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REGISSEUR ANDRES VEIEL SPRICHT ÜBER SEINEN RAF-FILM FOTO: epa SEITE 15 ORF ENTWICKELTE VERHALTENSKODEX FÜR JOURNALISTEN FOTO: fotolia SEITE 19 WIENS GRÖSSTES UNTERHALTUNGS- UND KULTURPROGRAMM SEITEN 19 BIS 22 F EUILLETON Freitag, 15. April 2011 13 Pripjat. Das Schlimmste sind die winzigen Schuhe, die verlassen vor den kleinen Spinden liegen. Die stummen Bilder von der Flucht aus dem Kindergarten bringen die Mägen der Besucher aus dem fer- nen Westen Europas ins Drehen. Gerade vorher noch waren die Besucher direkt vor dem explo- dierten Block 4 des Kernkraft- werks von Tschernobyl gestanden. Hatten mit dem Schichtleiter dis- kutiert, der in der Unglücksnacht vom 26. April 1986 den Reaktorbe- trieb verantwortete – und dafür später ins Gefängnis wanderte. Waren durch verlassene Land- schaften und Dörfer gefahren, in denen der Wind Schneewolken aufwirbelte. Unterhielten sich mit Menschen, die in einem der nach Karbol stinkenden Krankenhäuser in Weißrussland auf ihre Behand- lung warteten, weil die Kernreak- tor-Katastrophe Tumore in ihren Schilddrüsen entstehen ließ. Doch erst in dem Kindergarten der Stadt Pripjat, drei Kilometer vom Tschernobyl-Reaktor entfernt, erstickt der Kloß im Hals jedes Wort, weil sie nun die Dramatik dieser Tage so richtig begreifen. Nur die Augen der Besucher bewe- gen sich, starren auf Puppen, die mit verrenkten Gliedmaßen auf Kinderbetten liegen. Schauen auf halbgeöffnete Schubladen, aus de- nen Kinder-Zeichnungen lugen. Techniker waren blind Am 27. April 1986 informierten die Behörden die 45.000 Bewohner der Stadt Pripjat um 11 Uhr Vor- mittag, dass sie ihre Stadt verlas- sen müssen. Die schlimmsten Be- fürchtungen bestätigten sich, schließlich hatten die Einwohner 33 Stunden zuvor die Explosion am Horizont gesehen. Um 14 Uhr begann die Evakuierung mit 1200 Bussen, zweieinhalb Stunden spä- ter war die Stadt leer. In drei Ta- gen, hieß es, könnt ihr zurückkeh- ren. Aus den Tagen wurden Jahre und heute beweist eine Birke auf der Tartanbahn des nahen Stadi- ons, dass ein Vierteljahrhundert vergangen ist. Pripjat ist noch im- mer menschenleer, die Stadt ge- hört zum radioaktiven Sperrgebiet. In der Nacht vom 25. auf den 26. April sollte man den vierten Block des aus vier Kernreaktoren bestehenden Kraftwerks für War- tungsarbeiten abschalten. Gleich- zeitig sollte ein längst fälliger Test durchgeführt werden: Liefert die auslaufende Turbine des abge- schalteten Kraftwerks genug Leis- tung für die Kühlpumpen, bis das Notstromaggregat anspringt? Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Der Sarkophag im Naturschutzgebiet Vor 25 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl, die Folgen sind noch lange nicht bewältigt Ein Besuch der evakuierten Stadt Pripjat, nur drei Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. Einige sind in die Sperrzone zurückgekehrt. Von Roland Knauer aus der Ukraine der Reaktor mit einer zu niedrigen Leistung. Das ist bei Reaktoren dieses Bautyps riskant, da sie mit Wasser die Brennstäbe kühlen, während Graphit die Kernreaktion aufrechterhält. Fällt die Wasser- kühlung aus, kann die Kernreakti- on in Ausnahmesituationen rapide stärker werden. Genau das pas- sierte in der Unglücksnacht um 1.23 Uhr und 44 Sekunden. Von weniger als zehn Prozent der nor- malen Leistung schnellte die Kern- reaktion innerhalb von Augenbli- cken auf das 470-Fache hinauf. Die Explosion von Tschernobyl 4 hob die 3000 Tonnen schwere Deck- platte über dem Reaktor, zerstörte das Reaktorgebäude und ließ schlagartig alle Messinstrumente ausfallen. Ingenieure und Techni- ker waren praktisch blind. Erst ein Schritt vor die Tür zeigte ihnen das Ausmaß der Katastrophe. Glühende Reaktorruine In nur mit Wasser betriebenen Re- aktoren, wie sie in Westeuropa laufen, könnte eine solche Kata- strophe nicht passieren, betont die Gesellschaft für Anlagen- und Re- aktorsicherheit in Köln. In ihnen kühle das Wasser nämlich nicht nur den Reaktor, sondern es halte auch die Kernreaktion aufrecht. Ohne Kühlwasser ginge der Reak- tor daher einfach aus. Die radioak- tiven Verbindungen können zwar eine Kernschmelze auslösen, eine Kernexplosion wie in Tschernobyl könne aber nicht passieren. Auch die Explosionen in den japani- schen Fukushima-Reaktoren seien chemische Reaktionen gewesen: Die nicht gekühlten Brennstäbe hätten Wasserstoff entstehen las- sen, der dann explodiert war. Die Sowjet-Ingenieure hatten ei- nen triftigen Grund, Graphit-Reak- toren des Tschernobyl-Typs zu bauen: Aus ihnen können nämlich bei laufendem Betrieb die Brenns- täbe entnommen werden, um da- raus Plutonium für Atombomben zu gewinnen. Dafür nahmen sie sogar ein weiteres Problem in Kauf: Einmal gezündet, lässt sich Graphit kaum löschen. Die Hitze wirbelte die radioaktiven Elemente aus dem Reaktorkern in die Luft. Fieberhaft versuchten Rettungs- mannschaften, die glühende Reak- torruine unter Kontrolle zu brin- gen. In den Tagen nach der Hava- rie warfen Hubschrauberpiloten 40 Tonnen Bor-Karbid in die Rui- ne, um die Kernreaktion zu stop- pen, 800 Tonnen Dolomit sollten die entstehende Wärme auffangen, 1800 Tonnen Sand und Lehm die schwelenden Feuer ersticken, 2400 Tonnen Blei die Strahlung abschirmen. Zehn Tage nach der Explosion war Tschernobyl 4 stabi- lisiert. 134 Arbeiter bekamen sehr hohe Strahlendosen ab, 28 von ih- nen starben binnen vier Monaten. Strahlender Schrott Anschließend begannen tausende Bauarbeiter und Soldaten, eine bis zu 15 Meter dicke Beton-Hülle um den Reaktorblock zu bauen. Drei Betonwerke wurden eigens errichtet. Probleme bereitete die Konstruktion des Daches, da die Strahlung dort oben tödlich gewe- sen wäre. Daher wurde die Monta- ge vom Hubschrauber aus durch- geführt. Sonderlich genau konnte aus der Luft aber nicht gearbeitet werden. Zwischen den Stahlroh- ren klafften Lücken, durch die der Regen tropfte. Da ein Arbeiter in nur zehn Stunden auf dem Dach eine tödliche Strahlendosis abbe- kommen hätte, wurden die Löcher ferngesteuert gestopft. In dem Vierteljahrhundert seit der Katastrophe aber haben Wind und Wetter den Sarkophag zer- mürbt. Bis 2015 soll daher ein gi- gantisches Stahl-Gewölbe errich- tet werden, unter dem der Sarko- phag ferngesteuert „entsorgt“ werden soll. Laut Plan soll das bis 2065 dauern. Die Katastrophe wä- re dann fast ein Jahrhundert alt. Ein paar Kilometer vom Sarko- phag entfernt lagern in zehn De- pots zwölf Millionen Kubikmeter strahlender Schrott: Feuerwehr- fahrzeuge, Panzer und Busse, die bei der Beseitigung der Havarie- Folgen zum Einsatz kamen, Werk- zeuge und Maschinen, mit denen der Sarkophag errichtet wurde. Mit der Zeit spült der Regen die Radioaktivität ab: Selbst an heik- len Stellen wie unter den Kotflü- geln gibt es heute kaum noch stärkere Strahlung als in unbelas- teten Gebieten. Auch werden die Schrotthaufen mit den Jahren kleiner, weil Plünderer alles klau- en, was verwertbar scheint. Die Reaktorkatastrophe hat ne- ben Kriminellen einen weiteren Gewinner: die Natur. So paradox es klingt, ihr hat die radioaktive Verseuchung gut getan. Rund 400.000 Menschen wurden aus Teilen der Ukraine, Weißruss- lands und Russlands evakuiert. Die Natur kehrte aber rasch wie- der zurück, heute heulen dort die Wölfe. Weißrussland hat einen Teil der evakuierten Zone daher zum „staatlichen radioökologi- schen Naturpark“ erklärt. Tiere als Gewinner Pflanzen und Tiere kommen mit erhöhter Strahlung offenbar gut zurecht. Forscher des Institutes für Agrarökologie und Biotechno- logie in Kiew haben anhand von vier im Sperrgebiet eingefange- nen Rindern nachgewiesen, dass deren Kälber zwar mehrere Ver- änderungen im Erbgut zeigten, diese aber bis zur vierten Genera- tion nahezu verschwanden. Für Menschen ist die Sache an- ders: Die Explosion setzte große Mengen des radioaktiven Jod-131 frei, das von der Schilddrüse auf- genommen wird. Dort verändert es das Erbgut der Zellen und lässt Tumoren wachsen. Rund 5000 solcher Schilddrüsen-Tumore tra- ten nach der Katastrophe in den Gebieten auf, in denen das radio- aktive Jod vom Himmel fiel, er- klärt Herwig Paretzke vom Insti- tut für Strahlenforschung des Helmholtz-Zentrums München. Weil die Schilddrüse von Kindern stärker als die von Erwachsenen reagiert, waren zwei Drittel der Betroffenen jünger als fünf Jahre. Wollen die Wissenschafter er- mitteln, wie viele Krebstote eine Kernreaktorkatastrophe wie in Tschernobyl insgesamt fordert, stehen sie vor einem Problem. Denn ein durch radioaktive Strah- lung ausgelöster Tumor tritt oft erst Jahrzehnte nach dem Un- glück auf und unterscheidet sich nicht von einem Krebs, der ande- re Ursachen hatte. Laut der Welt- gesundheitsorganisation WHO könnte Tschernobyl rund 4000 zusätzliche Krebstote verantwor- ten – Anti-Atomkraft-Bewegungen nennen weitaus höhere Zahlen. Keine Krebsstatistiken Wer im Kindergarten von Pripjat vor den Spinden mit den überhas- tet zurückgelassenen Kinderschu- hen steht, braucht keine Krebs- zahlen, um das Ausmaß der Kata- strophe zu begreifen. Hunderttau- sende mussten ihre Heimat ver- lassen. Zweimal im Jahr dürfen sie in ihre Straßendörfer zurück, um Gräber zu besuchen. Einige sind dennoch dauerhaft in die Sperrzonen zurückgekehrt und le- ben dort unter primitiven Bedin- gungen, meist ohne fließendes Wasser oder Elektrizität. Vierhunderttausend Menschen mussten nach der Reaktorkatastrophe ihre Häuser verlassen. Fotos: Knauer Fluchtartig verlassen: der Kindergarten in Pripjat.

Vor 25 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl ... · tor-Katastrophe Tumore in ihren Schilddrüsen entstehen ließ. Doch erst in dem Kindergarten der Stadt Pripjat, drei

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REGISSEUR ANDRES

VEIEL SPRICHT ÜBER SEINEN RAF-FILM

FOTO: epa SEITE 15

ORF ENTWICKELTE

VERHALTENSKODEXFÜR JOURNALISTEN

FOTO: fotolia SEITE 19

WIENS GRÖSSTES

UNTERHALTUNGS- UNDKULTURPROGRAMM

SEITEN 19 BIS 22

FEUILLETON Freitag, 15. April 2011 13

Pripjat. Das Schlimmste sind diewinzigen Schuhe, die verlassenvor den kleinen Spinden liegen.Die stummen Bilder von der Fluchtaus dem Kindergarten bringen dieMägen der Besucher aus dem fer-nen Westen Europas ins Drehen.

Gerade vorher noch waren dieBesucher direkt vor dem explo-dierten Block 4 des Kernkraft-werks von Tschernobyl gestanden.Hatten mit dem Schichtleiter dis-kutiert, der in der Unglücksnachtvom 26. April 1986 den Reaktorbe-trieb verantwortete – und dafürspäter ins Gefängnis wanderte.Waren durch verlassene Land-schaften und Dörfer gefahren, indenen der Wind Schneewolkenaufwirbelte. Unterhielten sich mitMenschen, die in einem der nachKarbol stinkenden Krankenhäuserin Weißrussland auf ihre Behand-lung warteten, weil die Kernreak-tor-Katastrophe Tumore in ihrenSchilddrüsen entstehen ließ.

Doch erst in dem Kindergartender Stadt Pripjat, drei Kilometervom Tschernobyl-Reaktor entfernt,erstickt der Kloß im Hals jedesWort, weil sie nun die Dramatikdieser Tage so richtig begreifen.Nur die Augen der Besucher bewe-gen sich, starren auf Puppen, diemit verrenkten Gliedmaßen aufKinderbetten liegen. Schauen aufhalbgeöffnete Schubladen, aus de-nen Kinder-Zeichnungen lugen.

Techniker waren blindAm 27. April 1986 informiertendie Behörden die 45.000 Bewohnerder Stadt Pripjat um 11 Uhr Vor-mittag, dass sie ihre Stadt verlas-sen müssen. Die schlimmsten Be-fürchtungen bestätigten sich,schließlich hatten die Einwohner33 Stunden zuvor die Explosionam Horizont gesehen. Um 14 Uhrbegann die Evakuierung mit 1200Bussen, zweieinhalb Stunden spä-ter war die Stadt leer. In drei Ta-gen, hieß es, könnt ihr zurückkeh-ren. Aus den Tagen wurden Jahreund heute beweist eine Birke aufder Tartanbahn des nahen Stadi-ons, dass ein Vierteljahrhundertvergangen ist. Pripjat ist noch im-mer menschenleer, die Stadt ge-hört zum radioaktiven Sperrgebiet.

In der Nacht vom 25. auf den26. April sollte man den viertenBlock des aus vier Kernreaktorenbestehenden Kraftwerks für War-tungsarbeiten abschalten. Gleich-zeitig sollte ein längst fälliger Testdurchgeführt werden: Liefert dieauslaufende Turbine des abge-schalteten Kraftwerks genug Leis-tung für die Kühlpumpen, bis dasNotstromaggregat anspringt?

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete

Der Sarkophag im NaturschutzgebietVor 25 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl, die Folgen sind noch lange nicht bewältigt

■ Ein Besuch derevakuierten Stadt Pripjat,nur drei Kilometer vomUnglücksreaktor entfernt.■ Einige sind in dieSperrzone zurückgekehrt.

Von Roland Knaueraus der Ukraine

der Reaktor mit einer zu niedrigenLeistung. Das ist bei Reaktorendieses Bautyps riskant, da sie mitWasser die Brennstäbe kühlen,während Graphit die Kernreaktionaufrechterhält. Fällt die Wasser-kühlung aus, kann die Kernreakti-on in Ausnahmesituationen rapidestärker werden. Genau das pas-sierte in der Unglücksnacht um1.23 Uhr und 44 Sekunden. Vonweniger als zehn Prozent der nor-malen Leistung schnellte die Kern-reaktion innerhalb von Augenbli-cken auf das 470-Fache hinauf. DieExplosion von Tschernobyl 4 hobdie 3000 Tonnen schwere Deck-platte über dem Reaktor, zerstörtedas Reaktorgebäude und ließschlagartig alle Messinstrumenteausfallen. Ingenieure und Techni-ker waren praktisch blind. Erst einSchritt vor die Tür zeigte ihnendas Ausmaß der Katastrophe.

Glühende ReaktorruineIn nur mit Wasser betriebenen Re-aktoren, wie sie in Westeuropalaufen, könnte eine solche Kata-strophe nicht passieren, betont dieGesellschaft für Anlagen- und Re-aktorsicherheit in Köln. In ihnenkühle das Wasser nämlich nichtnur den Reaktor, sondern es halteauch die Kernreaktion aufrecht.Ohne Kühlwasser ginge der Reak-tor daher einfach aus. Die radioak-tiven Verbindungen können zwareine Kernschmelze auslösen, eineKernexplosion wie in Tschernobylkönne aber nicht passieren. Auchdie Explosionen in den japani-schen Fukushima-Reaktoren seienchemische Reaktionen gewesen:Die nicht gekühlten Brennstäbehätten Wasserstoff entstehen las-sen, der dann explodiert war.

Die Sowjet-Ingenieure hatten ei-nen triftigen Grund, Graphit-Reak-

toren des Tschernobyl-Typs zubauen: Aus ihnen können nämlichbei laufendem Betrieb die Brenns-täbe entnommen werden, um da-raus Plutonium für Atombombenzu gewinnen. Dafür nahmen siesogar ein weiteres Problem inKauf: Einmal gezündet, lässt sichGraphit kaum löschen. Die Hitzewirbelte die radioaktiven Elementeaus dem Reaktorkern in die Luft.

Fieberhaft versuchten Rettungs-mannschaften, die glühende Reak-torruine unter Kontrolle zu brin-gen. In den Tagen nach der Hava-rie warfen Hubschrauberpiloten40 Tonnen Bor-Karbid in die Rui-ne, um die Kernreaktion zu stop-pen, 800 Tonnen Dolomit solltendie entstehende Wärme auffangen,1800 Tonnen Sand und Lehm dieschwelenden Feuer ersticken,

2400 Tonnen Blei die Strahlungabschirmen. Zehn Tage nach derExplosion war Tschernobyl 4 stabi-lisiert. 134 Arbeiter bekamen sehrhohe Strahlendosen ab, 28 von ih-nen starben binnen vier Monaten.

Strahlender SchrottAnschließend begannen tausendeBauarbeiter und Soldaten, einebis zu 15 Meter dicke Beton-Hülleum den Reaktorblock zu bauen.Drei Betonwerke wurden eigenserrichtet. Probleme bereitete dieKonstruktion des Daches, da dieStrahlung dort oben tödlich gewe-sen wäre. Daher wurde die Monta-ge vom Hubschrauber aus durch-geführt. Sonderlich genau konnteaus der Luft aber nicht gearbeitetwerden. Zwischen den Stahlroh-ren klafften Lücken, durch die derRegen tropfte. Da ein Arbeiter innur zehn Stunden auf dem Dacheine tödliche Strahlendosis abbe-kommen hätte, wurden die Löcherferngesteuert gestopft.

In dem Vierteljahrhundert seitder Katastrophe aber haben Windund Wetter den Sarkophag zer-mürbt. Bis 2015 soll daher ein gi-gantisches Stahl-Gewölbe errich-tet werden, unter dem der Sarko-phag ferngesteuert „entsorgt“werden soll. Laut Plan soll das bis2065 dauern. Die Katastrophe wä-re dann fast ein Jahrhundert alt.

Ein paar Kilometer vom Sarko-phag entfernt lagern in zehn De-pots zwölf Millionen Kubikmeterstrahlender Schrott: Feuerwehr-fahrzeuge, Panzer und Busse, diebei der Beseitigung der Havarie-Folgen zum Einsatz kamen, Werk-zeuge und Maschinen, mit denender Sarkophag errichtet wurde.Mit der Zeit spült der Regen dieRadioaktivität ab: Selbst an heik-len Stellen wie unter den Kotflü-

geln gibt es heute kaum nochstärkere Strahlung als in unbelas-teten Gebieten. Auch werden dieSchrotthaufen mit den Jahrenkleiner, weil Plünderer alles klau-en, was verwertbar scheint.

Die Reaktorkatastrophe hat ne-ben Kriminellen einen weiterenGewinner: die Natur. So paradoxes klingt, ihr hat die radioaktiveVerseuchung gut getan. Rund400.000 Menschen wurden ausTeilen der Ukraine, Weißruss-lands und Russlands evakuiert.Die Natur kehrte aber rasch wie-der zurück, heute heulen dort dieWölfe. Weißrussland hat einenTeil der evakuierten Zone daherzum „staatlichen radioökologi-schen Naturpark“ erklärt.

Tiere als GewinnerPflanzen und Tiere kommen miterhöhter Strahlung offenbar gutzurecht. Forscher des Institutesfür Agrarökologie und Biotechno-logie in Kiew haben anhand vonvier im Sperrgebiet eingefange-nen Rindern nachgewiesen, dassderen Kälber zwar mehrere Ver-änderungen im Erbgut zeigten,diese aber bis zur vierten Genera-tion nahezu verschwanden.

Für Menschen ist die Sache an-ders: Die Explosion setzte großeMengen des radioaktiven Jod-131frei, das von der Schilddrüse auf-genommen wird. Dort verändertes das Erbgut der Zellen und lässtTumoren wachsen. Rund 5000solcher Schilddrüsen-Tumore tra-ten nach der Katastrophe in denGebieten auf, in denen das radio-aktive Jod vom Himmel fiel, er-klärt Herwig Paretzke vom Insti-tut für Strahlenforschung desHelmholtz-Zentrums München.Weil die Schilddrüse von Kindernstärker als die von Erwachsenenreagiert, waren zwei Drittel derBetroffenen jünger als fünf Jahre.

Wollen die Wissenschafter er-mitteln, wie viele Krebstote eineKernreaktorkatastrophe wie inTschernobyl insgesamt fordert,stehen sie vor einem Problem.Denn ein durch radioaktive Strah-lung ausgelöster Tumor tritt ofterst Jahrzehnte nach dem Un-glück auf und unterscheidet sichnicht von einem Krebs, der ande-re Ursachen hatte. Laut der Welt-gesundheitsorganisation WHOkönnte Tschernobyl rund 4000zusätzliche Krebstote verantwor-ten – Anti-Atomkraft-Bewegungennennen weitaus höhere Zahlen.

Keine KrebsstatistikenWer im Kindergarten von Pripjatvor den Spinden mit den überhas-tet zurückgelassenen Kinderschu-hen steht, braucht keine Krebs-zahlen, um das Ausmaß der Kata-strophe zu begreifen. Hunderttau-sende mussten ihre Heimat ver-lassen. Zweimal im Jahr dürfensie in ihre Straßendörfer zurück,um Gräber zu besuchen. Einigesind dennoch dauerhaft in dieSperrzonen zurückgekehrt und le-ben dort unter primitiven Bedin-gungen, meist ohne fließendesWasser oder Elektrizität. ■

Vierhunderttausend Menschen mussten nach der Reaktorkatastrophe ihre Häuser verlassen. Fotos: Knauer

Fluchtartig verlassen:der Kindergarten in Pripjat.