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W. Steinitz gegen L. Gott - · PDF fileChess Endgames“ zumindest teil-weise seinen Traum verwirkli-chen. Der Thompson-Gott kann erst mit sechs Steinen spielen, wäh-rend Steinitz

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10 Kaissiber Nr. 15 / Juli-Oktober 2000

W. Steinitz gegen L. Gott

Chrilly Donninger

Von Bytes und Bauern

Der Schachlegende nach wollteder erste Weltmeister WilhelmSteinitz am Ende seiner Karriereunbedingt gegen Gott spielen. UmGott diese Partie schmackhafterzu machen, bot Steinitz ihm einenBauern als Vorgabe an. Aufgrundder schlechten Erfahrungen beimletzten Auswärtsspiel dürfte Gottauf einem Heimmatch bestandenhaben. Steinitz reiste zu diesemauch kurze Zeit später ab.In der schönen neuen Internet-Welt könnte sich Wilhelm Steinitzdie beschwerliche Überfahrt überden Hades ersparen. Er bräuchtenur die Homepage des UNIX-Schöpfers Ken Thompson (http://cm.bell-labs.com/cm/cs/who/ken)zu besuchen und könnte dort un-

ter der Rubrik „Play with God –Chess Endgames“ zumindest teil-weise seinen Traum verwirkli-chen. Der Thompson-Gott kannerst mit sechs Steinen spielen, wäh-rend Steinitz ein 31-Steiner vor-geschwebt hat. Zieht man aber dieunterschiedlichen Anfahrtsstrapa-zen in Betracht, ist das wahrschein-lich ein erträglicher Kompromiss.Steinitz' Bauernvorgabe ist übri-gens überhaupt nicht verrückt.Nachdem Gott für die Erschaffungder Welt sechs Tage – plus einenRasttag – gebraucht hatte, be-fürchtete Steinitz wohl, dass Gottmit der Konstruktion der 32-Steiner Datenbank noch nicht fer-tig sei. Bauern sind wegen dereingeschränkten Symmetrie, dem

W. Steinitz gegen L. GottDie Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr,

gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft

von keinem Baum des Gartens essen? Genesis 3,1.

Schlagen en passant und der Um-wandlung besonders rechenauf-wendig. Die Chancen, dass Gottzumindest einen 31-Steiner fertighatte, waren daher erheblich grö-ßer.

Zweifaltigkeit?Im Grunde ist die Frage, ob 6-, 31-oder 32-Steiner, nur ein neben-sächliches mathematisches Detail.Viel interessanter ist, ob der realeund der virtuelle Gott auf gleicheWeise spielen. Ziemlich genauweiß man, wie ein Thompson-Gottspielt. Das Checkers (8x8-Dame)-Programm Chinook von JonathanSchaeffer rechnet sehr oft aus demEröffnungsbuch direkt in dieAchtsteiner-Endspieldatenbank.Ohne perfektes Datenbank-Wis-sen ist Chinook ein feuriger An-greifer, mit eingeschaltetemAchtsteiner ein kaum zu besie-gender, aber fader Remisschieber.Der über 40 Jahre lang regierendeCheckers-Weltmeister MarionTinsley beschloss noch währenddes Kampfes um den Mensch-Maschine-Titel, dass ein Kampfgegen L. Gott doch wesentlich in-teressanter sein müsste. Er tratwie W. Steinitz die Überfahrt an.Ein nettes Beispiel für die grotes-ke Auswirkung von perfektemWissen auf ein Schachprogrammstammt vom niederländischenSchriftsteller und SchachspielerTim Krabbé. In Diagramm 1 spieltdas Schachprogramm H IARCS

aufgrund seines perfekten Wis-sens den unglaublichen Zug 1.Df7†. Nach 1. ... Kxf7 ist HIARCSglücklich, weil es in seine 5-Steiner-Datenbank gelangt. Die Daten-bank signalisiert HIARCS ein Matt.Das ist viel besser als der schnödeVorteil von Dame und zwei Bau-

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Computerschach

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ern nach 1. Dxf4. Das logische undkürzere Matt nach 1. Kb2 ist fürHiarcs zu weit weg. 1. Df7† istskurril, ändert aber nichts am Er-gebnis. Derselbe Vorgang könntesich aber auch mit umgekehrtenVorzeichen abspielen. Das Pro-gramm verschenkt Figuren, weilihm seine Datenbank meldet, dasses ansonsten Matt in 250 gesetztwird.

|wdwdwiwdy|dw!wdwdwy|wdwdwdwdy|dwdwdwdwy|wdwdw0wdy|dwdwdPdwy|wdwdw)wdy|Iwdwdwdwy

Diagramm 1 Weiß am Zug

HIARCS – N. N.

Nachdem es selbst Michael Ehnnoch nicht gelungen ist, das Origi-nal-Partieformular W. Steinitz ge-gen L. Gott, Himmelreich i. A., 1901,aufzutreiben, kann man über diewahre Spielanlage von L. Gott nurspekulieren. Die Wahrscheinlich-keit, die Partiemitschrift jemals zufinden, ist sehr gering. MichaelEhn verfolgt die Angelegenheitauch nicht mit seiner sonst übli-chen Beharrlichkeit. Laut Ehn istdie Steinitzsche Ankündigungzwar gut erfunden, aber histo-risch in keiner Weise belegbar.

Eva und die SchlangeBei der Erforschung der Spielan-lage von L. Gott sind wir daher aufandere Quellen angewiesen. Einegute Beschreibung findet sich in

Genesis 3,1-24. L. Gott geht offen-sichtlich davon aus, dass seinmenschlicher Gegner wenigerweiß als er selbst. Wie aus demEinleitungs-Zitat hervorgeht, stelltdie kluge Schlange Eva mit demApfel eine Falle. Eine mit göttli-chen Wissen ausgestattete Evahätte den Apfel nie genommen,weil sie das daraus resultierendeSchlamassel – „Viel Mühsal berei-te ich dir, sooft du Schwanger wirst.Unter Schmerzen gebierst du Kin-der ...“ – gesehen hätte. EinThompson-Gott hätte folglich dieApfel-Falle nie gestellt, weil er voneiner göttlichen Eva ausgeht. DieStrategie von L. Gott ist aber nochviel hintergründiger angelegt. Erbringt Adam und Eva in eine sehrschwer zu durchschauende Situa-tion. Sie dürfen alle Früchte Edensessen, nur jene vom Baum in derGartenmitte nicht. Die Sonderstel-lung dieses einen Baumes ist fürEva nicht einsichtig. Hätte L. Gottden Genuss aller Früchte verbo-ten, wäre Eva mit ziemlicher Si-cherheit nicht in die Apfelfallegetappt. Ferner startete L. Gottseinen Angriff nicht direkt auf denlaut Sigi F. mit einem stärkerenÜberich ausgestatteten Adam. Ernützt Adams Schwachstelle Evaaus. Ein Thompson-Gott weiss al-les über Schach, über das Verhält-nis von Adam zu Eva hat er abernicht die geringste Ahnung. Auf-grund dieses und ähnlicher Be-richte können wir also davon aus-gehen, dass L. Gott wahrlich keinfader Remisschieber ist. Wahr-scheinlich kam unter den Sterbli-chen der Hexer Tal seinem Stil amnächsten. Unklar ist, ob L. Gott sowie M. Tal auch objektiv inkorrek-te Opfer spielt. Die vorhandenenQuellen weisen darauf nicht hin.

Stein, Papier, SchereSchachprogramme spielen bis aufunbedeutende Modifikationen wieder Thompson-Gott. Ein mit einer20-Steiner-Datenbank ausgerü-stetes Programm würde besten-falls ein perfekter T. Petrosjan,niemals aber ein M. Tal. Wahr-scheinlich würde es aufgrund sei-ner Remisneigung kaum Turnieregewinnen. Im Rahmen eines di-rekten WM-Kampfes wäre es aberkaum zu knacken.Im September 1999 wurde dieerste internationale Computer-Meisterschaft im RoShamBo (Stein,Papier, Schere) abgehalten. EinRoShamBo-Match besteht aus 1000Stein-Papier-Schere-Duellen. Einenicht zu widerlegende RoShamBo-Strategie ist bekannt. Man spieltmit je 1/3 Wahrscheinlichkeit eineder drei möglichen Alternativen.Das mit dieser Strategie spielendeProgramm META-META-RANDOMbelegte nur den 27. Platz unter 55Teilnehmern. META-META-RAN-DOM ist zwar im direkten Duellnicht zu biegen, es war aber – imGegensatz zum Sieger IOCAINEPOWDER – nicht in der Lage, dieSchwächen anderer Programmeauszunützen. Offensichtlich kannman ein RoShamBo-Turnier nurgewinnen, wenn man das Risikoeingeht, eine Partie zu verlieren.RoShamBo ist ein primitivesKinderspiel. Die Aufgabe, denGegner auszuhorchen, seine Stra-tegie zu erkennen und auszunut-zen, ist aber alles andere als trivi-al. Ein besonders interessantes Er-gebnis des Turnieres war der drit-te Platz von DE-BRUIJN. DE-BRUIJNreagiert überhaupt nicht auf dieSpielweise des Gegners. Es spielteine so genannte De-Bruijn-Se-quenz. De-Bruijn-Sequenzen sind

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W. Steinitz gegen L. Gott

relativ kompliziert geschachteltemathematische Folgen. JedeSchachtelungsebene hat ihr eige-nes Muster. Innerhalb einerSchachtelungsebene werdenStein, Papier, Schere mit unter-schiedlicher Häufigkeit gespielt,über die verschiedenen Ebenengemittelt ergibt sich aber die op-timale 1/3-Häufigkeit. Der Erfolgdes Programmes DE-BRUIJN beruhtauf der Irreführung des Gegners.Sie hatten das Muster für eineEbene durchschaut und versuch-ten ihn nun auszubeuten. Inzwi-schen hatte aber DE-BRUIJN seineEbene gewechselt und spielte einanderes Muster. Wer sich ein fal-sches Bild von seinem Gegenübermacht, wird selbst bestraft. Einbesonders intelligenter Gegner –bei diesem ersten Turnier warkeines der Programme besondersausgefuchst – hätte DE-BRUIJNaber durchschaut und daraufhinjedes Duell gewonnen.Die DE-BRUIJN-Strategie ist Autis-mus in Reinkultur. Auf einer Meta-Ebene ist die Strategie aber einsehr gefinkeltes Gegner-Model.Die Schachprogrammierer habensich über diesen Aspekt bisherkeine sehr tief schürfenden Ge-danken gemacht. Schachpro-gramme sind wie die DE-BRUIJN-Strategie ebenfalls Autisten. Zwarreagieren sie auf die Züge desGegners, für ihre weitere Berech-nung nehmen sie aber an, dass siegegen sich selbst spielen. DemComputerschach-Autismus fehltjede Hintergründigkeit. Er soll nurdem Schachprogrammierer dasLeben erleichtern. Schach ist auchso schwierig genug. Das Luxus-problem „Was tue ich mit perfek-tem bzw. überlegenem Wissen?“stellt sich erst seit kurzem.

Der Forster-AnsatzDie bisher umfangreichste Arbeitzu diesem Thema stammt vomSchweizer IM Richard Forster.Forster hat im Rahmen seinesInformatikstudiums an der Uni-versität Zürich die Semesterarbeit„Introducing the Human Factor inComputer Chess Programs“ ge-schrieben. Die Zusammenfassungdieser Arbeit lautet:

„Anstelle eines perfekten Gegners

wird ein normaler, fehlbarer mensch-

licher Spieler angenommen. In ein

paar Situationen wird unter dieser

Annahme der Computer eine ande-

re Entscheidung treffen als unter

der Annahme eines perfekten Geg-

ners. Die Annahme des fehlbaren

Gegners wird auf drei Ebenen unter-

sucht: Auf der Ebene der Bewertungs-

funktion, der Suche und im endgül-

tigen Entscheidungsprozess zur Aus-

wahl eines Zuges. Es wird besonde-

rer Augenmerk auf den Versuch ge-

legt, das menschliche Spiel zu mo-

dellieren und vorauszusagen. Die

besondere Betonung liegt dabei auf

den typischen Schwächen und Stär-

ken von Menschen im Verhältnis zu

jenen des Computers.“

(Übersetzung aus dem Englischenvom Verfasser)

Der Fall Duchess – Kaissa

Ausgangspunkt von Forsters Über-legungen ist eine berühmte Com-puterpartie. Bei der zweiten Com-puterschach-Weltmeisterschaft inToronto kam 1977 zwischen demamerikanischen Programm DU-CHESS und dem sowjetischen Titel-verteidiger KAISSA nach 34. Da8†die Stellung von Diagramm 2 aufsBrett.

|Qdwdwdkdy|dwdw4pdpy|pdw1wgpdy|dBdndwdwy|wdw)pdPdy|dwdwGwdPy|P)wdw)wdy|dw$wdwIwy

Diagramm 2 Schwarz am Zug

DUCHESS – KAISSA, Toronto 1977.Die Zuschauer im Saal, unter ih-nen auch Michail Botwinnik, er-warteten den logischen Zug 34. ...Kg7. Zum Entsetzen seiner Schöp-fer spielte KAISSA aber 34. ... Te8

und die Partie war endgültig ge-laufen. Die Anwesenden wareneinhellig der Meinung, dass KAISSAvon einem schrecklichen Bugheimgesucht wurde.Die Programmierer begannenauch sofort mit der Fehlersucheund stellten fest: 34. ... Te8 ist ausSicht KAISSAS vollkommen korrekt.Nach 34. ... Kg7 folgt 35. Df8†!! Kxf836. Lh6† Kg8, und nach 37. Tc8† istdas Matt nicht mehr zu verhin-dern. KAISSA hatte diese Variantegesehen. Der Turmverlust auf e8ist immer noch besser als matt-gesetzt zu werden. Duchess hätteDf8† wahrscheinlich ebenfalls ge-sehen – moderne Programme fin-den den Zug in Sekunden-bruchteilen.Wie die Reaktion der Zuschauerbeweist, hätte KAISSA gegen einenmenschlichen Gegner mit 34. ...Kg7 aber gute Schwindelchancengehabt (wenn auch die Stellungnach Kg7 objektiv verloren ist). Esist offensichtlich nicht immer ambesten, seinen Schaden zu mini-mieren.

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Computerschach

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Asymmetrie und das

Gleichgewicht der FehlerKen Thompson hat in einer Reihevon Experimenten starke Spielerwie etwa GM Edmar Mednis ge-gen seine Datenbank spielen las-sen. Trotz eines nicht unbeträcht-lichen finanziellen Anreizes wa-ren Mednis & Co. nicht in der Lage,das Endspiel Dame gegen Turmauf Anhieb zu gewinnen. Dielängste optimale Sequenz bis zumVerlust des Turmes beträgt 31Züge. Man kann also einige Zügeherschenken, bevor die 50-Züge-Regel zuschlägt. Erst nach eini-gen Versuchen gelang es Mednis,die Datenbank zu durchschauenund doch innerhalb der 50-Züge-Regel zu gewinnen.Thompson stellte weiters fest, dassdie Zuganzahl bis zum Fall desTurmes in menschlichen Partiengut mit der theoretischen Distanzübereinstimmt. In diesen Ausein-andersetzungen herrscht einGleichgewicht der Fehler.Als Konsequenz aus diesen Expe-rimenten sollte ein Programm dasEndspiel Dame gegen Turm fürsich mit Matt bewerten. Für denmenschlichen Gegner ist das End-spiel aber nicht viel mehr als einRemis wert. Mit anderen Worten:Vor die Alternative gestellt, zweiBauern herzugeben oder in dastheoretisch verlorene EndspielDame gegen Turm abzuwickeln,sollte das Programm gegen einenmenschlichen Gegner die End-spielvariante wählen.

Diagramm 3 zeigt die Ausgangs-stellung für die bisher längste vonKen Thompson berechnete Matt-sequenz.

|wHwdwdwdy|dRIwdwdwy|wdwdwhwdy|dwdwdwdwy|wdwdwdwdy|dwdwdwdwy|wdwdwhwdy|dwdwdwiwy

Diagramm 3 Weiß am Zug

Weiss am Zug setzt Matt in 262.Nach den FIDE-Regeln ist diesePosition bei optimalem Spiel einRemis. Ist es aber Remis, wenn einProgramm mit dieser Datenbankgegen einen Menschen spielt? InDiagramm 3 muss der Menschwahrscheinlich schon einige Ha-cker machen, um in 50 Zügen zuverlieren. Es sind aber eine Reihevon Folgen mit Matt in 60 oder 70bekannt, die wesentlich schwererzu verteidigen sind. Die Bewer-tung 0 ist für diese Stellungensicher falsch. Als erste Näherungkönnte man sich die Formel 10000/(Mattdistanz-49) vorstellen (1 Bau-er = 100). Für das Matt in 262würde diese Formel einen Vorteilvon etwa einem halben Bauernberechnen, ein Matt in 60 ent-spricht einer Mehrdame.

Schwieriges Terrain

Das Asymmetrie-Prinzip ist auchim Mittelspiel anwendbar. Im Ge-gensatz zum späten Endspiel istdie Programm-Bewertung in die-ser Phase alles andere als perfekt.Die zusätzlichen Gewichte müs-sen daher weit vorsichtiger ver-geben werden. Das Programm sollfür sich günstiges Terrain ansteu-ern. In offener Feldschlacht siegtmeist die Feuerkraft der schwe-

ren Schlachtpanzer, während sichim Häuserkampf, in geschlosse-nen Stellungen, die wendigeInfantrie eher durchsetzt. DieBewertungsfunktion muss daherspeziell das Öffnen einer Stellungmit Hilfe von Bauernabtausch po-sitiv für sich bewerten. Auch dieMobilität, die Anzahl der legalenZüge, sollte asymmetrisch gewich-tet werden. Das Programm sollteStellungen mit großer Mobilitätanstreben. Diese beiden Faktorensind in vielen Programmen schonseit langem eingebaut. RichardForster geht in seiner Arbeit nocheinen Schritt weiter. Die mensch-liche Stärke ist die effektive Muster-erkennung. Ein Programm ist nichtauf Mustererkennung aufgebaut.Der Mangel an bekannten Mus-tern trifft daher lediglich denmenschlichen Spieler. Das ist al-lerdings auch gleichzeitig das Pro-blem. Wie soll ein Programm eineStellung mit seltenen Mustern er-kennen, wenn es nicht weiß, wasein Muster ist?

Wild um sich schlagenDas allgemeinste und einfachsteMuster, die Anzahl der Figurenauf jeder Seite, wird auch von ei-nem Programm erkannt. Forstererwähnt in seiner Arbeit als Bei-spiel für eine seltene und für denMenschen schwierig zu spielendePostion die FigurenverteilungTurm + 2 Bauern gegen 2 Leicht-figuren. Man könnte diesesKlassifizierungssystem automati-sieren, indem man aus der Mega-Datenbank von ChessBase für jedeungefähr gleichgewichtige Figu-renkonstellation die Häufigkeitenberechnet. Stellungen mit gerin-ger Häufigkeit sind für den Com-puter nach diesem Ansatz besser

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als häufig gespielte Figuren-verhältnisse.Das Amateurprogramm HOSSA vonSteffen Jakob hat einen asymme-trischen „Wild-um-sich-Schlag-Modus“ eingebaut. Wenn HOSSAmindestens mit 1,5 Bauern im Rück-stand ist, werden eigene Königs-angriffe stärker bewertet. Das Pro-gramm ist dadurch gewillt, bis zu2 Bauern in einen Königsangriffzu stecken, auch wenn dieser in-nerhalb seines Suchhorizontes zukeinem Erfolg führt. HOSSA blitztmeist auf Internet-Schachservern.Laut Steffen Jakob hat HOSSA mitdiesem Modus schon einige Geg-ner überrascht. Die HOSSA-Strate-gie, statt sich langsam ab-schlachten zu lassen, noch wildum sich zu schlagen und vielleichteinen glücklichen Treffer zu lan-den, ist vor allem beim Blitzenplausibel.

SuchfehlerDer Suchprozess von menschli-chen und maschinellen Spielernist gänzlich anders. Menschensind dank der Mustererkennungin der Lage, die meisten Züge alsirrelevant auszusortieren. Wennsie überhaupt suchen, dann ge-schieht dies entlang ganz schma-ler, dafür aber tiefer Varianten.Brute-Force-Programme suchenkonzeptionell alle Variantendurch. Die Betonung liegt hier aufkonzeptionell, de facto untersu-chen auch reine Brute-Force-Pro-gramme nur einen Bruchteil dermöglichen Züge. Die Erklärunghierfür heißt Alpha-Beta. Alphaund Beta sind die untere und obe-re Schranke des aktuellen Such-prozesses. Angenommen, wir ha-ben in einer bestimmten Stellungbereits den ersten Zug untersucht

und er liefert eine Bewertung von0.10 zurück. Die untere SchrankeAlpha beträgt nun 0.10. Es kannmit einem der restlichen Züge nurnoch besser werden. Beim Durch-rechnen des zweiten Zuges erhal-ten wir – nach dem Ausführen desersten gegnerischen Zuges – eineBewertung von 0.0. Obwohl wirnur einen einzigen Gegenzug aus-geführt haben, wissen wir bereits,dass wir den zweiten Zug nichtspielen werden. Seine Bewertungliegt unter der Schranke Alpha. Esist Zeitvergeudung, noch weitereGegenzüge für einen Zug zu ana-lysieren, der sowieso nicht gespieltwird. Das Alpha-Beta Suchver-fahren liefert mit minimalem Auf-wand dasselbe Ergebnis wie eintatsächliches Durchsuchen allerMöglichkeiten. Es entspricht da-her – wie bereits erwähnt –konzeptionell einer vollständigenBrute-Force Suche. Die modernenProgramme suchen nicht einmalkonzeptionell nach dem Brute-Force-Ansatz. Mit Hilfe desNullmoves wird die Suche wesent-lich selektiver. Das Nullmove-Kon-zept bedeutet, dass überhauptkein Gegenzug ausgeführt wird.Leider unterscheidet Forster in sei-ner Arbeit nicht zwischen Brute-Force-Konzept und den tatsäch-lich mit Alpha-Beta berechnetenVarianten. Seine Überlegungenlaufen darauf hinaus, den Men-schen in solche Stellungen zu „lo-cken“, in denen er besonders ex-akt rechnen muss. Es gibt jeweilsnur eine gute Widerlegung,einmal den besten Zug zu überse-hen, bedeutet den Ringstaub zuküssen. Dies erhöht nicht nur kurz-fristig die Fehleranfälligkeit, derSpieler steht ständig unter Druckund ermüdet rascher. Ferner er-

höht sich die Wahrscheinlichkeitfür spätere Zeitnot. Aufgrund desAlpha-Beta-Algorithmus weißman in der Regel aber nicht, ob esin einer bestimmten Stellung eineoder mehrere annähernd gleichgute Züge gibt. Wie bereits obenerwähnt, genügt oft bereits eineinziger Gegenzug, um einen Zugverwerfen zu können. Dieser Ge-genzug muss nicht einmal die besteAntwort sein. Beim Ausführen ei-nes Nullmoves wird kein einzigerGegenzug ausprobiert. Das Pro-gramm hat keinerlei Informationüber die Verteilung der Gegen-züge.Alpha-Beta wegzulassen und statt-dessen die volle Suche zu verwen-den, wäre extrem kontraproduk-tiv. Die Suchtiefe würde durchdiesen Schritt halbiert. Allerdingsverwendete DEEP BLUE in eineretwas modifizierten Version dieseIdee. Die forcierten Züge (DEEPBLUEs Team taufte sie „SingularMoves“) wurden zusätzlich zumnormalen Mechanismus Alpha-Beta mit einer seichteren Suchebestimmt. DEEP BLUE verwendetediese Information aber nicht zurÄnderung seiner Bewertung. DieSingular Moves bewirkten eine sogenannte Singular Extension. For-cierte Varianten wurden tiefer be-rechnet. Die Singular-Extension-Methode hatte einen defensivenCharakter. Das DEEP-BLUE-Teammusste feststellen, dass beimKönigsangriff starke menschlicheSpieler das Programm ausrechne-ten. Auch ein 8-Prozessoren-FRITZmit 3,5 Millionen Stellungen proSekunde wurde beim letztenFrankfurter Open auf diese Weisedrei Mal in den Ringstaub ge-schickt. Dank der Singular Exten-sions wurde in DEEP BLUE diese

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Achillesferse weniger verwund-bar. Es ist aber umstritten, ob derzusätzliche Aufwand zur Feststel-lung der Singular Moves das Er-gebnis rechtfertigt. Die erstenArtikel über Singular Extensionsberichteten einen Elozuwachs von100 Punkten, spätere Aufsätze ten-dierten in Richtung Null. Mög-licherweise könnte man DEEPBLUES und Forsters Ansatz kombi-nieren. Nachdem Singular Exten-sions nicht geschadet haben, er-hielte man praktisch gratis einensehr interessanten Bewertungs-Term.

Wer anderen

eine Grube gräbtForster definiert eine Falle als einePosition, in der ein unmittelbareinleuchtender (Gegen-)Zug zumVerlust führt. Bei einer echten Fallegeht auch der Fallensteller einRisiko ein. Findet der Gegner dierichtige Antwort, kommt der Fal-lensteller selbst in Bedrängnis. Einnettes Beispiel für eine echte Falleist folgende Partie:

SIRE LEGAL DE KERMEUR – N. N.

Paris ca. 17501. e4 e5 2. Lc4 d6 3. Sf3 Sc6 4. Sc3

Lg4 5. Sfxe5?!

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Diagramm 4 Schwarz am Zug

N. N. tappt prompt in die Falle: 5.

... Lxd1?? 6. Lxf7† Ke7 7. Sd5† matt.Nach 5. ... Sxe5 hätte der Sire dasNachsehen gehabt. Diese Falle warwahrscheinlich auch 1750 nur ge-gen einen N. N. spielbar.Fallen sind ein wichtiger Bestand-teil des von J. v. d. Herik und J.Uiterwijk von der UniversitätMaastricht ausgearbeiteten „Op-ponent Models“.Das v. d. Herik/Uiterwijk Modell istbisher ein rein akademisches Kon-zept. Ich kenne kein Programm,das Fallen stellt. Bei der Implemen-tierung von Fallen ergeben sichzwei Probleme. Das Programmmuss sicher sein, dass es um zweiHalbzüge tiefer als der Gegnerrechnet. Der menschliche und ma-schinelle Suchprozess ist abernicht vergleichbar. Manchmalrechnen Menschen tiefer als Pro-gramme, manchmal rechnen sieim Grunde gar nicht und verlas-sen sich auf ihr Gespür. Ein Pro-gramm hat ferner nicht die ge-ringste Ahnung, was ein einleuch-tender bzw. ein schwierig zu fin-dender Zug ist. Auch wenn einMensch um zwei oder mehr Pliesweniger tief rechnet, kann er in-tuitiv noch immer die richtige Ant-wort finden. Ein Programm, dasFallen stellt, würde mich bei ei-nem Turnier sehr nervös machen.Man müsste Fallen sicherlich aufwenige Situationen – etwa in oh-nehin kaputter Stellung oder inZeitnot des Gegners – beschrän-ken.

SchwindelnSchwindeln ist das Gegenstück zurFalle. In einer Falle ist der augen-scheinliche Zug nicht der beste, ineiner Schwindel-Position der bes-te Zug nicht augenscheinlich. Inder Partie gegen DUCHESS hätte

KAISSA mit Kg7 geschwindelt, weilder Gegenzug Df8† nicht leicht zusehen ist. Die Implementierungdieses Konzeptes ist komplizier-ter als man denkt. Das Programmhat – wie bei der Falle – keinerleiBegriff davon, was für einen Men-schen augenscheinlich ist. Der ZugDf8† in DUCHESS – KAISSA wird voneinem modernen Programm inSekundenbruchteilen gefunden.Warum sollte ein Zug, den manselbst sofort auf das Brett knallt,schwierig sein? Ein zweites Pro-blem ist der Alpha-Beta-Algorith-mus. In jener Stellung weiß KAISSAnur, dass es nach Df8† mattgesetztwird. Nach der Alpha-Beta-Logikist es unsinnig, auch noch die an-deren weissen Gegenzüge zu ana-lysieren. Es könnten daher aucheine Reihe von anderen Zügen zu-mindest zu Turmverlust führen.Nachdem aber nach 34. ... Te8 diePartie auf alle Fälle verloren ist,wäre der Aufwand für die Berech-nung dieser zusätzlichen Infor-mationen möglicherweise ge-rechtfertigt.

ZeitnotSollte ich einmal vor die Aufgabegestellt werden, ein Programmvon einem menschlichen Spielerunterscheiden zu müssen, würdeich nicht auf die Züge, sondern aufdie Zeiteinteilung schauen. Bei derZeiteinteilung merkt man am deut-lichsten, dass Programme keinenBegriff davon haben, welche Stel-lung schwieriger oder leichter ist.Obwohl der Zeitalgorithmus sehrwichtig ist, gibt es darüber fastkeine Publikationen. Auch im per-sönlichen Gespräch mit anderenProgrammierern erfährt manmeist nur, dass die Zeiteinteilungein Kapitel für sich ist. Meines

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W. Steinitz gegen L. Gott

Wissens sind die meisten Program-me auch bei der ZeiteinteilungAutisten. Sie beziehen die Uhr desGegners nicht mit ein. In der Zeit-notphase des Gegners ist dies si-cher nicht optimal. Wenn das Pro-gramm in dieser Phase noch genü-gend Zeit hat, verschafft das eige-ne Nachdenken dem Gegner eineVerschnaufpause. Möglicherwei-se wäre es in der Zeitnot des Geg-ners manchmal sogar sinnvoll, denzweitbesten Zug zu spielen. DerGegner würde aus dem Konzeptgebracht und verliert weitere Zeit.Ein Hindernis für dieses Konzeptist wieder Alpha-Beta. Das Pro-gramm kennt nur den besten Zug,von den anderen weiß es nur,dass sie schlechter sind. Die Rei-henfolge der anderen Züge istwillkürlich. Sobald irgendeinWiderlegungszug gefunden wird,bricht Alpha-Beta die Variante ab.Es muss dies keineswegs die besteWiderlegung sein. Man könnte indieser Phase mit dem n-Best Mo-dus rechnen. Das bedeutet aberzusätzlichen Rechenaufwand. Beigleicher Suchtiefe fällt die Ant-wort des Programmes langsameraus. Zusätzliche Zeit ist in dieserPhase das kostbarste Gut des Geg-ners.

(K)Eine Revolution?Forster ist selbst von der Wirk-samkeit seines Ansatzes nicht sehrüberzeugt. Er schreibt in der Ein-leitung: „Die in dieser Arbeit be-schriebenen Techniken haben

nicht die Absicht, das Computer-schach zu revolutionieren. Es isthöchst unwahrscheinlich, dass siefür Schachmaschinen vom DEEP-BLUE-Typ von großem Vorteil sind.Sie sollten aber für PC-Programmeinteressant sein“ (Übersetzung ausdem Engl. vom Verf.).In diesem Punkt bin ich gänzlichanderer Meinung. Ein Modell desGegners in das Programm zu inte-gieren, wäre ein Paradigmen-wechsel. Wie die jüngsten Ergeb-nisse von FRITZ zeigen, haben sicheinige Spitzenspieler bereits sehrgut auf die Programme eingestellt.Ein mit dem menschlichen Faktorgeschickt kalkulierendes Pro-gramm würde diese Spieler starkverunsichern. Ein nach demForster-Ansatz spielendes Pro-gramm wäre auch ein wesentlichinteressanterer Gegner. Ich kannauch keinen wesentlichen Unter-schied zwischen DEEP BLUE undNIMZO oder FRITZ sehen. DEEP BLUEist „nur“ um einiges schneller.Im Lichte dieser Analyse stellt sichfür mich die Frage, ob der LiebeGott wirklich so gütig und lieb ist.Zweifellos wäre es für Steinitz &Co. schon schwierig genug, gegeneine 32-Steiner-Thompson-Daten-bank remis zu halten. Gegen ei-nen alle menschlichen Schwächenausnutzenden perfekten Gegnerdürfte die Auseinandersetzunghoffnungslos sein.Warum macht ein gütiger Gottdem Menschen die Aufgabe nochschwieriger, als sie objektivohnehin schon ist? Warum stellt

er Eva erst eine gemeine Falle undlässt dann in Sippenhaftung auchalle Nachfahren dafür büßen?Warum muss auch die Schlangedaran glauben?

L. Gott?Schließlich war sie sein Werkzeugbei der Ausführung dieses teufli-schen Planes. Möglicherweise hatL. Gott diese Strategie im Gegen-satz zum Thompson-Gott notwen-dig, weil er tatsächlich nicht all-wissend ist. So sagt er in der Gene-sis zu Eva: „Du hast Verlangennach deinem Mann; er aber wirdüber dich herrschen.“ Das ist einziemlicher Patzer. Offensichtlichkann L. Gott Essenz und Akzidenznicht unterscheiden. Wohl spieltsich so mancher Adam als häusli-cher Herrscher auf, die Hosen hataber meistens doch die Eva an.Auch mit Evas Begehr ist es meistnicht weit her.

Verwendete Informationen:

[1] R. FORSTER: Introducing the HumanFactor in Computer Chess Programs,Semesterarbeit in ComputerScience, Zürich, Dezember 1998.

[2] D. BILLINGS: „Thoughts on RoSham-Bo“, in: ICGA-Journal, Band 23, Nr. 1,März 2000.

[3] ST. JAKOB: Persönliche Kommuni-kation über das Programm Hossa.

[4] M. EHN: Persönliche Kommunikati-on über W. Steinitz.

Noch ein Hinweis zum Weiterlesen, aufdas ultimative Steinitz-Buch:[5] KURT LANDSBERGER: William Steinitz,

Chess Champion. A Biography of theBohemian Caesar; Jefferson 1993.