjektiver Erfahrung und sozialer Einigung“ (LINDEMANN 2008, S. 13). Eine Diagnose ist somit nicht „richtig“ oder „wahr“, sie ist nicht unab-hängig von der Person, die sie stellt, und auch nicht vom Kontext, innerhalb dessen sie erarbeitet wird. So könnte derselbe Diagnosti-

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ker unter anderen Umständen und zu einer anderen Zeit zu völlig anderen Aussagen kommen. Ein diagnostisches Instrumentarium ist somit nicht messgenau, führt im Wiederholungsfall nicht zwangsläufig zu den gleichen Ergebnissen und beansprucht für sich auch keine allgemeine Gültigkeit. Dies gilt sogar für standar-disierte Testverfahren, wenn diese auch versuchen, genau diesen Punkt der Beobachtervariable zu umgehen (vgl. ebenda S. 49). Welche Qualitätskriterien kann eine Verstehende Subjektlogische Diagnostik alternativ für sich benennen? „Die Idee systemischer Beobachtung (…), stellt bewusst die persön-liche Entscheidung für die eigene Sichtweise in den Vordergrund und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach den subjektiven Be-gründungen (…)“ (LINDEMANN 2008, S. 15). Dieser Aspekt spielt in dem hier dargestellten Ansatz eine zentrale Rolle. Verstehende Subjektlogische Diagnostik ist eine Vorgehensweise, die vielfältige Daten und Perspektiven in einen Zusammenhang zu stellen ver-sucht. Es ist somit keine spekulative oder rein assoziative Methode. Der Diagnostiker muss seine Systematisierung, die er wählt, einem Dritten gegenüber darlegen und begründen können. Entscheidend ist nicht, dass dieser hinterher „überzeugt“ ist und die Ergebnisse ebenfalls für richtig hält. Es muss aber nachvollziehbar sein, wie der Diagnostiker zu seinen Aussagen kommt. Verstehende Subjekt-logische Diagnostik ist also nicht objektivierbar, aber in ihrem Pro-zess rekonstruierbar.Das zweite Kriterium, mittels dessen sich die Ergebnisse der Dia-gnostik messen lassen müssen, ist das der Funktionalität. Dieser Aspekt beinhaltet zwei Unterkriterien: Erstens stellt sich die Frage, ob es die erarbeitete Diagnose ermöglicht, das Verhalten eines Kin-des oder Jugendlichen gerade in seinen Extrembereichen in sich schlüssig als sinnhaften Versuch der Lebensbewältigung zu denken.Vereinfacht: Stellt die Diagnose eine aus Sicht des Diagnostikers gelungene Hypothese zur Sinnhaftigkeit des Verhaltens dar? Die Selbstbeurteilung des diagnostischen Prozesses spielt hierbei also